Matthias P. Gibert
Menschenopfer
Lenz’ neunter Fall
STRAHLKRAFT Hideo Asami, Küchenhilfe im Tokyo Temple, einem Kasseler Sushi-Restaurant, klagt seit Tagen über Unwohlsein und Übelkeit. Als ihm die Haare büschelweise ausgehen, verschwindet er plötzlich spurlos. Wenige Tage später wird Hauptkommissar Paul Lenz, der an diesem Tag seinen 50. Geburtstag feiert, zu einem Einsatz in eine Schrebergartenkolonie gerufen. Dort liegen drei verkohlte Leichen in einer Laube. Zwei der Opfer, die Brüder Fritz und Ottmar Eberhardt, sind echte Kasseler, der dritte ist ein Asiate, dessen Identifikation zunächst unmöglich ist.
Zur gleichen Zeit leidet ein weiterer Angestellter des Sushi-Restaurants unter den gleichen Beschwerden wie sein Kollege, weigert sich jedoch zum Arzt zu gehen, da er sich illegal in Deutschland aufhält und nicht krankenversichert ist. Als auch er verschwindet, verschärft sich die Situation dramatisch …
Matthias P. Gibert, 1960 in Königstein im Taunus geboren, lebt seit vielen Jahren mit seiner Frau in Nordhessen. Nach einer kaufmännischen Ausbildung baute er ein Motorradgeschäft auf. 1993 stieg er komplett aus dem Unternehmen aus und orientierte sich neu. Seit 1995 entwickelt und leitet er Seminare in allen Bereichen der Betriebswirtschaftslehre. Mit seiner Frau erarbeitete er ein Konzept zur Depressionsprävention und ist mit diesem seit 2003 sehr erfolgreich für mehrere deutsche Unternehmen tätig. Seit 2009 ist er hauptberuflich Autor.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Tödlicher Betrug (2019)
Tödlicher Befehl (2018)
Tödliche Ferien (2017)
Unkrautkiller (2016)
Paketbombe (2016)
Halbgötter (2015)
Müllhalde (2014)
Bruchlandung (2014)
Pechsträhne (2013)
Höllenqual (2012)
Menschenopfer (2012)
Zeitbombe (2011)
Rechtsdruck (2011)
Schmuddelkinder (2010)
Bullenhitze (2010)
Eiszeit (2009)
Zirkusluft (2009)
Kammerflimmern (2008)
Nervenflattern (2007)
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Alle Rechte vorbehalten
3. Auflage 2019
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Roman Shiyanov – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-3804-2
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Lenz starrte in die Dunkelheit des Schlafzimmers. Rechts neben sich konnte er das ruhige und rhythmische Atmen von Maria hören. Vorsichtig schob er die Decke weg, erhob sich aus dem Bett und verließ so leise wie möglich den Raum. In der Küche angekommen, holte er eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank, schenkte sich ein Glas bis zum Rand voll ein und nahm einen tiefen Schluck. Als die Tür des Samsung in seinem Rücken zugefallen war, war er für ein paar Augenblicke von völliger Schwärze umgeben, weil sich seine Augen erst wieder an die Dunkelheit gewöhnen mussten. Mit dem Fuß zog der Polizist sich einen der Stühle heran und ließ sich darauf nieder.
Scheiße, dachte er. So schlimm hätte ich es mir nun wirklich nicht vorgestellt.
Seine Gedanken wurden von einem Geräusch abgelenkt, das aus dem Schlafzimmer kam. Er hörte, wie Maria leise die Tür öffnete und ein paar Sekunden später in der Küche stand.
»Kannst du wieder nicht schlafen, Paul?«, wollte sie besorgt wissen.
»Nein«, erwiderte er müde. »Es ist genau wie in den letzten Nächten auch. Leider.«
Sie trat neben ihn, streichelte sanft über sein Haar und setzte sich auf seine Oberschenkel. Dann fuhr ihre Hand über seine Wange.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich glatt annehmen, dass du Schiss kriegst.«
Er schüttelte den Kopf.
»Das ist Quatsch, Maria. Ich freue mich darauf, dich zu heiraten, und das weißt du auch. Warum sollte ich, nachdem ich so viele Jahre darauf warten musste, plötzlich Muffe davor kriegen, dein Mann zu werden?«
Maria zog ihre Hand zurück und legte beide Arme um seinen Hals.
»Das weiß ich nicht, ich bin schließlich keine Psychologin. Aber es ist schon auffällig, dass diese Schlaflosigkeit ein paar Wochen nach meiner Scheidung einsetzt, nämlich genau dann, wenn wir uns entschließen zu heiraten.«
Lenz schluckte.
»Vielleicht gibt es ja eine ganz andere, viel einfachere Erklärung«, gab er leise zu bedenken.
»Und wie sollte die nach deiner Meinung aussehen?«
Wieder bewegte sich sein Adamsapfel auf und ab.
»Weiß nicht. Ist ja auch nur so eine Idee.«
»So? Was für eine Idee meinst du denn?«
»Ich …«, begann er, um im gleichen Moment wieder abzubrechen.
Maria atmete tief ein, fuhr mit der Hand unter sein Shirt und begann, seinen Rücken zu streicheln. Gleichzeitig kamen ihre Lippen seinem rechten Ohr ganz nah.
»Wenn du es nicht auf der Stelle rauslässt, beiße ich dir dein Ohrläppchen ab. Danach das andere und als Nächstes die Nase. Was dann kommt, brauche ich dir wahrscheinlich nicht explizit zu erklären. Also, was ist los mit dir?«
Lenz verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, wischte sich kurz über die Nase und holte Luft.
»Obwohl«, fuhr sie dazwischen, bevor er auch nur den ersten Ton auf ihre Frage erwidern konnte, »es ist eigentlich gar nicht mehr nötig, dass du irgendwas zu deinen Schlafstörungen sagst. Gerade eben ist mir nämlich schlagartig klar geworden, warum das so ist.«
Er sah sie erstaunt an.
»So, so. Dann lass mal hören.«
»Es geht gar nicht um unsere Heirat, Paul. Es geht vielmehr um den Termin, der davor ansteht, deinen ganz persönlichen Termin in der nächsten Woche. Du schläfst so schlecht oder besser gesagt, gar nicht, weil dein Geburtstag vor der Tür steht. Dieser ominöse, komische, bedrückende, alt machende runde Geburtstag. Dieser überaus nervige zwischen dem 49. und dem 51. …«
»Warum sprichst du die Zahl nicht aus?«
»Ich will nicht, dass die Depression, in die du offensichtlich im Begriff bist abzugleiten, sich noch verstärkt. Also umschreibe ich das böse Objekt lieber.«
Wieder musste Lenz schlucken.
»Es fällt mir nicht leicht, es zuzugeben, Maria, aber ich vermute, dass du mal wieder recht hast.«
»Vermutest du es oder weißt du es?«
»Ich …, ich …«, druckste er herum.
