Cover

Sylvie Simmons

I’m your man

Das Leben des Leonard Cohen

Aus dem Amerikanischen
von Kirsten Borchardt

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel I’m Your Man. The Life of Leonard Cohen bei Ecco,
einem Imprint von HarperCollins USA, New York.


Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.


Copyright © 2012 by Sylvie Simmons

Published by arrangement with Sylvie Simmons

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Satz: Uhl+ Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-08151-5
V002

www.btb-verlag.de

Für N. A., in liebendem Gedenken

»So, wie du eine Sache machst,
machst du auch alle anderen.«

Tom Waits

Prolog

Er ist ein höflicher Mann, elegant, mit den guten Manieren der Alten Welt. Er verbeugt sich bei der Begrüßung, steht auf, wenn sein Gegenüber gehen will, er sorgt dafür, dass man sich wohlfühlt, und erwähnt mit keinem Wort, dass er selbst das nicht tut; das ist nur daran zu erkennen, dass er ganz diskret mit den Fingern über die Perlen des Komboloi-Kettchens fährt, das er in seiner Tasche trägt. Er ist von Natur aus ein eher zurückhaltender, etwas schüchterner Mensch, aber wenn es nötig ist, dann verteidigt er seinen Standpunkt mit Würde und Humor. Er wählt seine Worte sorgfältig, wie ein Dichter oder ein Politiker, mit gewohnheitsmäßig präziser Ausdrucksweise, einem Ohr für den richtigen Klang und einem Talent dafür, vom eigentlichen Thema abzulenken und Geheimnissen Raum zu geben. Der Einsatz von Nebelkerzen hat ihm immer schon gefallen. Und dennoch hat seine Sprechweise etwas Verschwörerisches – genau wie sein Gesang. Er klingt stets, als ließe er den Hörer an einem intimen Geheimnis teilhaben.

Er ist ein gepflegter Mann ohne den geringsten Hauch von Maßlosigkeit, und kleiner, als man erwarten würde. Bestens in Form. Man kann sich vorstellen, dass er sich in einer Uniform nicht unwohl fühlen würde. Jetzt aber trägt er einen Anzug. Dunkle Nadelstreifen, zweireihig, und falls dieses Kleidungsstück tatsächlich von der Stange sein sollte, dann sieht es zumindest nicht so aus.

»Schätzchen«, sagt Leonard, »ich wurde in einem Anzug geboren.«1

1. Kapitel

Im Anzug geboren

When I’m with you

I want to be the kind of hero

I wanted to be

when I was seven years old

a perfect man

who kills

»The Reason I Write«, Selected Poems 1956–19681

Der Chauffeur bog an der Synagoge, die beinahe den ganzen Block einnahm, von der Hauptstraße ab, fuhr an der St. Matthias Church an der anderen Straßenecke vorbei und den Berg hinauf. Auf dem Rücksitz des Wagens saß eine Frau – siebenundzwanzig Jahre alt, attraktiv, markante Gesichtszüge, elegant gekleidet – mit ihrem neugeborenen Sohn. Die Straßen, durch die sie kamen, waren schön angelegt, sehr gepflegt und unaufdringlich von Bäumen gesäumt. Große Häuser aus Stein und Klinker, die aussahen, als ob sie unter dem Gewicht der eigenen Bedeutsamkeit zusammenbrechen wollten, schienen sich mühelos den Hang hinaufzuschlängeln. Etwa auf halber Höhe bog der Fahrer in eine Seitenstraße und hielt an ihrem Ende, Belmont Avenue 599, vor einem Haus. Es war ein großes, solides und streng wirkendes Gebäude im englischen Stil, dessen schwarze Backsteinfront von einer weiß gestrichenen Veranda aufgelockert wurde. Das Grundstück grenzte rückwärtig an den Murray Hill Park, ein über fünfeinhalb Hektar großes Gelände mit Rasenflächen, Bäumen und Blumenbeeten, das auf der einen Seite einen großzügigen Blick über den Sankt-Lorenz-Strom gewährte, und von dem aus man auf der anderen die Innenstadt von Montreal sah. Der Chauffeur stieg aus dem Wagen, öffnete die Tür des Fonds, und Leonard wurde die weißen Stufen der Vordertreppe hinauf ins Haus seiner Familie getragen.

