1. Auflage
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© 2020 Leyendecker, Gudrun
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783751975469
Artikel aus der regionalen Gazzetta von Donnerstag, dem 1.März 2001:
Die Familie d’ Ala, die einige Generationen lang das große Weingut in der Toskana bewirtschaftet, ein großzügiges Anwesen, das sich nur wenige Kilometer entfernt
von der Mittelmeerküste befindet, macht immer wieder von sich reden. Oberhaupt der Familie ist immer noch Großvater d` Ala, der mit seiner deutschen Frau Katharina einige Jahre glücklich lebte. Immer noch nicht vergessen sind der sowohl tragische als auch mysteriöse Tod seines ältesten Sohnes Ernesto, als auch das ebenso mysteriöse Verschwinden seiner Schwiegertochter Imani, Frau seines zweitältesten Sohnes Benjamin, genannt „Benny“.
„Großvater Teso“, wie er allgemein genannt wird, lebt mit den Familien seiner ehemals vier Kinder auf dem Anwesen, das er ständig vergrößerte und den Erweiterungen der Familie anpasste. Seine sieben Enkel, die aus den Ehen seiner drei Söhne stammen, sind nun beinahe erwachsen, haben sie doch alle schon das achtzehnte Lebensjahr überschritten. Lediglich seine Tochter Ester, deren Karriere stetig, und oftmals steil aufwärts ging, schenkte ihrem Vater kein Enkelkind, dafür aber sich häufig abwechselnde Schwiegersöhne. Heute aber geht es wieder einmal um das Sorgenkind der Familie, Wellis d’ Ala, Tochter des verunglückten Ernesto, der jetzt neunzehn jährigen Enkelin, deren mysteriöse Krankheit die ganze Welt schon seit Jahren beschäftigt. Wieder einmal gibt es ein Stell – Dich – Ein auf dem Gut der d’ Ala ` s. Neue Forscher, Wissenschaftler, Ärzte, Psychologen, Theologen und Vertreter der Weltpresse haben sich eingefunden, um am Schicksal der gezeichneten Familie teil zu nehmen, oder aber um ihre Hilfe an zu bieten.
Die Menschheit ist also noch sozial und hilfsbereit, das können wir hier an diesem Beispiel sehen. Wie bei schweren Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen scheuen sich die Menschen nicht, mehr oder weniger spontan ihr Wissen, ihre Kraft, ihre Vorstellung, oder ihre finanziellen Mittel ein zu bringen. Wenn doch die „ganze Welt“ so hilfsbereit ist, kann man sich schlecht vorstellen, dass sich die seltsamen Probleme der jungen, kranken Frau nicht in eine erträgliche Form verwandeln lassen. Bei so viel echter Anteilnahme nehmen wir an, dass Wellis, wenn gleich auch keine spontanen Besserungen eintreten mögen, doch von großer Dankbarkeit erfüllt sein wird.
P.C. März 2001
Großvater Teso hob seinen Blick. Einen kurzen Moment lang schloss er die Augen. Er wartete auf ein Bild, dass sich unter seinen Augenlidern entfalten sollte, aber es kam nichts, nichts dem er Bedeutung beimessen konnte. Da war nur Dunkelheit, Leere, sein inneres Auge wurde in einen Teer farbenen Strudel gezogen, in einen Sog fragwürdiger Tiefe.
Vergeblich suchte er irgendeinen Ausweg, ein Licht, ein Zeichen, doch die erwarteten Bilder
blieben aus, seine Vorstellungen eines erleuchtenden Momentes verebbten in grauen Nebeln.
Mit einem kurzen Stoßseufzer auf den Lippen, der fast wie ein Schluchzen klang, öffnete er die Augen, sein Blick glitt aus dem Fenster, fiel auf die grauen Steinmauern des kleinen Hauses, das seinem ältesten Sohn gehört hatte und nun, seit dem ebenso tragischen wie rätselhaften Tode seines Sohnes Ernesto von seiner Schwiegertochter Capira und seiner Enkelin Wellis bewohnt wurde.
Wohnen? Großvater Teso berichtigte seinen gedachten Satz.
Das, was sich Tag und Nacht im grauen Haus abspielte, konnte er wahrlich nicht als Wohnen bezeichnen. Die körperlichen und seelischen Schmerzen seiner Enkelin Wellis bestimmten nicht nur den Tagesablauf seiner blässlichen Schwiegertochter, deren Angesicht stets vor seinem inneren Auge zerfloss, wenn er sich darauf zu konzentrieren versuchte, nicht allein das von Schmerzen bestimmte Leben der neunzehnjährigen Wellis,
nein, es interessierte, irritierte und ängstigte seiner Meinung nach mittlerweile Tausende von Menschen in farbenreichen und differenzierten, kontrastreichen Regionen und unterschiedlichen Landstrichen des gesamten Kontinents. Wie ein Film zogen Länder und Städte in seinen Gedanken vorüber. Einige markante Gesichter tauchten blitzartig auf und verschwanden ebenso schnell.
Die allgegenwärtige Presse, Funk und Fernsehen behaupteten täglich, an Wellis Schicksal Anteil zu nehmen. Anteil ja, das ließ sich nicht leugnen. Aber wie? Auf welche Weise? Fragen, unendlich viele Fragen, Interviews, Dokumentationen, Berichte in den Medien, Fragen an vermeintliche Experten, und danach - weitergeleitet immer wieder neue Fragen von Lesern, Zuhörern und Zuschauern; Fragen die mehr Verwirrendes brachten und eine Flut der unterschiedlichsten, oft gutgemeinten Ratschläge und Angebote. Interesse, Anteilnahme, Mitgefühl.....
Aber wer konnte wohl je bei einer einzigartigen Krankheit helfen, die nicht einmal in den Medizinbüchern existierte? Eine Krankheit, die gerade einmal von einem einzigen, experimentierfreudigen und in unerforschten Gehirnregionen testenden Arzt als Krankheit gesehen und anerkannt worden war: Wellis litt laut Dr. Smollner an „morbus dolori del mondo“, einer Krankheit mit fast unvorstellbaren Schmerzen in einer Welt der Gefühle. Wellis, ihre Seele , ihr Körper durchlebten täglich den Schmerz der Ungerechtigkeiten der ganzen Welt. Sie fühlte den Schmerz der Leidenden in Gegenden des Aufstands, des Kriegs, des Terrors, der Armen, Hungernden und Unterdrückten.
Gleich am Anfang, als Wellis noch recht klein war, hatte man sie als Simulantin abstempeln wollen, und etwas später - ganz fatal für die Familie und auch für das kleine Mädchen: als Verrückte hatte man sie in eine Heilanstalt einweisen wollen!
Esoteriker und Teufelaustreiber hatten sich mit teilweise mittelalterlichen Methoden exzentrische Therapien einfallen lassen, bis dann endlich Dr. Smollner im Verlaufe weiterer Untersuchungen auch an Wellis Körper die Symptome physischen Leidens feststellen konnte. Wellis simulierte nicht, ihr Körper zeigte die Symptome schmerzhafter Zustände.
