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Cecilie Enger

Die Geschenke
meiner Mutter

Roman

Aus dem Norwegischen
von Gabriele Haefs

Deutsche Verlags-Anstalt

Für Ola und Eirin

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,
aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!
Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,
entschließt im künftigen sich zum Geschenk.

RAINER MARIA RILKE

1

Ich war schon lange darauf vorbereitet, dass der Tag kommen würde, aber nur als ein Tag in ferner Zukunft. Der Tag kommt am Samstag, dem 13. November 2010, mit tief stehender, weißlicher Sonne hinter den Bäumen am Straßenrand, mit Frostdunst über dem Fjord, mit morgenoptimistischen Stimmen aus dem Autoradio und einem Kaffeebecher mit Kunststoffdeckel im Gestell unten neben der Gangschaltung. Ich bin vorbereitet, überwältigt und nachdenklich. So ungefähr. Als ob man innehält und ein asymmetrisches Astloch in einer Bretterwand anstarrt; man steht da auf seinen zwei Beinen, bewegt sich aber an einem anderen Ort, und alles wird gleichzeitig vergrößert und verkleinert.

Nachdem ich an der Eisenbahnlinie vorbeigefahren bin, biege ich dort ab, wo in meiner Kindheit Nilsens Lebensmittelladen lag, wo aber schon vor vielen Jahren Wohnungen für Zuwanderer gebaut wurden. Danach nehme ich die erste Straße rechts und halte am Straßenrand vor dem Zaun. Grashalme und faulige Eichenblätter sind vom Reif bedeckt, der unter meinen Füßen knirscht. Noch kein Schnee.

Den Kiesweg zum Haus bin ich unendlich oft gegangen, jetzt denke ich, dass es bald das letzte Mal sein wird. Für meine Mutter war es schon das letzte Mal, nur sie selbst weiß das nicht.

Zwischen dem Haus und der Garage mit ihren bemoosten Dachziegeln steht ein riesiger Container. Ich klopfe an die hohen Metallwände, es klingt hohl. Mutters wackliges rotes Damenfahrrad Marke DBS steht draußen, obwohl sie schon seit zwei Jahren nicht mehr damit fährt. Es lehnt an der schmutzig weißen Hausmauer. Eine kleine Milchkanne und zwei Teller vom Sonnenblumenservice liegen in dem braunen Einkaufskorb, den sie immer auf dem Gepäckträger stehen hatte. Das Service, mit einer großen gelben und hellbraunen Sonnenblume auf jedem Teller, wurde im Frühjahr 1970 gekauft. Bis zum letzten Frühling wurde zu jedem einzelnen Frühstück der Küchentisch damit gedeckt. Frühstück und Abendbrot, vierzig Jahre lang. Vielleicht wollte Mutter den Tellern einmal etwas anderes zeigen als den alten IKEA-Tisch?

Es ist sechs Monate her, dass sich Mutter, in tiefer Verwirrung, zu meiner Schwester ins Auto setzte, ohne zu fragen, wohin es denn gehen sollte. Anne Johanne hielt ihre Hand, als sie über den Kiesweg und durch das Tor fuhren, zu dem Pflegeheim, wo Mutter einen Platz bekommen hatte. Mutter war ein bisschen unruhig, schaute aber liebevoll Klein-Wau an, der in der eleganten Ledertasche über ihrem Arm lag. Mit nur einem Auge, platter Nase und einem Verband um den rechten Fuß. Der Stoff grob gewebt, hellbraun am Hundebauch, die Ohren braun und schwarz. Sie hatte ihn mit drei Jahren bekommen, 1938.

