Inhalt

[Cover]

Titel

Fluchtversuche

Kleine Welt

Vom Töten

Konrad spricht

Das Diktat

Kruft und Schill

Familienbande

Von einem, der aufhört

Das große O

Bei uns liegen Sie richtig

Die Scholl-Anekdote. Bonus-Track

Impressum

Kurzbeschreibung

Autorenporträt

Fluchtversuche

Kleine Welt

Es begann damit – und wenn ich Es sage, so meine ich all das, was dazu führte, dass ich nunmehr, mit knapp dreißig Jahren, in dieser Anstalt lebe, obwohl es mir ein Leichtes wäre, meine Entlassung zu bewirken, kann ich doch mit Fug und Recht behaupten, niemals zuvor in meinem Leben die Dinge in einem klareren Licht gesehen zu haben als zum jetzigen Zeitpunkt, doch ziehe ich diesen Ort allen anderen möglichen Orten vor, da man hier drinnen, wenn man nicht unbedingt will, keinem Menschen begegnet –, und es begann eben alles mit einer Begegnung gegen Ende meines Aufenthalts im Hochland von Chiapas, als plötzlich eine Maya-Frau auf mich zutrat und mir auffordernd ihre Hand entgegenstreckte, in die ich mechanisch ein Geldstück legte, während ich im selben Augenblick dachte: Die sieht ja aus wie die Obschruff. Das mag äußerst befremdlich klingen, umso mehr, wenn man weiß, dass es sich bei Frau Elisabeth Obschruff um meine schwäbische Nachbarin aus Hohenmemmingen handelt. Ich begriff zunächst überhaupt nicht, woher mir dieser Gedanke so plötzlich, sozusagen aus dem Nichts, zugefallen war: Die Obschruff, eine weißhäutige, bebrillte Landfrau mit dritten Zähnen – die Maya-Frau dagegen, eine gegerbte, schlitzäugige, zahnlose Bettlerin. Aber ich konnte mich gegen den nackten Gedanken nicht wehren, und als die Maya-Frau nun lachte, während sie sich, mein Geld in der Hand, fortdrehte – (kein höflich-nickendes Lachen übrigens, kein sich-bedankendes Lachen, eher ein Auslachen, ein meckerndes, zahnloses Auslachen, ganz so, als wäre ich der lächerlichste Mensch auf der Welt, weil ich einer bettelnden Frau ein paar Pesos gab) –, als sie also lachte, fragte ich mich, ob das Lachen der Maya-Frau nicht genauso klang wie das der Obschruff. Das Obschruffsche Lachen, ich erinnerte mich, war mir einmal entgegengetönt, als ich mit zwei leeren Mülltonnen an ihrem Fenster in Hohenmemmingen vorbeigepoltert war und die Obschruff wie üblich aufs Sims gestützt die Welt betrachtete, mich höflich grüßte, sodass ich zu ihr hinsah, nickte, irgendwo hängen blieb, stolperte, der Länge nach zu Boden fiel und die Mülltonnen mitriss, was so komisch ausgesehen haben muss, dass ich eben jenes Obschruffsche Lachen vernahm, wobei die Obschruff wohl vergessen hatte, sich am Morgen die Zähne ins Maul zu schieben.

Die Ähnlichkeit der Maya-Frau mit Elisabeth Obschruff hatte eine verblüffende Wirkung auf mich. Es war, als rüttele sie etwas in mir wach, das jahrelang in einer Koje meines Kopfes geschlummert hatte. Ich begann, die Menschen, die mir während des restlichen Urlaubs begegneten, genauer zu betrachten: Blickte ich in ein unbekanntes Gesicht, fragte ich mich gleich, an wen es mich erinnerte; hörte ich eine fremde Stimme, versuchte ich schon, sie einer mir bekannten Stimme zuzuordnen; formten sich die Hände eines neuen Menschen zu einer Geste, so verglich ich die Geste sofort mit der eines Hohenmemmingers. Und ich fand stets eine Parallele, es gelang mir jedes Mal, die fremden Menschen in meine eigene, mir bekannte Welt zu holen. Ich zerriss den Schleier der Fremdheit, durchschaute das scheinbar Neue, blickte hinter die Fassade und sah auf das, was wirklich darunter lag: das Bekannte, das ewig Gleiche. Und mehr noch: Hinter dem ewig Gleichen, dem Vertrauten, witterte ich schnell schon die Gewöhnlichkeit, und hinter der Gewöhnlichkeit steckte die überall herrschende Langeweile, die Öde des Daseins.