Die Ärzte, die keine organische Krankheit entdecken konnten, stets aber auf die Entlarvung eines Trauma oder anderer psychosomatischen Störungen hofften, um Wellis Krankheit einordnen zu können, beobachteten Wellis täglich und führten peinlich genau Buch über jeden ihrer Atemzüge.
Doch dann entdeckte Mr. Tore, ein bekannter Journalist die Zusammenhänge zwischen den aktuellen Krisenzentren und Katastrophenherden in verschieden Ländern der Erde anhand der aktuellen Nachrichten von Misshandlungen an Mensch und Tier; und er versuchte fortan zu beweisen - an Hand der Tatsachenberichte und der minutiös nachvollziehbaren Parallelität zwischen den Ereignissen und den erschreckenden Symptomen der jungen Frau- dass ein Zusammenhang bestand zwischen dem aggressiven Weltgeschehen und den Schmerzen des unschuldigen Mädchens. Mädchen? In seinen Augen war sie immer noch das kleine Mädchen, das früh ihren Vater und kurze Zeit später ihren geliebten Hund verloren hatte. Dabei war sie ja nun schon eine junge Frau, in einem Alter, wo man nicht mehr nur träumt, sondern auch Ziele und Vorstellungen der eigenen Zukunft hat.
Großvater Teso atmete heftig aus. Wenn doch irgendein Mittel, irgendeine Maßnahme dem Leiden seiner Enkelin ein Ende bereiten könnte! Manchmal zitterte sie am ganzen Körper, hatte Krämpfe mit heftigen Schmerzattacken, das allein war schlimm genug! Schlimmer erklang in seinen Ohren noch ihr schmerzerfülltes Weinen, mysteriös jedoch und unglaublich erschienen ihm die roten Flecken auf der zarten, samtenen, jungfräulich weißen Haut. Verwunderlich nicht nur, dass die farbigen Hautveränderungen kamen und gingen, sich verändernd, vielfarbig, vergrößernd in Minuten, nein, es schien mit menschlichem Verstand nicht erklärbar, dass sich auf der hellen Haut mysteriöse Gebilde wie Zeichen, Zahlen und Bilder malten.
Vermutungen, Spekulationen über Ursache und Wirkung gab es genug, bisher hatte niemand das Rätsel lösen, geschweige denn eine Veränderung oder Besserung des Leidens herbei führen können.
Viele hilfsbereite Menschen hatten versucht, mit Ratschlägen aller Art Abhilfe zu schaffen, einige hatten Ideen gefunden und Vorschläge entwickelt, die jedoch unbrauchbar waren und in der Theorie versandeten. Er seufzte laut, dann wandte er den Kopf.
Seine Gedanken sprangen mit.
Natalie! Wie anders war seine Enkelin Natalie und wie anders verlief ihr junges Leben! Großvater Teso blickte auf das lichtgelb gestrichene Reihenhaus, in dem ganz links sein Sohn Marco mit seiner Frau Daniela und den Kindern Vincente, Giuseppe und Natalie wohnten. Marco hielt Wellis für eine ichbezogene Spinnerin, die nur die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen wollte, realitätsfremd und lebensunfähig, sonderbar und krank.
Daniela dagegen hatte Mitleid mit ihrer Nichte. In regelmäßigen Abständen kontaktierte sie eine Vielzahl von
Ärzten, Kongressabgeordneten und diversen Medienhäusern, inklusive der örtlichen Tageszeitungen, um alles wahrzunehmen, zu testen, in initiative Wege zu leiten, was in irgendeiner Weise für Wellis und ihre Krankheit von Nutzen sein könnte.
Ihren Sohn Giuseppe hatte sie einmal dabei ertappt, als er Wellis eine als „harmlos“ eingestufte Droge anbot, die angeblich in positive Schwingungen versetzen sollte. Die Familie überging die Angelegenheit schweigend und kommentarlos.
Vincente hatte Wellis in einen Musik- und Kunstkurs eingeladen, um kreative therapeutische Maßnahmen als Medizin wirken zu lassen, bei seiner Cousine aber kein positives Echo erreicht.
Natalie! Die kleine quirlige Enkelin, die sich ihr kindliches Gemüt trotz ihrer neunzehn Jahre bewahrte, hatte ihn neulich mit einer verblüffenden Idee überrascht.
Mit einem Leuchten in den schwarzbraunen Augen, einem spitzbübischen , aber ehrlich verheißungsvollen Blick auf den jungen Lippen bekundete sie ihre Teilnahme an Wellis Leid mit den Worten: „Opa, da gibt’s nur eins: schreib eine E-Mail an den Papst!“
Was für eine Idee! Verrückt oder nicht, überall auf der Welt gab es Probleme. Sicher gab es für etliche Probleme unendlich viele Lösungsmöglichkeiten. Sich aber an den Papst zu wenden, war wohl das allerletzte, was jemandem zu der Lösung seiner privaten Probleme einfiel. Obwohl, - wenn Wellis wirklich das ganze Leid der Welt trug, an wen sollte man sich sonst wenden?
Großvater Teso strich sich den grauen Bart. Ein Boulevardblättchen hatte erst kürzlich geschrieben: „Jesus jetzt als Frau wiedergeboren? Zeichen an ihren Händen.“ In seinen Ohren klangen diese Worte ketzerisch und religionsverachtend. Aber was wussten schon die Menschen mit ihrem relativ großen Gehirn, mit dem noch so wenig bewusst anzufangen war?!
Gedankenwelten zogen an seinem innerem Auge vorüber.
Es klopfte. Bevor er etwas antworten konnte, erschien ihm im Türrahmen der rotgelockte Haarschopf seiner Enkelin Mirja, die wie ein Wirbelwind ins Zimmer stürmte. Auch sie wirkte trotz ihrer neunzehn Jahre wie ein großes Schulmädchen.
„Hi, Opa!“ rief sie übermütig lächelnd. „Da bin ich wieder. Und es geht mir supergut. Aber ich vermisse Mom.“ Sie schlang die Arme um den Hals ihres Großvaters. „Sag mir, warum hat sie uns allein gelassen. Was macht sie in Amerika, falls sie überhaupt dort ist. Wie konnte sie uns das nur antun?!“
Vorsichtig löste sich der Großvater aus der Umarmung seiner Enkeltochter, liebevoll drängte er sie in den großen Ohrensessel. „Es ist nicht leicht, deine Mutter zu verstehen..“ begann er.
„Oooh,“ Mirja stöhnte. „Was hat sie nur an sich, dass alle Menschen nachsichtig mit ihr sind?!
Auch DU nimmst sie immer in Schutz! Sie hat uns alle verlassen! Sie ist egoistisch! Sie denkt nur an sich! Schließlich hat sie auch meinen Vater, Deinen Sohn Benny verlassen, du solltest ihr also böse sein!“ Mit halb geschlossenen Augen sah sie ihn leicht grollend und vorwurfsvoll an.
„Ich liebe meinen Sohn Benny,“ fuhr er unbeirrt fort. „Aber ich versuche auch Imani zu verstehen..“
Wieder unterbrach ihn die Enkeltochter. „Jetzt weiß ich auch, woher meine Cousine Wellis ihre übergroße Sensibilität hat! Von dir , Opa! Du hast auch für jeden und alles Verständnis!