Leonard Norman Cohen wurde am 21. September 1934 im Royal Victoria Hospital geboren, einem grauen Steinungeheuer in Westmount, einem wohlhabenden Stadtteil von Montreal. Die Geburtsurkunde datiert dieses Ereignis auf 6:45 Uhr an einem Freitagmorgen, aus geschichtlicher Sicht betrachtet fand es zwischen der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg statt. Rechnet man einmal zurück, dann liegt Leonards Zeugung zwischen dem Ende des jüdischen Lichterfests Hanukka und Weihnachten, mitten in einem der fast arktischen Winter, die seine Heimatstadt mit harscher Regelmäßigkeit heimsuchen. Er wuchs in einem Haus heran, das von Anzügen geprägt war.

Nathan Cohen, Leonards Vater, war ein wohlhabender kanadischer Jude, der eine noble Bekleidungsfirma betrieb. Die Freedman Company war bekannt für ihre Abendgarderobe, und Nathan kleidete sich gern formell, selbst zu informellen Anlässen. Bei Anzügen bevorzugte er ebenso wie bei Häusern den englischen Stil, ergänzt um Gamaschen und eine Blume im Knopfloch sowie einen silbernen Gehstock, als seine schlechte Gesundheit es erforderte. Leonards Mutter Masha Cohen, sechzehn Jahre jünger als ihr Ehemann und erst kürzlich nach Kanada emigriert, stammte aus Russland und war die Tochter eines Rabbis. Sie hatte Nathan kurz nach ihrer Ankunft in Montreal 1927 geheiratet. Zwei Jahre später gebar sie das erste ihrer beiden Kinder, Leonards Schwester Esther.

Frühe Fotografien der Eheleute Cohen zeigen Nathan als einen untersetzten Mann mit eckigem Gesicht und eckigen Schultern. Masha, schlanker und einen Kopf größer, war im Gegensatz dazu ein Spiel weicher, geschwungener Linien. Auf den Bildern ist ihr Gesichtsausdruck mädchenhaft und gleichzeitig königlich, während Nathan versteinert und schweigsam wirkt. Auch wenn es sich natürlich um die damals übliche Pose handelte, die man als Hausherr vor der Kamera einnahm, so war Nathan sicherlich auch sonst wesentlich reservierter und mehr der steifen englischen Art verhaftet als seine warmherzige, gefühlvolle, russische Ehefrau. Als Baby glich Leonard noch sehr seinem Vater mit seinem plumpen Körperbau und dem kompakten, eckigen Gesicht, aber als er größer wurde, schlug er immer mehr nach seiner Mutter Masha mit ihrem herzförmigen Gesicht, dem dichten, gewellten Haar und den tiefen, dunklen Augen, deren äußere Winkel sich leicht nach unten neigten. Von seinem Vater erbte er die Körpergröße, die Ordentlichkeit, den Anstand und die Vorliebe für Anzüge, und von seiner Mutter das Charisma, die Melancholie und die Liebe zur Musik. Masha sang immer, wenn sie durchs Haus ging, mehr auf Russisch und Jiddisch als auf Englisch, und oft die sentimentalen Volkslieder, die sie in ihrer Kindheit gelernt hatte. Mit ihrer guten Altstimme sang sich Masha zum Klang imaginärer Geigen von einer fröhlichen in eine schwermütige Stimmung und wieder zurück. Leonard zufolge war seine Mutter »wie aus einem Stück von Tschechow«,2 und er erklärte: »Sie lachte und weinte aus tiefstem Herzen«; ihre Gefühle wechselten von einem Augenblick zum anderen.3 Masha Cohen war kein nostalgischer Mensch, sie sprach nicht oft über das Land, das sie verlassen hatte. Aber sie trug ihre Vergangenheit in ihren Liedern mit sich.

Bei den Bürgern von Westmount handelte es sich um gut situierte, protestantische Anglokanadier der oberen Mittelklasse und kanadische Juden der zweiten oder dritten Generation. In einer Stadt, in der Teilung und Trennung stets eine große Rolle spielten, waren Juden und Protestanten schlicht deswegen in derselben Gegend gelandet, weil sie weder französischstämmig noch katholisch waren. Vor der »Stillen Revolution« von Quebec in den 1960er Jahren und bevor Französisch die einzige offizielle Amtssprache der Provinz wurde, waren Franzosen in Westmount nur als Dienstboten anzutreffen. Das Hausmädchen der Cohens, Mary, war allerdings eine irischstämmige Katholikin. Die Familie beschäftigte auch eine Kinderfrau, die Leonard und seine Schwester »Nursie« nannten, und einen Gärtner namens Kerry, einen Schwarzen, der auch als Chauffeur einsprang. (Kerrys Bruder übernahm die gleichen Pflichten bei Nathans jüngerem Bruder Horace.) Es ist kein Geheimnis, dass Leonard in einem privilegierten Umfeld aufwuchs. Er hat nie geleugnet, dass er aus dem »richtigen« Viertel stammte, und sich nie von seiner Herkunft distanziert, von seiner Familie abgewandt, seinen Namen geändert oder so getan, als wäre er jemand anders. Seine Familie war gut betucht, auch wenn es in Westmount sicherlich noch Reichere gab. Im Gegensatz zu den Villen von Upper Belmont handelte es sich beim Haus der Cohens, obwohl es groß war, letztlich um eine Doppelhaushälfte, und sie hatten zwar einen Chauffeur, fuhren aber statt eines Cadillacs einen Pontiac.

