Erinnere dich, Insidia! Lass dir niemals nehmen, was du bist. Denn genau diese Erinnerungen sind es, die uns alle ausmachen. Die uns bestimmen. Die guten und die schlechten. Die, die uns zu besseren Menschen gemacht haben, und auch diejenigen, die wir für immer als unsere schlechte Seite in uns tragen werden, um gemahnt zu werden, es besser zu machen.

Erinnere dich an das, was du getan hast. Was du gefühlt hast. Und an das, was sie getan haben. Was Menschen für dich getan haben. Vergiss nie, dass auch sie dich ausmachen. Ihre Hilfe und ihre Liebe. Ihre Zuversicht und Hoffnung.

Denn was sind wir in einer Welt, in der alles vergänglich ist und nichts in uns zurückbleibt? Was wären wir, außer leere Hüllen?

Also kämpfe! Kämpfe um deine Erinnerungen und um die Menschen, die dich zu dem gemacht haben, was du heute bist. Erinnere dich an all die Toten und an die Lebenden. An jeden einzelnen Schmerz und jedes gute Gefühl. Setze sie zu einem Ganzen zusammen und lehre andere die Zuversicht, die sie dich gelehrt haben. Mache die Welt besser, indem du die ehrst, die dir Hoffnung geschenkt haben, und gib die Hoffnung weiter. Schrei sie hinaus, wenn es nötig ist. Geh zu dem Punkt zurück, an dem du ins Straucheln geraten bist, und erinnere dich jede einzelne Sekunde daran, wer dich vor einem Sturz bewahrt hat und dir die Kraft gab, nicht zu fallen. Erinnere dich, damit du auch den Rest deines Lebens weitermachen kannst.

Für die beste Deutschlehrerin Cornelia Born
Und meine beste Freundin Annchen

PROLOG

Wenn ich heute daran denke – an diesen Schmerz. Wenn ich an all die Trauer und all die Emotionen denke, weiß ich nicht, wie es sich angefühlt hat. Rein rational verstehe ich es. Ich kann es aus meinen Erinnerungen abrufen. Aber es ist nicht mehr als das. Eine Erinnerung – ähnlich wie ein unpersönliches Video. Ein Video von etwas, das ich nie bewusst erlebt habe und deshalb nicht nachempfinden kann.

Ich habe nicht gelernt, Empathie zu empfinden. Es ist nicht in meinen Genen verankert. Also kann ich nicht einmal das. Die Erinnerungen, die mir ohnehin fremd erscheinen, erzeugen keinerlei Regungen in mir.

Solche Regungen, wie Menschen sie spüren, wenn sie Filme ansehen. Natürlich betrifft es sie nicht selbst. Die Figuren sind bloß Schauspieler. Fremde. Doch als Zuschauer empfinden die Menschen trotzdem etwas.

Mir sind nicht einmal die Figuren fremd. Ich weiß, dass ich sie kenne. Kyle, Emili, Jaden, Leo und Sate. Ich weiß es, aber ich fühle es nicht. Sie sind dunkle Schatten einer Vergangenheit, die nicht meine ist. Figuren einer Welt, die konzipiert wurde. Sie sind nicht mehr als ein Blatt Papier. Eine Seite eines Buches, die umgeschlagen wird, wenn sie gelesen wurde, und schnell in Vergessenheit gerät.

Wann ist ein Mensch gut und wann ist er böse? Gibt es diese definitive Unterscheidung überhaupt?

Denn: Wann befindet sich ein Mensch in der Realität und wann ist er nur eine Schachfigur in einer Welt, deren »Realität« eine gottgleiche Gestalt entworfen hat? Mit fest vorgeschriebenen Rollen für jedermann.

Wie kleine Rebellen lehnen wir uns gegen diesen einen »Gott« auf – oder vergöttern ihn und nehmen die Rolle dankbar an, die er uns zuschreibt.

Doch wenn wir alle eine Rolle zugewiesen bekommen, die dann in uns verankert ist, was ist der Unterschied zwischen Gut und Böse? Was, wenn man als »schlechter« Mensch entworfen wurde? Ist man schlecht, wenn man sich an seinen inneren Vorgaben orientiert und dieser schlechte Mensch wird? Schlecht in dieser einen Welt, in der die Wertvorstellung einen zum schlechten Menschen macht. Oder ist man schlecht, wenn man sich gegen seine Bestimmung auflehnt? Wenn man sich entscheidet, in dieser kleinen bestehenden Welt »gut« zu sein und sich einer Moral anschließt, die Menschen für die richtige halten.

Ich dachte einmal, ich würde mich gegen meine Rolle auflehnen. Ich dachte, ich würde den Ketten entfliehen, die sie mir umgelegt hatten. Frei sein. Ein guter Mensch sein. Ich sein.

Auch das kann ich jetzt nicht mehr fühlen. Es fällt mir sogar schwer, es zu verstehen. Aber ich weiß, dass es so war. Und ich weiß auch, dass ich einem Trugbild gefolgt bin.

Wir alle haben diese eine Bestimmung. Diese eine Wahrheit, die unser Leben ausmacht. Menschen nennen es gerne »Identität«. Ein schwieriger Begriff, wenn man mich fragt. Und doch so einfach. So schlüssig.

Alles, was wir sind. Alles, was wir erleben. Alles, was uns ausmacht. Das alles dient nur einem Zweck, folgt nur einem Muster: Das zu finden, wozu wir bestimmt sind, und Seelenheil zu erfahren.

Doch was ist Seelenheil? Und warum suchen so viele Menschen immer noch vergebens danach? Ja, meinen, es sogar im Leben eines anderen zu finden. Auch ich habe es in einem anderen Leben gefunden. Vermeintlich gefunden. Denn am Ende blieb nur die karge Erkenntnis, dass ich unvollständig bin.

Ich weiß, dass es falsch ist, das zu denken. Und ich denke es auch nur ganz selten. Dann, wenn ich alleine bin. Wenn meine Gedanken geschützt sind.

Aber ist es vielleicht falsch, sein Seelenheil nur in sich selbst zu suchen? Müssen wir nicht auch Teile von uns in jemand anderem finden? Machen uns nicht erst diese anderen Menschen deutlich, wer wir selbst sind? Analysieren sie uns womöglich auf eine Art und Weise, zu der wir selbst nie imstande wären?

Bei diesem Gedanken habe ich manchmal das Gefühl, etwas zu spüren. Auch wenn es nicht möglich ist. Mir nicht möglich ist. Denn das ist nicht meine Bestimmung. Zu fühlen.

KAPITEL 1

Sie sind alle tot.

Der Gedanke kehrt so grausam in mein Gedächtnis zurück, dass ich mich unwillkürlich frage, warum ich es nicht fühle. Ich durchsuche meinen Körper nach Regungen. Nach seelischen Schmerzen. Aber da ist nichts.

Ich schlucke schwer.

Alles ist anders. Als wäre ich einer längst vergangenen Zeit entflohen. Ich erinnere mich nur an ihre Details. Nicht an damit verbundene Gefühle.

»Willkommen zurück.« Irritiert versuche ich mich umzusehen. Doch meine Lider sind geschlossen und ich vermag sie nicht zu öffnen. Was ist hier los? Anscheinend nichts Besorgniserregendes, denn mein Körper bleibt ruhig. Gelassen. Mein Herz schlägt normal. So wie es sein soll.

»Zurück, wo?«, frage ich und höre das Echo meiner Stimme, die mir plötzlich fremd vorkommt.