Ich lasse die Hand über das schwarz gestrichene schmiedeeiserne Geländer gleiten, als ich die Treppe hochsteige und den Schlüssel an meinem Schlüsselbund heraussuche. Den braunen Schlüssel bekam ich mit elf Jahren, als meine Mutter eine Stelle als Sekretärin an einer Grundschule antrat. Das war 1974, ein Jahr vor dem Jahr der Frau, als sie in Elternbeirat und Gemeinderat gewählt wurde. Damals kaufte sie auch das rote Fahrrad, für den Weg zu ihrem Arbeitsplatz als Sekretärin und zum Gemeinderat, und um Flugblätter zu allerlei Dingen, die ihr wichtig waren, ausfahren zu können. Nein zur Stilllegung von Dorfläden, Nein zu verkehrsgefährlichen Schulwegen, Nein zu Noten in der Schule, Nein zu neuen Wasserkraftwerken und Nein zum Abriss von Jugendzentren. Die Flugblätter waren fast immer gegen irgendetwas, nicht dafür. Einmal war ich mit ihr unterwegs, ich auf meinem blauen Diamant-Kombirad, und ein Mann fuhr mit dem Auto sehr langsam neben uns, kurbelte das Fenster herunter und rief: »Sie sind wirklich eine Neinsagerin, Sie, Frau Enger!«

Sie lachte und ließ mit der einen Hand den wackligen Lenker los, um zu winken.

Das Türschloss war immer schon dasselbe, genau wie das Schild mit den Namen meiner Eltern. Noch heute, siebenundzwanzig Jahre nach der Scheidung, sind ihre Namen auf der Kupferplatte miteinander verschlungen. An einem Augustmorgen des Jahres 1984 hat sie die Tür kornblumenblau gestrichen, beige und grün, eine Kopie der Tür des längst verstorbenen dänisch-deutschen Malers Emil Nolde. Ein kleiner grüner Farbfleck ist seither über dem R in ihrem Namen zu sehen: Ruth. Den wollte sie dort haben.

Das Haus wurde immer schon Høn genannt, weil es hier in Høn liegt. Ab und zu haben wir »Nummer 6« gesagt, aber nur Mutter hat in seltenen Ausnahmefällen »Eiketun« benutzt, was der offizielle Name ist. Sie konnte an der Ecke des Grundstücks stehen, das wir den »Wald« nannten, die Arme dramatisch zur Seite strecken, wie Julie Andrews in The Sound of Music, und übertrieben dramatisch seufzen: »Eiketun! Eichengrund!«

Keins von uns drei Geschwistern hat das Geld oder den Wunsch, das Haus zu übernehmen. Es ist nach Jahren der Vernachlässigung heruntergekommen und müsste gründlich renoviert werden. Außerdem wohnen wir in eigenen Häusern und Wohnungen und haben Kinder, die nicht umziehen wollen oder können.

Aber dass Fremde das Haus übernehmen? Die blaue Tür öffnen, ohne das Geringste über Nolde zu wissen? Ohne von dem geheimen Club zu wissen, der sich im Verschlag meines Zimmers getroffen hat, dessen Eingang hinter der Tapetentür nicht zu sehen ist? Ohne zu begreifen, dass die dunklen Flecken auf dem Boden des Esszimmers von unserem Hund stammen, Pontus, der auf seine alten Tage einen Schlag erlitt und glaubte, die Schiebetür sei ein Baum zum Pissen?

Andererseits, kann es nicht auch eine schöne Vorstellung sein, dass hier eine neue junge Familie wohnen wird? Dass neue Kinder Baumhäuser bauen, ihre eigenen geheimen Clubs haben? Einmal, vor einem ganzen Leben, sind auch meine Eltern hier eingezogen und waren jung und kannten keine Erinnerungen in diesen Wänden.

Ganz automatisch drücke ich die Hüfte gegen die linke Doppeltür, um dann die Klinke hochzuschieben, während ich zugleich den Schlüssel umdrehe. Ich öffne die Tür, und sofort nehme ich den Geruch wahr. Ich habe ihn noch nie so deutlich bemerkt, den charakteristischen, unverkennbaren Geruch. Am stärksten im Windfang. Ich weiß, dass der Geruch in wenigen Sekunden schwächer werden wird, diffus, während ich die Stiefel ausziehe, er wird verschwinden, während ich in den Flur gehe und die Jacke an den Haken unter dem Hutregal hänge. Aber jetzt, während ich die Tür hinter mir schließe, versuche ich, ihn einzufangen. Es ist mehr als ein Geruch. Nicht schmutzig, süßlich, nasse Kleider, grüne Seife oder frisches Brot, sondern der deutliche Geruch nach Kindheit, über den man nie nachdenkt, wenn man aus der Schule kommt, nach einem Fest, einer Pokerrunde auf einem Dachboden, nach dem ersten Kuss hinter den Garagen, der Geruch nach Angst davor, allein gehen zu müssen, der Angst, dass alle weg sind und mich in einem leeren Haus zurückgelassen haben.

