Wandern in der einsamen Berglandschaft oberhalb von Nawarpani
Prolog
RespektHeimat ist auch ein Gefühl
DemutPures Glück der Einsamkeit
EinfachheitNormalität gibt Halt
GelassenheitDie Erwartungen senken
GlaubenWenn Pflicht schwerer wiegt als Trauer
AchtsamkeitUnbeschwerter Weg zum Glück
TraditionenÜbernatürlichen Kräften vertrauen
LebensweisheitenMit alten Rezepten neue Zeiten meistern
ZufriedenheitBeschäftigung zur inneren Balance
GemeinschaftWas das Leben zusammenhält
KraftquellenMaterieller Besitz kennt keinen Wert
LoslassenZu viel Nachdenken führt zur Verwirrung
EinklangLust und Last der Einfachheit
Epilog
Anhang
Traditionalist – Schneider Karma Tsering gehört zu den Alten in Bhijer. Bevorzugter Arbeitsplatz: das Dach seines Hauses mit den Bergen im Rücken und der Sonne auf der Nadel.
Die Sonne stand noch hoch über den Bergen im Westen. Der Schnee leuchtete auf dem fernen, mächtigen Kanjirowa, der weder Sommer noch Winter kennt, nur ewiges Eis.
Es gab keinen Grund zur Eile für Karma Tsering, den im Dorf alle nur Kartse nannten. Noch hatte er genug Zeit, um mit seinem besten Freund Karma Dhondup Gurung auf dem Dach des uralten Steinhauses zu sitzen, wie sie es im Sommer oft taten, wenn sie ihrer Arbeit als Schneider nachgingen.
Oder sollte er den kurzen Weg zu Tsewang und dessen Bruder einschlagen, auch sie wohnten in der Nähe. Die beiden »Unberührbaren« gehörten der Dalit-Kaste an und wurden deshalb im Dorf missachtet – vielleicht mochte Kartse sie deshalb besonders. Und sie erinnerten ihn an seine eigene schwere Jugend. Er wusste, wie sich Ablehnung anfühlte.
Doch an diesem Nachmittag wollte er nur allein mit sich und in seiner Welt sein. Er wollte in aller Ruhe weiter warten, so wie er es bereits seit Tagen jeden Nachmittag tat. Also machte er sich ohne Halt, ohne jedes weitere Wort auf zum Hang hinter dem Fluss. Zu seinem Platz.
Auf dem Weg lag die Luwa, die Quelle, aus der er jeden Morgen das Opferwasser holte, auch wenn er im Winter das Eis erst aufhacken musste. Bis zur schmalen Holzbrücke über den Fluss, gespeist durch das Wasser des heiligen Berges Mukporong, waren es nur ein paar Schritte. Einen Moment des Innehaltens gönnte er sich, einen Blick den Hang hinauf, der still und menschenleer vor ihm lag.
Kartse atmete tief, sprach aus Dankbarkeit ein Gebet und spürte: Die Götter standen ihm bei. Auf die Frage, ob er glücklich sei, antwortete er stets mit den Worten seines Herzens: »Wir haben genug zu essen, wir haben genug zum Anziehen – warum sollten wir nicht glücklich sein?«
Zum wahren Glück brauchten er und seine Familie nicht viel. Doch selbst das Wenige wollte nicht oft bei ihnen verweilen. War aber Zuversicht ein rares Gut, lud er einen hohen Lama ein. Tagelang beteten sie, rezitierten Puja-Texte und gewannen so die Hoffnung, dass das Leben langsam wieder ins Lot kam. Sie hatten genug Gründe fürs Gebet, denn das Glück zeigte sich zumeist von seiner flüchtigen Seite. Seit seiner Kindheit entstellte eine Lähmung sein Gesicht. Wie oft war er deshalb verspottet worden. Auch forderten Lepra und Tuberkulose seine ganze Kraft. Später wollten eifersüchtige Nachbarn ihn aus seiner Heimat vertreiben.