»Es dauert nicht mehr lange, dann ist alles wieder da«, erklärt die Stimme. Ich kenne sie. Aber woher nur?

»Warum sehe ich nichts?«

»Sie stellt zu viele Fragen!«, sagt die Stimme – ja, sie gehört eindeutig einer Frau – nun unruhig. Dazu höre ich einen Mann, der sich räuspert.

»Sie ist gerade erst wieder da. Gib ihr ein paar Stunden Zeit«, flüstert er der Frau zu. Doch es ist, als seien meine Sinne geschärft. Ich verstehe jedes Wort, vernehme jedes ach so kleine Geräusch in diesem Raum und es bringt mich beinahe um den Verstand. Ich spüre einen Anflug von Wut. Aber sie ist so schwach, dass ich sie kaum zuordnen kann.

»Ihre Werte schlagen aus«, murmelt die Frau nachdenklich.

»Lassen wir sie alleine. Wir kommen in ein paar Stunden wieder. Sie ist erfahren. Sie schafft das.«

Eine Tür schlägt zu und Stille tritt ein. Nur das monotone Piepsen irgendwo im Raum, das bleibt.

***

»Agentin 487, öffnen Sie bitte Ihre Augen!«

Ich bemühe mich, dem Befehl Folge zu leisten, öffne meine Lider und sehe weiße Wände. Ich erkenne sie. Erinnere mich und weiß, dass diese Erinnerung mit Angst und Schmerz verknüpft sein müsste. Aber ich fühle es nicht.

Dann werfe ich einen Blick auf eine Frau mit weißen kinnlangen Haaren. Auch sie kenne ich.

»Wie geht es Ihnen?«

Ich sehe sie einen Moment lang stumm an.

»Gut«, sage ich dann. Das ist die einzige Aussage, die mir ehrlich und passend vorkommt.

»Das ist schön, Sie bekommen schon in einer Stunde Ihre Auszeichnung verliehen!«, sagt sie erfreut und hilft mir, mich aufzusetzen. Warum kommt mir mein Körper plötzlich so fremd vor?

»Eine Auszeichnung?«, frage ich verwirrt.

Die Frau sieht mich argwöhnisch an. »Ich habe mal Nachsicht mit Ihnen. Sie hatten mit ziemlich extremen Gefühlen zu kämpfen. Also helfe ich Ihnen auf die Sprünge: Sie erhalten eine Auszeichnung zur erfolgreichen Absolvierung Ihrer Beta-Phase!«

Die Worte kommen in meinem Kopf an. Und ich weiß, dass das irgendetwas in mir auslösen müsste. Aber das tut es nicht. Es ist einfach nur eine Information, die ich verarbeite. Nur: Warum habe ich dann so ein seltsames Gefühl dabei?

»Ich erinnere mich nicht daran. Ich erinnere mich nicht an eine Beta-Phase«, sage ich. Meine Stimme klingt klar und deutlich. Dennoch ist sie mir fremd.

Tief in mir drinnen weiß ich, dass mein Leben in Phasen geteilt ist. Dass es eine Prä-Alpha-Phase, eine Alpha-Phase und eine Beta-Phase gibt. Ich weiß auch, dass ich durch die Beta-Phase zur vollwertigen Agentin werde. Aber ich kann mich an keine dieser Phasen erinnern.

»Das sollen Sie auch nicht. Es ist alles richtig so.«

Plötzlich taucht eine Erinnerung in meinem Kopf auf. Es scheint mir, als sei sie so tief vergraben, dass ich sie zwanghaft am Leben erhalten muss.

Ich sehe die weißen Wände. Denselben Raum. Dieselbe Frau. In einer vergangenen Zeit.

Nicht erfolgreich, dröhnt es in meinen Ohren, als würde ein Mann hier stehen und die Worte sagen.

Sie alle handeln im selben Muster.

Sie diskutieren darüber, warum ich Erinnerungen besitze – und dann entgleiten mir die Bilder und verschwinden, als seien sie nie da gewesen.

Ausdruckslos sehe ich die Frau an. Ihre Lippen beben. Eine Frage brennt auf ihnen. Sie hat bemerkt, dass ich kurzzeitig nicht bei der Sache war. Aber sie fragt nicht und ich ignoriere ihre angespannte Körperhaltung.

Schweigend reicht sie mir eine schwarze Hose und ein schwarzes Top. Irgendetwas in mir wundert sich, dass ich die Sachen nicht bereits trage. Als wüsste mein Körper, dass ich zuletzt darin wach war.

Schnell streife ich sie mir über wie eine zweite Haut und sehe mich in dem weißen Raum um. Mustere all die kleinen Risse in der Wand und die Gerätschaften, als würde ich von einem bekannten Zuhause Abschied nehmen. Dabei ist mir das hier nicht bekannt. Auch wenn eine Stimme in mir immer wieder versichert, es sei so.

Die Frau öffnet die Stahltür, und ich folge ihr stumm auf den Flur. Dort sehe ich dabei zu, wie sich andere Türen öffnen und andere junge Menschen in Begleitung einer weiß gekleideten Frau dieselbe Richtung einschlagen wie wir.

Vorsichtig gehe ich hinter der Frau her und sehe mich immer wieder verstohlen um. Die Blicke der anderen sind so starr nach vorne gerichtet, dass ich mir falsch dabei vorkomme. Warum sehen sie sich nicht um? Warum fragen sie sich nicht, was hier los ist und wo sie uns hinbringen? Und vor allem – wo unsere Vergangenheit geblieben ist.

In Gedanken versunken, die ich offensichtlich nicht haben sollte, stoße ich gegen einen großen, starken Körper. Der Junge dreht sich mir zu. Seine dunklen Augen starren mich ausdruckslos an und ich unterdrücke einen Schrei.

Ich kenne ihn. Es ist, als würde ich ihn aus einer anderen Realität kennen. Aus einer falschen Realität. Als hätte ich nur von ihm geträumt.

Ich weiß, dass ich bei seinem Anblick nichts empfinden sollte. Ich weiß es, weil ich in seinen Augen keinerlei Regung erkennen kann.

»Was ist hier los?!«, knurrt ein Mann. Ich wende meinen Blick von dem Jungen ab und starre in die finsteren Augen eines Wachmanns. Er hält bedrohlich einen Schlagstock in der Hand und lässt ihn immer wieder in seine freie Handfläche sinken. Bereit, zuzuschlagen.

Verwirrt sehe ich ihn an und stelle dann fest, dass ich stehen geblieben bin. Ich schlucke und gehe weiter, ohne die Wache noch einmal zu beachten. Mein Kopf pocht. Trommeln ertönen. Aber ich weiß, dass nur ich sie hören kann.

Aus dem Augenwinkel mustere ich den Jungen heimlich, mustere seine muskulösen nackten Arme – und plötzlich sehe ich ein Tattoo vor mir. Sein Tattoo. Doch es ist nicht mehr da. Dabei bin ich mir so sicher, dass da einst eine Bemalung seinen Arm geschmückt hat. Krampfhaft bemühe ich mich, die Erinnerungen in meinem Kopf aufzurufen. Die Bilder zu verstehen. Die Trommeln, die eine längst vergessene Melodie spielen.

Sate. Sein Name kehrt so plötzlich zurück in mein Bewusstsein, dass ich aufkeuche. Die Frau mit den weißen Haaren mustert mich skeptisch.

»Was ist mit Ihnen, Agentin 487?«

Ich schüttle hastig den Kopf. Ihr Blick wird starrer. Wie soll ich jetzt antworten? Was soll ich ihr sagen? Soll ich zugeben, dass ich mich erinnere?