Aber in einer Hinsicht kamen nur wenige andere an die Cohens heran: Sie genossen einen ganz besonderen Status. Leonard war in eine angesehene und bedeutsame Familie hineingeboren worden – in eine der ersten jüdischen Familien Montreals. Leonards Vorväter hatten in Kanada Synagogen erbaut und Zeitungen ins Leben gerufen. Sie hatten eine Vielzahl von Wohltätigkeitsorganisationen und Verbänden gegründet und geleitet. Leonards Urgroßvater Lazarus Cohen war als Erster nach Kanada eingewandert. Er hatte in Litauen, das in den 1840er Jahren, als er geboren wurde, zu Russland gehörte, in Waukawysk in einer Rabbischule, einer der strengsten Jeschiwas des ganzen Landes, als Lehrer gearbeitet. Er war noch keine dreißig, als er seine Frau und ihren kleinen Sohn allein zurückließ, um sein Glück zu machen. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Schottland nahm er ein Schiff nach Kanada und blieb in einem kleinen Ort in Ontario hängen, Maberly, wo er zunächst als Arbeiter in einem Holzlager Beschäftigung fand und schließlich zum Besitzer einer Kohlenhandlung aufstieg, L. Cohen & Son. Bei besagtem Sohn handelte es sich um Lyon, Nathans Vater; Lazarus hatte seine Familie zwei Jahre nach seiner eigenen Ankunft ebenfalls nach Kanada geholt. Die Cohens landeten schließlich in Montreal, wo Lazarus zum Direktor einer Messinggießerei wurde und ein erfolgreiches Unternehmen für Ausbaggerarbeiten gründete.

Als Lazarus in den 1860er Jahren in Kanada ankam, war die jüdische Gemeinde dort noch sehr klein. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts lebten weniger als fünfhundert Juden in Montreal. In den 1880ern, als Lazarus zum Vorsitzenden der Congregation Shaar Hashomayim Synagoge wurde, war ihre Zahl schon auf mehr als fünftausend angestiegen. Die Pogrome in Russland hatten eine Einwanderungswelle ausgelöst, und Ende des Jahrhunderts hatte sich die Zahl noch einmal verdoppelt. Montreal wurde zum Zentrum des kanadischen Judentums, und Lazarus war innerhalb der Gemeinschaft mit seinem langen, biblischen Bart und dem unbedeckten Kopf eine stadtbekannte Persönlichkeit. Er ließ nicht nur eine Synagoge erbauen, sondern gründete und leitete zudem eine Reihe von Organisationen zur Unterstützung jüdischer Aussiedler; er reiste im Auftrag des Jüdischen Kolonisationsverbands von Montreal sogar nach Palästina, wo er bereits 1884 Land erworben hatte. Sein jüngerer Bruder Rabbi Tzvi Hirsch Cohen, der ihm schon bald nach Kanada gefolgt war, wurde Hauptrabbiner von Montreal.

Als Lyon Cohen 1914 den Vorsitz der Shaar Hashomayim von seinem Vater übernahm, hatte die Synagoge die größte Gemeinde in einer Stadt, die inzwischen etwa vierzigtausend jüdische Einwohner zählte. 1922 war sie endgültig zu klein geworden, und daher verlegte man die Synagoge nach Westmount in ein Gebäude, das beinahe einen ganzen Häuserblock einnahm und nur wenige Minuten von dem Haus in der Belmont Avenue entfernt lag. Zwölf Jahre später ließen Nathan und Masha ihren einzigen Sohn in das »Geburtsregister des Zusammenschlusses englischer, deutscher und polnischer Juden von Montreal« eintragen und gaben Leonard seinen jüdischen Namen Eliezer, der »Gott ist Hilfe« bedeutet.