Kartse heiratete Nachok Gurung, die eine Tagesreise entfernt in Pho zu Hause war. Elf Kinder zählte im Laufe der Jahre die gemeinsame Familie. Er arbeitete hart für ihr Überleben, Tag für Tag. Was aber war der Lohn der Mühsal? Als eine seiner Töchter, einst beim Melken der Ziegen von Nachok zur Welt gebracht, nur eineinhalb Jahre lebte, erklärte man sie für tot.
Doch die Götter erhörten seine Gebete. Sie überlebte. Mehr als zwanzig karge Jahre waren seither ins Land gegangen. Kartse kannte den Wert eines Lebens. Er wusste, dass sich der Schmerz der Trauer auch nach dieser langen Zeit noch immer wie ein schwarzer Schatten auf seine Seele legen konnte. Deshalb empfand er für jeden Moment des Glückes große Dankbarkeit. Denn seine Tochter lebte noch, wenn auch fern der Heimat.
Kartse setzte sich wie gewohnt auf den großen Stein. Von hier hatte er einen Blick über das Dorf und vor allem auf den Berg. Aus einer kleinen, derben Wolltasche holte er eine Tasse mit Yakbuttertee hervor. Verknetete ihn mit ein wenig Tsampa zu einem Brei und strich sich mit den Fingern der linken Hand eine Portion in den weit geöffneten Mund. Besser konnte Heimat, besser konnte Upper Dolpo nicht schmecken.
Kartse hatte Yaks, Pferde und Weideland geerbt. Doch etwas anderes besaß für ihn viel größeren Wert. Sein Adoptivvater, ein streng religiöser Bauer, hatte ihm seinen Lotho vermacht, den tibetischen Kalender. Das Buch, dessen Alter niemand kannte, aber dessen Kraft jeder im Dorf aufs Ehrfürchtigste respektierte, war ausgerichtet an den Mondphasen und bestimmte den Tag für die Ernte, für Heirat, Himmelsbestattungen, Namensgebungen und Heilungen. Eigentlich bestimmte der Lotho jeden Schritt im Alltag. Und ein Leben ohne Lotho konnte sich niemand vorstellen.
Seit Jahrzehnten nutzte Kartse diesen Lotho, ergänzt durch eigene Beobachtungen, auch um das Wetter vorherzusagen. Er musste nicht den Himmel anschauen und wusste doch, wie das Wetter werden würde, es stand in seinem Buch – und er irrte sich nur selten, weil sich sein Lotho nur sehr selten irrte.
Er trank noch einen Schluck Yakbuttertee. Eile war nicht vonnöten. Geduld war gefragt, denn der Lotho hatte ihm schlechtes, sehr schlechtes Wetter vorausgesagt. Über den Bergen im Süden hingen tiefschwarze Wolken. In all den Tagen, die er bereits den Nachmittag über hier wartete, hatte niemand den Weg von Shey Gompa bis hoch hinauf zum Bergsattel geschafft. Er wusste, dass schwerer Regen im Süden niedergegangen war, dass Wege blockiert und Menschen in Gefahr sein konnten.
Kartse nahm seine Thaenga aus der Manteltasche, ließ die Kugeln der Gebetskette durch seine Finger gleiten. Er vertraute der Stärke der Gebete. Er fühlte, dass deren Kraft in diesen Tagen gebraucht wurde.
Es blieb still am Berghang. Als die Sonne verschwand, packte der Schneider seine wenigen Sachen, ging hinunter zum Fluss und dann hinauf zum Haus, wo Nachok Gurung in der Küche schlief.
Morgen begann ein neuer Tag. Und am Nachmittag würde Karma Tsering wieder warten. Nicht allein, sondern mit den Göttern, die ihm Geduld und Zuversicht schenkten.
Draußen zogen schwere, dunkle Regenwolken auf. Aber der Schneider musste nicht hinausschauen.
Familiärer Mittelpunkt – die Küche, mit dem gusseisernen Ofen in der Mitte, bildet neben dem Hausalter den wichtigsten Raum in einem Haus der Dolpo-pa – auch für Karma Tsering.
Morgenandacht – viele Dolpo-pa überwintern in Kathmandu und beginnen zu dieser Zeit traditionell den Tag mit Kora-Umrundungen des Stupas von Boudha – einem ihrer wichtigsten Heiligtümer.