Zurück auf der Schwäbischen Alb fragte ich mich, warum die Menschen überhaupt in eine andere, eine neue Welt reisen, wenn diese andere, neue Welt doch nur scheinbar anders und neu, eigentlich aber genau dieselbe Welt ist wie die bekannte? Das Reisen hat doch nur dann einen Sinn, dachte ich, wenn es das Bewusstsein erweitert, wenn es die eigene, enge Welt mit der Kraft des Neuen sprengt. Sieht man aber hinter die Dinge, hinter den Schein, sieht man – um dieses Wort einmal offen auszusprechen –, sieht man unmittelbar und direkt der Wahrheit ins Gesicht (wie ich in Chiapas), so muss man einfach erkennen, dass es nichts Neues gibt; wenn es aber nichts Neues gibt, dachte ich, wird das Reisen selber zur Farce. Nein, sagte ich mir, wenn man kennt, was man kennt, kennt man alles.

Ich verkroch mich wochenlang in meiner Wohnung und erstellte ein Personenverzeichnis meiner kleinen Welt, listete alle Menschen auf, die ich persönlich kannte. Genauestens vergegenwärtigte ich mir ihre Gebärden, ihr Aussehen, die Art und Weise, wie sie sprachen, einfach alles, was ich mit ihnen in Verbindung brachte. Ich erstellte regelrechte Dossiers. Fünfundvierzig Menschen, dachte ich am Schluss, fünfundvierzig Menschen gehören zu deiner Welt, der nichts mehr hinzuzufügen ist. Diese fünfundvierzig Menschen, sagte ich mir, sollen fortan den Rahmen bilden, um alles scheinbar Neue, das dir entgegenströmen wird, einzuordnen. So bewaffnet ging ich wieder hinaus, ins Zentrum von Hohenmemmingen, mit meinen Porträts im Kopf, und ich begann, alle unbekannten Menschen, denen ich begegnete – sei es in Läden oder auf der Straße –, mit den Menschen meiner Fünfundvierzig-Leute-Welt zu vergleichen, und mühelos gelang es mir, alle unbekannten Gesichter und Blicke irgendeinem Menschen meiner kleinen Welt zuzuordnen. Der Müllmann dort winkte wie Onkel Rudolf; der Typ da vorn röchelte übertrieben laut wie mein Nachbar Egon; der Blick vom Postmenschen erinnerte mich an den von Stefan Knirsch; die neue Aushilfe in der Bäckerei hatte den Gang und die Figur von Charlotte Dresen. Das alles gab mir ein ungeheures Gefühl der Beruhigung. Nichts Neues konnte mehr störend von außen in meine Welt einbrechen, und ich musste keinerlei Anstrengung mehr unternehmen, Menschen kennen zu lernen, denn ich kannte ja alle schon.

So wäre alles in geregelten Bahnen verlaufen, hätte nicht vier Wochen später, am Mittwoch, den vierzehnten Mai, Silke Maurmaier – eine Frau, die zu meiner Fünfundvierzig-Leute-Welt gehörte und mit der ich in der Heidenheimer Bahnhofskneipe saß –, hätte also Silke Maurmaier nicht diesen harmlos scheinenden Satz gesagt, einen Satz, der mich und mein neues Weltbild schlagartig aus den Angeln hob. Ich sprach gerade von Rüdiger Knie, einem buddhistisch veranlagten weiteren Menschen meiner Fünfundvierzig-Leute-Welt, als Silke mich plötzlich unterbrach und sagte, sie habe übrigens vor drei Tagen meinen Kollegen Stefan Knirsch kennen gelernt, der sie unheimlich an Rüdiger Knie erinnere. Ich starrte Silke entsetzt an. Sie wusste natürlich nicht, was sie da gerade gesagt hatte. Nein, sie aß einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Ich aber stand sofort auf, was heißt hier stand, ich sprang sozusagen vom Stuhl, verließ die Kneipe und fuhr schnurstracks zurück nach Hohenmemmingen.

Was sich in der Heidenheimer Bahnhofskneipe ereignet hatte, war nichts anderes gewesen als ein Beispiel für die endlose Blindheit, mit der die Menschheit, die Menschen, alle Menschen – (in diesem Fall ich selbst) – geschlagen war: Bei allem Vergleichen, Vergegenwärtigen, Erinnern und Porträterstellen hatte ich vollkommen vergessen, meine Welt in sich zu betrachten, die fünfundvierzig Leute untereinander zu vergleichen. Hätte ich dies getan, hätte auch ich sogleich erkennen müssen, was mir Silke nun offenbarte, nämlich die frappierende Ähnlichkeit zwischen Rüdiger Knie und Stefan Knirsch, beide Teil meiner Welt. Jetzt aber, nachdem Silke mir den Schleier von den Augen gerissen hatte, sah ich unmittelbar die beiden besagten Gesichter vor mir, das eine legte sich über das andere, verdeckte es, schluckte es, fraß es förmlich auf, und Knirschs graumelierter Kopf verschwand hinter Knies Hamsterbacken, die, so schien mir, leichte Kaubewegungen vollführten, als hätten sie Knirschs Züge noch in den Backentaschen.