Du hast doch auch zu viel Mitleid, und Mitleid heißt „mit jemandem leiden“, etwas in der heutigen Zeit völlig veraltetes und verdammt Unrentables in unserer rationalen, materialistischen Welt.“
„Ich leide nicht mit, mein Liebling,“ erklärte der Großvater. „Da irrst du! Ich bin zu alt, ich habe zu viel erlebt, um mit jedem mit leiden zu können. Ich zähle nur eins und eins zusammen, und dafür hat mir unser Herrgott einen klaren Verstand gegeben.“
„Na schön, Opa,“ lenkte Mirja ein. „Deswegen bin ich eigentlich auch nicht gekommen. Aber wenn wir schon einmal beim Thema sind, mein Bruder Timmy, und auch meine Schwester Joana, wir drei sind uns einig, dass sich Mammi ihr Leben irgendwie verkorkst hat. Und wir sind jetzt schon ein bisschen enttäuscht von ihr.“
Zuerst lächelte Großvater Teso. „Nun, ich weiß, wer dein Bruder und deine Schwester sind,“ dann sah er sie nachdenklich an. „Ja, eure Enttäuschung verstehe ich, das kann ich mir schon erklären. Aber das liegt daran, dass sie sich nie über irgend etwas beklagt hat. Wenn du morgen etwas mehr Zeit hast, werde ich dir berichten, unter welchen fast unmenschlichen Bedingungen sie euch groß gezogen hat. Magst du?“
Mirja nickte. „ Es wird wohl so sein,“ gab sie zu. „Aber dann war es ihr Fehler, dass sie es uns nicht merken ließ. Wie konnten wir das ahnen, wenn sie immer so fröhlich war?!“
Großvater Teso zog die Brauen hoch, runzelnde ein wenig die faltige Stirn. „Ach, Kind,“ fuhr er mit einem Seufzer fort. „Ich hatte mit deiner Mama noch ein langes Gespräch bevor sie ging. Nein, nicht , dass ich etwas ahnte. Keiner wusste, was sie vor hatte. Es schien mir damals so, als wollte sie sich nur einmal alles von der Seele reden. Aber der Grund dafür, dass sie sich nicht beklagt hat, der Grund dafür, dass sie euch ein bisschen heile Welt vorgespielt hat, war wohl, dass sie euch eine schöne Jugend bereiten wollte, euch etwas Wichtiges mitgeben wollte, ein Stück Idealismus vermitteln wollte. Deswegen hat sie euch wohl Vieles verschwiegen. Vermutlich war es falsch, das Leben ist nicht nur schön und Maria Rosarot.
Aber ich sage dir, wenn du etwas wissen willst, deine Mom hatte immer einen besonderen Spruch aus der Bibel, den sie liebte, den sie brauchte. Es ist Kolosser 2, Vers 3: In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.“
„Opi, du bist ganz süß mit deinem festen Glauben, und Mami könnte das glatt von dir geerbt haben, wenn sie nicht deine Schwiegertochter gewesen wäre. Aber wie, sag mir wie, kann man in der heutigen Zeit, in der Ellenbogenzeit, in einer materialistischen Gesellschaft damit etwas werden?“
Großvater Teso legte den Arm um die Schultern seiner Enkelin. „Du bist doch ein modernes Mädchen, Mirja; und ich kenne dich mit all deinen Wünschen und Vorstellungen vom Glück dieser Erde. Du sollst leben, du sollst lebenstüchtig sein, deinen wachen, praktischen Verstand nutzen, um all den Anfeindungen dieser harten Welt zu trotzen.
Aber, sag mal ehrlich, meine Kleine: Meinst du wirklich, all das da draußen um uns herum, das immer noch so unerforschte Weltall wäre nur wie ein Neujahrsspektakel, wie ein andauerndes Riesenfeuerwerk zu unserer Belustigung in das große TV gesetzt? Glaubst du nicht auch, dass unsere wirklich bedeutsame Erde mit all ihrem Materialismus nicht auch nach etwas anderem verlangt? Es gibt Licht und Schatten, Hell und Dunkel, den Körper und etwas darin, das deine Persönlichkeit ausmacht, es gibt die winzige kleine, greifbare Erde mit den uns bekannten Himmelskörpern und dann....was dann? Verlangt das nicht nach etwas anderem?“
Mirja küsste ihren Großvater auf die Wange. „Opa, ich bin doch noch so jung! Ich will doch wirklich erst einmal auf dieser Erde leben. Morgen, morgen ist es immer noch Zeit. Dann kannst du mir mehr davon erzählen. Aber glaub mir, so sentimental und romantisch wird man erst, wenn man so alt ist wie du, wenn man das Leben fast hinter sich hat!
Entschuldige, ich hab das nicht so gemeint. Aber im Ernst, man lebt doch nur einmal, oder?“
„Das ist wieder ein ganz anderes Thema, mein Kind. Aber ich schätze, du hast heute nicht die Zeit, mit mir darüber ein ausführliches Gespräch zu führen, oder?“
„Richtig, Opa. Und ich hätte heute auch gar keine Lust darauf. Du weißt doch, Nancy und ich sind im Gospel-Chor. Da muss ich noch duschen, und ich weiß überhaupt noch nicht, was ich anziehen soll, und außerdem möchte ich mich noch etwas darauf vorbereiten.
Wenn ich nur wüsste, ob Mami überhaupt noch lebt! Ob sie noch nach uns denkt? Ob ich einmal nach Amerika fahre und sie dort suche?“
„Amerika ist groß mein, Schatz. Das meinst du nicht im Ernst, Mirja. In einem Land dieser Größe hat man bestimmt die Möglichkeit unterzutauchen, ohne jemals gefunden zu werden.“
„Na klar war das ein Scherz. Von meinen Ideen her hab ich schon die abenteuerlichen Gene meiner Mutter, aber ich bin viel vernünftiger als Mama! Also, ich gehe jetzt mal zu Wellis, und ich werde ganz lieb und vorsichtig fragen und herausfinden, ob sie etwas über meine Mutter ahnt.“
„Um Himmels Willen, Kind! Wellis ist doch kein esoterisches Medium, auch wenn das manche Menschen einige Male zur Diskussion stellten! Was auch immer an diesen Dingen daran sein mag, ich habe da weder Erfahrung noch Beziehung zu diesen mysteriösen Richtungen. Wellis ist krank! Das darf doch nicht übersehen werden. Hör zu,“ sagte er in eindringlichem Ton, „deine Cousine Wellis ist krank! Sie spürt Schmerzen, da kannst du ihr nicht zusätzlich einen Schmerz hinzufügen. Sie trauert bestimmt um ihren Vater, sie ist traurig, dass ihre Tante, deine Mutter verschwunden ist; wer weiß da, welche Schmerzen es auslösen würde, wenn sie sich in Gedanken intensiv mit Imani befassen muss? Nein, Kind! Ich bitte dich, so etwas können wir nicht verantworten.
Außerdem ist deine Mutter ein erwachsener Mensch mit eigenem Willen. Was sie tut, muss sie selbst entscheiden. Und wenn einer nach ihr suchen könnte, dann dein Vater, mein Sohn Benny. Aber er unternimmt nichts, sondern trauert ihr nur nach, so, als ob er sie schon begraben hätte. Jedenfalls tut er so.“
„Papi ist eben ein schwacher Mann, Opa. Hast du dir vielleicht mal überlegt, ob du nicht für alle deine Kinder zu stark warst, Opi?“ Sie küsste ihn auf die Wange und eilte aus dem Zimmer, laut fiel die Tür ins Schloss.