Flug SMA181 landet pünktlich um 9.10 Uhr in Juphal – allerdings mit genau einem Tag Verspätung. Schlechtes Wetter gilt als Grund. Die Enttäuschung hält sich dennoch in Grenzen. Nur vier Passagiere sind an Bord der nepalesischen Summit Air. Eine junge Frau steigt als Letzte aus. Sie klingt zufrieden: »Ich bin auch schon einmal eine Woche später angekommen.«
Wer sich auf den Weg an »das Ende der Welt« macht, der sollte wissen, dass es keine gute Idee ist, pünktlich zum Abendessen zu Hause sein zu wollen. Auch kann Google Maps dort nicht helfen, wo es keine Straßen gibt, sondern nur Berg und Tal soweit das Auge reicht. Für dieses Ziel gilt nur ein Versprechen: täglich neue Abenteuer in unbekanntem Terrain – welch seltenes Glück des Unterwegsseins. Eine Entdeckungsreise auf der Suche nach dem Glück liegt vor mir und nach Zufriedenheit in turbulenten Zeiten, zu Landschaften und Menschen – und vielleicht auch ein Stück zu mir selbst.
Mit der Landebahn von Juphal, vor gut dreißig Jahren in die Landschaft geschlagen und erst jüngst durch eine Asphaltierung von der Liste der weltweit gefährlichsten Flugfelder gestrichen, habe ich eine erste Zwischenstation erreicht. Bis zum Ziel werden es, so meine vorsichtige Planung, noch fünf Wandertage sein. Auf dem Weg dorthin sind drei Pässe mit mehr als 5000 Metern Höhe zu überqueren.
Die Maschine der Summit Air hebt schon nach wenigen Minuten zum Rückflug nach Nepalgunj ab. Wenn alles gut geht und das Wetter stabil bleibt, landet der gleiche Flieger in knapp drei Stunden noch einmal hier. Sicher ist die Rückkehr nicht – und das liegt nicht nur an den Unwägbarkeiten der Meteorologie: Fliegen in Nepal birgt immer ein hohes Risiko und Summit Air hat seinen Anteil daran.
In Juphal ist mit dem Abheben der Maschine die Verbindung zur Außenwelt gekappt, Einsamkeit und Ruhe sind wiederhergestellt. Es gibt keine Eile, also bestelle ich im wohl besten, weil einzigen Restaurant im Hotel Mount Putha Dal Bhat, das nepalesische Nationalgericht aus Reis, Linsen sowie einer sauren Gemüsebeilage – für drei Personen. Denn ich bin nicht allein unterwegs, Tsering Sumjok und Samdup Gurung begleiten mich.
Vor zwei Jahren habe ich meinen ganz persönlichen Eindruck vom Himalaya gewonnen, dem »Sitz der Götter« und der »Wohnstätte des Schnees«. Ich bin auf dem Great Himalaya Trail von Kanchenjunga im Osten nach Darchula im Westen einmal quer durch Nepal gelaufen: insgesamt 1864 Kilometer in 87 Tagen, davon fast 100 000 Höhenmeter bergauf.
Facettenreicher kann man den Himalaya in Nepal kaum entdecken: Mal ragte der Makalu mit seinen 8481 Metern am Horizont auf, wenig später schwitzte ich in den Reisfeldern des Tieflandes bei über 30 Grad. Dann stand ich am Fuße des Mount Everests, in dessen Schatten ein Schneesturm auf dem Tashi-Labsta-Pass fast das Ende meines Abenteuers erzwang, bevor in Langtang der Monsun mit Regenmassen und Unmengen von Blutegeln das Weiterkommen erschwerte. Dafür konnte ich am Manaslu die Stille genießen und eine Landschaft, deren berauschende Vielfalt sich kaum in Worte fassen lässt. Upper Mustang lässt mich nach der schon so touristischen Annapurna-Runde wieder tief in die tibetische Tradition eintauchen. Und in The Far West bewegten mich die Einsamkeit und die beeindruckende Freundlichkeit der Bewohner, die nur selten Ausländer willkommen heißen können.