»Paul!«
»Ich weiß es«, schob er schnell nach. »Und ich weiß es schon länger.«
»Dass es für dich nicht leicht ist oder wird, diesen Geburtstag zu feiern?«
Er nickte.
»Da bin ich jetzt aber mal richtig gespannt auf die zugehörige Erklärung, mein Lieber.«
Er sah sie verkniffen an.
»Na ja. Es ist immerhin so was wie eine Zäsur, Maria. Fünfzig! Das klingt doch irgendwie, als ob das Leben danach komplett vorbei sei.«
»So hab ich das noch nie bedacht«, feixte sie gähnend. »Aber klar. Wo du recht hast, hast du recht.«
Der Polizist versuchte unsicher, im matten grünen Schein der Temperaturanzeige des Kühlschranks etwas in ihrem Gesicht zu erkennen.
»Wie meinst du das?«
Maria ließ sich etwas Zeit mit ihrer Antwort.
»Ach, herrje, wie soll ich das schon meinen?«
Sie ließ sich zurückfallen, sodass er ihren Körper erschreckt auffangen musste.
»Du hockst hier mitten in der Nacht mit einer wirklich geilen Tussi auf dem Schoß in der Küche eurer wirklich geilen Wohnung in einem endgeilen Stadtviertel. Du hast einen Job, der dich, wenn auch nicht immer, so doch meistens, zufrieden nach Hause kommen lässt. Weiterhin bist du bis ins hohe Alter und darüber hinaus abgesichert, sowohl materiell als auch emotional, wie ich dir als unmittelbar Beteiligte gerne versichere. Deine zukünftige Frau, die du in ein paar Wochen heiraten willst, ist wohlhabend und liebt dich so sehr, dass es ihr in manchen Minuten zum Weinen wehtut. Außerdem freut sie sich wie blöd auf jeden weiteren Tag mit dir.«
Wieder schaukelte sie auf seinem Schoß hin und her.
»Aber natürlich hast du recht, dass mit diesem blöden Geburtstag dein Leben vorbei sein wird. Willst du nicht aus Angst vor dem herannahenden Tod lieber gleich aus dem Fenster springen?«
Die Worte ihres letzten Satzes hatten einen ungewöhnlich harten Klang entfaltet.
»Oh Gott, Maria, was bin ich für ein Idiot«, murmelte Lenz. »Was bin ich nur …«
»Lass stecken, Paul«, unterbrach sie ihn, nun wieder deutlich sanfter.
»Du hast wirklich allen Grund, sauer auf mich zu sein«, gestand er ihr freimütig zu.
»Ach, komm. Über so einer Selbstmitleidsorgie stehe ich doch kilometerweit drüber.«
Wieder warf er ihr einen irritierten Blick zu.
»Wie …?«
»Das verstehst du jetzt nicht, was? Dabei ist es ganz leicht zu erklären: Ich mach das nicht zum ersten Mal durch. Man könnte sagen, dass ich mit so was schon eine gewisse Routine habe.«
»Mit …?«
»Genau, mit dem. Der hat sich auch so angestellt, als dieser Tag näher gerückt ist. Du glaubst nicht, wie mich das damals genervt hat, und wenn ich nicht dich und unsere Treffen in Fritzlar gehabt hätte, wäre ich vermutlich durchgedreht und hätte ihn umgebracht. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass der Oberbürgermeister der Stadt Kassel mit seiner Scheißangst vor diesem ominösen Tag nicht alleine auf der Welt war. Obwohl …«
Sie fing an zu grinsen.
»… ich dir so was nun wirklich nicht zugetraut hätte. Ich dachte heute Morgen noch, dass es eher wegen unserer Hochzeit sein könnte.«
Lenz griff nach ihr und nahm sie fest in seine Arme.
»Nein, Maria, deswegen ist es wirklich nicht. Darauf freue ich mich wie irre.«
»Und was ist mit dem Geburtstag, der nach deiner Ansicht dein Leben beenden wird?«
Er schluckte wieder.
»Zu erwarten, dass ich mich wie irre darauf freue, wäre vielleicht ein wenig viel verlangt, was meinst du?«
»Das stimmt. Aber du könntest versuchen, das alles in der richtigen und vor allem angemessenen Relation zu sehen, Paul. Mit 50 ist man heutzutage mitten im Leben und landet nicht von einem Tag auf den anderen auf dem Abstellgleis.«
Sie zog ihn zu sich heran und küsste seinen Hals.
»Außerdem gibt es da so gewisse Situationen, in denen es wirklich nicht auffällt, dass du sozusagen dem Tod geweiht bist.«
Damit streifte Maria, die einen von seinen Schlafanzügen trug, mit der linken Hand über seinen nackten Oberschenkel und fuhr daran so weit nach oben, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte.
»Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst«, gab er ebenso scheinheilig wie gepresst von sich.
»Na, dann pass mal gut auf.«
Hideo Asami stopfte sich den letzten Bissen in den Mund, kaute lustlos darauf herum und würgte den Fischbrocken nahezu unzerkleinert hinunter. Der deutlich übergewichtige Mann stand auf, stellte seinen Teller in die Spüle und zog sich die ehemals weiße Schürze über den Kopf.
Fisch, Fisch und immer wieder Fisch. Es hing der beleibten Küchenhilfe zum Hals heraus, dass er Abend für Abend die Reste dessen zu sich nehmen musste, was die Gäste des gut angesehenen, piekfeinen und entsprechend teuren japanischen Restaurants in der Kasseler Innenstadt übrig gelassen hatten, aber der kulinarische Geschmack der deutschen Besucher reduzierte sich beim Besuch des ›Tokyo Temple‹ nun einmal auf Sushi und Sashimi. Hideo, der in der Küstenmetropole Yokohama geboren und aufgewachsen war, hatte nichts gegen Fisch, schon als Kind war er die Grundlage der Ernährung für den mittlerweile 36-jährigen Mann gewesen. Während eines knapp fünf Jahre andauernden Jobs in einem American Diner in Downtown New York jedoch hatte er die Vorzüge eines großen, medium gebratenen Stückes Rindfleisch zu schätzen gelernt. Seitdem stand Fisch in seinen diversen Erscheinungsformen nicht mehr sehr weit oben auf seiner persönlichen Genussliste. Sicher, ein gut gebratenes, frisches Thunfischsteak war nicht zu verachten, aber er hatte einfach schon zu viele davon gegessen.
Nach seinem Engagement in Amerika war er für ein knappes Jahr zurück nach Japan gegangen, um seinen krebskranken Vater zu pflegen, weil außer dem Sohn niemand aus der Familie in der Nähe wohnte, und ein Heim konnte sich der Witwer und ehemalige Fischer nicht leisten. Es hatte Hideo Asami eine Menge Kraft und den größten Teil seiner Ersparnisse gekostet, bis er den alten, ausgemergelten Mann, der sich so unendlich gegen das Sterben wehrte, beerdigen konnte.