Etwas in mir schreit mich an, es nicht zu tun. Ein Teil von mir, der nicht gehorsam ist.

»Alles in Ordnung. Meine Koordination ist leicht beschädigt.«

Sie lässt ihren gefährlichen Blick an mir rauf und runter wandern. Sie erinnert mich an einen Computer, der mich abscannt, und ich versuche ruhig zu atmen.

»Nicht jeder Agent ist stark genug«, entgegnet sie kühl, spitzt die Lippen und läuft weiter.

»Sie handeln alle im selben Muster.« Ich sehe mich erschrocken um. Doch die Stimme kommt aus meinem Kopf. Ich gehe weiter und versuche den Jungen, Sate, im Blick zu behalten. Bis auf das Tattoo und seinen Namen weiß ich nichts über ihn. Aber ich bin mir sicher, dass ich ihn kenne.

Was bedeutet das? Sie alle handeln im selben Muster? Ist das auf uns bezogen? Auf mich und all die jungen Leute um mich herum, die wie von einer fremden Macht geleitet den weißen Frauen folgen?

Als meine Begleiterin sich erneut zu mir umdreht, richte ich meinen Blick nach vorne und versuche ausdruckslos auszusehen. Aber das ist viel leichter gesagt als getan. All das hier erdrückt mich und löst Erinnerungen in mir aus, die ich nicht greifen kann. Als hätte sie mir jemand geraubt.

Wir werden in einen riesigen Saal geführt. Stühle sind vor einer Bühne aufgereiht und das erste Mal kommt mir nichts bekannt vor. Ich bin mir sicher, dass ich noch nie hier war.

Die Frau führt mich zu einem der Stühle in der ersten Reihe. Sofort rieche ich einen vertrauten Geruch und blicke mich wieder unauffällig um. Neben mir nimmt der Junge mit der fehlenden Tätowierung Platz und ich versuche mich fieberhaft an seinen Namen zu erinnern. Gerade wusste ich ihn doch noch.

Angestrengt presse ich meine Lippen aufeinander. War dieser Name nur Einbildung? Spielt mir mein Verstand einen Streich?

Aber dieser Geruch …

Du kennst ihn!, sagt eine Stimme in mir und ich sehe ihn wieder an. Sehe seine klaren, harten Gesichtszüge, seine gerade Nase, seine gemalten Lippen und seine dunklen Augen. Die Seite seines Kopfes, die mir zugewandt ist, ist abrasiert. Darüber fallen dunkle Haare in Strähnen. Ja, ich kenne ihn. Aber wo ist diese Tätowierung? Und wo ist sein Name plötzlich hin?

Ich ziehe die Luft um mich herum ein und inhaliere seinen Duft. Meine Brust flattert. Er riecht nach Wald und Schnee. Erinnerungen schießen jäh durch meinen Kopf. Aber sie gehen so schnell wieder, dass ich sie nicht zu fassen bekomme.

»Wer bist du?« Ich erschrecke, als ich das Flüstern meiner Stimme höre. Er dreht sich mir zu. Seine dunklen Augen blicken mich kalt an.

»Agent 645«, antwortet er und wendet sich dann wieder der Bühne zu.

»Sate!«, raune ich, als mir der Name wieder einfällt. Ich kann eine kleine stockende Bewegung in seinem Gesicht erkennen. Er sieht mich wieder an. Etwas in seinen Augen blitzt auf und dann ist es wieder verschwunden.

»Was ist Sate?«, fragt er.

Als ich seine computerartige Stimme höre, schüttele ich den Kopf. »Nichts.«

Er blickt mich noch einen Moment lang an. Kurz habe ich den Eindruck, dass auch er mich erkennt. Dann aber sieht er wieder starr nach vorne und schenkt mir keinerlei Beachtung mehr.

Was ist nur los mit mir? Ich weiß zwar nicht, was ich hier mache, aber ich weiß, dass ich mich so nicht verhalten darf. Dass ich mich nicht erinnern darf. Das alles ist falsch. Ich bin falsch.

Ein Mann tritt auf die Bühne. Seine kalten Augen richten sich auf mich und wieder ist da eine Erinnerung. An seine Augen und die Abscheu, die ich einst in ihnen gesehen habe.

Ich habe ihn erschossen.

Sein Blick verfolgt mich. Seine weißen Haare und sein Bart rahmen sein Gesicht ein und lassen ihn sanft wirken. Aber etwas in mir sagt mir, dass er gefährlich ist. Dass ich Angst vor ihm haben sollte. Aber ich spüre es nicht.

»Dreizehn Jahre der Ausbildung. Dreizehn Jahre des Kampfes und der Treue«, beginnt er klangvoll.

Ich sehe mich um. Niemand rührt sich.

»Mit fünf Jahren sind Sie zu uns gestoßen. Ausgewählt, um dieses Land zu schützen und voranzutreiben. Nun, dreizehn Jahre später können Sie in Ihre Dienste entlassen werden.

Jeder von Ihnen hat seine besonderen Stärken, die wir während der Beta-Phase in Erfahrung bringen konnten. Jeder von Ihnen bereichert diese Vereinigung. Jeder von Ihnen wird seinen individuellen Auftrag erhalten.«

Seine Stimme entfacht etwas in mir. Ich kann es nicht zuordnen – als sei mir das Gefühl unbekannt.

»Jetzt kommen Sie und holen Sie sich Ihre Auszeichnung!«, schreit er und die Menge klatscht. Einige lächeln sogar, aber es wirkt einprogrammiert.

Sate neben mir lächelt nicht. Er klatscht nicht einmal. Er ist anders, anders als alle hier, und tief in mir drinnen weiß ich auch, warum. Aber es ist, als würde mein Innerstes nicht zulassen, dass ich das Wissen abrufen kann.

Wir werden der Reihe nach aufgerufen und einer nach dem anderen geht auf die Bühne zu, bekommt ein kleines Abzeichen am Shirt befestigt und verschwindet wieder.

Als ich aufstehen muss, zwingen mich meine Beine zu gehen. Am liebsten würde ich sitzen bleiben. Ich verstehe das alles nicht und etwas sagt mir, dass ich von hier verschwinden sollte. Auf der Stelle. Und da ist noch ein Gefühl. Das Gefühl, dass jemand meine Hilfe braucht. Trotzdem lasse ich mir das Abzeichen von dem Mann anbringen. Als er mich berührt, brennt die Stelle an meiner Schulter, als wäre er giftig. Seine Augen bohren sich in meine und ich spüre Hass in ihnen. Aber warum? Ich bin eine seiner Agentinnen. Warum sollte er mich hassen?

Sekunden später gehe ich die kleine Treppe wieder hinunter und setze mich neben Sate. Ich spüre seinen Blick auf mir und drehe meinen Kopf ein wenig zu ihm.

»Sate«, raunt er.

Mein Herz setzt aus. Das Blut in meinen Adern gefriert. Ich sehe eine schwarze Maske vor mir. Sate, der diese Maske trägt. Ich spüre seine Lippen auf meinen und seinen warmen dunklen Blick. Aber als ich wieder in der Realität ankomme, haben seine Augen nichts mehr von dieser Wärme aus meiner Erinnerung.

»Ich kenne dieses Wort«, flüstert er.

Ein Kribbeln fährt mir in den Nacken. Er erinnert sich auch?

»Es ist dein Name«, flüstere ich und hoffe, dass ich damit keinen Fehler begehe.