Zugleich lernte ich die Probleme und Ängste der Bergvölker kennen, die seit Generationen einem unwirtlichen Leben am Berg – zumeist erfolgreich – trotzen. Doch bedingt durch Klimawandel und Zivilisation trägt der Himalaya vielerorts ein gar nicht mehr so fernes Verfallsdatum, konnte ich erkennen.
Am lebhaftesten aber blieb mir die Durchquerung von Upper Dolpo in Erinnerung. In sieben Tagen legte ich mit drei befreundeten Sherpas fast 180 Kilometer in totaler Einsamkeit zurück. Sechsmal steigt der Trail in dieser kurzen Zeit auf über 5000 Meter Höhe. Trotz der enormen Anstrengung: Upper Dolpo war die Krönung meines Laufs auf dem Great Himalaya Trail.
Monate nach meiner Rückkehr, ich schrieb in München die letzten Kapitel an einem Buch über das Abenteuer, erhielt ich eines Nachts eine E-Mail: »Upper Dolpo ist meine Heimat, aber ich lebe schon lange in Kathmandu. Ich habe Heimweh, doch eine Reise ist für mich unmöglich. Wir sind eine arme Bauernfamilie. Mit Ihren Fotos fühle ich mich meiner Familie, die ich seit vielen Jahren nicht gesehen habe, so nahe. Danke.«
Lauf-Abenteuer – der Autor lief 1864 Kilometer auf dem Great Himalaya Trail durch Nepal. Schönster Abstecher: durch die Berge von Upper Mustang, um Lo Manthang zu erreichen.
Später komme ich in Kontakt mit der Schreiberin und treffe die junge Frau zweimal in Kathmandu. Ihr Name: Tsering Sumjok. Bei unserem letzten Treffen verspreche ich ihr: »Ich lade dich ein! Wir reisen zusammen in deine Heimat.« Heute ist es soweit: Wir sitzen zusammen beim Dal Bhat in Juphal. Herrlich.
Ich habe einen weiteren Begleiter gefunden: Samdup Gurung, einen jungen Design- und Kunst-Studenten, den ich durch Zufall in einem Café in Kathmandu kennengelernt habe. Er gefällt mir sofort. Der 21-Jährige kommt aus Upper Mustang, wo seine Eltern schon früh verstarben, hält sich mit einer Art kreativem Wahnsinn halbwegs in der Hauptstadt »über Wasser«, zeigt sich extrem freundlich und kommunikativ, spricht gutes Tibetisch und begegnet, wie sich später besonders zeigen wird, älteren Menschen und ihren Traditionen mit höchstem Respekt. Er kann seine tibetische Kindheit nicht verbergen, zum Glück!
Monsun-Grün – tief unterhalb von Juphal führt die neue Straße Richtung Dunai. Die Moderne scheint angekommen, Fahrzeuge sind aber noch eine Seltenheit.
Wenn alles läuft wie geplant, wird Tsering auf dem zweiten Teil meiner Reise nicht mehr mit uns unterwegs sein, umso mehr brauche ich einen zuverlässigen einheimischen Begleiter. Samdup ist die beste Wahl, ohne Zweifel. »Diese Reise wird mich an meine Heimat Upper Mustang erinnern. Ich liebe es so sehr, in den Bergen unterwegs zu sein«, freut sich der Mustangi – und keinerlei Zweifel sind angebracht.
Während wir auf das Essen warten, gelingt es mir, drei Träger anzuheuern, die hinter einem Zaun, der Flugfeld und Ziegenwiese notdürftig voneinander trennt, auf Arbeit warten. Es sind junge Burschen aus dem tieferen und somit milderen Gebiet Rukum, die in den Sommermonaten als Tagelöhner in den Höhenlagen von Upper Dolpo Arbeit suchen. In der Regel verdienen sie nicht viel. Ich versuche, eine Ausnahme zu machen, daher einigen wir uns schnell auf einen Lohn für zwei Tage Arbeit, denn wir planen, in Ringmo Tserings Schwester zu treffen. Pferde werden dann unser Gepäck über die drei 5000er-Pässe schleppen. Für den weiteren Aufstieg erscheinen mir die drei Träger, die aus derselben Familie stammen und sich deshalb mit ihrem Verwandtschaftsgrad ansprechen, nur bedingt gerüstet. Das wird schon beim Blick auf ihr Schuhwerk klar: Sie alle tragen zerschlissene Sandalen.