Dann Deutschland. Zuerst in einem Restaurant in Leipzig, wo er nach einem handfesten Streit mit dem Inhaber Hals über Kopf das Weite suchte. Am nächsten Tag kam über einen Bekannten die Offerte aus Kassel.
Viel Arbeit, wenig Geld und miese Bedingungen, also wie immer und überall für eine Küchenhilfe. Er nahm den Job trotzdem an. Herr Kanaya, der Restaurantbesitzer und damit sein neuer Chef, empfing ihn für japanische Verhältnisse nahezu überschwänglich, sogar vom Bahnhof hatte er ihn abgeholt und anschließend in einer großen Limousine zu seinem neuem Arbeitsplatz gefahren. Diese Zuneigung hielt jedoch leider nicht einmal 24 Stunden, dann war Asami wieder auf der Ebene angekommen, die ihm zustand. Zwischen Küche und Toiletten.
Mit kurzen, trippelnden Schritten betrat er den Gästebereich, den er nur vor und nach den Öffnungszeiten zu sehen bekam, und ging devot auf seinen Boss zu.
»Herr Kanaya«, begann er leise in seiner Muttersprache, »die Arbeiten in der Küche sind beendet. Alles ist erledigt, wie Sie es gewünscht haben.«
»Gut. Du hast auch an die Mülleimer gedacht? Morgen kommt die Müllabfuhr.«
»Natürlich, Herr Kanaya.«
Der Restaurantbesitzer, der mit den drei Köchen und vier Bediensteten aus dem Service sein Abendessen einnahm, sah ihn streng an.
»Dann geh jetzt. Und denk dran, dass wir morgen Abend die große Reservierung haben. Sei also mehr als pünktlich!«
»Ja, Herr Kanaya.«
Damit nickte die Küchenhilfe in die Runde, drehte sich um und wollte sich entfernen, blieb jedoch nach dem ersten Meter stehen, knickte in der Hüfte zusammen und japste nach Luft.
»Was ist schon wieder los mit dir?«, wollte Restaurantbesitzer Kanaya mit der für ihn typischen Fistelstimme wissen. »Wenn du dich um deine Arbeit drücken willst, brauchst du von mir aus gar nicht mehr wiederzukommen, du fauler Hund.«
Hideo Asami richtete sich auf und sah seinen Chef mit freundlichem Gesicht an.
»Nein, es ist nichts, Herr Kanaya. Mir geht es nur seit ein paar Tagen nicht so gut; meistens nach dem Essen.«
»Dann solltest du nicht so viele von meinen guten Sachen in dich hineinfressen«, pöbelte Kanaya ihn an, »was deinem dicken Bauch auch nicht schaden würde.«
Die Runde fing laut an zu lachen.
»Ja, ich werde daran denken«, gab die Küchenhilfe leise zurück, drehte sich wieder um und verließ nun endgültig das Restaurant.
Eine halbe Stunde später saß Asami in einer nahegelegenen Kneipe vor einem großen Bier und starrte auf den Fernseher über seinem Kopf. Obwohl er den Kommentator nur bruchstückhaft verstehen konnte, war er fasziniert von dem American-Footballspiel, das er zu sehen bekam. American Football, das war seine große Leidenschaft seit den Tagen in New York. Er hatte es sich damals nur zweimal leisten können, ein Spiel der Giants live zu erleben, doch die Erinnerung daran hielt bis heute an. Leider hatten diese dummen Deutschen so gar nichts für die professionelle Variante dieses wunderbaren Sports übrig, und das, was sie jenseits dessen darunter verstanden und spielten, langweilte ihn abgrundtief. Nein, echtes American Football war etwas ganz Einmaliges, Besonderes.
Gerade warf der Quarterback einen schönen Pass, doch der Wide Receiver ließ den Ball bei der Annahme fallen. Dummkopf, dachte der Japaner und fuhr sich dabei durch die Haare. Als er wieder nach seinem Bier greifen wollte, stellte er erschreckt fest, dass ein ganzes Büschel der dunklen Mähne an seinen feuchten Fingern klebte. Erschreckt zuckte er zusammen und betrachtete eingehend die Haare in seiner Hand. Dann sah er sich vorsichtig um, doch erstens war er einer von nur drei Gästen, und zweitens interessierte sich niemand für ihn und seine Probleme. Verschämt stand er auf und schlenderte Richtung Toilette. Dort trat er an den Spiegel, schob im diffusen Licht der einzelnen Energiesparlampe die Schultern nach vorn und starrte auf das Loch in seinem Haarschopf, das er sich selbst ein paar Sekunden zuvor beigebracht hatte. Mit großen Augen und noch größerer Verwunderung stellte er fest, dass auf seinem Kopf schon mehrere kahle Stellen zu sehen waren, von denen er bis zu diesem Augenblick jedoch nichts bemerkt hatte. Hideo Asami schluckte, schluckte erneut, fing an zu würgen und musste sich nur Sekundenbruchteile später übergeben.
Verdammt, dachte er. Verdammt, was ist nur los mit mir?
Am nächsten Morgen fühlte Asami sich so schwach, dass er es kaum vom Bett bis zu dem kleinen Waschbecken schaffte, an dem er seine Körperpflege vornehmen musste. Nachdem er sich schließlich mühsam das Gesicht abgewaschen hatte, torkelte er zurück zum Bett und ließ sich fallen.
Ich muss Herrn Kanaya anrufen und ihm berichten, wie es mir geht, dachte er, bevor sein Körper wieder von einem Krampf geschüttelt wurde und er sich erneut übergeben musste. Zum wievielten Mal es an diesem Morgen war, hatte er dabei längst vergessen.
»Bartholdy hat schon zweimal angerufen«, erklärte Oberkommissar Thilo Hain seinem Boss, nachdem der den Kopf durch die Tür seines Büros gesteckt hatte. Lenz warf eine Bäckereitüte auf den Tisch, streifte sich die Daunenjacke von den Schultern und sah seinen Kollegen müde an.
»Hat er gesagt, was er will?«
»Nö. Aber was soll er an einem traurigen Tag wie diesem schon von dir wollen?«
»Vielleicht schlägt er mir die Frühpensionierung vor, was meinst du?«, gab der Hauptkommissar zurück, während er sich einen Stuhl herbeizog, sich hineinfallen ließ und ein Croissant aus der mitgebrachten Tüte zog.
»Auch eins?«
Hain nickte erfreut.
»Ich hab schon befürchtet, dass du geizig werden würdest.«
Der junge Polizist zögerte einen Moment. »Jetzt, wo deine besten Tage definitiv vorbei sind.«
Lenz biss herzhaft in sein Gebäckstück und grinste seinen Mitarbeiter dabei an.
