Über dieses Buch

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Als Dr. Browne-Smith, Prüfer am Lonsdale College, nicht mehr zur Arbeit erscheint und eine ominöse Abwesenheitsnotiz von ihm auftaucht, wird der Rektor misstrauisch. Kurz darauf wird im Oxford-Kanal eine Wasserleiche gefunden – und bei ihr die Überreste eines Briefs, die Morse scheinbar direkt ins Herz des elitären Colleges führen.

Colin Dexter

Colin Dexter (1930-2017) studierte Klassische Altertumswissenschaft. Er ist der Schöpfer der vierzehnteiligen Krimireihe um Inspector Morse. Für sein Lebenswerk wurde er mit dem CWA Diamond Dagger und dem Order of the British Empire für Verdienste um die Literatur ausgezeichnet.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Colin Dexter

Das Rätsel der dritten Meile

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Marie S. Hammer

Ein Fall für Inspector Morse 6

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die englische Originalausgabe erschien 1983 bei Macmillan, London.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1987 im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek.

Für die vorliegende Ausgabe hat Eva Berié die deutsche Übersetzung nach dem Original überarbeitet.

Originaltitel: The Riddle of the Third Mile

© by Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International 1987

Übernahme der Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags, Reinbek

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sven Schrape und Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31029-2

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Version vom 23.11.2021, 14:08h

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Für meine Tochter Sally

»Und so dich jemand nötigt eine Meile,
so gehe mit ihm zwei.«

Matth. 5,41

Die erste Meile

1

Montag, 7. Juli

Ein Veteran der Offensive
von El Alamein findet Anlass,
sich an den furchtbarsten Tag
seines Lebens zu erinnern.

Sie waren einmal drei gewesen – die drei Brüder Gilbert: Alfred und Albert, die Zwillinge, und ihr jüngerer Bruder John, der dann in Nordafrika gefallen war. Das war nun über vierzig Jahre her. An diesem Abend jedoch, während er in einem Nord-Londoner Pub allein vor seinem Bier saß, war in Albert die Erinnerung an seinen Bruder John wieder lebendig. John war weniger robust und auch verletzlicher gewesen als er und Alfred. Aber sie beide, die einander glichen wie ein Ei dem anderen, waren ja auch immer zusammen aufgetreten, Alf und Bert. Sie waren unangreifbar gewesen. Als die Älteren hatten sie stets versucht, John zu beschützen; doch an jenem verhängnisvollen Tag im November 1942 hatten sie nichts für ihn tun können.

In den frühen Morgenstunden dieses Tages war das Unternehmen »Supercharge« gestartet worden, das sich gegen die Wüstenstraße von Sidi Abd el Rahman westlich von El Alamein richtete. Albert hatte in späteren Jahren aufgehört, sich darüber zu wundern, dass diese Operation als Triumph strategischer Planung in die Annalen des Afrikakriegs eingegangen war, da er während seines kurzen, aber heldenhaften Einsatzes vor allem Chaos und Verwirrung um sich herum wahrgenommen hatte. »Das Wichtigste ist, dass die Panzer durchkommen«, hatte die Order gelautet, die am Abend zuvor vom Stab der Panzerbrigade an die Offiziere und Unteroffiziere der Royal Wiltshires, des Regiments, in dem Albert und Alfred dienten, weitergegeben worden war. Sie hatten sich beide im Oktober 1939 freiwillig gemeldet, sich bereits kurz darauf als Panzerfahrer in der Ebene von Salisbury wieder gefunden, waren alsbald zu Unteroffizieren befördert und Ende 1941 nach Kairo verschifft worden. Mitte 1942, als auf beiden Seiten Verstärkung für die bevorstehende Entscheidung zusammengezogen worden war, war auch John zu ihnen gestoßen. Sie hatten es gefeiert, dass sie nun wieder alle drei zusammen waren.

Am Morgen des 2. November drangen Alf und Bert in ihren Panzern entlang der Nordseite des Kidney Ridge vor und gerieten unter heftigen Beschuss von deutschen Flaks und Panzern, die sich bei Tel el Aqqaqir verschanzt hatten. Zwar erwiderten sie das Feuer, aber es war von vornherein ein ungleicher Kampf, da die vorrückenden Panzer der Wiltshires den deutschen Panzerabwehrwaffen ein leichtes Ziel boten, und während sie sich langsam und schwerfällig nach vorn schoben, wurde einer nach dem anderen außer Gefecht gesetzt.