„Ich musste es sein, mein Kind,“ murmelte der Großvater vor sich hin, „ich musste es sein.“
*
„Hallo, Tante Capira.“ Mirja umarmte die grauhaarige Dame. „Ich muss ganz dringend mit Wellis sprechen.“
„Unmöglich, Schatz!“ wehrte die Tante ab. Auf der blassen Stirn zeigten sich Sorgenfalten. Deine Cousine bereitet sich vor für den Besuch eines wichtigen Mannes, Dr. Simpson. Er macht Experimente. Morgen kommt ein evangelischer Pfarrer und übermorgen ein katholischer Priester, sie alle wollen mit Wellis sprechen und das wird bestimmt sehr aufregend. Was möchtest du denn von ihr?“ Müde mit einer Spur Misstrauen im Ausdruck sah sie der Nichte in die Augen.
Mirja zögerte ein paar Sekunden. Also, weißt du....., ich könnte mir vorstellen, der liebe Gott hat Wellis Schmerzen beschert, aber vielleicht ist es sein Wille, dass sie dafür auch hellsichtige Fähigkeiten hat. Du weißt ja, auch die Bibel kennt Hellseher und Propheten.“
„Versündige dich nicht, mein Kind,“ mit zittriger Stimme tönte der leise Protest.
„Ich weiß wirklich nicht, was du meinst, liebes Tantchen,“ überging Mirja den Einwand. In ihren Augen funkelte Provokation. „Lass mich doch kurz zu meiner Cousine! Was kann das schaden?! Wenn sie wirklich das Leid der Welt spürt, die Kriege, die Katastrophen, was kann es ihr ausmachen, ein einziges Mal ihre Gedanken auf Mom zu lenken. Vielleicht geht es ihr ja gut, Mom meine ich! Und denk doch nur.: Wellis ist dein Kind, Wellis gehört in die Familie. Was hat sie mit dem Kummer der Welt zu tun?! Der letzte, der wirklich etwas für die Welt getan hat, war Jesus.
Glaubst du, Gott gibt den Menschen noch einmal solch eine Chance????
Ich bin ein Kind unserer Zeit, in der man sich durchboxen muss. Kämpfen oder untergehen, so heißt die Devise. Wenn es einen Gott gibt, ich glaube, der ist ziemlich sauer auf uns....“
„Kind, Kind! Was redest du denn da..“ unterbrach die Tante. „wie kann man nur so respektlos über Dinge des Glaubens reden!“
Mirja zuckte die Schultern. „Gott ist doch nicht von gestern, oder? Entweder, man kann mit ihm reden oder nicht. Er hat gestern gelebt und mit den Leuten von gestern gesprochen. Aber wenn er heute mit uns redet – und er hat ja wohl diese Zeit so gewollt-, dann spricht er auch meine Sprache, und die meiner Freunde. Wie sollte man sich sonst auch richtig verstehen?“
„Liebes Kind...“ begann die Tante mit vorwurfsvollem Blick.
„Ich bin kein liebes Kind,“ widersprach Mirja, „und ich will es gar nicht sein. Weiß auch nicht, ob der liebe Gott unbedingt nur die lieben, bequemen Kinder gern hat...
Lebendige Diskussion, das ist es...und deswegen...hab keine Angst, liebe Tante... gehe ich jetzt zu deiner armen, aber wahrscheinlich begnadeten Tochter und lenke sie von ihrem Weltschmerz ab.“
„Welch böser Geist ist in sie gefahren“, murmelte Capira, bedeckte die Augen mit den zittrigen Händen, während die Nichte ins Nebenzimmer zu ihrer Cousine eilte.
Mirja erblickte zunächst nur die Rückseite eines rostroten Sessels, den man dicht vor das hohe Fenster gestellt hatte, und der so dem spärlichen Sonnenlicht zugewandt war.
„Hallo, Wellis!“ rief Mirja unbekümmert in die Stille hinein und blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Der rostrote Stuhl drehte sich wie von Zauberhand berührt, fast überirdisch klein und blass erschien die zarte Gestalt der jungen Frau darin, die ihr Gesicht in scheinbar gelangweiltem Ausdruck der Besucherin entgegen streckte.
Sie sieht nicht aus wie ein Engel, schoss es Mirja durch den Kopf, eher wie eine Märtyrerin. Das schwarze Haar stand in kurzen Strähnen wirr um den Kopf, die Kohlen schwarzen Augen, bei deren Anblick man versucht war, sie an zu zünden, schienen starr in eine unbekannte, endlose Weite zu blicken. Darüber zeigten sich in der breiten Stirn Falten der Überraschung und des Grübelns.
„Kann ich dich einen Augenblick stören?“ entfuhr es Mirja lauter als beabsichtigt.
Wellis bewegte die Lippen, ohne ihren Blick, ihren Gesichtsausdruck zu ändern. „Ich kann nichts für dich tun,“ antwortete sie zur Überraschung der Cousine.
„Eh...“stotterte Mirja verwirrt. „Ich habe dich doch noch gar nichts gefragt.“ Sie fasste sich schnell. „Ist das jetzt ein Bluff?! Alle Leute kommen zu dir, weil sie etwas wollen, nicht wahr? Ich möchte dich gar nicht lange stören, hab nur ein kurzes Anliegen. Bin gerade in einer Entwicklungsphase, in der ich meine Kindheit verarbeiten muss, um endlich erwachsen zu werden. Ich möchte nur wissen.. kannst du nicht einmal überlegen..., in dich hineinschauen..
oder irgendwie.....kannst du mir nicht sagen, wo meine Mom ist? Ist sie wirklich in Amerika? Lebt sie noch, geht es ihr gut?“
Immer noch lagen rätselhafte Schleier über Wellis Augen.
„Sie glauben tatsächlich, ich wüsste alles, was auf der Welt vor sich geht.., ja, das glauben sie wirklich. Und deswegen wollen sie mich umbringen..“
Mirja zuckte zusammen. „Was redest du da, Wellis?! Wer will dich umbringen?“ Sie griff nach dem Türpfosten und fasste sich wieder. „Leidest du an Verfolgungswahn? Du tust doch keiner Fliege etwas zuleide. Wer sollte da einen Grund haben, dich um zu bringen?! Um Himmels Willen, Wellis, weißt du, was du sagst?!“
„Natürlich!“ Zum ersten Mal lag in Wellis Stimme protestreiche Emotion.
„Gestern war Mr. Toy bei mir, du kennst ihn doch, er schreibt für verschiedene Zeitungen und er sucht immer wieder konkrete Zusammenhänge zwischen meinem Leiden und dem aktuellen Zeitgeschehen. Er hat jetzt eine ganz besondere Entdeckung gemacht. Sicher erinnerst du dich auch noch ein wenig an unsere deutsche Großmutter Katharina...