»Du kannst mich mit dieser Scheiße nicht treffen, Thilo. Weil ich nur vorgehe auf dem Weg, den du, wenn es normal läuft, irgendwann auch mal gehen wirst.«
»Darüber hab ich mit Carla letzte Woche mal ziemlich ausführlich gesprochen, als es darum ging, was wir dir schenken sollen. Und sie hat komischerweise fast genau das gesagt, was du gerade abgesondert hast. Dass sich nämlich jeder, der diesen Geburtstag feiern darf, auch darüber freuen sollte. Weil es da draußen nämlich jede Menge Menschen gäbe, denen das schon gar nicht mehr vergönnt war. So oder so ähnlich hat sie sich ausgedrückt.«
»Gar nicht so doof, die Gute«, sinnierte Lenz erfreut und biss erneut in sein Croissant. »Und um das Thema abzuschließen«, fuhr er kauend fort, »gestehe ich dir freimütig ein, dass ich in den letzten Wochen schon manchmal schlecht geschlafen habe bei dem Gedanken an den heutigen Tag, aber das ist vorbei. Seit heute Morgen weiß ich nämlich, dass ich der glücklichste 50-Jährige auf der Welt bin. Und damit soll es von mir aus gut sein.«
»Aber manchmal tun dir die Knochen schon mehr weh als früher, oder?«, frotzelte Hain.
Lenz nickte zustimmend.
»Das will ich absolut nicht bestreiten. Aber wenn du 50 bist und dir gar nichts weh tut, bist du tot.«
Er grinste seinen Kollegen und Freund feist an.
»Und jetzt will ich meine Glückwünsche und mein Geschenk, aber pronto.«
In diesem Augenblick flog die Tür in seinem Rücken auf, und eine Horde Kollegen drängte sich, angeführt von Uwe Wagner, dem Pressesprecher des Polizeipräsidiums Kassel, in den viel zu kleinen Raum.
Das, was die Beamten in den folgenden Minuten veranstalteten, als Musik oder im Extremfall sogar als Gesang zu bezeichnen, wäre selbst dem größten Optimisten schwergefallen, doch Lenz war von der Aufführung überaus gerührt. Auch die Textsicherheit seiner Kollegen konnte man keinesfalls als überragend bezeichnen.
Happy Birthday to you
Marmelade im Schuh
Aprikose in der Hose
Happy Birthday to you
So oder so ähnlich reihte sich eine Strophe an die andere, bis schließlich Wagner nach einer sehr kurzen Ansprache seinen Freund in den Arm nahm und ihm herzlich gratulierte.
»Mensch, Uwe, jetzt machst du mich aber wirklich verlegen«, murmelte der Hauptkommissar mit leicht feuchten Augen. Nach und nach schüttelte er jedem der Männer und jeder der Frauen die Hand, bis schließlich Rolf-Werner Gecks als Letzter vor ihm auftauchte.
»Willkommen im Club«, grinste er Lenz an. »Und alles Gute für die nächsten 50 Jahre.«
Damit zog er einen Umschlag aus der Innentasche seines Sakkos und reichte ihn seinem Boss.
»Das hier haben die Kollegen und ich uns ausgedacht, damit wir mal ein paar Tage ganz in Ruhe und ohne Störfeuer von dir arbeiten können.«
Lenz riss den Umschlag auf und kramte den Inhalt, ein hübsch gestaltetes DIN-A4-Blatt, heraus. Nach dem Lesen steigerte sich seine Rührung noch einmal, denn die Kollegen hatten zusammengelegt und ihm und Maria einen Gutschein für ein verlängertes Wochenende in einem Wellnesstempel geschenkt.
»Mensch, Jungs, das ist ja …«, versuchte er einen Dank, kam jedoch nicht weit, weil allgemeines Gelächter einsetzte.
»Wir haben gedacht«, rief Hain dazwischen, »dass die dortigen Fachkräfte es vielleicht schaffen, deine welke Haut und dein wirklich nicht mehr so ansehnliches Restäußeres wieder auf Vordermann zu bringen. Falls das in die Hose gehen sollte, sind wir allerdings mit unserem Latein wirklich am Ende.«
Es gab noch ein paar weitere Zwischenrufe, die jedoch schlagartig erstarben, als zwei weiß gekleidete Männer mit ein paar Tabletts in den Händen die Szene betraten.
»Das Buffet ist eröffnet«, rief Lenz, der die Aktion vorbereitet hatte, und deutete auf die Leckereien.
*
»Ihr müsst übrigens den Gutschein nicht in diesem Wellnessladen einlösen«, erklärte Uwe Wagner gute drei Stunden später seinem Freund, nachdem die anderen Kollegen längst wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt waren und nur noch die beiden und Thilo Hain am Schreibtisch saßen. Lenz hatte die Beine hochgelegt und kaute genüsslich auf dem Rest eines Lachsbrötchens.
»Mensch, Uwe«, intervenierte Hain, »das hätte er doch nie gemerkt.«
Der junge Oberkommissar verzog gekünstelt das Gesicht.
»Damit bringst du mich um den besten Gag für die nächsten drei Jahre.«
»Tja, so ist das«, gab Wagner emotionslos zurück. »Müsst ihr euch die endlosen Nächte in kalten Autos mit anderen Geschichten aus euren armseligen Leben versüßen.«
»Quatsch«, widersprach Lenz seinem Mitarbeiter, »natürlich hätte ich das gemerkt. Außerdem ist ja noch lange nicht gesagt, dass wir eine andere Reise machen. Wenn Maria Wellnessoase hört, ist das schon so gut wie gebucht, das kannst du glauben.«
»Na ja, dann habe ich vielleicht …«
Weiter kam Hain nicht, weil er vom Klingeln des Telefons auf dem Schreibtisch unterbrochen wurde. Lenz griff nach dem Hörer und meldete sich. Nach einer Weile des Zuhörens sagte er nur kurz: »Ich bin gleich bei Ihnen«, dann legte er den Hörer zurück.
»Schon wieder Bartholdy?«, wollte Thilo Hain wissen.
Lenz nickte.
»Sag bloß, der will dir persönlich gratulieren?«, zeigte sich Uwe Wagner erstaunt. »Unser oberster Boss ist doch eher dafür bekannt, dass er solche Tage nonchalant übergeht.«
Lenz nahm die Beine vom Tisch und erhob sich langsam.
»Es ist mir eigentlich egal, was er will. Ich höre es mir jetzt an und bin dann wieder hier. Bis gleich, Männer.«
Wagner erhob sich ebenfalls und stellte sich neben ihm auf.
»Ich muss auch wieder nach oben. Mach’s gut, Thilo.«
Zwei Minuten später stand der Hauptkommissar vor dem Schreibtisch von Kriminaldirektor Bartholdys Sekretärin.