Zurück in Hohenmemmingen breitete ich sofort meine fünfundvierzig Porträts auf dem Fußboden aus und verglich die Personen meiner Welt, legte ihr Äußeres, ihre Blicke und Bewegungen nebeneinander, und es gelang mir, bislang übersehene Gleichheiten zu erkennen: Hier schauten zwei aus denselben tiefliegenden, spöttischen Augen, dort zogen zwei andere auf dieselbe erboste Art die Brauen zusammen; hier redeten zwei im komplett gleichen Tonfall, dort trugen zwei die haargenau gleiche Frisur. Wenn mich aber der Schwager Willi an meinen Yoga-Lehrer erinnert, dachte ich, so brauche ich nur einen von beiden. Und so verschlang ein Gesicht das nächste, legte sich eine Geste über die andere, deckte ein Ton den anderen zu: Meine Welt schrumpfte und wurde von Stunde zu Stunde von immer weniger Menschen bevölkert. Immer deutlicher sah ich, dass es kaum einzelne, eigene, unverwechselbare Persönlichkeiten gab, nein, wohin ich auch blickte, ich sah nichts als Gleichheit, Ähnlichkeit, auf Nachmachen und Kopie gerichtetes, affiges Gebaren. So schmolz meine kleine alte Welt zu einem untrennbaren Klumpen, ich führte die fünfundvierzig Leute in dieser Nacht zusammen, zerdividierte sie und ließ sie ineinander aufgehen. Und als am Morgen die Vögel begannen, dumm zu flöten, hatte ich meine komplette Welt auf den Nenner zweier Menschen gebracht, der, so ahnte ich, durch nichts mehr zu teilen war, und diese Menschen waren, wie man sich denken kann, die beiden, die ich bislang meine Mutter und meinen Vater genannt hatte.

Sobald mir diese Tatsache klar vor Augen lag, setzte ich mich ins Auto und fuhr tiefer hinein ins dunkle und unergründliche Gebiet des Schwabenlandes, wo ich meine Eltern wusste und auch antraf. Sie arbeiteten im Krautgarten. Ich begrüßte sie, schwieg dann aber und sagte nichts von meinen nächtlichen Überlegungen, nein, ich tarnte mein Kommen als harmlosen Sohnbesuch und aß hungrig das Frühstück, das meine Mutter mir zubereitete. Essend beobachtete ich meine Eltern und erkannte schon während des Frühstücks, wie sehr gerade meine Mutter sich verändert hatte. Was für Gesten hatte sie plötzlich angenommen? Was für ein Lachen brach da aus ihren Zähnen, wenn mein Vater etwas Lustiges erzählte? Das – ich sah es sofort – waren die Gesten, war das Lachen, waren die Blicke und Worte meines Vaters, mit dem sie, meine Mutter, seit achtunddreißig Jahren zusammenlebte. Abgefärbt, dachte ich sofort, abgefärbt war in all den Jahren die komplette Äußerlichkeit des Vaterverhaltens auf das meiner Mutter. Nichts Eigenes war da mehr, nur noch ein schlechtes Abziehbild dessen, was sie seit achtunddreißig Jahren, hier, in ihrer engsten und beengenden Umwelt, gesehen und gehört hatte. Vatergesten, Vaterworte, Vaterblicke schoben sich da aus der Mutter, alles schon vormals gesagt, getan, geblickt, vom Vater. Je deutlicher ich meine Mutter so beschämend unselbst vor mir sah, umso mehr wandte ich mich ab von der Frau, die Teil meiner Welt gewesen war, von der Frau, die ich bislang als einzelnes Wesen wahr- und angenommen hatte, wandte mich ab von dieser billigen Vaterimitation, diesem fleischlich hohlen Duplikat, hin zum einzig noch verbliebenen Menschen meiner Welt, den ich Vater nannte, derjenige Mensch, auf den letztlich alle Menschen meiner Welt zurückgingen, derjenige Mensch, dessen Name als letztes Ergebnis unter jeder Liste aus Gleichungen und Vergleichungen stand. Ich sah die Mutter nicht mehr an und versuchte, ihr nicht mehr zuzuhören, hätte dies auch gewiss geschafft, wenn sie nur nicht diesen einen dummen Satz gesagt hätte, dieses Sätzlein, so lapidar, so vor sich hin gesagt, so lächerlich beiläufig eingestreut, so hundertmal preisgegeben, so ganz und gar nicht neu, so alt und plattgetreten, dass es mich bislang nie gestört hatte, dieses kümmerliche Sätzlein, jetzt aber traf es mich wie ein Schlag aufs Bewusstsein. Da sagte sie nämlich, die ehemalige Mutter, ohne sich etwas dabei zu denken, sie sagte es leichthin, so, wie sie es immer schon nach wohl zwanzig Minuten meines Besuchs bei ihnen gesagt hatte, so oft hatte sie es gesagt, dass ich es schon gar nicht mehr hörte, dass ich es schon überhörte bei meinen Besuchen, jetzt aber, bei diesem entscheidenden Besuch, nach dieser Nacht, nach diesen Beobachtungen, nach diesen Gedanken, war es mir unmöglich, den Satz zu überhören, im Gegenteil, ich hörte ihn quasi mit fürchterlichen Schmerzen im Kopf, da sagte sie nämlich, die Vaterdublette, während sie mich ansah, ja, musterte, von oben bis unten – und mir gefriert heute noch das Herz, wenn ich an diesen simplen Satz denke –, da sagte sie also, sie wundere sich immer mehr, wie sehr ich doch meinem Vater aus dem Gesicht geschnitten sei.