Lyon Cohen war ebenso wie sein Vater ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann und handelte mit Bekleidung und Versicherungen. Wie Lazarus engagierte auch er sich ehrenamtlich und wurde schon als Jugendlicher zum Schriftführer des Anglo-Jüdischen Verbands gewählt. Er richtete später ein jüdisches Gemeinschaftszentrum und ein Sanatorium ein und kümmerte sich um Hilfsprogramme für die Opfer der Judenverfolgung. Lyon bekleidete zudem leitende Positionen am Baron de Hirsch Institute, im Kanadischen Kolonisationsverband und der ersten kanadischen Zionisten-Organisation. Im Auftrag seiner Gemeinde reiste er zum Vatikan, um mit dem Papst zu sprechen. Er war Mitbegründer der ersten anglo-jüdischen Zeitung Kanadas, der Jewish Times, für die er gelegentlich auch Artikel schrieb. Mit sechzehn verfasste Lyon ein Theaterstück, das den Titel Esther erhielt; die Aufführung produzierte er selbst, und er übernahm auch eine Rolle darin. Leonard lernte seinen Großvater nie kennen – er war zwei Jahre alt, als Lyon starb –, aber dennoch bestand zwischen ihnen eine starke Verbindung, die sich noch verstärkte, als Leonard älter wurde. Lyons Prinzipien, seine Arbeitsmoral und sein Vertrauen in »die Aristokratie des Intellekts«,4 wie er es nannte, passten sehr gut zu Leonards eigenen Überzeugungen.

Lyon war ein überzeugter Patriot, und als der Erste Weltkrieg ausbrach, initiierte er ein Rekrutierungsprogramm, um Montreals Juden zum Eintritt in die kanadische Armee zu bewegen. Die Ersten, die sich freiwillig meldeten, waren seine Söhne Nathan und Horace (der dritte Sohn, Lawrence, war zu jung). Lieutenant Nathan Cohen, Nummer 3080887, erhielt als einer der ersten Juden ein Offizierspatent der kanadischen Armee. Leonard liebte die Fotos, die seinen Vater in Uniform zeigten. Aber Nathan kehrte gesundheitlich angeschlagen aus dem Krieg zurück, und er wurde zunehmend invalid. Möglicherweise war das der Grund, weshalb Nathan, obwohl er der älteste Sohn des ältesten Sohnes war, nicht den Vorsitz in der Synagoge übernahm und auch sonst nur wenige Familientraditionen weiterführte. Auf dem Papier war er zwar der Vorsitzende der Freedman Company, aber die Geschäfte leitete größtenteils sein Bruder Horace. Auch war Nathan kein Intellektueller oder Religionsgelehrter wie seine Vorväter. Auf den dunklen Bücherregalen im Haus an der Belmont Avenue fand sich zwar eine beeindruckende, ledergebundene Sammlung der großen englischen Dichter Chaucer, Wordsworth und Byron, die Nathan zur Bar Mizwa geschenkt bekommen hatte, aber ihre Rücken zeigten keinerlei Gebrauchsspuren, bis Leonard sie sich zum Lesen herunterholte. Nathan bevorzugte Leonard zufolge eher Reader’s Digest, aber »er hatte ein kultiviertes Herz und war ein Gentleman«.5 In seiner Religionsausübung war Nathan »ein konservativer Jude, nicht fanatisch und ohne Ideologie oder Dogma, dessen Leben völlig von seinen häuslichen Gewohnheiten und der Zugehörigkeit zur Gemeinde bestimmt wurde«. Über Religion wurde in Nathans Haus weder gesprochen noch überhaupt nachgedacht. »Sie wurde ebenso wenig diskutiert, wie ein Fisch über das Vorhandensein von Wasser spricht.«6 Sie war einfach da, seine Tradition, sein Volk.

Mashas Vater, Rabbi Solomon Klonitzki-Kline, war ein renommierter Religionsgelehrter. Er war Direktor einer Schule für Talmudstudien im litauischen Kovno gewesen, etwa 80 Kilometer entfernt von der Geburtsstadt von Lazarus. Er war auch als Autor bekannt, und seine beiden Bücher Lexicon Of Hebrew Homonyms und Thesaurus Of Talmudic Interpretations brachten ihm den Beinamen »Sar HaDikDook«, Grammatikfürst, ein. Als die Judenverfolgung das Leben in Litauen unerträglich werden ließ, emigrierte er in die USA, wo bereits eine seiner Töchter lebte und einen Amerikaner geheiratet hatte. Masha hingegen war nach Kanada gegangen und Krankenschwester geworden. Als ihre Arbeitserlaubnis auslief, bat Rabbi Kline seinen amerikanischen Schwiegersohn um Hilfe, und über diese Brücke kam er mit Lyon Cohens Eingliederungskomitee in Kontakt. Die Freundschaft, die sich daraufhin zwischen Lyon und dem Rabbi entwickelte, führte schließlich dazu, dass Masha und Nathan sich kennenlernten und heirateten.