»Gehen Sie ruhig rein, Herr Lenz«, forderte sie ihn mit dezenter Freundlichkeit auf. »Sie werden bereits seit längerer Zeit erwartet.«
Ach, sag bloß, dachte der Leiter der Mordkommission, deutete ein Klopfen an und betrat den großen Eckraum.
»Guten Morgen, Herr Kriminaldirektor«, murmelte er.
Bartholdy sah ihn über den Rand seiner Lesebrille streng an, doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig.
»Ja, der Herr Lenz«, flötete er. »Schön, dass Sie es einrichten konnten.«
»Leider habe ich nicht viel Zeit, Herr Bartholdy. Deshalb würde ich Sie bitten, sich …«
»Immer auf dem Sprung, der Herr Lenz. Ja, das macht einen erfolgreichen Ermittler aus.«
In Lenz’ Hirn schlugen alle Alarmglocken gleichzeitig an. Den Chef der Kasseler Polizei in diesem Zustand zu erleben, hatte noch nie etwas Gutes zu bedeuten gehabt, das wusste er nur zu genau.
»Was kann ich also für Sie tun?«, wollte er deshalb vorsichtig wissen.
»Nun nehmen Sie doch erst mal Platz, Herr Lenz, und seien Sie nicht so kurz angebunden. Vielleicht stellt sich am Ende sogar heraus, dass es gut für Sie gewesen ist, sich die nötige Zeit genommen zu haben.«
»Nun ja«, murmelte der Hauptkommissar skeptisch.
»Wollen Sie einen Kaffee trinken?«, fragte Bartholdy.
»Nein, vielen Dank, ich hatte schon ein paar im Verlauf des Morgens.«
»Gut, dann kommen wir gleich zur Sache, Herr Lenz«, fuhr der Polizeipräsident fort, um direkt im Anschluss die Arme hochzunehmen, die Hände vor seinem Hals zu verschränken und das Kinn auf diesem selbst gemachten Tablett abzusetzen.
»Ich will«, setzte er seinen Gedanken nach einer etwas zu langen Kunstpause mit mächtig Pathos in der Stimme fort, »Ihnen noch einmal die Stelle der verstorbenen Kollegen Brandt und Zwick anbieten.«
Wieder eine Pause.
»Ich würde Sie gerne zum Kriminalrat machen.«
Lenz saß da, sah seinem Vorgesetzten ungläubig ins Gesicht und rührte sich nicht. Er hatte mit vielem gerechnet, nicht jedoch mit einem neuerlichen Angebot dieser Art.
»Das ist«, erwiderte er schließlich, »eine wirklich interessante Offerte, aber Sie wissen doch, wie ich darüber denke.«
Der Hauptkommissar nahm Bezug auf ein Gespräch, das er nach Ludger Brandts Beisetzung noch auf dem Friedhof mit Bartholdy geführt hatte. Schon damals hatte der Polizeipräsident davon gesprochen, dass allein Lenz nun für den Posten infrage kommen würde, und schon damals hatte der dankend abgelehnt.
»Ja, ich kann mich nur allzu gut an unser Gespräch auf dem Friedhof erinnern, Herr Lenz. Aber mittlerweile ist fast ein halbes Jahr ins Land gegangen, und die Zeit könnte doch dafür gesorgt haben, dass sich Ihre Meinung geändert hat.«
Lenz schüttelte kaum sichtbar den Kopf.
»Nein, Herr Kriminaldirektor. So viel Zeit kann gar nicht vergehen, dass ich mich in dieser Frage anders entscheiden würde.«
Bartholdy ließ sich in seinen edlen Lederstuhl zurückfallen und verzog mit einem Anflug von Verärgerung das Gesicht.
»Nun seien Sie mal nicht undankbar, Lenz. Sie wissen ganz genau, dass es für mich nicht leicht wäre, Sie in diese Position zu boxen, aber ich will es trotzdem machen. Ich will es, und Sie sollten es auch wollen.«
In seinem letzten Halbsatz lag unzweifelhaft eine mehr als leise Drohung versteckt.
»Leider muss ich Sie aufs Neue enttäuschen, Herr Bartholdy. Der Job ist, wie ich Ihnen schon damals auf dem Friedhof ausführlich erklärt habe, nichts für mich. Und es wäre gut für unsere weitere Zusammenarbeit, wenn Sie das hier und heute endgültig akzeptieren würden. Außerdem könnten Sie dann Ihre Kraft in die Suche nach einem ernsthaft Interessierten stecken und müssten sich nicht ständig einen Korb bei mir abholen.«
Der Kriminalrat griff nach einem Bleistift, der auf dem Schreibtisch lag, und begann, auf dessen oberem Ende herumzukauen.
»Das ist nicht gut, was Sie da sagen, Herr Lenz«, fuhr er genervt fort. »Ich mache Ihnen ein Angebot, nach dem sich die meisten der hier im Präsidium Arbeitenden alle zehn Finger lecken würden, und Sie lehnen es rundweg ab. Ich verstehe Ihre Haltung einfach nicht.«
Nun war das emotionslose Schulterzucken des Hauptkommissars sehr deutlich zu erkennen.
»Na ja, dann empfehle ich Ihnen, sich mit diesen Personen ins Benehmen zu setzen. Unter denen finden Sie sicher den geeigneten Kandidaten.«
Damit stand Lenz auf und stellte sich mit in den Taschen vergrabenen Händen hinter den Besucherstuhl.
»Das war alles?«
Bartholdy ließ seinen Stuhl mit einem lauten Geräusch nach vorn fallen und stand ebenfalls auf.
»Seien Sie kein Idiot, Lenz. Noch mal kriegen Sie diese Chance ganz sicher nicht geboten.«
»Darüber bin ich mir durchaus im Klaren«, gab der Kommissar mit ruhiger Stimme zurück.
»Vielleicht brauchen Sie ja ein paar Tage Bedenkzeit?«, machte der Kriminaldirektor einen letzten Versuch. »Wir müssen das Thema ja nun nicht heute abschließend erörtern, was meinen Sie?«
Er warf einen Blick auf den Terminkalender an der Wand und strahlte dabei, als hätte er den Schlüssel zu all seinen Problemen gefunden.
»Heute ist Mittwoch. Ich melde mich nach dem Wochenende bei Ihnen und hoffe inständig, dass Sie bis dahin zur Vernunft gekommen sind, Lenz. Wenn nicht, würde mich das sehr, sehr verärgern.«
»Gute Idee. Ich werde ernsthaft darüber nachdenken«, erwiderte Lenz wider besseres Wissen, weil er keine Lust mehr hatte, sich dem Gekratze und den unverhohlenen Drohungen seines Vorgesetzten auch nur eine Sekunde länger auszusetzen.