»Das ist nicht mein Name«, entgegnet er nachdenklich. Es ist das zweite Mal, dass ich etwas in seinen Augen aufblitzen sehe. So, als wisse er selbst, dass es eine Lüge ist.

Wir sehen uns eine ganze Weile lang an. Immer wieder tauchen Bilder vor mir auf. Und immer wieder spüre ich seine kühlen Lippen auf meinen. Aber plötzlich sehe ich noch ein anderes Gesicht. Irritiert drehe ich mich um. Suche danach. Aber da ist niemand.

»Sate«, wiederholt er wieder. Als würde er versuchen sich den Namen in die Gedanken zu brennen. »Nein«, murmelt er dann und wendet seinen Blick von mir ab.

Ich berühre seinen Arm.

Er zuckt zusammen. Seine Augen wandern an mir herab.

»Insidia.«

Den Namen aus seinem Mund zu hören, löst Schmerz in mir aus. Ich schreie auf, so sehr brennt mein Körper.

Insidia.

Es ist wie ein fremdes Wort. Wie eine Vergangenheit, die ich nicht fühlen darf. Als würde mein Körper mich dafür bestrafen.

Ich grabe meine Nägel in Sates Haut.

Insidia.

Der Name gehört nicht zu mir. Nicht in der jetzigen Zeit. Nicht in der Realität. Er stammt aus einer Scheinwelt. Als mir das klar wird, verkrampft sich mein Körper und ich sinke vom Stuhl hinunter auf den Boden. Immer wieder krampfen meine Muskeln und ich schreie schmerzhaft auf. Ich bin mir sicher, dass alle Augen auf mich gerichtet sind und dass ich nicht ordnungsgemäß handele.

Hände packen mich und tragen mich hinaus. Ich spüre, wie ich auf eine Liege geworfen werde und etwas Stechendes meinen Arm berührt. Dann entkrampft sich mein Körper und ich schlafe ein.

Als ich wach werde, sehe ich weiße Wände und ich weiß, dass ich mich daran erinnere. Aber nichts in mir erscheint. Keine Bilder. Kein Zusammenhang. Als würden die Erinnerungen nicht mir gehören.

»Wie geht es Ihnen?« Ich höre die Stimme der Frau und öffne die Lider.

»Besser«, sage ich und blicke in ihre starren Augen.

»So wie es aussieht, sind Sie gegen das Narkotikum allergisch. Bereits während Ihrer Beta-Phase gab es Komplikationen. Es ist unsere Schuld. Wir hätten mit Nachwirkungen rechnen müssen.«

Narkotikum? Meine Gedanken verwirren mich. Ich war narkotisiert? Wann?

Ich sage nichts. Habe Angst, damit wieder einen Krampf auszulösen. Mein Körper fühlt sich bedrohlich an.

»Wir haben Ihnen ein Antiallergikum verabreicht und in den nächsten zwei Wochen haben Sie Zeit, sich zu erholen. Erst dann werden Sie alle das DF verlassen, um Ihren ersten Auftrag zu erledigen.«

Meinen ersten Auftrag? Habe ich nicht bereits einen Auftrag erledigt? Wahrscheinlich nicht, wenn sie es sagt. Aber das Gefühl bleibt.

»Ich bringe Sie in die Kantine«, sagt sie knapp und bedeutet mir, aufzustehen. Ich tue, wie geheißen. Mir ist etwas schwindelig und mein Kopf dröhnt. Aber alles ist besser, als auf dieser Liege auszuharren. Diese weißen Wände zu sehen, die etwas Seltsames in mir wachrufen.

Wir laufen einen langen Korridor entlang, bis wir in einen großen Raum treten. Geklirre und Stimmen dröhnen in meinen Ohren. Ich weiß, dass es leise ist, aber in meinem Kopf vervielfacht sich die Geräuschkulisse.

Die Frau geht und ich greife mir, wie einige der anderen, ein Tablett und lasse die Frauen an der Ausgabe Essen darauf platzieren. Dann greife ich mechanisch nach einem Getränk, drehe mich um und suche einen Platz.

Ich erkenne Sate, der an einem Tisch mit weiteren Agenten sitzt, sich aber ein Stück von ihnen entfernt hält und dem Gespräch nicht folgt. Kurzentschlossen schreite ich auf ihn zu und setze mich ihm gegenüber. Er sieht nicht einmal hoch, hockt einfach nur da, vertieft in sein Essen.

Unwillkürlich verziehe ich den Mund.

»Hey, du bist doch die mit den Krampfanfällen, oder?!«, sagt der Junge neben Sate und rutscht ein Stück an ihn heran, damit er mich besser ansehen kann.

Ich nicke einfach nur und stochere mit meiner Gabel in dem matschigen Essen herum.

»Allergischer Schock«, erkläre ich, als er mich weiter anstarrt.

»War auf jeden Fall ziemlich krass!«

Nun blicke ich ihn doch verwundert an. Warum redet er so? Sollte er nicht gefühllos sein? Etwas »krass« zu finden, gehört meinem Wissen nach nicht dazu.

»Ich habe gehört, dass manche Körper sich gegen ihr Edikt auflehnen«, mischt sich ein Mädchen ein. Ihre Stimme klingt verschwörerisch und bissig.

»Und ich habe gehört, dass dein Edikt das einer Schlange ist. Also schenke ich deinen Worten mit Sicherheit keinen Glauben, Cara!« Der Name kommt mir bekannt vor. Aber ich bin zu verwirrt darüber, dass der Junge überhaupt einen Namen benutzt, als dass ich in meinen verlorenen Erinnerungen danach wühlen könnte.

»Ihr kennt eure Namen?«, frage ich verwirrt.

»Nicht jeder.« Der Junge zuckt mit den Schultern. »Ich heiße Leander.«

Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass Sates Kopf sich hebt. Ich spüre seinen Blick auf uns ruhen.

»Dass ihr eure Namen nicht wisst, ist klar«, erklärt Leander, als wäre es das Normalste auf der Welt.

Wieder spüre ich Irritation. »Warum?«

»Na wegen eures Edikts.«

Hastig suche ich in meinem Kopf nach diesem Wort, denke an ein Geschichtsbuch und einen König, der ein Gesetz erlässt. Aber was soll das mit meinem Namen zu tun haben?

»Und was ist dein Edikt?«, frage ich nachdenklich.

»Ratte!«, wirft diese Cara ein.

Ich werfe ihr einen Blick zu. Ihre Augen strahlen mich falsch an. Ich kenne sie. Aber woher?

»Pff«, schnaubt Leander, »hör nicht auf die Schlange!«

Fragend sehe ich zwischen ihnen hin und her. Schlange? Ratte? Sind sie verrückt geworden?

»Mein Edikt ist das des Dachses«, erwidert er nun und verdreht die Augen. Warum darf er so offensichtlich Gefühle zeigen? Und warum sagt meine innere Stimme mir, dass ich es auf keinen Fall darf?

»Na eben, Ratte!«

Leander ignoriert Cara und sieht mich nachdenklich an. »Du kennst dein eigenes Edikt nicht, oder?«

Ich schüttele stumm den Kopf.

»Kein Wunder. Du hast das Edikt des Panthers.«

Bedrückende Stille tritt am Tisch ein. Ich sehe mich um. »Ist das etwas Schlechtes?«

»Nichts davon ist etwas Schlechtes. Außer die Schlange vielleicht.«

Cara schnaubte und ich starre Leander an. »Aber was bedeutet das? Und warum wisst ihr davon und ich nicht?«

Leander zuckt mit den Schultern. »Vielleicht hast du es ja vergessen. Der Panther sortiert Erinnerungen und blendet die unwichtigen aus. Es ist deine Aufgabe. Deine Berufung. Deine Rolle.«

Ich schlucke schwer. Ist das der Grund dafür, dass ich mich nicht erinnere? Weil es meine Bestimmung ist? Also sollen all diese Erinnerungen in meinem Kopf nicht wichtig sein?