Es ist ein vertrauter Geruch, der jetzt vielleicht besonders stark wirkt, weil ich ihn bald nie wieder wahrnehmen werde.

Mutter kann sich nicht mehr an Høn erinnern, und um sie zu schonen, spreche ich nie über das Haus, wenn ich sie besuche. Jedes Mal wenn wir durch das Fürsorgezentrum gehen, wie es so zartfühlend genannt wird, und zum Eingang kommen, bleibt sie stehen und fragt: »Gehen wir hier rein? Hier war ich noch nie.« Dann hakt sie sich bei mir unter und fragt: »Wollen wir mal sehen, was uns da drinnen erwartet?«

Denkt sie nur noch an das, was sie sieht, riecht, hört? Gibt es das Haus nicht mehr? Würde sie jetzt die blaue Tür sehen, den Frost auf dem Boden und den Reif an den Fenstern, und nicht ahnen, dass sich große Teile ihres Lebens innerhalb dieser Wände abgespielt haben? Mit hitzigen Diskussionen, Liebe, Verzweiflung, ihrem feurigen Engagement?

Ab und zu bin auch ich für sie verschwunden. Als Tochter komme und gehe ich in ihrem Bewusstsein. Immer häufiger bin ich irgendein beliebiger Mensch.

Ich gehe hinein und setze mich in die Küche. Dort, auf dem Tisch, ist ihr Radio. Und draußen das Vogelbrett. Und alle Bilder und Zeichnungen, von Kindern und Enkelkindern, die neben dem runden Ausgussbecken hängen, und der Geburtstagskalender, den ich einmal gebastelt habe, aus Furnier.

In der nächsten Stunde kommen mein älterer Bruder und meine jüngere Schwester, neue und alte Schwägerinnen und Schwäger, erwachsene Nichten, meine Kinder und ihr Vater. Und mein Vater. Er ist jetzt einundachtzig Jahre und ihr Vormund, nach vielen Jahrzehnten, in denen sie allein zurechtkommen wollte. Sie hat schon längst vergessen, dass sie geschieden sind, und mein Vater sagt, ihm sei es absolut recht, sie wieder als ihr Mann zu besuchen. Einmal die Woche.

Einige Gegenstände und Möbel wurden schon verteilt. Der Rest liegt aufgeteilt da, gestapelt nach Wünschen, Bedürfnissen, Assoziationen. Großvaters prachtvoller Bürosessel, die Fotoalben, die zahllosen Gemälde, die Skulpturen. Silberbesteck, alte LPs (Pat Boone finden wir in der Hülle von Ketil Bjørnstads Leve Patagonia), das englische Service, das wir nur zu Weihnachten benutzt haben, dickwandige Schnapsgläser, abgenutzte Teppiche. Alles, was sie aufbewahrt, gesammelt, bekommen, gekauft hat. Alle Gegenstände, die Namen und Geschichten haben. Wir losen, schwelgen in Erinnerungen, weinen, räumen auf, streiten uns, lachen, packen ein für wohltätige Organisationen und werfen in den Container. Wir werfen viel weg.

Ich sage: »Diese Leselampe können wir doch nicht wegwerfen, die stand ja immer neben ihrem Sessel?« »Und die Bücherregale, die alles enthalten haben, was sie gelesen hat?« »Wir können diesen weißen Emailletopf nicht wegwerfen – ich habe ja noch den Geschmack von gebratenem Kabeljaurogen und geraspelten Möhren auf der Zunge.«

Und jedes Mal sagt meine Schwester: »Wie schön, dass du es haben willst. Nimm es ruhig. Wunderbar!«

Aber ich will das Teil ja gar nicht, ich will nur nicht, dass es verschwindet, ich will, dass es im Haus bleibt.