Als kleiner Junge hatte Leonard von seinem Großvater Kline mehr gehört als gesehen, da der Rabbi die meiste Zeit in den USA verbrachte. Masha erzählte ihrem Sohn, dass die Menschen viele hundert Kilometer reisten, um ihn reden zu hören. Zudem, sagte sie, galt er als guter Reiter, und das gefiel Leonard besonders. Er genoss es, aus einer Familie bedeutender Menschen zu kommen, aber er war noch jung, und körperliche Fähigkeiten beeindruckten ihn wesentlich stärker als intellektuelle. Leonard träumte davon, zur Militärakademie zu gehen, sobald er alt genug dafür war. Nathan versicherte ihm, das könne er auch. Leonard wollte Kriege führen und Orden angeheftet bekommen – so wie sein Vater, bevor der so gebrechlich geworden war, dass es ihm manchmal schon schwerfiel, die Treppe zum ersten Stock hinaufzugehen, und der oft der Arbeit fernblieb, um zu Hause von Leonards Mutter gepflegt zu werden. Während Leonards Kindheit war Nathan häufig krank. Aber der Junge hatte Beweise dafür, dass sein Vater einst gekämpft hatte. Da gab es die Pistole, die Nathan seit dem Ersten Weltkrieg besaß und die er in seinem Nachtschrank aufbewahrte. Eines Tages, als niemand zu Hause war, schlich sich Leonard ins Schlafzimmer seiner Eltern. Er öffnete den Schrank und nahm die Pistole heraus. Es war eine schwere Waffe, eine .38er, auf deren Lauf Name, Rang und Regiment seines Vaters eingraviert waren. Leonard nahm sie in seine kleine Hand und erschauerte, überwältigt von dem Gewicht der Waffe und von dem kalten Metall auf seiner Haut.

Das Leben in der Belmont Avenue 599 verlief geschäftig, geordnet und nach festen Regeln, und das Haus bildete den Mittelpunkt des Universums für den jungen Leonard. Alles, was der Junge brauchte, befand sich in seiner unmittelbaren Nähe, und auch für etwaige Unternehmungen musste er sich nicht weit davon entfernen. Seine Onkel und Cousins wohnten in der Nähe. Die Synagoge, die Leonard am Samstagmorgen mit der ganzen Familie, am Tag darauf für die Sonntagsschule und unter der Woche an zwei Nachmittagen für den jüdischen Unterricht besuchte, lag nur ein paar Gehminuten entfernt unten am Berg. Auch die Schulen, die er besuchte, die Roslyn Elementary School und später die Westmount High, befanden sich in direkter Nähe. Der Murray Hill Park, in dem Leonard im Sommer spielte und im Winter Schnee-Engel auf dem Boden hinterließ, lag direkt unter seinem Fenster.

Die jüdische Gemeinde in Westmount hielt fest zusammen. Sie bildete zudem eine Minderheit inmitten der ansonsten protestantischen, anglokanadischen Nachbarschaft. Die wiederum stellte ebenfalls eine Minderheit dar, aber eine mächtige, in einer Stadt und einer Provinz, die von französischstämmigen Katholiken dominiert wurde – an sich wiederum eine Minderheit in Kanada. Jeder fühlte sich hier ein wenig wie ein Außenseiter, und jeder war überzeugt, zu einer besonderen Gruppe zu gehören. »Für den Geist war das eine romantische, verschwörerische Umgebung«, sagte Leonard, ein Ort »von Blut und Erde und Bestimmung. Das war die Landschaft, in der ich aufwuchs und die für mich ganz natürlich ist.«7

Leonards Gemeinde war ein gutes Stück entfernt von St. Urbain, jenem Stadtteil, in dem die jüdische Arbeiterklasse lebte (und der die Kulisse für die Romane von Mordecai Richler darstellte). Zwar erweckte sie den Eindruck einer hermetisch abgeschlossenen Gesellschaft, aber das war natürlich nicht so. Das Kreuz oben auf dem Mount Royal, das sich bekreuzigende Hausmädchen der Familie, die christlichen Rituale zu Ostern und Weihnachten, die er in der Schule erlebte, waren ebenso Teil der prägenden Umgebung des jungen Leonard wie die Sabbatkerzen, die sein Vater an Freitagabenden entzündete, oder die imponierende Synagoge unten am Berg, von deren Wänden ihn sein Urgroßvater und sein Großvater von großen, gerahmten Porträts anstarrten und ihn an sein besonderes Erbe erinnerten.