»So machen wir es«, meinte Bartholdy zufrieden. »Genau so machen wir es. Und ich freue mich darauf, nach dem Wochenende Ihre revidierte Entscheidung zu hören.«
»Ja«, brummte Lenz im Gehen, »glücklicherweise haben wir bis dahin ja noch ein paar Tage Zeit.«
Damit verließ er das Büro, zog die Tür hinter sich ins Schloss und atmete ein paar Mal tief ein und aus.
»Wenn das mal keine böse Enttäuschung für dich wird«, murmelte er auf dem Weg zur Treppe.
»Nur ein Idiot würde dieses Angebot ablehnen«, kommentierte Thilo Hain eine Viertelstunde später die Vorgehensweise seines Chefs. »Und nur ein Idiot könnte es annehmen.«
Lenz sah ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Missbilligung an.
»Und wie, zum Teufel, soll ich das jetzt verstehen, du Hohlbirne?«
»Na ja«, erwiderte der Oberkommissar ohne zu überlegen, »du müsstest relativ eng mit Kriminaldirektor Bartholdy zusammenarbeiten, und das konnte nur ein wirkliches Phlegma wie unser in Wirklichkeit gar nicht so guter Ludger über längere Zeit aushalten.«
Er spielte damit auf ihren langjährigen Chef Ludger Brandt an, der ein paar Monate zuvor von einem Mann ermordet worden war, weil Brandt dafür gesorgt hatte, dass dieser fast 22 Jahre unschuldig im Gefängnis hatte sitzen müssen.
»Und weiter?«, nölte Lenz, weil sein Mitarbeiter keine Anstalten machte, den zweiten Teil seiner Idiotenthese zu erklären.
»Du müsstest ein Idiot sein, wenn du diese Chance ohne schwere Not verstreichen ließest.«
»Warum das denn?«
»Wegen der unbestreitbaren Vorteile, die dieser sowohl beamtenrechtliche wie auch soziale Aufstieg mit sich bringen würde.«
»Die zum Beispiel worin bestehen würden?«
Hain machte eine weit ausholende, pathetische Armbewegung.
»Nie wieder irgendwann nachts direkt an der Front auftauchen müssen, zum Beispiel. Oder einen halbwegs geregelten Dienstplan haben. Pünktlich Feierabend machen können. Eine Menge mehr an Kohle im Monat. Reicht das?«
»Meinetwegen. Leider gibt es das alles nicht gratis. Dagegen steht etwa, dass ich Leuten in den Arsch kriechen müsste, die ich heute nicht mal mit dem gleichen ansehen würde. Oder, dass ich mich an jedem verdammten Tag mit Papieren beschäftigen müsste, die ich zurzeit nicht mal zu sehen kriege. Und so viel Geld mehr gibt es überhaupt nicht, das hab ich gerade mal gecheckt, als ich auf dem Rückweg von Bartholdy war. Außerdem …«
Er stockte kurz.
»Außerdem finde ich meinen Job echt klasse. Und die Leute, mit denen zusammen ich ihn mache, sind wirklich nicht die schlechtesten.«
»Sollte das am Ende ein Kompliment gewesen sein?«, reagierte Hain mit gespielter Überraschung.
»Von mir aus, ja.«
»Danke. Allerdings gibt es einen wirklich wichtigen, alles überragenden Grund, der dafür spricht, dass du Bartholdys Angebot auf jeden Fall annehmen solltest.«
»Und der wäre?«
»Dann könnte ich mit dir zusammen aufsteigen und deinen Stuhl übernehmen. Das wäre dann für den zweifachen Familienvater der lang ersehnte Karrieresprung. An das Mehr an Kohle will ich mal lieber gar nicht denken.«
»Und du befürchtest nicht, diese Aufgabe würde dir mit atemberaubender Geschwindigkeit über den Kopf wachsen?«, frotzelte Lenz.
»Ach wo. Wenn einer wie du das hinbringt, sollte es für mich doch mit links zu bewältigen sein.«
»Schön, dass du dir da so sicher bist, wobei ich nach den Jahren der Zusammenarbeit mit dir leider …«, wollte Lenz den Dialog gerne fortsetzen, wurde jedoch vom Klingeln des Telefons auf dem Schreibtisch unterbrochen.
»Ja, Lenz«, meldete er sich mit einem breiten Grinsen in Richtung Thilo Hain.
»Ich bin’s, Heini«, kam es dumpf aus dem kleinen Lautsprecher am Ohr des Hauptkommissars. »Ich weiß, dass du heute eigentlich ganz andere Sachen im Kopf haben dürftest und zu denen gratuliere ich dir auch, aber am besten setzt du sofort und ohne zu zögern deinen Arsch in Bewegung und kommst zu den Schrebergärten hinter dem Real-Markt.«
»Was gibt es denn dort zu sehen?«
»Das erfährst du, wenn du hier bist. Und bring dir besser eine Kotztüte mit, denn das, was hier auf dich wartet, ist nicht besonders appetitlich.«
Damit hatte Heini Kostkamp, der Leiter der Spurensicherung, die Verbindung gekappt.
Lenz ließ den Hörer sinken und sah Hain, der das Gespräch ohne jegliche Emotion verfolgt hatte, irritiert an.
»Weißt du, wo die Schrebergärten hinter dem Real-Markt sind?«
»Ja, klar.«
»Dann zieh dich an, wir werden dort erwartet.«
Es war kalt und windig an diesem Wintertag in Kassel. Vom Fluss zog wabernder Dunst herauf, und der Schnee, den es am Vortag gegeben hatte, flog federngleich um die Beine der Polizisten, als sie vor einer Absperrung aus dem Dienstwagen stiegen.
»Tag, die Herren Kommissare«, wurden sie von einer jungen Uniformierten begrüßt, die frierend hinter dem rot-weißen Band stand.
»Hallo, Frau Ritter«, gab Lenz freundlich zurück und nickte der Frau zu, die jetzt die Trassierung anhob und sie durchwinkte. »Was ist denn hier passiert?«
Pia Ritter, mit der die beiden Kommissare schon häufig zu tun gehabt hatten, hob die Schultern.
»Ich weiß leider gar nichts, Herr Lenz. Ursprünglich hieß es, die Hütte in einem der Schrebergärten sei am Brennen, das hat jedenfalls die Feuerwehr angegeben, aber nun stehe ich seit mehr als zwei Stunden hier rum. Also muss doch irgendwas Größeres passiert sein. Und Ihr Auftauchen beflügelt jetzt nicht meine Fantasie dergestalt, dass ich mich schon bald wieder in einem gut gewärmten Raum aufhalten könnte.«
Hain deutete auf einen Feuerwehrmann, der etwa 30 Meter von ihnen entfernt stand und einem alten Bekannten der beiden etwas erzählte.
»Peters, der Schmierfink!«, fluchte Lenz.