In einer Schublade in meinem ehemaligen Kinderzimmer finde ich einen kleinen blauen Stoffbeutel, den ich in einer längst vergangenen Handarbeitsstunde genäht habe, gefüllt mit vielleicht einem Dutzend Murmeln. Damals hielt ich diese Kugeln für seltene Kleinode, die ich einfach nicht verlieren durfte. Ich stecke den Beutel in meine Jackentasche.

Wir öffnen ihre Schubladen, leeren die Schränke. Einmal hatte alles eine Bedeutung, es hat Mutter an Ereignisse erinnert, von denen ich nichts weiß, alles hatte seinen Nutzen. Es kommt mir vor, wie private Briefe zu lesen. Ich öffne eine Küchenschublade, nehme eine alte herzförmige Pfefferkuchenform heraus, ein Foto von Mutter und zwei Freundinnen auf einer Reise nach England, eine mit zwei kleinen gelben Muscheln verzierte Streichholzschachtel, einen Korkenzieher, eine von einem Kind getöpferte Tonschale mit Schlüsseln. Eine winzige Figur, ein blaues Nashorn.

Ich behalte das Nashorn und werfe alles andere weg. Es ist, wie Seiten aus einem Tagebuch zu reißen.

Es ist nicht nur ein Leben, das weggeworfen oder aufgeteilt wird, sondern mehrere. In den Abstellkammern im ersten Stock finden wir Koffer voller Rotweingläser und ein Fischservice von Mutters Tante Kaja, sorgfältig in mehrere Ausgaben der Zeitung Aftenposten von 1981 gewickelt, wir finden Rollen aus Bildern und Lithographien und ein Bleiglasfenster aus dem Elternhaus von Mutters Mutter. Wir entdecken zwei Flaggen, die vergeblich auf Reparatur warten, Flicken zum Aufbügeln und die vielen Weihnachtsdecken, die gut geschützt in Plastiktüten liegen. Und Fäustlinge und Schals, die ihren Mottentüten seit zwanzig Jahren nicht mehr entrinnen konnten.

Nach vielen Stunden ist der Container voll. Mehr als voll, ganz oben liegen ein Schrank mit einer ramponierten Tür, Mutters Bett, das niemand haben will, einer der hellblauen Küchenstühle aus den Sechzigerjahren, die im Keller gestanden haben, zwei Rollen rotes und blaues Linoleum von der Hausrenovierung 1970, unbenutzte Korkplatten von damals, als ein neuer Küchenboden gelegt wurde, eine zerbrochene Schubkarre, alte Skier.

Ich will eine letzte Nacht in Høn verbringen. Ich habe seit Jahren nicht mehr hier geschlafen, da ich nur zwanzig Autominuten von hier entfernt wohne.

Ich gehe in dem leeren Haus von Zimmer zu Zimmer. Ich weiß nicht, ob es noch immer Høn ist, so ganz ohne Inhalt. Wird es jetzt leichter, das Haus Fremden zu übergeben? Gegen elf Uhr lege ich mich in mein schmales, in die Wand eingelassenes Kinderbett.

Alle Postkarten mit klugen Sprüchen von der Sorte »Die Tage, an denen alles auf dem Kopf steht, sind gute Tage« sind von der Wand genommen worden, Plakate mit verblassten Helden, der runde, einstmals moderne Philips-Plattenspieler, Bücher vom Gymnasium sind eingepackt worden. Tagebücher und Fotoalben habe ich schon längst mitgenommen, damals, als ich ausgezogen bin. Jetzt ist die schräge Decke nackt und von Heftzwecken gezeichnet. Dort, wo das Plakat von Carl Larssons Welt licht und sommerlich hing, bis es von der rittlings auf einem Motorrad sitzenden Suzi Quatro abgelöst wurde, bis die wiederum einem Bild von Jesus weichen musste, oder war das Che Guevara, oder vielleicht Pete Duel aus Alias Smith & Jones?