»Ihr erinnert euch also an eure Beta-Phase?«

Sie alle schütteln den Kopf. »Daran dürfen wir uns nicht erinnern. Sie ist dafür da, um unser Edikt einzubrennen. Wie das geschehen ist, dürfen wir nicht wissen«, erklärt Leander.

»Und ab jetzt sortiere ich Erinnerungen aus? Das ist meine Aufgabe?«

Cara lacht kalt und schüttelt den Kopf. »Du bist gefühllos«, sagt sie lächelnd. Als würde es ihr Spaß machen. Aber sie hat recht. Ihre Worte schmerzen nicht. Im Gegenteil: Es ist, als würden sie alles erklären.

Ich fühle also nicht. Habe ich je gefühlt? Ich erinnere mich nicht.

»Was ist dein Edikt?«, frage ich und drehe mich zu Sate. Unsere Augen treffen sich. Er hat mich angesehen. Für einen kurzen, flüchtigen Moment flattert meine Brust.

»Wolf«, entgegnet er knapp und wendet sich dann wieder seinem Essen zu.

»Der einsame Wolf, so wie es aussieht!«, lacht Leander und verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse.

Ich mustere weiterhin Sate. »Und was sind deine Eigenschaften?«

Wieder sieht er zu mir. Mit seinen kalten dunklen Augen, die mir so fremd vorkommen – obwohl ich sie kenne. Aber es ist, als wäre nichts mehr übrig von der Person, die ich einmal kannte.

»Herrschsüchtig, tyrannisch, gierig, rücksichtslos … Willst du noch mehr hören?« Seine Stimme klingt verbittert und kühl. Keine dieser Eigenschaften kann ich mit ihm in Einklang bringen. Nicht mit den Fetzen der Erinnerungen, die vor mir auftauchen. Mit diesen warmen, dunklen Augen, die nur in meinem Kopf existieren. Zu der Person, die da sitzt, mit den kalten, starren Augen, passt es sehr wohl.

»In der Beta-Phase werden unsere stärksten Eigenschaften herausgefunden und eingebrannt. Daraus ergibt sich unser Edikt. Und je nach Edikt, wird uns ein Auftrag zukommen.

Ich denke, ich werde als Spitzel arbeiten«, sagt Leander erfreut. Aber irgendetwas an dem, was er sagt, stimmt nicht. Ich weiß, dass es nicht stimmen kann. Oder irre ich mich nur?

Doch wenn Sate in seiner Beta-Phase diese Eigenschaften bewiesen hat, woran erinnere ich mich dann? War das vor der Beta-Phase? Oder spielt mir mein Verstand einen Streich?

»Du musst bestimmt irgendwen verführen!«, flüstert Leander kichernd.

Erstaunt schaue ich ihn an. Wie kommt er darauf? Und vor allem: Warum habe ich das Gefühl, das schon getan zu haben? Das Bild dieses Jungen taucht wieder vor mir auf. Zusammen mit Schmerz und Angst. Geht es ihm gut? Ist er es, der meine Hilfe braucht?

»Komm jetzt, Lee!«, befiehlt Cara und steht auf.

Leander zuckt mit den Schultern und folgt ihr. Zurück bleiben der stumme Sate und ich.

»Sate?«, frage ich vorsichtig.

Er sieht zu mir auf. Mustert mich einen Moment lang und streicht sich mit der Zunge über seine Lippen.

»Erinnerst du dich an mich?«, frage ich kleinlaut und so leise, dass nur er es hören kann. Es ist, als würde der Lärm um uns herum verstummen. Ich sehe nur noch ihn und seine dunklen Augen. Dazu seine weißen, geraden Zähne, die auf seiner Unterlippe herumbeißen.

»Nein«, raunt er und ein seltsam bedrückendes Gefühl nimmt mich gefangen. Etwas in seinen Augen wirkt so, als würde er lügen.

»Ich weiß nicht …«, murmelt er dann nachdenklich.

»Etwas stimmt nicht … All die Dinge, die du aufgezählt hast … Etwas sagt mir, dass die Person, die ich kenne, genau das Gegenteil davon ist.«

Fragend sieht er mich an. »Du erinnerst dich an mich?!«

Ich verziehe den Mund. »Nur ein bisschen. Es sind Fetzen von Erinnerungen. Dazu kommt ein Gefühl, das mir sagt, dass du so nicht bist.«

Er atmet tief ein und aus. »Es betrügt dich. Ich fühle mich wirklich genauso, wie dieses Edikt es prophezeit.«

Natürlich fühlt er sich so. Auch ich fühle mich kalt und erinnerungslos. Als wäre ich ein Blatt im Wind, das kein Zuhause hat. Aber ist das wirklich unsere innere Wahrheit?

»Wir müssen zum Training«, raunt er, nimmt sein Tablett und geht davon.

Nachdenklich blicke ich ihm nach. Versuche die Gefühle aufzurufen, die mich mit ihm verbinden. Aber da ist nichts. Selbst das Flattern in meiner Brust ist wie weggefegt.

KAPITEL 2

Ich folge den anderen Junior-Agenten hinein in den Kampfraum. Es ist seltsam, dass sich hier jeder außer mir an alles, was vor der Beta-Phase war, zu erinnern scheint. Liegt das wirklich an diesem Edikt? Und was bedeutet das überhaupt? Ist es tatsächlich Bestimmung oder viel mehr etwas, das uns aufgezwungen wird?

Vorsichtig und möglichst wachsam sehe ich mich um. Ganz plötzlich kommt mir alles hier bekannt vor. Die hohen fensterlosen Wände, die Waffen, die an der Wand hängen. Die Gummimatten, die auf dem Boden liegen.

»Hey!« Leander wirft mir ein Schwert zu und ich ergreife es gerade noch rechtzeitig.

»Mo meint, du brauchst Nachhilfe im Schwertkampf!«, lacht er und zückt sein eigenes Schwert. Ich sehe ihn verdutzt an. Wer ist Mo?

Ich erinnere mich an Schwerter und an Sate, der ein Schwert in der Hand hält. Aber mehr ist da nicht.

Leander schießt auf mich zu. Ich schrecke zusammen. Kurz bevor er mich mit seiner Waffe treffen kann, hebe ich mein Schwert und wehre seinen Schlag ab.

»Für einen gefühllosen Panther bist du ganz schön oft ziemlich abwesend«, sagt er und geht um mich herum, ohne mir seinen Rücken zuzudrehen.

»Vielleicht ist mein Edikt ja falsch!«, erwidere ich.

Leander bleibt wie angewurzelt stehen und starrt mich an. »So was darfst du nicht …«

Ich nutze seinen offensichtlichen Schock und schlage ihm das Schwert aus der Hand, trete ihn gegen die Brust und setze mich auf ihn, als er am Boden liegt. Lächelnd lege ich die Klinge meines Schwertes an seinen Hals und sehe dabei zu, wie er mich schelmisch angrinst.

»Mo hat ’nen Knall. Man braucht nicht mit dem Schwert umzugehen, wenn man so listig ist wie du.«

»Das wollen wir doch mal sehen!«, knurrt eine Stimme hinter mir. Sie treibt mir die Hitze in die Brust. Schnell erhebe ich mich und drehe mich um, blicke in dunkle, kalte Augen.