Die Erinnerung war für Albert Gilbert selbst jetzt nach all den Jahren noch immer schmerzhaft, dennoch ließ er die Bilder in sich aufsteigen, ohne sich gegen sie zu wehren. Er hielt es aus. Und es war wichtig, dass er sich erinnerte.

Einer der Panzer an der Spitze, ungefähr fünfzig Meter vor ihm, war in Brand geraten; der Körper des Kommandanten hing leblos aus der Luke, der linke Arm baumelte seitlich am Turm, der Helm auf seinem Kopf war über und über mit Blut bespritzt. Ein zweiter Panzer links von ihm kam schlingernd zum Stehen, als eine deutsche Granate ihm die linke Kette zerfetzte; vier Männer sprangen heraus und rannten, so schnell sie konnten, zurück in die relative Sicherheit der Sandwüste hinter ihnen.

Der Lärm um ihn herum war ohrenbetäubend. Schrapnells stiegen pfeifend auf und brachten im Niederstürzen Tod und Verderben. Männer schrien und flehten und liefen – und starben. Manchen war der Tod gnädig; er kam schnell und unvermittelt. Bei anderen zog sich das Sterben qualvoll hin, während sie tödlich verwundet im Wüstensand lagen. Und wieder andere verbrannten hilflos in ihren Panzern, weil die stählerne Ausstiegsluke sich vor Hitze verzogen hatte oder weil sie durch eine Verletzung nicht mehr die Kraft oder das Geschick hatten, den Panzer zu verlassen.

Dann erwischte es auch den Panzer gleich rechts von Albert. Ein Offizier sprang heraus; mit der Linken hielt er seine blutige rechte Hand umfasst. Er war noch nicht allzu weit von seinem Panzer entfernt, als dieser explodierte und in Flammen aufging.

Alberts Turmschütze schrie ihm von oben zu: »Mein Gott! Hast du das gesehen, Bert? Kein Wunder, dass die Deutschen diese verdammten Dinger ›Tommykocher‹ nennen!«

»Sieh zu, dass du es den Arschlöchern heimzahlst, Wilf«, brüllte Albert zurück. Doch er erhielt keine Antwort mehr, denn Wilfred Barnes, Gemeiner bei der Royal Wiltshire Yeomanry, war tot.

Auf einmal tauchte vor Albert das Gesicht des Soldaten Phillips auf. Er riss die Fahrerluke auf und streckte ihm die Hand entgegen, um ihm beim Aussteigen zu helfen.

»Machen Sie, dass Sie hier wegkommen, Corporal! Die beiden anderen sind hin.«

Sie hatten noch nicht einmal vierzig Meter zurückgelegt, da mussten sie sich hinwerfen, weil vor ihnen ein Geschoss in den Sand einschlug und ein Hagel von Metallsplittern in der Umgebung niederging. Als Albert nach einer Weile aufzublicken wagte, sah er, dass auch der Soldat Phillips tot war – ein Splitter hatte sich tief in seinen Rücken gebohrt. Etliche Minuten saß Albert einfach nur da und starrte vor sich hin, entsetzt und schockiert, aber anscheinend unverletzt. Schließlich ließ er seinen Blick suchend über Beine und Arme wandern, betastete danach erst sein Gesicht, dann seine Brust; zum Schluss probierte er, ob er seine Zehen bewegen konnte. Vor einer halben Minute waren da vier Männer gewesen, jetzt war nur noch einer übrig, er selbst. Sein erster bewusster Gedanke (an den er sich in späteren Jahren immer noch lebhaft erinnerte) galt dem maßlosen Zorn, den er empfand, der jedoch unversehens umschlug in ein Gefühl tiefer Genugtuung, als er plötzlich eine neue Woge von Panzern der 8. Brigade heranbranden und durch die Lücken zwischen den zerstörten, noch immer brennenden Panzern der ersten Angriffsformation hindurch nach vorn stoßen sah. Und dann allmählich verspürte er auf einmal auch so etwas wie Erleichterung – Erleichterung darüber, dass er überlebt hatte, und er stammelte ein Dankgebet.

Und dann hörte er die Stimme.