Das Haus ist kalt, das Holz ächzt im Wind, und ab und zu knallt es in einem Rohr. Abgesehen davon ist es ganz still. Wie in der Weihnachtsnacht, der Heiligen Nacht. Aber der Himmel ist weiß, es gibt keine Sterne.

Während ich schlafe, fallen große Mengen Schnee. Für einige Stunden ist alles weiß. Aber es tut den Augen nicht weh, wie Schnee bei scharfer Wintersonne das tun kann. Jetzt ist es weiß, still, spurenlos, wie morgens, ehe die Sonne aufsteht. Der Herbst ist in Winter übergegangen. Ich friere, habe in meinen Kleidern unter einer Wolldecke geschlafen.

Ich gehe die Treppe hoch zu Mutters leerem Schlafzimmer. Die hellgrüne Tapete, die sie und eine Freundin vor vielen Jahren bemalt haben, wellt sich über der Wand, gezeichnet von Nägeln, gefleckt von abgerissenen Stücken Klebeband, verblasst dort, wo ein Bücherregal entfernt worden ist. Auf dem Boden: Spuren eines Einzelbetts. Sie hat es abschleifen lassen, als mein Vater ausgezogen ist. Meine Schritte hallen wider. Ich stelle mich ans Fenster, so wie sie jeden Morgen nach ihrer Gymnastik dastand.

Als sie krank wurde, wollte sie nie darüber sprechen, aber sie muss gedacht haben, dass das Dasein, was immer geschehen sein mochte, fremd war und dass alle um sie herum verschwunden waren, und vielleicht hatte sie keine Ahnung, wer »alle um sie herum« waren.

Vielleicht dachte sie, dass sie es bald erfahren würde. Aber sie erfuhr nichts, und niemand kam, obwohl sie doch bereitstand. Niemand kam, und dabei war es schon … auf ihrer Armbanduhr war es schon vier. Und in der Küche. Sie wusste, dass jemand sie um vier holen würde, denn auf einen Zettel hatte sie geschrieben:

»Werde um vier geholt.«

Und ein Stück weiter unten auf diesem Zettel:

»Habe Cecilie gefragt. Einen Rock und eine Bluse mitnehmen. Rock und Bluse.«

Genau das hatte sie an. Einen schönen hellbraunen Rock, vielleicht war er neu, und eine grüne Bluse. Aber niemand kam. Und draußen im Garten schneite es, aber niemand fuhr die Auffahrt hoch, und niemand klingelte. Da fiel ihr vielleicht ein, dass sie um vier irgendwo sein sollte. Dieses Wissen erfüllte sie mit Entsetzen, sie war doch noch nie zu spät gekommen. Sie hatte Albträume, obwohl sie wach war, und sie begriff nur, dass sie anrufen musste.

»Warum gehst du nicht ans Telefon? Ich warte hier auf dich. Es ist nach vier.«

»Nachts, Mama. Es ist zehn nach vier Uhr nachts.«

»Ich habe nur aufgeschrieben, dass du mich um vier Uhr holst. Ich habe Rock und Bluse angezogen. Und natürlich habe ich ein Geschenk gekauft. Ich bin schon lange fertig.«

»Das ist erst am Sonntag, Mama. Jetzt ist es mitten in der Nacht, in der Nacht auf Donnerstag. Du hast es zwölf, dreizehn Mal klingeln lassen, bestimmt hast du schon das ganze Haus geweckt.«

Hat sie das ganze Haus geweckt? Sie hat nichts gehört, sie war allein, sie wusste nicht einmal, wo ihre Schwester war.

Was für eine alles überschattende Angst.

Ich wende mich vom Fenster ab, und mein Blick fällt auf eine Schublade vor der Wand. Die gehörte in ihren Schreibtisch, den wir weggeworfen haben. Die Schublade ist voller Papiere. Ich ziehe einige heraus; ein Abiturzeugnis aus dem Jahr 1952 und ein ärztliches Attest über Rückenbeschwerden. Lieder für Jubiläen, Konfirmationen und Hochzeiten, und ein Poesiealbum mit den Jahreszahlen 1942–1948.