Wie Leonard selbst sich erinnerte, gab es ein »intensives Familienleben«.8 Die Cohens kamen regelmäßig zusammen – in der Synagoge, bei der Arbeit und außerdem einmal die Woche im Haus von Leonards Großmutter mütterlicherseits. »Jeden Samstagnachmittag gegen vier Uhr schob Martha, ihr treues Hausmädchen, einen Servierwagen mit Tee, kleinen Sandwiches, Kuchen und Keksen ins Wohnzimmer«, berichtet David Cohen, der zwei Jahre ältere Cousin, mit dem Leonard besonders eng befreundet war. »Man wurde niemals eingeladen und man fragte auch nie, ob man kommen durfte, aber man wusste, dass sie ›empfing‹. Das hört sich jetzt recht archaisch an, aber es war auch eine ziemlich große Sache.« Leonards Großmutter hatte eine Wohnung in einem der hochherrschaftlichen Häuser an der Sherbrooke Street in Attwater, jenem Viertel, in dem alle Paraden, die in Montreal stattfanden, zu Ende gingen. »Bevor sich die politische Situation in Montreal so verschärfte, gab es am Johannistag, dem Nationalfeiertag, eine ganz große Parade, die wir uns von ihrem großen, schönen Wohnzimmerfenster aus ansahen.« Ihre Großmutter war in vieler Hinsicht eine Dame nach viktorianischer Art, »und obwohl das jetzt vielleicht einen etwas altmodischen Eindruck vermittelt, war sie doch gleichzeitig auch ziemlich hip«. Sie beeindruckte Leonard sehr, und ihre Teegesellschaften fanden später Eingang in seinen ersten Roman The Favourite Game (Das Lieblingsspiel).

Im gleichen Buch beschrieb Leonard die älteren Männer seiner Familie als ernst und förmlich. Jedoch waren sie nicht alle so. Zu den schillernden Figuren der Familie zählte beispielsweise Cousin Lazzy, Davids älterer Bruder Lazarus. In Leonards Augen war er »ein Mann von Welt, der sich mit Revuegirls, Nachtclubs und Entertainern auskannte«.9 In der älteren Generation gab es Edgar, einen Cousin Nathans, der zwar eigentlich Geschäftsmann war, sich aber auch mit Literatur beschäftigte. Viele Jahre später, 1970, veröffentlichte Edgar H. Cohen Mademoiselle Libertine: A Portrait Of Ninon de Lanclos, die Biografie einer Kurtisane, Schriftstellerin und Muse des siebzehnten Jahrhunderts, zu deren Geliebten unter anderem Voltaire und Molière zählten, und die nach einer Weile im Kloster eine Schule gründete, in der junge französische Adlige erotische Techniken erlernen konnten. Leonard und Edgar, sagt David Cohen, »standen sich sehr nahe«.

Leonard führte ein angenehmes, sicheres Leben in einer unangenehmen, unsicheren Zeit. Wenige Tage vor Leonards fünftem Geburtstag fiel Deutschland in Polen ein, und der Zweite Weltkrieg begann. Auch vor seiner Haustür wurde es unangenehm; 1942 gab es eine antisemitische Kundgebung auf dem St. Lawrence Boulevard – The Main, wie die Einheimischen diese Straße nannten, die als traditionelle Trennlinie zwischen dem englischen und französischen Montreal galt. Die Demonstranten wurden von der französischen Nationalistenbewegung Montreals angeführt, zu der unter anderem auch die Unterstützer des Vichy-Regimes in Frankreich zählten. Eine besonders lächerliche Behauptung der Organisation war dabei, dass die Juden die Bekleidungsindustrie übernommen hätten, um anständige, junge Frankokanadierinnen dazu zu zwingen, »unanständige Kleider nach New Yorker Mode« zu tragen.10 Während der Kundgebung wurden die Fenster verschiedener jüdischer Geschäfte und Feinkostläden auf der Main eingeworfen und rassistische Slogans an die Wände geschmiert. Aber für einen Siebenjährigen, der in Westmount lebte und in seinem Kinderzimmer Superman-Comics las, war das eine andere, weit entfernte Welt. »Europa, der Krieg, die gesellschaftlichen Spannungen«, sagte Leonard, »schienen uns alle nicht zu berühren.«11