»Um Himmels willen, Mann, machen Sie, dass Sie hier wegkommen!« Es war der Offizier mit der verwundeten Hand, ein Leutnant aus Alberts Regiment. Er galt, was Disziplin anlangte, als überaus genau und obendrein etwas wichtigtuerisch, war jedoch trotzdem nicht unbeliebt. Er war es gewesen, der ihnen am Abend zuvor das Montgomery-Memorandum zur Kenntnis gebracht hatte.

»Ihre Hand, Sir?«, sagte Albert fragend.

»Das sieht schlimmer aus, als es ist.« Er blickte gleichmütig auf seine rechte Hand hinunter; der Zeigefinger war fast gänzlich abgetrennt und nur noch durch einen Rest von Gewebe mit ihr verbunden. »Und was ist mit Ihnen? Sind Sie verletzt?«

»Nein, ich bin in Ordnung, Sir.«

»Wir gehen nach hinten, zurück zum Kidney Ridge. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«

Ungeachtet des grauenhaften Gemetzels um sie herum artikulierte er seine Worte mit der kühlen Präzision eines Radiosprechers, betont und akzentuiert – reinstes Oxford-Englisch.

Sie kamen in dem weichen Sand nur mühsam vorwärts. Nach ein paar hundert Metern fiel Albert plötzlich vornüber.

»Weiter, Mann! Was ist los mit Ihnen?«

»Ich weiß nicht, Sir. Es ist, als ob …« Er blickte auf sein linkes Bein, in dem er plötzlich einen schneidenden Schmerz verspürt hatte, und sah, dass die Kakihose blutgetränkt war. Er beugte sich hinunter, tastete angstvoll nach seiner Wade und spürte unter seinen Fingern eine feuchte, breiige Masse. Er war verwundet worden und hatte es nicht einmal gemerkt. Den Mund zu einem kläglichen Grinsen verzogen, sagte er: »Gehen Sie weiter, Sir. Ich komme schon irgendwie nach.«

Das Zentrum der Schlacht hatte plötzlich begonnen, sich zu verlagern. Ein Panzer, der eben noch auf sie zuzurollen schien, vollführte auf seinen Ketten unvermittelt eine Drehung um 180 Grad, sodass sie nun seine Rückseite sahen; die obere Hälfte war vollständig weggeschnitten. Der schwere Motor lief mit dumpfem Brummen, übertönt vom gequälten Kreischen des Getriebes. Doch Albert horchte auf etwas anderes. Er vernahm den Schrei eines Mannes, einen Schrei in Qual und Todesangst; und ohne zu wissen, was er tat, stand er auf und taumelte auf den Panzer zu, der sich in diesem Moment erneut zu drehen begann, sodass der Sand nach allen Seiten spritzte. Der Fahrer musste noch am Leben sein! Albert vergaß seine Wunde, seine Schmerzen, seine Angst. Vor seinen Augen stand das Gesicht des Soldaten Phillips aus Devizes …

Der Deckel der Fahrerluke war vor Hitze verzogen und ließ sich nicht öffnen – jedenfalls nicht so ohne Weiteres. Es fehlte nicht viel, fast hatte er ihn schon auf … Der Schweiß rann über das Gesicht, als er fluchend und wimmernd zugleich die Luke hochzureißen versuchte. Mit einem sanften, trügerisch harmlosen Plopp! entzündete sich der Treibstofftank, und Albert wusste, dass es jetzt nur noch eine Frage von Sekunden war, bis ein weiterer Soldat zu einem qualvollen Tod verdammt sein würde.

»Um Himmels willen, so helfen Sie mir doch!«, schrie er dem Offizier hinter sich zu. »Ich hab sie schon fast … es …« Ein letztes Mal versuchte er, die Luke zu öffnen, während ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief. »Verdammt noch mal, sehen Sie denn nicht, dass …?« Er brach ab und fiel kraftlos zurück auf den Sand, gleichermaßen überwältigt von Erschöpfung wie der Erkenntnis seines Scheiterns.

»Lassen Sie den Unsinn und kommen Sie! Sofort! Das ist ein Befehl!«

Albert kroch zurück über den Sand, tränenblind vor Hass und wilder Verzweiflung. Er hob sein verschmiertes Gesicht, um dem Leutnant in die Augen zu sehen, und erblickte in ihnen einen kalten Glanz … einen Glanz, hinter dem sich gefühllose Feigheit verbarg. Noch immer gellte ihm der Schrei des Panzerfahrers in den Ohren. Erst sehr viel später meinte er, die Stimme des Mannes erkannt zu haben – sein Gesicht hatte er nicht gesehen.