»Wenn du erst mal alt und grau bist, lach ins Leben, wenn du schlau bist.«

Und ein Stapel grauer Schreibblätter, mit einer großen Büroklammer zusammengeheftet.

Ich setze mich auf den Boden und blättere darin. Spalten, Namen, Gegenstände. Es sind die Listen der Weihnachtsgeschenke in nummerierter Reihenfolge. Die erste Liste ist von 1963, dem Jahr meiner Geburt. Die letzte ist von 2003. Namen, die ich gut kenne, von Vettern, Cousinen, Tanten und Onkeln. Andere, die nur vage Erinnerungen sind, an weiße Knoten im Nacken, dunkle Kleider, stattliche Schnurrbärte. Ich erinnere mich plötzlich an Menschen, die ich vergessen hatte, Frau Hansen, die Anfang der Siebzigerjahre bei uns geputzt hat, und der ich dabei helfen durfte, während sie gewagte Anekdoten erzählte. Und die unglaublich freakigen jungen Nachbarn, die nach Gewürzen und Schweiß rochen, die im Sommer nackt herumliefen und Bücher lasen, über die sie mit Mutter diskutieren wollten. Und Mutters Freundinnen mit ihren witzigen Spitznamen.

Auf jeder Seite stehen in der ersten Spalte vielleicht fünfunddreißig oder vierzig Namen, das sind die Leute, die von meinen Eltern Weihnachtsgeschenke bekamen. In der nächsten Spalte steht Elling, mein Bruder, danach ich, und schließlich bekam auch meine jüngere Schwester Anne Johanne eine Spalte, in der steht, was wir einigen von diesen Verwandten geschenkt haben. Und auf der Rückseite: Was meine Eltern bekamen, und von wem. Und was wir Kinder bekamen, bis wir achtzehn wurden.

Alle Weihnachtsgeschenke hat sie notiert. Durchdacht, geplant, eingekauft, gebastelt, geerbt. Gewünscht und bekommen. Insgesamt müssen das mehrere Tausend Geschenke sein. Ich vertiefe mich lange in die einzelnen Blätter.

1965 bekam Mutter von ihrer Tante Kaja einen gestickten Weihnachtsläufer, während ich, noch keine zwei Jahre alt, eine Puppengarnitur erhielt. 1974 schenkte meine Mutter ihrer Schwester den Roman Unjahre von Knut Faldbakken, und ihre Geschwister gaben ihr Erik Dammans Die Zukunft in unseren Händen.

Unvermittelt erinnere ich mich daran, wie die Geschenke, fertig eingekauft oder genäht, gestrickt, gezeichnet oder gezimmert, auf dem Wohnzimmertisch lagen und auf Weihnachtspapier und Karten mit dem Vordruck »von /an« warteten. Ich erinnere mich daran, was es für ein Gefühl war, sie anzufassen, raue oder glatte Oberflächen zu betasten, die Umschlagtexte auf den Büchern oder den Hüllen der LPs zu lesen.

Ich denke: Was unterscheidet die Dinge, die wir liebevoll entgegennehmen, von den Geschenken, die uns als Belastung erscheinen? Ich erinnere mich an damals, als ich von jemandem, den ich nicht leiden konnte, eine schöne Glasvase bekam. An das Unbehagen bei dem Gedanken, dass ich ihm jetzt etwas Schönes schuldete. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, das Geschenk einfach zu ignorieren.

Ob Mutter das Gefühl hatte, so viele Weihnachtsgeschenke machen zu müssen, oder wollte sie einfach die sein, die für alle sorgte?

Auf diesen vierzig losen Schreibblättern gibt es nur wenige identische Gegenstände. Alle, die ein Geschenk erhielten, konnten es vom Papier befreien und begreifen, dass dieses Geschenk speziell für sie gedacht war. Eine Weste war aus hellblauen und weißen Wollresten gestrickt worden, wie die Farben der Lieblingsmannschaft des Sohnes, Manchester City. Wurde die Weste zu einem Teil seiner persönlichen Geschichtserzählung, oder wurde sie weggeworfen und vergessen?