Der Dal Bhat kommt auf den typischen, vierteiligen Metalltellern, die in ganz Nepal fester Bestandteil des Alltags sind. Wir sitzen zu dritt an einem runden, wetterschiefen Holztisch, von draußen dringt beständig schwülheiße Luft durch die offenen Fenster. Noch immer hat der Monsun das Tal fest im Griff. Es sieht nach Regen aus: Ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir uns zügig auf den Weg machen sollten.
Ich zahle das Essen und zwei Thermoskannen heißes Wasser und wir treten vor die Tür. Juphal, am Berghang gelegen, erweist sich als wilde Ansammlung von Bretterhütten und Verkaufsbuden. Unten im Tal führt eine Schotterpiste am mächtigen Thuli-Bheri-Fluss entlang und verschwindet in östlicher Richtung am Horizont hinter einer Kuppe.
Dort muss in nicht allzu weiter Ferne Dunai liegen, die »Hauptstadt« und der Verwaltungssitz für ganz Dolpo, immerhin der größte der 77 Distrikte Nepals. Er gliedert sich in zwei Teile: Lower Dolpo ist vergleichsweise dicht besiedelt und – nach nepalesischen Maßstäben – einigermaßen entschlossen. Seine Bewohner sind zu über 80 Prozent hinduistisch geprägt. Unser Ziel dagegen ist Upper Dolpo. Fast so groß wie das Saarland, aber nur von 6000 bis 8000 Menschen bewohnt, vereint der Distrikt so viele Superlative von der nepalesischen Negativliste auf sich, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll.
Naturgewalt – nach heftigen Monsunschauern haben Wassermassen die Brücken über den Sulighat als Treibholz ins Tal hinuntergespült.
Upper Dolpo ist eine der einsamsten und unzugänglichsten Regionen des Landes und liegt zu rund 90 Prozent 3800 Meter über dem Meer. Die Bewohner, die sogenannten Dolpo-pa, gehören zu den bedrohten Völkern und waren bis vor Kurzem quasi von der Außenwelt abgeschnitten. Eine Tatsache, der es zu verdanken ist, dass sich hier eine der ursprünglichsten Lebensformen des gesamten Himalayas ebenso erhalten hat wie ein sehr traditionelles tibetisches Religionsverständnis.
Dem »Abgeschnittensein von der Außenwelt« ist es aber auch geschuldet, dass es keine Krankenhäuser, kein entwickeltes Bildungssystem und keine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln gibt, dafür aber zahllose Krankheiten, eine hohe Kindersterblichkeit, kaum Kommunikationsmöglichkeiten, keine Stromverbindungen und – neben der Mangelernährung – in den harten Wintern nicht selten Hungersnöte.
Erschwerte Orientierung – Erdrutsche und Schlammlawinen säumen das Flussufer des Sulighat am Morgen.
Die Wurzeln der Region lassen sich bis ins 7. Jahrhundert zurückverfolgen, als das heutige Upper Dolpo zum alten, sagenumwobenen Königreich Zhangzhung (tibet. Xang Xung) gehörte. Die Bön-Religion (engl. Bon) ist hier seit Menschengedenken wichtigster Eckpfeiler des Lebens. Der ursprünglich aus dem tibetischen Norden stammende, noch heute praktizierte Glaube ist primär animistisch geprägt und bezieht seine Kraft aus einer engen Verbindung zur Natur und zur Einsamkeit. Zu Upper Dolpo passt es genau, dass Bön häufig auch mit »Leere« oder »Einsamkeit« übersetzt wird. »Für uns Tibeter ist Bön die ursprüngliche Religion und die kulturelle Tradition unserer Vorfahren, die das tibetische Leben in vielen Aspekten geprägt hat», so Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama über Bön, die heute vielen als die älteste lebendige Religion der Jetztzeit gilt.