»Genau der. Lass uns lieber mal rübergehen, bevor es am Ende zu einer Informationskatastrophe kommt.«
Damit setzte der Oberkommissar sich in Bewegung. Lenz folgte ihm, nachdem er sich bei Pia Ritter bedankt und von ihr verabschiedet hatte. Im Näherkommen sahen die Polizisten, wie Werner Peters, ein Journalist der Lokalzeitung, seinem Gegenüber mit konspirativer Geste etwas in die Hand drückte.
»Na, Herr Peters«, rief Hain ihm zu, während der Feuerwehrmann einen kurzen, erfreuten Blick auf das warf, was nun auf dem Weg in seine Hosentasche war. »Mal wieder ein paar Informationen gekauft?«
Peters drehte erschreckt den Kopf und sah zu den beiden Polizisten, die schon bis auf ein paar Meter an ihn herangetreten waren.
»Nein …, sicher nicht …, wir haben nur …, ich meine …«
»Nun hören Sie schon auf zu stottern«, riet Hain dem Mann.
»Sie haben doch ganz bestimmt nur einem alten Kumpel das Geld zurückgeben wollen, dass er Ihnen vor endlos langer Zeit mal geliehen hatte, oder?«
Peters fing nach einer Sekunde des Nachdenkens und Einordnens an zu nicken.
»Ja, genau, Herr Kommissar. Das Geld hatte ich mir vor …«
»Hören Sie auf damit!«, schrie der Oberkommissar den Mann nun ohne Vorwarnung an. Sowohl der Reporter als auch der Feuerwehrmann zuckten zusammen. »Und Sie«, wandte er sich an den Mann in der blauen Uniform und dem gelben Helm auf dem Kopf, »reichen ihm die Kohle, die er Ihnen gerade zugesteckt hat, zurück. Aber pronto, wenn ich bitten darf und Sie nicht in den Mittelpunkt eines riesigen Schlamassels geraten wollen, der Sie am Schluss noch Ihren Job kosten könnte.«
»Nein …, ja, sofort«, griff er in die Hosentasche und kramte einen 50-Euro-Schein hervor.
»50 Euro?«, ätzte Hain. »Das ist der Preis für Deppen, die ab nächsten Monat stempeln gehen wollen? Das glaube ich ja alles nicht!«
»Bitte, Herr Kommissar!«, flehte der Wehrmann nun. »Ich bin vor vier Wochen Vater geworden. Bitte …«
Hain warf Lenz einen fragenden Blick zu, der nickte.
»Los, hauen Sie ab«, zischte der Oberkommissar. »Aber wenn ich Sie noch mal in einer Situation wie dieser erwische, sind Sie fällig.«
»Danke«, erwiderte der Mann sichtlich erleichtert, atmete seufzend durch und verdrückte sich in Richtung Absperrung.
»Und was machen wir mit unserem Sorgenkind Werner Peters?«, fragte Hain überaus rhetorisch bei Lenz nach.
»Bitte, meine Herren, das muss man doch alles nicht so hoch hängen«, fühlte sich der Journalist zu einer Antwort bemüßigt. »Immerhin ist es nicht verboten, einem alten Freund den geliehenen Geldbetrag zurückzugeben.«
»Wollen wir den alten Freund noch einmal dazu befragen?«, schnaubte Lenz ein paar Dezibel zu laut.
»Ähm …«
»Hören Sie auf zu stottern, Peters. Und gehen Sie mir aus den Augen, bevor ich meine gute Kinderstube vergesse.«
Der Kommissar war noch immer wütend auf den Schreiberling, der ein gutes Jahr zuvor seine Beziehung zu Maria in der Zeitung publik gemacht hatte.
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, setzten sich die Polizisten in Bewegung. Kurz hinter dem Eingang zur Schrebergartenkolonie kam ihnen Rolf-Werner Gecks entgegen.
»Was machst du denn hier, RW?«, wollte Hain erstaunt wissen.
»Ich war auf dem Heimweg, als ich erstens hier den Auflauf und zweitens Heini vorne an der Ysenburgkreuzung in seinem Dienstwagen gesehen habe. Eigentlich wollte ich ihm nur mal eben Guten Tag sagen, weil wir uns seit mehr als einem Monat nicht mehr über den Weg gelaufen sind, aber das hat, wie ihr sehen könnt, leider nicht funktioniert.«
»Was ist denn passiert?«, wollte Lenz wissen.
Gecks deutete in Richtung des nördlichen Endes der Laubenkolonie.
»Kommt, ich erzähle euch das, was ich weiß, auf dem Weg«, forderte der alte Kriminaler seine Kollegen auf, ihm zu folgen.
»Dort hinten ist eine der Hütten abgebrannt. Eigentlich nichts, was jetzt so nach unserer Aufmerksamkeit schreien würde, aber nachdem die Löscharbeiten so weit beendet waren, haben die Feuerwehrleute drei verkohlte Leichen entdeckt.«
»Ach, du Scheiße«, murmelte Hain.
»Genau, ach, du Scheiße«, paraphrasierte Gecks. »Die sehen nämlich alles andere als gut aus. Ich hab es nach Inaugenscheinnahme der Situation auch schon bereut, meine Nase in die Sache gesteckt zu haben, aber ihr hättet mich vermutlich sowieso angerufen, also ist es jetzt egal.«
»Genau, RW«, frotzelte Lenz. »Was würden wir nur ohne dich machen? Und überhaupt, was soll eigentlich aus uns werden, wenn du im Sommer wirklich in Pension gehst?«
Gecks warf ihm einen wenig gütigen Blick zu, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen. Dann hatten die drei das Areal erreicht, auf dem eine noch immer leicht dampfende, verkohlte Holzhütte zu erkennen war.
»Ganz schön groß, das Ding«, stellte Hain anerkennend fest.
»Ja, das stimmt.«
»Weißt du schon, wem der Garten gehört?«, wollte Lenz von Gecks wissen.
»Nein. Vorn am Eingang hängt zwar die Telefonnummer des Platzwarts, aber dort geht niemand dran. Und um diese Jahreszeit ist es wohl eher normal, dass sich hier keiner von den Laubenpiepern herumtreibt.«
Im Hintergrund, noch außerhalb des Geländes, standen mehrere Leichenwagen. Hain hob das Trassierband, vor dem sie gestanden hatten, hoch und betrat, gefolgt von seinen Kollegen, das Grundstück. In der Luft lag der schwere, den Atem reizende Gestank von verbranntem, feuchtem Holz. Die Überreste der Behausung wurden von vier massiven, vom Feuer angekokelten Holzträgern überspannt, die den Flammen jedoch standgehalten hatten. Der Rest der Dachkonstruktion allerdings war restlos verbrannt, sodass die Hütte ungeschützt und offen wirkte. Von den halbhoch gemauerten Seitenwänden war eine eingestürzt, die anderen standen noch, vermittelten jedoch keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Direkt neben den kümmerlichen, trostlos wirkenden Trümmern standen zwei Männer in weißen Tyvekanzügen. Der dickere der beiden, der mit einer Kamera hantierte, hob den Kopf und warf den näher kommenden Polizisten einen finsteren Blick zu.