Kurze Zeit darauf wurde er (wie man ihm später erzählte) von einem vorbeikommenden Armeelastwagen aufgenommen. Seine eigene Erinnerung setzte erst wieder ein mit dem Erwachen im Lazarett. Das köstliche Gefühl, in einem bequemen Bett zu liegen, und der Anblick der überaus weißen Betttücher und roten Decken würden ihm wohl bis zu seinem Lebensende im Gedächtnis bleiben. Man wartete zwei Wochen, bis man ihn für gesund genug hielt, um ihm mitzuteilen, dass sein Bruder John, Panzerfahrer bei der 8. Brigade, in der zweiten Phase der Offensive gefallen war.

Damals war er sich fast sicher gewesen, aber eben nur fast. Kein Zweifel bestand jedoch, was die Identität jenes Leutnants anging, der damals am Morgen des Kampfes um Tel el Aqqaqir gewogen worden war – gewogen und für zu leicht befunden. Sein Name hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt: Browne-Smith. Browne mit einem »e« hinten – ein ungewöhnlicher Name, dem er später nicht mehr begegnet war. Bis vor kurzer Zeit.

Bis vor sehr kurzer Zeit …

2

Mittwoch, 9. Juli

Wir wohnen einer Notenkonferenz der Universität Oxford bei,
auf der die Prüfer über die Ergebnisse
der Bachelor-Abschlussklausuren zu befinden haben.

Was die anderen Arbeiten betrifft, hätte er sonst eine Eins machen können«, sagte der Vorsitzende und blickte erneut auf die sechs vor ihm liegenden Beurteilungen. Keine schlechter als Beta plus und sogar ein paar Alphas dabei. Nur die Note für Griechische Geschichte fiel ab. Ein Beta minus minus/Delta. Nicht gerade Ausweis überragender intellektueller Fähigkeiten.

»Nun, meine Herren, was denken Sie? Ich bin dafür, ihm eine Chance zu geben und ihn in die mündliche Prüfung zu nehmen.«

Fünf der Anwesenden, die um den großen, mit verschiedenen Papieren beladenen Tisch saßen, bekundeten durch ein leichtes Heben der Hände ihr Einverständnis.

»Anderer Ansicht?«, wandte sich der Vorsitzende dem sechsten zu.

»Ganz recht. Ich bin der Meinung, er hat diese Chance nicht verdient – nicht aufgrund dieser Leistungen.« Er wies mit einer abschätzigen Handbewegung auf die Arbeit vor ihm. »Seine Klausur zeigt meines Erachtens eindeutig, dass er von der Geschichte Athens abgesehen vom fünften Jahrhundert so gut wie keine Ahnung hat. Ich bedaure, das sagen zu müssen, aber wenn er es auf eine Eins abgesehen hat, dann hätte er mehr tun müssen.« Er wiederholte seine abschätzige Geste, auf seinem Gesicht einen Ausdruck gelinden Abscheus, der seinen ohnehin stets missmutigen Zügen nicht besonders zuträglich war. Dennoch stand außer Zweifel – und alle Anwesenden hätten dies sofort zugegeben –, dass niemand mit größerer Sicherheit so subtile Entscheidungen wie die zwischen Beta plus und Beta plus plus zu treffen in der Lage war als er. Es gab allerdings auch niemanden, der eine einmal getroffene Entscheidung so unnachgiebig vertrat.

»Wir alle wissen doch aber«, begann einer der anderen Prüfer, »dass unsere Fragen bisweilen etwas nach dem Zufallsprinzip gestellt sind – gerade auch, was griechische Geschichte angeht.«

»Ich habe die Fragen selbst konzipiert«, unterbrach ihn sein Kollege hitzig, »und kann Ihnen versichern, dass sie einen absolut angemessenen Querschnitt repräsentieren.«

Der Vorsitzende wirkte erschöpft. »Meine Herren, wir haben einen langen, anstrengenden Tag hinter uns und sind kurz vor dem Ziel. Lassen Sie uns …«

»Selbstverständlich hat er das Recht auf eine mündliche Prüfung«, sagte einer der Prüfer ruhig, aber entschieden. »Ich habe seine Logikklausur begutachtet – sie ist stellenweise brillant.«