Magische Kräfte, Schamanen, Geister, Ahnenkult und Dämonen sind von großer Bedeutung und werden oftmals mit Naturphänomenen oder der extremen Landschaft in Verbindung gebracht. Sichtbarer Unterschied zum tibetischen Buddhismus, der erst später aus dem Süden nach Upper Dolpo drang, ist noch heute die Tatsache, dass Bön-Anhänger Heiligtümer und Mani-Wälle, die Anhäufungen von mit heiligen Mantras verzierten Steintafeln, in anderer Richtung als Buddhisten umrunden, also gegen den Uhrzeigersinn. Politisch wurde Upper Dolpo seit jeher in wechselnde Lager verschoben. So erklärten Königreiche wie Tibet, Mustang oder Jumla ihre Ansprüche, ehe im 19. Jahrhundert Nepal das Gebiet übernahm – eine Regierung, die bis heute vor allem durch ihr Desinteresse an Land und Menschen auffällt.
Offiziell beginnt Upper Dolpo oberhalb einer Linie von Ringmo im Westen und Dho Tarap im Osten. Eine Grenze, die für westliche Alleinreisende einen markanten Unterschied darstellt: Pro Woche sind in Lower Dolpo für Ausländer 10 US-Dollar Gebühr für den Trekking-Permit fällig, in Upper Dolpo sind es jedoch 100 US- Dollar pro Tag. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb im gesamten Jahr 2019 nur 430 Ausländer dies Abenteuer wagten, zumal ihnen die Empfehlung mit auf den Weg gegeben wird, unbedingt an Zelte und die komplette Verpflegung zu denken, um möglichst als autarke Selbstversorger unterwegs zu sein. Schließlich gibt es offiziell so gut wie keine Unterkünfte und auch die Einheimischen können kaum von den knappen Nahrungsmitteln etwas erübrigen.
Bei Sulighat – das Taxi ist längst verschwunden, Dunai liegt schon in Sichtweite – beginnt unser Aufstieg. Auf dem Trail nach Shyangta rinnt der Schweiß in Strömen. Die beschlagenen Gläser meiner Brille tauchen die Landschaft in ein milchiges Licht. Dazu kommen Wolken aus kleinen Wassertropfen, die von den tosenden Fluten heraufwirbeln. In einer Waschmaschine mag es nicht wilder zugehen. Gespeist von unzähligen kleinen Zuflüssen, die nach dem tagelangen Monsunregen längst ihre Unschuld verloren haben, ist der Fluss zu einem Strom angeschwollen.
Der Lärm ist ohrenbetäubend. Doch ich genieße diese ersten Stunden des Unterwegsseins. Ich hole den kleinen Abstand zu Tsering auf, die vor mir geht, und rufe ihr gegen den Lärm des Flusses zu: »Wie fühlst du dich?«
»Großartig. Wir sind noch längst nicht am Ziel, aber ich spüre schon jetzt die positive Energie, die einem nur die Heimat geben kann.«
»Was hast du am meisten vermisst in all den Jahren?«
»Die Sommeralmen. Jogurt, Käse, Milch und all die grünen Wiesen. Das Wasser ist so klar und rein. Wir achten die Natur und respektieren sie seit Generationen. Wir streben nicht nach Reichtum, wir streben nach Respekt für unsere Mitmenschen, nach Zufriedenheit und nach Glück. Wir fühlen uns als Gemeinschaft, das macht uns stark – und lässt uns überleben.«
»Das klingt aufregend in der heutigen Zeit, Tsering.«
»Diese Überzeugungen sind die Basis unseres Lebens und unseres Alltags. Aber ich muss dir noch etwas anderes sagen: Diese Reise hat für mich eine ganz besondere persönliche Bedeutung. Sie wird zu einem sehr wichtigen Teil meines Lebens. Aber gedulde dich: Ich werde dir alles über mich erzählen, wenn wir angekommen sind. Jetzt ist noch nicht die Zeit«, lässt mich Tsering im Ungewissen.
Der ausgewaschene Trail zieht sich menschenleer mal enger, mal weiter entfernt am Flussufer entlang. Wir treffen kaum Einheimische. In den wenigen Dörfern wirken die Lehmhäuser verwaist. Niemand, der sich den Gefahren und dem Wetter an diesem Spätnachmittag in der Zeit des Monsuns aussetzen will. Wir spüren den Himmel an den reißenden Ufern des Sulighat feucht auf unserer Haut.