Ich erinnere mich noch sehr gut an sie...sie liebte dieses Gut hier in der Toskana sehr, sie liebte Italien mehr als ihre Heimat Deutschland, und denk dir, Mr. Toy hat gerade für einige meiner Schmerzzustände im letzten Jahr in Deutschland besondere Ereignisse gefunden, die mir Schmerzen bereitet haben.“
„Na, ich weiß nicht...,“ warf Mirja zweifelnd ein.
„Hör doch weiter,“ fuhr Wellis fort, „Mr. Toy meinte, ich könne von Glück reden, dass ich nicht im Mittelalter lebe, sonst hätte man mich wie eine Hexe verbrannt. Er hat in Deutschland das Tagebuch einer Frau gefunden, die ähnliche Symptome hatte wie ich. Sie schreibt einmal : Musste gestern den ganzen Tag weinen, sah einen berühmten Mann vor meinem inneren Auge, der vergeblich mit Worten gegen neues Unheil kämpfte. Am anderen Tag stellte sich heraus, dass Albert Schweizer eine Rede gehalten hatte und vor Atomstrahlen gewarnt hatte. Dann, am 1.11.1957 schrieb sie, „mir ist eng in Brust und Hals, sehe eine junge Frau in einer großen Stadt, sie hatte viele Freunde und jetzt nur noch Feinde.“ Einen Tag später erfuhr sie, dass man in Frankfurt Rosemarie Nitribitt ermordet hatte.“
„Ach, das ist doch Blödsinn,“ entfuhr es Mirja. „Und was soll das jetzt mit dir zu tun haben?“
„Es gibt Leute, die meinen, ich sei hellsichtig, und es gibt immer Menschen, die etwas zu verbergen haben. So denkt also Mr. Toy, ich könnte für einige Leute gefährlich sein, weil ich zuviel wüsste.“
„Und? Stimmt das? Siehst du wirklich Dinge, die andere nicht sehen?“
„Nein. Ich sehe nichts. Ich fühle nur. Ich leide, und weiß, jetzt stirbt irgendwo ein Kind an Hunger. Ich habe Schmerzen in Kopf und Brust und fühle, jetzt wurde irgendwo auf der Welt wieder ein Soldat getötet. Ich bin traurig und verzweifelt und fühle, jetzt wurde wieder ein Tier misshandelt.....“
„Sag mal..“ Mirja zögerte. „Wenn du an meine Mutter, deine Tante Imani in Amerika denkst, was fühlst du dann?“
„Tante Imani?“ Wellis schloss die Augen. „Tante Imani ist in Amerika? Aber das geht doch nicht! Wollte sie nicht nach Sizilien, wo man jetzt die Brücke bei Messina plant. Ich hab’s in der Zeitung gelesen. Von Beginn der Planung an jetzt im Jahre 2001 bis hin zur Fertigstellung der Stretto di Sicilia werden noch elf Jahre vergehen.“
„Wie kommst du auf Sizilien?“ fragte Mirja erstaunt. „Mama ging damals nach New York. Großvater will mir morgen ein paar Geheimnisse anvertrauen, die er über Mama weiß, und zwar Dinge, die sie ihm selbst anvertraut hat. Was fühlst du? Geht es Mama gut?“
„New York ist eine große Stadt. Man hat ziemlich viele Katastrophenfilme gedreht, die in dieser modernen Stadt spielen. Schrecklich diese Filme! Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen. Bitte geh jetzt!!!“
Mirja ging auf Wellis zu und küsste sie aufs Haar. „Du Arme, hoffentlich kann dir bald jemand helfen!“
Wellis stützte den Kopf in die Hände. „Es ist im Sommer heiß in New York, sehr heiß sogar, viel heißer als bei uns in der Toskana. Aber sie haben nicht so viele schöne Kirchen. Ich liebe die kühlen Kirchen, die Schatten und Trost spenden. In dieser großen Stadt gibt es so viele Hochhäuser...entsetzlich!!!“ Sie schloss gequält die Augen.
Es klopfte. „Komm herein, Mama!“ monoton klang Wellis leise Stimme.
Ebenso leise und mit gramvoll gebeugtem Kopf trat Capira in das spärlich beleuchtete Zimmer. „Du möchtest sicher gehen?“ wendete sie sich an Mirja, die stumm nickte.
„Wellis hat anstrengende Tage vor sich,“ fuhr Capira fort. „Es werden einige Personen, besonders auch neue Ärzte kommen, die hoffentlich wichtig für sie sind und einmal etwas verändern können.“
„Ja, Tante, das wünsche ich , für Wellis und für dich,“ Mirja küsste die Tante auf beide Wangen. „Und gleich, wenn ich in den Chor gehe, und die Musik von Herzen durch die Halle der Kirche klingt, werde ich eine Kerze anzünden für Euch beide,“ versprach sie.
„Zünde auch eine für Ernesto an,“ bat Capira leise.
„Natürlich Tante,“ versprach Mirja. „wie...wie...? Ich meine, ich werde für ihn beten. Du hast noch nie über ihn gesprochen... Du hast auch noch nie über die Umstände seines Todes gesprochen, wir haben alle nicht darüber gesprochen, weil wir dir nicht weh tun wollten. Aber weißt du eigentlich, warum der Wagen damals von der Fahrbahn abgekommen ist? Weißt du, ob es ein Unfall war?“
„Ach, Kind! Du bist doch noch so jung,“ lenkte die Tante ab. „Quäl dich doch nicht mit den Dingen der Welt, die dir Kraft nehmen. Geh jetzt lieber durch den Sonnenschein unserer göttlichen Toskana, atme den Duft der Pinienbäume und öffne dein junges Herz beim Gesang. Deine Großmutter Katharina sagte es oft “das Licht hier in Italien, hier in der Toskana ist ein Besonderes. Hier halten sich gern die Engel auf“.“
„Ich liebe die Sonne, den Gesang und dieses Land,“ bekannte Mirja mit glänzenden Augen. „Aber, Tante Capira, eins will mir nicht in den Kopf: überall in der Welt gibt es Unglück und Not. In unserer Familie liegt die ganze Welt...wie.. wie ein Abbild aller Schicksale...“ sie öffnete die Tür und wandte sich zum Gehen, „wir müssen doch etwas tun. Steht nicht in der Bibel: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!?“
*
Über den hell grün leuchenden Hügeln schimmerte die Abendsonne. Natalie hielt ihr Fahrrad an. „Hi, wohin gehst du, Cousinchen?“
„Jetzt um die Zeit? Ich geh freitags immer zum Gospelchor. Hast du nicht mal Lust mitzukommen?“
„Lust schon. Aber keine Zeit, und meine Stimme ist auch nicht geeignet. Heute Abend muss ich für die Gazetta noch einen Bericht schreiben.“
Mirja strich sich das rote, glänzende Haar, das der Abendwind liebevoll zauste.
„Um was geht es?“
„Um den alten Giuseppe, der sich sein ganzes Leben lang nicht mehr als 100 Kilometer von seinem Häuschen entfernte. Er liebte seine Olivenbäume und kümmerte sich um ein paar ausgesetzte Hunde und Katzen. Er hat nie etwas von der Welt gesehen, und liest auch keine Zeitung.