In den frühen Kinderjahren schaffte er es mühelos, alle Anforderungen zu erfüllen, die man an ihn herantrug – saubere Hände, gute Manieren, Umziehen fürs Abendessen, gute Zeugnisse, Spiele mit der Hockeymannschaft, die Schuhe allabendlich frisch geputzt und ordentlich aufgereiht unter dem Bett – ohne dabei irgendwelche beunruhigenden Anzeichen von Heiligkeit oder Genie erkennen zu lassen. Und auch von Melancholie konnte keine Rede sein. Die kurzen Filme, die Nathan als begeisterter Hobby-Kameramann von seiner Familie machte, zeigen einen glücklichen kleinen Jungen, der strahlend mit dem Dreirad die Straße hinunterfährt, an der Hand seiner Schwester spazieren geht oder mit seinem Hund spielt, einem schwarzen Scotchterrier, der Tinkie hieß. Seine Mutter hatte ihm ursprünglich den würdevolleren Namen Towarischtsch gegeben, der auf Russisch »Genosse« oder »Kamerad« bedeutet, aber sein Vater hatte Einspruch eingelegt. Nathan hatte bereits erkannt, dass Mashas russische Mentalität, ihr Akzent, ihr fehlerhaftes Englisch und ihre überbordende Persönlichkeit in dieser kleinen, anglisierten Gesellschaft kanadischer Juden sehr auffielen. »Es wurde nicht als gute Idee betrachtet, für irgendetwas Leidenschaft zu zeigen«, sagte Leonard, oder in irgendeiner Weise auf sich aufmerksam zu machen. »Man brachte uns bei«, erklärt Cousin David, »immer alles ordentlich und richtig zu machen.«

Im Januar 1944 starb Leonards Vater im Alter von zweiundfünfzig Jahren. Leonard war neun. Vierzehn Jahre später beschrieb er dieses Ereignis in zwei unveröffentlichten Geschichten, »Ceremonies« und »My Sister’s Birthday«.12 »Nursie sagte uns, was passiert war.« Leonards Kinderfrau saß am Küchentisch, die Hände im Schoß gefaltet, und erklärte Leonard und Esther, sie würden an diesem Tag nicht in die Schule gehen, weil ihr Vater in der Nacht verstorben war. Sie sollten sich still verhalten, denn ihre Mutter schliefe noch. Das Begräbnis würde am folgenden Tag stattfinden. »Dann erinnerte ich mich, welcher Tag das war«, schrieb Leonard. »Aber morgen kann das doch nicht sein, Nursie, da hat doch meine Schwester Geburtstag.«

Am nächsten Morgen um neun Uhr erschienen sechs Männer und trugen den Sarg ins Wohnzimmer. Sie setzten ihn neben dem Chesterfield-Sofa ab. Masha ließ das Hausmädchen alle Spiegel im Haus abseifen. Gegen Mittag erschienen die Trauergäste, schüttelten sich den Schnee von den Schuhen und Überziehern – Verwandte, Freunde, Angestellte aus der Fabrik. Der Sarg war offen. Leonard sah hinein. Nathan war in einen silbernen Gebetsmantel gehüllt, das Gesicht ganz weiß, der Schnurrbart schwarz. Sein Vater, dachte Leonard, sah verärgert aus. Onkel Horace, der die Freedman Company mit Nathan gemeinsam geführt und an seiner Seite im Krieg gekämpft hatte, raunte Leonard zu: »Wir müssen jetzt wie Soldaten sein.« Später am Abend fragte Esther ihren Bruder, ob er sich getraut hatte, ihren toten Vater zu betrachten, und nachdem sie sich das beide eingestanden hatten, waren sie sich einig, dass es aussah, als hätte jemand seinen Schnurrbart gefärbt. Beide Kurzgeschichten enden mit derselben Zeile: »Weine nicht, sagte ich zu ihr. Ich glaube, das war mein bester Augenblick. Bitte, es ist doch dein Geburtstag.«