Sate schwingt sein Schwert und stellt sich mir dann kampfbereit entgegen.

»Ihr scheint eine üble Vergangenheit zu haben!«, lacht Leander und robbt rückwärts mit erhobenen Händen aus der Schussbahn.

Üble Vergangenheit. Meine Augen weiten sich. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Schmerz fließt wie Gift durch meinen Körper. Wut brandet in mir auf. Die Augen eines kleinen Jungen tauchen vor mir auf. Sates Augen. Ich sehe ihn an. Blicke weit in die Vergangenheit. Wie er dasteht und lacht, während mich seine Freunde schlagen.

Ich sehe seine Augen in der Dunkelheit. Drehe mich in meinem Bett zu ihm und sehe das Tuch in seiner Hand. Ein Tuch, in das ein Seifenstück eingewickelt ist. Ich schlucke schwer und sehe, wie ich das Messer in meiner Hand fester umgreife und zusteche. Der kleine Junge sinkt zu Boden.

»Du bist er …«, murmele ich benommen. Jähe Enttäuschung überkommt mich und reißt mich in eine tiefe Trauer. Kenne ich ihn daher? – Nein. Das ist es nicht.

Ich erinnere mich wieder an die Zeit im DF. An die drei Jungen, die mich bei jeder Gelegenheit verprügelt haben. Und an Sate. Sate, der der Schlimmste von allen war. Der mich geschlagen hat. Immer und immer wieder. Er ist dieser Junge. Und trotzdem ist in mir ein tiefes Gefühl von Vertrauen und Verbundenheit zu Sate verankert.

Meine Sinne trügen mich.

»Wer bin ich?«, fragt er argwöhnisch und ich renne wütend auf ihn zu. Viel zu wütend, denn er wehrt mich mit Leichtigkeit ab, schlägt mir das Schwert aus der Hand, dreht meinen Arm auf meinen Rücken und drückt sein Gesicht an mein Ohr. Ich keuche. Zwiespältige Gefühle mischen sich in mir zu Verlangen. Ich rieche seinen Geruch. Spüre seinen Atem auf meiner Haut und will mich gegen meine eigenen Gefühle wehren. Aber sie sind zu stark. Zu echt. Ich vergesse den Jungen allmählich wieder und erinnere mich an Sates Lippen auf meinen. Es ist, als seien sie zwei verschiedene Personen. Da sind die Erinnerungen an den Jungen und die Erinnerungen an den erwachsenen Sate mit den warmen Augen.

»Wir müssen reden«, haucht er mir ins Ohr. Abermals spüre ich seinen warmen Atem und meine Knie geben nach. Alles in mir will, dass er mich nicht mehr loslässt. Immer mehr Bilder tauchen vor meinen Augen auf. Bilder von einer Maske. Einer Maske mit tiefen warmen Augen. Dazu seine Stimme, die Worte zu mir sagt. Mich bei meinem Namen nennt. Blut, das von unserer Stirn tropft und uns verbindet.

»Ich komme zu dir. Warte auf mich«, raunt er und lässt von mir ab. Ich atme wieder. Spüre Schmerz an meinem Hals und ein Brennen in meiner Brust.

Keuchend bemühe ich mich, wieder in der Realität anzukommen.

***

Leanders Blick mustert mich skeptisch, während ich den Brei esse, der uns zum Abendessen serviert wird.

»Was ist?«, knurre ich, sehe ihn aber nicht an.

»Stehst du auf ihn?«

»Was?«, stoße ich entsetzt hervor.

»Na, auf den Wolf? Stehst du auf ihn?«

Erschrocken schaue ich zur Seite und spüre schon Sates Blick auf mir.

»Ich … Nein … ich … Warum sollte ich? Nein!«

Leander hebt die Augenbrauen, während ich mich immer weiter in blöden Worten verstricke.

»Dein Gesicht wurde vorhin so rot«, stellt er fest und kichert dabei wie ein Mädchen.

Ich beiße die Zähne zusammen.

»Ich habe sie gewürgt. Natürlich wurde sie dabei rot«, wirft Sate kühl ein. Als würde ihn das Ganze nicht weiter interessieren.

»Mmh«, macht Leander und wirkt nicht gerade zufrieden mit dieser Antwort. Aber kurz darauf zuckt er mit den Schultern und isst seinen Brei weiter.

Ich werfe Sate, der mich durchdringend mustert, einen dankbaren Blick zu. In seinen Augen brennt die Frage, ob Leander recht hat.

Abrupt wende ich mich ab und verscheuche all meine Gedanken. Und ganz plötzlich fühle ich es auch nicht mehr.

Nach dem Essen gehe ich langsam in mein Zimmer. Jedem von uns wurde heute Mittag nach dem Training eines zugeteilt und meins wirkt vertraut auf mich. Ich weiß, dass ich in so einem Zimmer jahrelang gelebt habe. Wenigstens etwas.

Nervös setze ich mich auf mein Bett und warte.

Sate lässt sich wirklich Zeit und ich weiß nicht, an was ich denken soll. Mein Kopf ist wie leergefegt. Nur ab und zu tauchen Gesichter vor mir auf und mich beschleicht das Gefühl, jemand bräuchte meine Hilfe.

»Insidia!«

Die Art, wie er meinen Namen sagt, berührt mich. Ich lächele und spüre ein Rütteln. Schnell schlage ich die Augen auf und sehe Sate neben mir auf dem Bett sitzen. Seine Hand ruht auf meinem Oberarm. Sofort zuckt ein Brennen durch meinen Körper.

»Du solltest warten«, raunt er.

Ich blinzele ein paar Mal, bevor ich ihn voll und ganz erkennen kann, und mustere seinen kühlen Blick. Seine Hand liegt immer noch wie selbstverständlich auf meinem Arm.

Ich räuspere mich und sehe ihn entschuldigend an.

»Etwas stimmt nicht«, flüstert er.

Erleichtert atme ich aus. »Du hast es auch bemerkt?«, frage ich freudig.

Er sieht mich nachdenklich an und nickt. Dann nimmt er seine Hand von mir und fährt sich damit durch die dunklen Haare. Die Stelle, an der er mich berührt hat, brennt leicht nach.

»Komm mit!«, befiehlt er, und ich erinnere mich an viele Male, in denen seine Stimme mir so autoritär vorgekommen ist.

Ohne Widerwort folge ich ihm und wir laufen hinaus auf den langen Korridor, der in gähnender Leere daliegt. Ich sehe mich unruhig um, aber ich spüre keine Furcht.

Sate führt mich zu einer Treppe. Wir steigen hinab und landen in einem weiteren, dunkleren Korridor. Sate geht bis zum Ende und öffnet eine Tür.

Ich bin wenig später bei ihm. Der Raum liegt in Dunkelheit gehüllt vor mir. Als ich hineintrete, schließt Sate die Tür hinter uns. Gleichzeitig dringt ein bekanntes Geräusch an meine Ohren. Ein melodisches, rhythmisches Piepen. Dazu ein leises Klacken und das Licht entzündet sich wie kleine Blitze, bis es grell leuchtet.

Weiße Wände erstrecken sich neben mir. Drohen mich zu erdrücken. Dann fällt mein Blick auf eine Liege, auf der ein schlafender Junge ruht. Schläuche und Kabel sind an ihm befestigt und ragen aus seinem Bauch heraus.

Ich schreie auf, bis Sate mir seine Hand auf den Mund hält und jeden weiteren Ton erstickt.

Nicht erfolgreich.