Jetzt wird er neunzig, und ich soll etwas über ihn schreiben.“
„Hast du ihn schon interviewt?“
„Na, klar. Er ist ein ganz Lieber. Er lebt ganz bescheiden. Aber als ich ihn zu viel fragte, meinte er: „Jetzt habe ich keine Zeit mehr. Meine Bäume und Tiere brauchen mich,“ ganz so, als habe er eine wichtige Verabredung bei der Börse,“ ihr Lachen klang hell durch die samtene Luft. „Er hat seine eigene Welt.“ „Sag mal, etwas anderes, Natalie. Du schreibst doch gern und viel, willst du nicht mal eine Familienchronik über uns schreiben? Du könntest vielleicht herausfinden, wo Mama lebt, du könntest den mysteriösen Tod von Wellis Vater aufklären, Du könntest vielleicht einen Arzt für Wellis ausfindig machen, du könntest deinem Onkel Nicholas eine Arbeit beschaffen.....“
Natalie protestierte. „Wo denkst Du hin?! Da gibt es eine Reihe von Gründen, warum ich das nie tun würde. Erstens käme ich mir wie eine Schnüfflerin in der eigenen Familie vor, zweitens muss jeder in unserer Familie seine eigenen Entscheidungen treffen, und selbst dann etwas in die Wege leiten, wann er die Zeit für richtig hält, und drittens, und das ist noch lange nicht alles, unsere Familie ist riesig groß!
Da ist Opa Teso, Oma Katharina ist ja leider schon verstorben, da ist deine Familie, also dein Vater Benny und deine Mutter Imani, dein Bruder Timmy und deine Schwester Joana! Ja dann gibt es Wellis mit ihrer Mutter Capira, Onkel Ernesto ist ja leider auch schon verstorben. Aber da haben wir auch noch meine Eltern und Geschwister. Meinen arbeitswütiger Vater Marco, mit meiner Mutter Daniela, mit meinen Brüdern Vicente und Giuseppe, und schließlich und letztlich noch im Dachstübchen bei euch unsere skandalöse Tante Ester mit ihrem arbeitslosen Ehemann Nicholas.
Wer sollte sich da zurechtfinden? Ein Familienclan, bei dem schon jeder einzelne eine Romanfigur ist.“
„Hm,“ Mirja hob die Schultern und ließ sie, begleitet von einem nachdenklichen Gesicht wieder fallen. „Ein bisschen verwirrend wäre das schon. Du kannst einen Stammbaum malen,
Opa Teso als Krone oder aber als Stamm, wie du meinst ....dann seine vier Kinder Ernesto, Marco, Benny und seine Tochter Ester........“
Natalie grinste. „Gut, dass ich nicht malen kann....Übrigens, was ist plötzlich mit dir los? Bisher war für dich die Welt so in Ordnung wie sie ist. Und auch unsere Familie ist die Realität, so sieht es überall in der Welt aus: Krankheit, Liebe , Leid und Tod, das ist das Leben...
Warum möchtest du plötzlich alles auf den Kopf stellen? Willst du alle Rätsel der Vergangenheit lösen, die nichts mehr bedeuten? Kram nicht in alten Sachen rum, lebe!“
„Eine Phrase aus deiner Gazetta....! Ich muss etwas tun, ich weiß es, und wenn dir unsere Familie etwas bedeutet, hilfst du mir,“ Mirja sah die Cousine eindringlich an.
„Mir bedeutet unsere Familie viel,“ wütende Fünkchen tanzten in Natalies Augen, „ und deshalb lasse ich sie so wie sie ist. Dann wird der Tag kommen, an dem die Ereignisse sich überschlagen...“
„Ach, Natalie! Kannst du denn wirklich tatenlos zusehen, wie sich Tante Capira täglich abrackert und alle Welt in Bewegung setzt, um Wellis zu helfen. Wenn Gott das Ende dieser Welt bestimmt, sollen dann erst Wellis Leiden zu Ende sein? Sind wir denn noch im Mittelalter, wo man bei Wellis den Teufel ausgetrieben hätte? In welcher Zeit leben wir denn?
Stehen wir wieder kurz vor der Sintflut oder haben ein Babel? Krieg und Hunger, und jeder lebt für sich?“
Natalie lächelte. „Opa Teso sagt immer : „Die Welt bleibt gleich, aber die Menschen könnten sich ändern. Ich mach jetzt meine Arbeit und schreibe den romantischen und philosophischen Artikel für meine Zeitung. Nur ein Wunder könnte Wellis helfen, das ist meine Meinung. Schreib an den Papst!!!
Übrigens, dort drüben steht dein Freund Roberto. Der will dich bestimmt zum Gospelsingen abholen...., er sieht super aus. Den würde ich mir warm halten,“ sie zwinkerte der Cousine zu, schwang sich auf ihr Rad und fuhr leise singend davon:
„Ti amo..ti amo.. ti amo...“
Mirja strich sich durchs Haar. Die Abendsonne zauberte ein paar goldene Flecken Sternen gleich in die schimmernden roten Locken.
„Hi, Roberto. Du bist viel zu früh. Gibt es etwas Besonderes?“
Der junge Mann betrachtete Mirja, erst ihr Haar, sein Blick wanderte über ihr Gesicht, ihren in ein blaues Leinenkleid verhüllten Körper. „Gut siehst du aus, Mirja! Wirklich! Du bist eine fantastische Frau. Ich dachte, wir könnten noch etwas spazieren gehen. Deshalb bin ich so früh gekommen. Gehen wir in bisschen durch die Olivenplantagen?“
„Ach, was!“ Mirja schüttelte Kopf. „Ich wünschte, ich wäre jetzt in New York, wo meine Mutter ist. Dio mio, muss das jetzt schön sein im Frühling!“
Roberto sah sie erstaunt an . „New York ist im Frühling bestimmt nicht schön. All die Hochhäuser, die kalten, modernen Gebäude, in denen die Menschen anonym leben.
Schau dich doch einmal um. Ist die Toskana nicht ein Land, in dem die Menschen ihren Frieden finden können? Überhaupt, Italien! Welch wunderschönes Land! Warum hat Gott den Papst nach Rom bestimmt?“ „Komm auf die Füße, Roberto!“ Mirja schüttelte den Kopf. „Du als Krankenpfleger, der täglich das Unglück der Welt sieht! Was hast du für Meinungen. Bist du Patriot? Was bist du? Italien ist doch wirklich ein chaotisches Land und kein Paradies. Aber, die Welt ist überall schlecht und gut, auch in New York. Und wenn es einen Gott gibt , ist er bestimmt auch in New York
Du bist altmodisch wie im finstersten Mittelalter.!!! Geh, lass uns zum Singen gehen. Dort ist das Leben.“
Roberto blickte zu Boden. „Du verstehst mich nicht, Mirja!!!