Einige Geschenke auf der Liste sind Erbstücke von Mutters älteren Verwandten.

Sie hat sich für ihre Vorbereitungen Zeit genommen, und kein Geschenk fand seinen Besitzer grundlos.

Du bekommst das hier, weil ich dich liebe und weil meine Eltern es in den Zwanzigerjahren in Italien auf ihrer Hochzeitsreise gekauft haben. Ich gebe dir das hier, weil du meine Tochter bist, und es wurde von meinem Großonkel Johannes bezahlt, mit blutiger Schufterei auf den kalifornischen Goldfeldern. Weil ich es in einem wunderbaren Trödelladen gefunden habe, weil ich es als Kind gelesen und niemals vergessen habe. Ich gebe dir das hier, weil ich es geerbt habe und nicht will, dass es aus der Familie verschwindet. Ich gebe dir das hier, weil ich es niemals selbst benutzt habe. Du bekommst das, weil du von zu Hause ausgezogen bist und gesagt hast, dass du dir so etwas wünschst. Ich gebe dir dieses Erbstück, weil meine Mutter tot ist und weil ich noch weiß, dass es dir gefallen hat.

Im Haus ist es jetzt eiskalt. Die Heizkörper sind nur wenig aufgedreht. Draußen schneit es noch immer. 1977 – ich sehe das auf der Liste – bekam ich neue Skier, Glasfaser, blau und orange. Das Leben auf Holzskiern war vorüber.

Ich habe keine Sehnsucht nach der Zeit mit Holzskiern, ich habe auch keine Sehnsucht nach schweren Schneestiefeln. Warum bin ich also trotzdem von Sehnsucht erfüllt? Weil es um etwas geht, das nicht mehr da ist? Um alles, was ich vergessen habe?

Die Sehnsucht hat vielleicht nicht nur mit Erinnerungen zu tun, die ab und zu auftauchen, beim Anblick eines Gegenstandes, eines Films, oder beim Klang eines Liedes, beim Einatmen eines Geruchs. Vielleicht, denke ich, ist diese Sehnsucht immer vorhanden? Hat Mutter deshalb alle Sprichwörter aus der Kindheit wiederholt? Geschichten über ihre Eltern ersonnen? Hat sie deshalb alle Geschenke notiert? Nichts weggeworfen? Oder ist die Erklärung ganz einfach, dass sie nicht zwei Jahre hintereinander das Gleiche schenken wollte?

Wie beschreibe ich eine Sehnsucht? Die Sehnsucht nach dem Haus in Høn, in dem die Stimmen schwirren, nach dem Schlüsselbund in einem Zinnpokal auf dem Tisch in dem türkisfarbenen Esszimmer, nach Fahrrädern in der Auffahrt, nach Mutter, die seufzte, weil der Sonnenschein so schön über den Boden fiel.

Eine Zeit, in der ich selbst, gestern, durch die blaue Tür gegangen bin.

Ich ziehe die Tür hinter mir zu und schließe ab.

Mutters weißes Einzelbett liegt gut sichtbar oben im Container. Der Schnee hat sich wie kleine Türme auf den Bettpfosten abgelegt.

Ich weiß noch, wie ich in der Türöffnung stand, wenn ich Albträume hatte. Ganz still, bis sie aufwachte und flüsterte: »Komm doch ins Bett.« Damals waren es zwei Betten nebeneinander, und ich lag auf der harten Ritze. Hat sie Vaters Bett weggeworfen, damals, zu Beginn der Achtzigerjahre? Hat sie es hinausgetragen, zerhackt? Oder hat sie es auseinandergenommen, es in den Keller gestellt und auf einen Anlass gewartet, um es wieder nach oben zu holen?

So vieles, was man über seine Eltern nicht weiß.

Irgendwer hat ein Netz über den Container gespannt, damit nichts hinausfallen oder weggeweht werden kann.

Ich gehe rückwärts zum Tor. Der rote Kiesweg ist von Schnee bedeckt. Als ich mich ins Auto setze, sehe ich, dass es aussieht, als sei soeben jemand gekommen und ins Haus gegangen.