Nicht erfolgreich.

Nicht erfolgreich.

Schmerz kehrt zurück in meinen Kopf. Ein bekannter Schmerz und eine bekannte Stimme.

»Was ist das?!«, keuche ich und sehe Sate an.

Er mustert mich. Seine Hand ruht noch an meinem Kinn.

Wieder zieht der Junge meinen Blick auf sich. Sein Kopf zuckt hin und her und er murmelt unverständliche Dinge, als würde er träumen.

»Ich weiß es nicht«, raunt Sate und sieht den Jungen mitleidig an. In diesem Moment taucht in seinen Augen wieder die Wärme auf, die mir so bekannt vorkommt. Die viel eher zu ihm passt als diese Kälte.

»Was denkst du?«, frage ich und betrachte dabei die Schläuche im Bauch und die Kabel am Kopf des Jungen. Ich erinnere mich an die Schmerzen, die sie damals bei mir ausgelöst haben. Aber ich kann sie nicht fühlen.

Zögernd mache ich ein paar Schritte auf den Jungen zu, als ich Sates Hand auf meiner Schulter spüre. Ich sehe zu ihm. Er hat einen Finger auf seine Lippen gelegt und zieht mich zu einem der weißen Wandschränke. Hastig öffnet er ihn und drückt mich hinein. Ich keuche. Überall irgendwelche Geräte. Und Skalpelle.

Ich drücke mich nach hinten und ziehe Sate zu mir, der leise den Schrank schließt. Wir sind uns nun so nah, dass ich wieder seinen Geruch wahrnehme. Er ist wie eine Droge. Seine warme Haut verströmt unbändige Hitze und ich muss mich bemühen, ruhig zu atmen.

Abrupt taucht das Gesicht eines weiteren Jungen vor mir auf und reißt mich aus dem Verlangen nach Sate. Als würde dieser Junge mich daran erinnern, dass es falsch ist.

Im nächsten Moment geht die Tür auf und ich halte den Atem an. Schritte ertönen.

»Warum verdammt lasst ihr ständig das Licht an? So wird das nie was!«, knurrt eine Frau. Ich erkenne die Stimme sofort.

»Wie läuft es?«, fragt ein Mann, und auch ihn kenne ich. Es ist der Mann von der Feier mit den weißen Haaren. Seine Stimme bereitet mir Übelkeit. Und ein Wunsch brandet tief in mir auf, der Wunsch, ihn zu töten.

»In dieser Generation bisher keine Komplikationen.«

»Gut. Ich habe wenig Interesse daran, den König erneut zu beunruhigen.«

König. Während das Wort meinen Geist durchströmt, taucht erneut das Bild des Jungen vor mir auf. Er ist nicht viel älter als ich. Wie sollte er der König sein? Ich schüttele meinen Kopf, um seine Mätzchen zu vertreiben.

»Ich weiß nicht, ob es wirklich richtig ist, sie am Leben zu lassen. Sie könnte Unruhe stiften«, sagt die Frau nachdenklich, und ich weiß sofort, dass sie über mich spricht. Wütend balle ich meine Hand zu einer Faust und wünsche mir, sie schlagen zu können. Woher kommt plötzlich diese Aggression in mir? War sie schon immer da?

»Nein!«, knurrt der Mann streng. »Sie ist unsere einzige Chance!«

»Aber …« Die Frau wird unterbrochen.

»Sie ist der einzige Zwilling, der es so weit geschafft hat! Wir dürfen sie auf keinen Fall verlieren!«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich wirklich nicht erinnert. Sie verhält sich seltsam. Und sie darf sich nicht erinnern! Sonst ist sie wertlos!«, knurrt die Frau. Ich spüre ihre Wut förmlich meine Wirbelsäule hinaufklettern. Und ich weiß, dass ich sie zu spüren bekommen würde, wenn sie herausfände, dass ich mich wirklich an Bruchstücke erinnern kann.

»Und dann ist da noch der König … Er zweifelt an ihrer Boshaftigkeit«, murmelt sie nachdenklich.

An meiner Boshaftigkeit? Die Frau spinnt wohl. Ich bin nicht bösartig.

»Dann bringt ihn her. Er soll sie sich ansehen. Ich versichere dir, dass sie sich nicht erinnert, und er wird allein das als bösartigen Akt empfinden. Er wird sie dafür hassen.«

Ich schnappe tonlos nach Luft. Wieder taucht das Bild des Jungen vor mir auf und mein Herz brennt. Etwas in mir schreit mich an, dass er mich nicht hassen darf. Eine andere Stimme sagt mir, dass ich mich genauso benehmen soll, wie sie es sagen. Bösartig, um nicht aufzufallen. Um am Leben zu bleiben.

»Lasst sie einsperren. Ich sorge dafür, dass Eduard herkommt«, sagt der Mann kühl. Der Name treibt mir Tränen in die Augen.

Das Licht erlischt und die beiden verlassen den Raum.

»Du musst sofort zurück in dein Zimmer!«, befiehlt Sate aufgebracht und schubst mich aus dem Wandschrank.

»Wenn sie dich dort nicht vorfinden … dann …« Er sieht sich panisch um. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, deshalb kann ich jeden seiner Gesichtszüge erkennen. Er macht sich Sorgen um mich. Echte Sorgen. Mein Herz flattert.

»Los, Insidia!« Der Name klingt so schön, so echt, dass ich lächeln muss. Er schüttelt genervt seinen Kopf und dirigiert mich hinaus aus dem Raum.

Vorsichtig betreten wir den leeren Korridor. Sate greift nach meiner Hand und zieht mich hinter sich her. Ich muss beinahe rennen, um mit seinen großen Schritten mithalten zu können.

An die Wand gepresst schleichen wir die Treppe hinauf.

Ein Geräusch ertönt über uns und wir erstarren. Sates Hand schließt sich fester um meine.

Durch Blut verbunden. Der Satz taucht so plötzlich in meinem Kopf auf, dass ich meine Augen weite, als hätte ihn jemand gesagt. Ich sehe Bilder vor mir. Bilder eines toten Mannes und Bilder von Sate, der mit seinem Blut ein Kreuz auf meine Stirn malt.

Ein Gefühl von Sicherheit ergreift mich.

Sate zieht mich weiter, als kein weiteres Geräusch ertönt. Er läuft schnell, sieht sich aber immer wieder um, ob ich mitkomme.

Aufmerksam sucht er die Gänge ab und ich beginne mich in seiner Gegenwart immer sicherer zu fühlen.

»WO IST SIE?« Der Schrei holt mich zurück in die Realität. Es ist zu spät. Die Frau hat bereits bemerkt, dass ich nicht in meinem Zimmer bin.

»Ich weiß nicht, Miss!«, höre ich Leander stottern.

Ich hole tief Luft, schließe meine Augen und presse meine Lippen aufeinander. Dann stelle ich mich vor Sate.

»Bleib hier!«

Er schüttelt verwirrt den Kopf.

»Bleib hier!«, sage ich noch mal, diesmal bestimmter.

Seine Lippen beben, aber er nickt.

Einen Moment lang sehe ich ihn stumm an, dann gehe ich auf mein Zimmer zu.

»Miss«, murmele ich schuldbewusst und sehe die Frau bittend an. »Ich … Ich hatte Durst«, lüge ich.

Sie hebt die Augenbrauen. »Durst?«, wiederholt sie bissig.

Ich nicke einfach nur. Ich weiß, dass sie mir Angst machen sollte. Aber ich spüre sie nicht.