Schau dir doch die Welt an. Hier ist noch alles einfach, die Natur, es ist alles so von schlichter Schönheit, so wie sie gut für den Menschen ist. Aber denk doch daran, wie viele Leute heute in Großstädten unzufrieden, unglücklich und psychisch krank sind! Wellis ist auch krank, aber sie ist eine Ausnahme. Ihr Leid ist ein Besonderes. Doch überall in den Städten, wo man anonym im Grau lebt, wächst die Unzufriedenheit.“
„Ja, die Welt ist eben voller Probleme, und man muss sie jeden Tag neu lösen. Aber ich habe keine Lust mehr auf solche Gespräche. Ich möchte endlich leben, und vielleicht sogar fernab von unserem Familienclan voller Probleme.“
Roberto berührte Mirjas Hand. „Weißt du, wo das Problem liegt? Die Menschen beachten ihr Gewissen nicht mehr. Sie leben in einer neuen, scheinbar freien Welt, in der sie alles tun können, was Ihnen gerade einfällt. Aber oft passt das nicht zu ihrem inneren Gewissen, und das macht sie krank.“
Mirja lachte. „Jawohl, Herr Doktor! Eine schöne Moralpredigt. Als meine Mutter damals einfach so weg ging, habe ich gelernt: Der Mensch muss tun, was ihm für ihn selbst gut erscheint. Aber heute habe ich wirklich keine Lust mehr auf solche Gespräche! Dieser Tag ist ja wie verhext. Kann Leben denn nicht leicht und einfach sein?“
Roberto sah sie aus den Augenwinkeln heraus zweifelnd an. „Siehst du diesen Olivenzweig dort?“ Er deutete auf ein schmales Holz, an dem sich blass-grüne Blätter in leichtem Wind bewegten.
Mirja nickte. „Ich mag die Olivenbäume.“
„Für mich ist der Zweig ein Ölbaumzweig aus der Bibel. Schon als Kind sah ich durch diese Äste in unseren azur blauen Himmel. Wenn ich hier saß, spürte ich den Frieden in mir, den jeder Mensch in der Welt sucht.“
Mirja küsste ihn flüchtig auf die Wange. „Eins muss man dir lassen, Roberto. Obwohl du total unmodern bist, dein Glaube macht dich zu einem sagenhaft romantischen Mann. Oder ist es umgekehrt? Jedenfalls ähnelst du sehr meiner Mutter. Sie sagte immer, die Bibel ist das Buch des Lebens. Es stehen alles Weisheiten darin, man muss die Worte nur richtig verstehen.
Oma Katharina war evangelisch. Sie kam aus Deutschland, dem Land, nachdem sie niemals Sehnsucht hatte. Sie ging jeden Tag in unsere katholische Kirche und zündete dort Kerzen an. Sie liebte heilige Bräuche und Rituale. Sie war sehr romantisch.“
Roberto beugte sich zu ihren Lippen.
Sie drehte sich blitzschnell in eine andere Richtung.„Und jetzt will ich zum Gospelchor,“ verkündete Mirja fröhlich und eilte voraus. Die Sonne zog ihren roten Schleier hinter sich her.
*
„Bitte setz dich einmal kurz zu uns, Natalie!“ bat Mutter Daniela ihre Tochter, die gerade das Wohnzimmer betrat. „Das ist der Psychologe, Dr. Beerwein aus Deutschland, Wellis Arzt Dr. Smollner und die Herren Journalisten Mr. Tore und Mr. Toy kennst du ja bereits...“
Sie begrüßten Natalie mit einem Händedruck.
„Vielleicht kannst du uns, beziehungsweise diesen Herren mit ein paar Antworten weiter helfen. Natürlich geht es um Wellis und ihre Krankheit.“
Natalie setzt sich in das samtene, dunkelrote Polster des alten Mahagonisessels. „Wenn ich kann, helfe ich gern.“
„Es wäre gut, wenn sie mir etwas über das Verhalten ihrer Cousine nach dem Tod ihres Vaters erzählen könnten.“ Er sah Natalie aus klugen, dunkelbraunen Augen an, die mit einem warmen Schimmer Anteilnahme bezeugten.
„Ich versuche mich zu erinnern, Dr. Beerwein,“ antwortete sie mit einem zustimmenden Lächeln. „Sie müssen wissen, ich war ja damals noch sehr klein, und das meiste weiß ich nur aus Erzählungen. Man hat mir auch erzählt, dass Wellis schon als Kind sehr still und ernst war. Übrigens Wellis heißt eigentlich Lisa; aber wie Sie wahrscheinlich auch wissen, war ihr Großvater mütterlicherseits ein Amerikaner, der hier eine Italienerin geheiratet hatte. Er war sehr stolz auf seine kleine Enkeltochter, soll ganz vernarrt in sie gewesen sein. Er konnte ihr keine Bitte abschlagen. Und sagte zu ihr stets: „Well, Liz“.
Ich muss es ihnen sicher nicht übersetzen. Daraus wurde dann ihr Rufname „Wellis“. Leider starb er, als sie noch sehr klein war.“
„Das ist sehr interessant,“ fand Dr. Beerwein. „ Ein liebender Großvater, der sie verwöhnte.
Wissen sie auch etwas über Wellis Reaktionen auf den Tod ihres Vaters?“
„Es gab keine sichtbaren Reaktionen. Sie war sehr ruhig und sagte immer nur „mein Vater ist im Himmel bei den Engeln“.“
„Nun, das finde ich schon sehr wichtig,“ entschied Dr. Beerwein. „Sie müssen wissen, bei uns in Deutschland gibt es schon lange ein sehr zweideutiges Wort. Dr. Smollner hat Wellis Krankheit als „morbis dolori del Mondo“, also Schmerzen der gesamten Welt bezeichnet. Bei uns gibt es ein Wort , das heiß „Weltschmerz“. Man sagt es einfach so, oft ironisch und bezeichnet damit häufig den Schmerz der Leute , die Launen oder Stimmungen haben oder ohne ersichtlichen Grund traurig sind, man sagt auch „sie blasen Trübsal“. So sagt man also oft, wenn jemand trübe Stimmung hat, er leidet an Weltschmerz. Eigentlich aber ist die Bedeutung des Wortes etwas ganz anderes: man fühlt mit, man trägt irgendeinen Schmerz der Welt mit, egal wann wo und wie er stattgefunden hat. Ich möchte nun herausfinden, ob Wellis nicht vielleicht mehr über den Tod ihres Vater weiß, und all das verdrängt hat, was ihr dann auch ähnliche Schmerzen bereiten könnte, oder ob es tatsächlich eine besondere Sensibilität ist, die sie empfänglich macht für die leidvollen Gefühle anderer Menschen.“
„Es sind ja nicht allein die Schmerzen,“ wandte Mutter Daniela ein. „Sie hat oft auch rote Flecken auf der Haut, und das in erkennbaren Formen. Wir haben es alle schon gesehen.“
„Die Seele sucht sich viele Wege, um sich auszudrücken,“ erklärte Dr. Beerwein. „Stellen sie einmal in der Theorie folgendes vor: Wellis hat beobachtet, dass jemand am Auto ihres Vater hantiert hat. Sie denkt sich nichts dabei. Später verunglückt ihr Vater. Sie ahnt Zusammenhänge und gibt sich die Schuld am Tod ihres Vater. Schließlich hat sie geschwiegen. Oder vielleicht gibt es auch eine Version, bei sie der Täter gesehen hat, und er sie später bedroht oder sogar erpresst hat. Solche Fälle gab es schon oft und haben viele Rätsel aufgegeben.“
Dr. Smollner nickte. „Wir glauben aber ebenfalls nicht wirklich daran. Diese Versionen sind wie viele andere reine Spekulationen. Wir wollen all diese Möglichkeiten nur ausschließen, deshalb untersuchen wir alles so genau. Denn schließlich möchten wir alle, dass Wellis Leid einmal ein Ende hat.“
Mutter Daniela atmete tief. „Das hoffen wir alle. Aber bei ihren Untersuchungen, könnte Wellis da nicht auch in Gefahr geraten? Ich meine, wenn sie wirklich etwas weiß oder gesehen hat? Sie werden hier im Dorf schlafende Hunde wecken. Wie reagiert dann der Mann, der vielleicht Ernestos Tod auf dem Gewissen hat?!“
„Sie müssen keine Sorgen haben,“ versuchte Dr. Beerwein sie zu beruhigen , „wir ermitteln nicht. Wir versuchen nur einmal Einsicht in die Polizeiakten zu bekommen, und unsere Fragen stellen wir nur der Familie.“
„Ein großes Anwesen haben sie hier,“ lobte Dr. Smollner. „Fast wie eine kleine Festung. Im großen Haupthaus der Großvater. Und vorn in der Häuserzeile die Familien seiner vier Kinder.