»Ich sollte sofort meinen Pensionsantrag stellen«, polterte er ohne Vorwarnung los.
»Tag auch, Heini«, begrüßte Thilo Hain den Mann von der Spurensicherung.
»Grüß dich, Kleiner«, erwiderte Heini Kostkamp väterlich. »Wenn du nicht für den Rest des Tages schlechte Laune kriegen willst, solltest du jetzt stehen bleiben«, gab er dem jungen Kollegen noch mit.
»Lass mal, das geht schon.«
»Wo sind sie denn?«, wollte Lenz wissen.
Rolf-Werner Gecks zog ihn am Arm hinter sich her und deutete auf eine Ecke der Hütte.
»Komm«, sagte er.
Die Überreste der drei am Boden liegenden Menschen hatten etwas zutiefst Gespenstisches, und es hätte nicht der trüben und kalten Stimmung an diesem Februartag bedurft, um für einen Schauer bei allen Beteiligten zu sorgen.
»Ach, du Scheiße«, entfuhr es Lenz. Hain, der hinter seinen beiden Kollegen stand, murmelte ein paar unverständliche Wortfetzen.
»Ja, dieser Anblick ist wirklich nicht vergnügungssteuerpflichtig«, kam es von Heini Kostkamp aus dem Hintergrund.
Alle drei hatten zum Zeitpunkt ihres Todes auf dem Rücken gelegen, eng aneinandergekauert; gerade so, als hätte jemand sie in dieser Position drapiert. Außerdem sah es so aus, als wären die Körper in der Hitze des Feuers kleiner geworden.
»Sind die geschrumpft?«, wollte Hain deshalb von Kostkamp wissen.
»Frag mich nicht so ein dummes Zeug«, schnaubte der Spurensicherer zurück. »Woher soll ich denn, zum Teufel, wissen, wie groß die vor der Grillparty gewesen sind?«
»Auch wieder wahr«, stimmte der Oberkommissar kleinlaut zu.
»Irgendwas, das auf Fremdeinwirkung hinweist?«, hakte Lenz bei Kostkamp nach.
»Hmm«, machte der.
»Was, hmm?«
»Das sieht mir hier alles ziemlich nach Dummheit im Dienst aus, Paul.«
Er deutete auf einen rußgeschwärzten, aufgeplatzten Stahlzylinder, der im hinteren Teil des Gartens lag.
»Das da drüben ist, bevor sie in der Hitze explodiert ist, eine handelsübliche Elf-Kilo-Gasflasche gewesen. Etwa zwei Meter davon entfernt liegt ein Heizstrahler, wie man ihn in jedem Baumarkt kaufen kann. Anschließen, anzünden, und schon wird es warm in der Hütte. Leider saugt das Ding auch den Sauerstoff weg, was die drei vermutlich nicht gewusst haben. Was dann passiert, ist zum Schluss eine schöne, wohltuende Kohlenmonoxidvergiftung.«
Lenz drehte sich wieder den Leichen zu.
»Und warum sollten die sich so einträchtig auf dem Boden versammelt haben?«, wollte er zweifelnd wissen.
»Weil es leider immer die gleichen Umstände sind, die zu solchen Unfällen führen, und die du übrigens, genau wie ich, während deiner Ausbildung gelernt hast, mein Freund. Einem wird schummerig, und er fällt um. Die anderen, denen es vielleicht noch gar nicht schlecht geht, beugen sich aufgeregt zu ihm runter und begeben sich damit ins Epizentrum der Gefahr, die in diesem Fall, weil Kohlenstoffmonoxid, wie es korrekt heißt, schwerer ist als Atemluft, in Bodennähe lauert. Ruck, zuck sind sie ebenso bewusstlos wie ihr Kumpel, der Rest geht in der Regel ganz schnell.«
»Und was hat den Brand ausgelöst?«
»Darüber hab ich mir auch schon meine Gedanken gemacht, aber die wirklich schlüssige Erklärung ist mir dazu leider noch nicht eingefallen. Am wahrscheinlichsten wäre für mich die These, dass eines der armen Schweine hier noch ein bisschen gezappelt und damit die Gasflasche mit dem aufgesetzten Strahler umgeschmissen hat.«
Lenz tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Das glaubst du doch selbst nicht, Heini.«
Kostkamp warf ihm einen vernichtenden Blick zu, drehte sich um und schlich beleidigt davon.
»Ach, leck mich doch sonstwo«, murmelte er im Gehen leise, um sich dann doch noch einmal umzudrehen.
»Sieh zu, dass der junge Zacharias hier auftaucht«, rief er dem Hauptkommissar zu. »Der ist der Beste, den wir für diese Geschichten in Kassel haben.«
»Ist gut, Heini, ich kümmere mich darum«, antwortete Thilo Hain eher lustlos.
»Ich will mit einem der Feuerwehrmänner sprechen«, trug Lenz seinen Mitarbeitern nach einer kurzen Pause auf. »Am besten mit dem Boss der Truppe.«
Hain wollte sich gerade in Bewegung setzen, als hinter ihm eine Stimme erklang.
»Da komme ich ja genau richtig«, brummte ein kräftig gebauter, etwa 45-jähriger Mann in Feuerwehrmontur und mit gelbem Helm in der Hand.
»Thomas Fernwald«, stellte er sich vor und drückte allen die Hand, »ich bin der Leiter der Wehrgruppe, die dafür gesorgt hat, dass nicht noch mehr passiert ist.«
»Wie?«, fragte Hain verwundert zurück. »Wie meinen Sie das?«
»Es gab einen mächtigen Funkenflug. Wir mussten die umliegenden Buden und Hütten ganz schön einnässen, damit nicht weitere Brände entstanden sind.«
»Und was sagen Sie zu dem Brand hier?«, wollte Lenz wissen.
Der Uniformierte schüttelte den Kopf.
Mentalität
Wieder schnappte der Platzwart nach Luft.
»Von mir aus, ja. Ich meine halt, dass es einfach nicht gepasst hat. Wir hier auf dem Platz haben nun mal ganz klare und eindeutige Vorstellungen vom Leben und so.«
»Aha. Eigene Vorstellungen vom Leben und so«, echote Hain sehr langsam.
»Schon gut, Thilo«, bremste Lenz seinen Kollegen, bevor der unleidlich werden konnte.
»Das wäre es fürs Erste, Herr Hunold«, fügte er mit Blick auf den Platzwart hinzu. »Wenn noch etwas sein sollte, melden wir uns bei Ihnen.«
»Soll ich Ihnen meine Telefonnummer geben?«
»Aber ja, das wäre überaus nett«, log der junge Oberkommissar.