Eine dritte Version der Ereignisse findet sich in Das Lieblingsspiel. Es ist eine souveränere Schilderung, teilweise dadurch bedingt, dass Leonards Schreibstil in der Zeit zwischen den verworfenen Geschichten und seinem ersten Roman beträchtlich reifte, und teilweise auch aufgrund der Distanz, die dadurch entsteht, dass die Geschichte hier einer fiktionalen Figur zugeordnet wird (obwohl Leonard bestätigt hat, dass es sich genauso abspielte, wie er in seinem Roman beschrieb).13 Hier schließt diese Episode damit, dass der Junge die Krawatte seines Vaters aus dem Schlafzimmer holt, sie aufschneidet und ein kleines Stück Papier ins Futter schiebt, auf das er etwas geschrieben hat. Am folgenden Tag gräbt er im Garten ein Loch und begräbt die Krawatte bei einer ganz privaten Zeremonie unter dem Schnee. Leonard zufolge enthielt das Papier seine ersten richtigen Schreibversuche. Er hat außerdem stets erklärt, er habe keine Erinnerung daran, was genau draufstand, und er habe »über Jahre hinweg immer wieder im Garten gegraben und danach gesucht. Vielleicht tue ich nichts anderes, als nach dieser kleinen Notiz zu suchen.«14

Dieser Akt, dieses erste Mal in seinem Leben, dass er aus dem Schreiben eine rituelle Handlung macht, ist so stark symbolisch aufgeladen, dass man diese Aussage aus einem Interview von 1980 gern für bare Münze nehmen möchte, auch wenn es sich vermutlich nur um eine der vielen zitierfähigen Bemerkungen handelt, wie Leonard sie in Interviews so oft gegeben hat. Kinder fühlen sich oft von mystischen, geheimen Zeremonien angezogen. Und wenn Leonard auch gesagt haben mag, dass er sich als Kind »nicht besonders für Religion interessierte, abgesehen von wenigen Gelegenheiten, bei denen wir uns einen Chor anhörten«, dann war er sich dennoch stets bewusst, dass er ein Kohen war, ein Angehöriger der Priesterkaste, in väterlicher Linie abstammend von Moses’ Bruder Aaron, und von daher dazu geboren, öffentliche Ämter zu übernehmen.15 »Als man mir sagte, ich sei ein Kohen, habe ich das geglaubt. Ich habe das nie für eine überflüssige Information gehalten«, sagte er. »Ich wollte in dieser Welt leben. Ich wollte derjenige sein, der die Tora aufhebt … Ich war ein kleines Kind, und alles, was man mir über diese Dinge sagte, hallte in mir wider.«16

Dennoch zeigte er als Kind wenig Interesse an der Synagoge, die seine Vorfahren gegründet hatten. Der jüdische Unterricht langweilte ihn, wie er sagte, und Wilfred Shuchat, der 1948 zum Rabbiner der Shaar Hashomayim gewählt wurde, scheint das zu bestätigen. Leonard sei als Schüler »ganz ordentlich« gewesen, sagt der alte Rabbi, »aber sein wahres Interesse galt nicht dem schulischen Lernen. Es war seine Persönlichkeit, die Art, wie er Dinge interpretierte. Er war sehr kreativ.«

Leonard weinte nicht, als sein Vater starb – jedenfalls nicht so sehr wie später beim Tod seines Hundes Tinkie. »Ich hatte nicht das Gefühl eines schweren Verlusts«, sagte er 1991 in einem Interview, »vielleicht, weil er während meiner ganzen Kindheit stets sehr krank war. Es erschien ganz natürlich, dass er starb. Er war schwach und er starb. Vielleicht habe ich ein kaltes Herz.«17

Tatsächlich war Nathan seit dem Sommer im Jahr zuvor immer wieder im Royal Victoria Hospital gewesen. Und auch wenn es sein mag, dass der Verlust seines Vaters Leonard nicht sehr traf, dann war er mit seinen neun Jahren aber doch nicht mehr so klein, dass er davon völlig unberührt geblieben wäre. Irgendwo in seinem Inneren musste sich etwas verändert haben – vielleicht wurde ihm zum ersten Mal die Unbeständigkeit des Daseins bewusst oder ihm wurde eine traurige Weisheit zuteil, wie durch einen Riss, durch den Unsicherheit oder Einsamkeit einsickern konnten. Leonard hat allerdings gesagt und auch darüber geschrieben, dass er sich während dieser entscheidenden Episode seiner Kindheit vor allem bewusst war, dass sich damit sein eigener Status änderte. Während sein Vater im Wohnzimmer aufgebahrt lag, hatte ihn sein Onkel Horace beiseitegenommen und ihm erklärt, dass nun er, Leonard, der Mann im Haus sei, der die Verantwortung für die Frauen trug, für seine Mutter und seine vierzehnjährige Schwester Esther. »Das machte mich stolz«, schrieb Leonard in »Ceremonies«. »Ich kam mir vor wie der gesegnete junge Prinz einer vom Volk geliebten Dynastie. Ich war der älteste Sohn des ältesten Sohnes.«18