»Das nächste Mal«, knurrt sie und kommt einen Schritt auf mich zu. Ich spüre ihren wütenden Atem auf meiner Stirn. »Das nächste Mal trinken Sie Wasser aus Ihrem Wasserhahn!«

Ich nicke erneut und entschuldige mich.

Leander verlässt uns verwirrt und die Frau greift grob nach meinem Arm.

Ich weiß, wo sie mich hinbringen will. In einen Kerker. Und ich weiß, was ich zu tun habe. Ich muss den König glauben machen, ich sei bösartig.

Widerstandslos folge ich ihr in den Keller. Dort öffnet sie eine Tür aus stählernen Stangen und schubst mich nach vorn. Unsanft lande ich auf dem Boden, sage aber nichts. Gebe nicht einmal ein Geräusch von mir. Ich will nicht, dass sie mich schwach sieht.

Die Frau schließt die Tür mit einem lauten Knall und lässt mich alleine. Ich denke an ihre kalten Augen. Sie erinnert mich an jemanden. An jemanden aus meiner Vergangenheit.

Ich lege mich auf den staubigen, kalten Boden und schließe meine Augen. Irgendetwas daran fühlt sich bekannt an. Als wäre ich hier sicher.

Angestrengt denke ich über den König und dieses Bild von dem Jungen nach. Warum taucht es immer auf, wenn ich mich zu Sate hingezogen fühle? Ich will die Gefühle in mir abrufen. Will sie in mein Bewusstsein ziehen, aber es gelingt mir nicht. Das, wogegen ich kämpfe, ist viel zu stark. Und etwas sagt mir, dass ich es selbst bin, gegen die ich kämpfe. Als würde diese Sperre von mir kommen und nicht von außerhalb.

Schritte holen mich aus meinen Gedanken und ich öffne meine Augen. Ich sehe Stiefel, mustere sie eine Weile, bis ich begreife, dass ich immer noch auf dem Boden liege. Schnell richte ich mich auf und mein Blick wandert von den Stiefeln hinauf zu einem Gesicht. Das Gesicht des Jungen.

Ich unterdrücke ein Keuchen. Unterdrücke den Drang, zu weinen, zu schreien. Zu ihm zu rennen.

All der Schmerz ist plötzlich vergessen. Er lehnt sich lässig gegen die Kerkertür und mustert mich mit einem beinahe liebevollen Blick.

»Insidia?«

Kyle! Sein Name taucht in meinem Kopf auf. Seine Stimme löst so viele Worte aus, die sie einst zu mir gesagt hat, dass ich schneller atme, um Luft zu bekommen.

Ich will seinen Namen sagen. Will seine Haut berühren. Mich in seinen Arm fallen lassen und ihn nie wieder gehen lassen.

Kyle! Meine Lippen beben.

Sie werden dich töten, Insidia! Reiß dich zusammen!, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Ich setze eine unbeteiligte Miene auf.

»Ich heiße nicht Insidia!«, sage ich kühl.

Kyle sieht mich erschrocken an.

»Was soll das?«, fragt er nervös und hockt sich auf seine Waden. Vorsichtig streicht er sich durch seine verwuschelten Haare und weitere Bilder tauchen vor mir auf. Aber sie ergeben noch kein Gesamtbild. Auch böse Worte dröhnen in meinen Ohren. Böse Blicke, die mir galten. Meine Erinnerungen verwirren mich. Und trotzdem will ich bei ihm sein.

»Ich dachte, du bist tot«, murmele ich und weiß überhaupt nicht, woher ich diese Information nehme. Da sehe ich die Frau neben Kyle stehen und zucke zusammen. Ich darf nicht schwach werden. Das gerade hätte ich nicht sagen dürfen.

»Schade«, füge ich hinzu.

Wieder zuckt Kyle zurück und hebt seine Brauen. Es schmerzt mich, ihn so zu sehen. Er wirkt so enttäuscht.

Plötzlich kehrt eine Erinnerung zurück. In ihr ist sein Blick genauso enttäuscht und ich weiß, dass er sauer ist, weil ich unehrlich war. Aber was würde passieren, wenn ich ihm jetzt die Wahrheit sagen würde?

Auffordernd blicke ich ihn an. Er mustert mich. Verengt seine Augen und dreht seinen Kopf ein wenig zur Seite. Als würde er versuchen in meinem Blick lesen zu können.

Das kann er nicht!, sagt eine Stimme in mir. Ich weiß, dass auch das mit einer Erinnerung in Verbindung steht.

Er muss! Er muss einfach sehen, dass ich noch da bin. Sagen kann ich es ihm nicht.

»Lasst mich mit ihr alleine sprechen!«, befiehlt Kyle und erhebt sich. Ich sehe ihn ehrfürchtig an. War er schon immer so königlich?

»Sie ist gefährlich, Eure Majestät«, sagt die falsche Frau. Am liebsten würde ich sie anspucken.

»Ich komme damit klar.« Er wirft einen suchenden Blick auf die Decke. »In einem Raum ohne Videoüberwachung!«, fügt er hinzu und deutet nach oben auf eine kleine Kamera.

Die Frau zieht wütend die Luft ein und ich meine sie zischen zu hören.

»Schön!«, knurrt sie, öffnet meinen Kerker und zieht mich unsanft auf die Beine.

Als ich an Kyle vorbeigehe, wirft er mir einen Blick zu. Erst sehe ich Schmerz darin, doch als er meinen Körper mit seinen Augen entlangfährt, ändert sich etwas und mein Körper fängt Feuer. Für einen winzigen Moment blitzt der Schalk in seinen Augen auf. Und in mir pulsiert das Verlangen, ihn zu berühren. Die Gefühle verwirren mich, weil ich Ähnliches bei Sate gespürt habe. Nur jetzt ist es viel stärker.

Die Frau mit den weißen Haaren schubst mich vor sich her, bis wir uns schließlich in einem kleinen Raum befinden. Dort wirft sie Kyle noch einen ernsten Blick zu und wendet sich zum Gehen. »Ruft nach mir, wenn sie Euch angreift«, murmelt sie.

Ich verdrehe genervt die Augen.

Als sie endlich draußen ist, schreitet Kyle zur Tür und verschließt sie. Ein Bild taucht vor mir auf, wie Kyle mir ein Tuch auf den Mund presst und ich von dem ätzenden Geruch in einen Schlaf sinke. Furcht ergreift mich und ich starre panisch auf seine Hand am Schloss.

Er sucht den Raum eine Weile ab, bevor er auf mich zukommt und meine Wange berührt.

»Bitte sag mir, dass du noch da bist«, murmelt er sanft und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. Ich nicke kaum merklich und etwas blitzt in seinen Augen auf. Er kommt näher, fährt mit seinen Fingern zart über meine Lippen.

Ich schrecke zurück und sehe ihn panisch an. Etwas in mir ermahnt mich.

»Es tut mir so leid. Das alles. Ich …«

»Was tut dir leid?«, frage ich und streife seine Hand von mir. Er wirkt traurig. Und auch in mir breitet sich Traurigkeit aus. Aber ich kann nichts gegen den Drang in mir tun, ihn nicht zu nah an mich heranzulassen.

Er sieht mich fragend an.

»Erinnerst du dich nicht?«

Ich zucke mit den Schultern, schüttle meinen Kopf und nicke dann wieder. Ich weiß nicht, woran ich mich erinnere. Alles fühlt sich wie Vergangenheit an. Eine Vergangenheit, die nicht meine ist.

Das hier ist die Gegenwart und ich denke, das war sie die ganze Zeit.

KAPITEL 3

Kyle