»Das ist auch meine Meinung«, erwiderte der Vorsitzende. »Wir haben durchaus Verständnis für Ihre Haltung, Dr. Browne-Smith, aber …«

Der Angesprochene hob in gespielter Gleichgültigkeit die Schultern. »Bitte. Sie sind der Vorsitzende.«

»Jawohl, ich bin der Vorsitzende, und deshalb erhält dieser junge Mann auch seine Chance.«

Der Logikprüfer mochte diese schroffe Antwort nicht im Raum stehen lassen und griff vermittelnd ein: »Was halten Sie davon, wenn Sie selbst es übernehmen würden, die Prüfung durchzuführen, Dr. Browne-Smith?«

Browne-Smith schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe ein Vorurteil gegen den Burschen, und außerdem geht mir die ganze Prüferei, ehrlich gesagt, auch etwas auf die Nerven. Ich habe das Gefühl, als komme ich zu nichts anderem mehr.«

Dem Vorsitzenden schien ebenfalls daran gelegen zu sein, der Konferenz einen friedlichen Abschluss zu geben: »Was meinen Sie, könnten wir nicht Andrews fragen? Glauben Sie, er wäre dazu bereit?«

Browne-Smith nickte uninteressiert. »Er ist ein ganz ordentlicher junger Mann.«

Der Vorsitzende schrieb erleichtert seine Abschlussbemerkung: Am 18. Juli zur mündlichen Prüfung bei Mr Andrews (Lonsdale), während die anderen begannen, ihre Unterlagen einzusammeln.

»Nun, meine Herren, dann darf ich mich bei Ihnen bedanken. Bevor wir uns jetzt trennen, möchte ich Sie aber noch bitten, dass wir uns über den Termin für die abschließende Konferenz einigen. Es kommt eigentlich nur Mittwoch, der 23. oder Donnerstag, der 24. Juli infrage.«

Alle, außer Browne-Smith, zogen ihre Terminkalender aus der Tasche. Man diskutierte kurz und einigte sich schließlich auf Mittwoch, den 23. Juli. Die ganze Zeit über wirkte Browne-Smith, als ob ihn das alles nichts angehe.

Dem Prüfungsvorsitzenden war seine unbeteiligte Haltung nicht entgangen. »Ich hoffe, der Mittwoch ist Ihnen recht, Dr. Browne-Smith?«

Browne-Smith schien einen Moment zu zögern, dann sagte er: »Ich wollte Ihnen gerade mitteilen, dass ich vermutlich an der Konferenz nicht werde teilnehmen können, ich wäre sonst selbstverständlich gern gekommen, aber ich habe an dem Mittwoch … äh … Also, so wie es aussieht, werde ich wahrscheinlich Mitte übernächster Woche gar nicht in Oxford sein.«

Der Prüfungsvorsitzende nickte etwas unbehaglich. Es erschien ihm einleuchtend, dass Browne-Smith nach ihrem Disput keinen besonders großen Wert darauf legte, bei der letzten Konferenz dabei zu sein. »Dann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als zu versuchen, so gut wie möglich ohne Sie auszukommen. Auf jeden Fall noch einmal vielen Dank. Sie waren uns bei unseren Entscheidungen eine große Hilfe – wie immer.« Er schloss das dicke schwarze Buch vor sich auf dem Tisch und blickte auf seine Uhr. Fünf nach halb neun. Ja, es war wirklich ein langer Tag gewesen; das mochte ein wenig entschuldigen, dass er gegen Ende so scharf geworden war.

Sechs Angehörige des Prüfungsgremiums beschlossen, noch auf einen Drink in das King’s Arms in der Broad Street zu gehen. Der siebte, Dr. Browne-Smith, bat, ihn zu entschuldigen. Man verabschiedete sich. Browne-Smith verließ das Prüfungsgebäude und schritt die High Street hinunter in Richtung Lonsdale College, das er durch einen Nebeneingang (Nur für Professoren) betrat. In seinen Räumen angekommen, schluckte er sofort sechs Paracetamol und legte sich vollständig angezogen aufs Bett. Es dauerte eine gute Stunde, bis die rasenden Kopfschmerzen nachließen und er einschlief.

Am Morgen des nächsten Tages, es war Donnerstag, der 10. Juli, erhielt er einen Brief. Einen sehr merkwürdigen, geradezu aufregenden Brief.