Warum sind es eigentlich nur drei Reihenhäuser?“
„Opa hat die Häuser erbaut, als seine Kinder schon groß waren,“ erklärte Natalie. Und seine einzige Tochter Ester war damals schon aus dem Haus, mit einem Mann. Sie ist nämlich das schwarze Schaf in der Familie.“
„Darf man wissen, wieso?“ fragte Dr. Beerwein höflich.
„Tante Ester sucht den Glamour der Welt, sagt mein Vater oft. Ich habe auch oft gehört, wie sie von vielen beschrieben wird: Wie eine Motte vom Licht fühlt sie sich angezogen von jeder Bühne des Lebens. Sie singt, tanzt, spielt Kabarett und Theater, hat schon oft im Leben ein kleines Vermögen gehabt. Aber, immer wieder findet sie einen Mann, der es schneller wieder ausgibt, als man hinschauen kann. Und so wohnt sie jetzt mit Nicolas bei uns im Dachgeschoss.“
„Diese Symbiose finden wir oft in unseren psychologischen Schriften,“ bemerkte Dr. Smollner und ließ seine Zuhörer im Unklaren, ob er damit die Partnerschaften oder die Wohnsituation meinte.
„Bitte, Signorina d` Ala,“ Dr. Beerwein wandte sich erneut an Natalie. „Würden sie einen Augenblick mit mir auf die Terrasse gehen? Ich hätte noch ein paar Fragen.“
Natalie steckte die Hände in die Hosentaschen ihrer Jeans und lächelte schelmisch.
„Ich warne sie, Dr. Beerwein! Unsere Familie hat die heißblütig melancholischen, romantischen Gene der Italiener und die melancholisch ernsten und sehnsuchtsvollen Gene der Deutschen, dieser beiden seelisch verwandten, und doch so extrem verschiedenen Menschen beider Länder. Im Guten und im Schlechten waren Deutschland und Italien schon immer verbunden. Romantisch und sehnsuchtsvoll, das Unerreichbare anbetend war schon immer die große gemeinsame Eigenart.“ Sie stand auf und eilte zur Terrassentür, atmete tief ein, um den Duft der blühenden Bäume zu riechen.
Dr. Beerwein betrachtete sie aus halb geschlossenen Augen.
„ Gemeinsamkeiten, ja. Immer wieder suchen die Menschen Gemeinsamkeiten. Ich sehe schon,“ sagte er lächelnd. „Wir verstehen uns.“
*
Ein großer Mond leuchtete auf die Säulen des Carrara Marmor.
„Ich heiße übrigens Christian,“ er reichte Natalie die Hand. „Es ist eine wunderbare Nacht. Genau so, wie man sich eine italienische Nacht vorstellt. Am liebsten würde ich jetzt mit ihnen durch den Olivenhain wandern, aber noch darf ich nicht an Privates denken.“
„Typisch deutsch,“ warf Natalie lachend ein. „Ich weiß viel über die deutsche Mentalität, meine Großmutter Katharina kam auch aus Deutschland, sie hat viele Geschichten geschrieben und Bilder dazu gemalt. Es sind nun alles handgeschriebene Büchlein, in denen sie notiert hat, was sie in Deutschland und Italien erlebt hat. Sie stehen bei Opa Teso in der Bibliothek.“
„Die würde ich gern einmal sehen,“ bekundete Dr. Beerwein sein Interesse. „Darf ich Natalie zu ihnen sagen?“
„Wenn es unsere Zusammenarbeit erleichtert,“ meinte sie fröhlich augenzwinkernd. Sie hatten die Terrasse verlassen und schlenderten durch den Park.
„Also, Natalie, erst einmal zurück zu ihrer Cousine Wellis. Spricht sie über ihren Vater? Heute?“
Die junge Frau dachte einen Augenblick nach. „Es wird allgemein selten über ihn gesprochen. Falls Wellis mit jemandem über ihn spricht, dann zu ihrer Mutter. Sie pflegen sein Grab, das sie in der Regel zwei mal in der Woche besuchen. Ich habe nur ein einziges Mal ein paar Worte mit Wellis gewechselt, die ihren Vater betrafen. Das war an einem ihrer Geburtstage, an denen sie sich für gewöhnlich in ihr Zimmer zurück zieht. Wellis wird jetzt im März zwanzig, und ich übrigens Ende September....es war glaube ich ihr 16. Geburtstag! Ja, genau.. jetzt erinnere ich mich. Sie sagte:“ Ich werde heute noch Besuch bekommen.“
Ich war ganz erstaunt, denn ich wusste, dass Wellis niemals Besuch haben wollte, und schon gar nicht an ihrem Geburtstag. Sie lächelte abwesend, weltfremd, aber es war ein heiteres, harmonisches Lächeln. „Mein Vater wird mich besuchen,“ fuhr sie fort. Ich ließ mich in einen Sessel fallen, und muss sehr dumm ausgesehen haben, denn ich wusste nicht, wie ich sie verstehen sollte. Bevor ich etwas fragen konnte, fuhr sie fort: „Ich spreche mit ihm auf eine ganz ungewöhnliche Art, und er ist nicht leicht zu verstehen. Aber bisher hat er mir immer gesagt, dass es ihm gut geht.“ Natürlich habe ich sie gefragt, wie sie mit ihm spricht, und woher sie weiß, dass es wirklich ihr Vater ist, denn schließlich ist er ja verunglückt als sie ungefähr sieben Jahre alt war.“
„Einen Moment bitte, ich muss dich jetzt unterbrechen: Was weißt du über den Unfall, Natalie?“ Christian legte seinen Arm um ihre Schultern.
„Onkel Ernesto hatte das Auto zwei Tage zuvor zu einer Untersuchung in die Werkstatt gebracht. Es ist einiges daran gemacht worden, es war so eine Art Generalinspektion. Tante Capira hat es abgeholt und ist damit noch sehr weit gefahren. Abends spät musste der Onkel noch einmal zu einer Besprechung. Er fuhr gern die Strasse am Meer, dort wo sich der Mond großartig und vielfältig auf dem Wasser spiegelt.