Während meine Mutter sich beeilte, ihr »immer mehr« zu erläutern, indem sie sagte, immer mehr, damit meine sie, je älter ich würde, von Besuch zu Besuch, sprang ich schon auf, riss meinen Vater vom Stuhl, zerrte ihn vor den Spiegel, sah mich an, sah meinen Vater an, sah seine Lippen an, sah meine Lippen an, sah seine Nase an, sah meine Nase an, und sogleich bemerkte ich, wie Recht meine Mutter hatte, wie sehr ihre Worte der perfekten Wirklichkeit entsprachen, wie ein Ei dem anderen, hätte ich beinah gesagt, vor dem Spiegel stehend, wie ein Ei dem anderen glichen wir uns. Als ich sah, was ich sah, stieß ich meinen Vater fort, stieß ihn hart und grob zur Seite, indem ich ihn an der Schulter packte und einfach wegwarf. Er fiel auch gleich zu Boden in seinem Alter, kam mit dem Kopf kurz an den kleinen Schuhschrank zu knacken, auf dem dieses hässliche Ziegenfell liegt, dieses abgrundtief hässliche Ziegenfell, er schrie, mein Vater, aber nur kurz, Blut floss keins, und ich sah auch nicht auf den Vater, der da lag und wimmerte – ein wenig erbärmlich, scheint’s mir heute, so gar nicht eines Vaters würdig –, ich sah ihn also ganz und gar nicht an, sondern nur mich im Spiegel, gleichwohl sprach ich zu ihm, dem Vater: Was brauch ich dich noch, wenn du bist wie ich selbst.

In dieser Sekunde am Spiegel, der, wie ich jetzt weiß, wichtigsten und bedeutendsten Lebenssekunde, in dieser Sekunde am Spiegel also begriff ich plötzlich, nein, ich muss vielmehr sagen, wurde mir die Gewissheit zuteil, die unumstößliche Gewissheit – das heißt, eine Gewissheit, die sich nicht so leicht hätte umstoßen lassen wie mein Vater vor wenigen Momenten, (der lag noch da und – etwas peinlich ist’s mir schon für ihn – weinte) –, die Gewissheit also, dass diese ganze verdammte Welt, die ich bislang als die äußere und äußerste Realität und Wahrheit angenommen und angesehen habe, aus nichts anderem bestand als aus – mir selbst. Ein ungeheures Glücksgefühl ergriff mich, und dieses Glücksgefühl wurde noch gesteigert durch den sofort gefassten, ich will fast sagen, gepackten, buchstäblich am Schopf gepackten Entschluss – so wie ich übrigens auch meinen Vater am Schopf packte und ihn zur Mutter zurück in die Küche zog, ehe ich auf immer die schwäbische Hütte verließ –, den Entschluss also, mich voll und ganz und für immer und alle Zeit zurückzuziehen von der falschen Welt mit ihren falschen Menschen, die doch allesamt nur Abziehbilder meiner selbst sind, zurückzuziehen an einen möglichst kleinen, engen, abgeschlossenen Ort, an dem mir möglichst wenige dieser Truggebilde, die sich für wahr und echt halten, begegnen können, an einen unerreichbaren Ort, an den sich niemand wagt, an einen Ort wie dieser hier, wie die Anstalt in Bad Schussenried, wohin ich mich gleich, nachdem ich meinen wimmernden Vater der Mutter in den Schoß geworfen hatte, begab, um endlich ganz und gar und ungestört in meiner einzelnen Zelle – die zu ergattern ich allerhand aggressiv-kranken Zirkus zu veranstalten hatte –, um mich also hier zu weiden an der ganzen großen Welt, die ich in den letzten Wochen entdeckt hatte: an mir selbst.