Simon Theine

Die Rekrutierungsstrategie des IS

Simon Theine

Die Rekrutierungsstrategie des IS

Welcher Inhalte und Techniken sich der Islamische Staat im Internet bedient

Tectum Verlag

Simon Theine

 

 

Die Rekrutierungsstrategie des IS. Welcher Inhalte und Techniken sich der Islamische Staat im Internet bedient

© Tectum Verlag Marburg, 2016

 

 

ISBN: 978-3-8288-6418-4

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3752-2 im Tectum Verlag erschienen.)

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Glossar auftauchender islamischer Begriffe:

Akhi

(mein) Bruder

Al-hamdu lillah

Gelobt sei Allah

Al-hamdu lillahi rabbil 'alamin

Zweiter Vers der ersten Koransure „Gelobt sei Allah, den Herrn der Alamin“ (Menschheit)

Allah a’lam

Allah weiß es am besten

Allahu akbar

Allah ist größer; Allah ist am größten

Ansar

Anhänger des Propheten, wird häufig als Bezeichnung lokaler ziviler Unterstützer genutzt

Baia / Bay’ah

Islamischer, politischer Treueschwur

Da’wah / Da’wa

Aufruf / Weckruf zum Islam, bezeichnet die missionarische Aktivitäten

Dschahannam

Islamische Hölle

Dunya

Diesseitige, erfahr- und veränderbare Welt

Fitna

Bezeichnet im Koran für den Gläubigen schwierige Umstände, welche die Gefahr der Glaubensspaltung oder des Glaubensabfall bergen

Hak

Die Wahre / Das Rechte

Haram

Sammelbegriff für alles, was nach der Scharia verboten ist

Hijrah / Hidschra

Bezeichnet ursprünglich die (Aus-) Wanderung Mohammeds nach Medina, wird unter Dschihadisten jedoch als Bezeichnung der Auswanderung in den Islamischen Staat und den Dschihad genutzt

Iman

Islamischer Glaube

In sha Allah

So Allah will

Istishhad

Märtyrertum / heroischer Tod

Dschahiliya / Jahiliyyah

Vorislamisches Heidentum

Khilafah

Kalifat

Kafir (Plural: Kuffar)

Ungläubiger

Kufr

Unglaube

Manhaj

„Methodik“; bezeichnet die Summe der Befehle Allahs

Muhajireen

„Immigranten“; Bezeichnung für aus dem Ausland eingereiste Kämpfer

Mujahidin / Mudschahed / Mudschaheddin

Bezeichnet ursprünglich eine Person, welche den Islam verbreitet; im dschihaditischen Kontext sind damit Kämpfer gemeint

Murtadd (Plural: Murtaddīn)

Abtrünnige

Muwahid

„Monotheist“; jemand der ausschließlich an Allah glaubt

Nasheeds / Naschid

Islamische A-cappella-Musik mit religiösem Inhalt

Sallallahu alaihi wa sallam / salla ʾllahu alayhi wa-sallam

Islamisches Segenswort „Gott segne ihn und schenke ihm Heil!“

Safawi

Abwertende Bezeichnung sunnitischer Muslime für schiitische Muslime

Schahada

Islamisches Glaubensbekenntnis

Shaykh / Sheikh

Arabischer Ehrentitel

Shaytan / Shaitan

Islamischer Teufel

Shahid / Shaheed

Märtyrer

Shirk

Götzendienst

Subhaanahu wa ta-aalaa

„Lobgepriesen und Erhaben ist er“ Lobformel, die bei der Erwähnung Allahs angefügt wird

Subhanallah / Subhana’llah

„Gepriesen sei Gott“

Takfir

Prozess der Exkommunikation, in dem jemand zum kafir erklärt wird.

Taghut

Ursprüngliche Bezeichnung vorislamischer, heidnischer Heiligenstätten; im dschihadistischen Kontext wird der Begriff als Bezeichnung ‚böser‘ Strukturen oder Konzepte genutzt.

Tauhid / Tawhid

Glaube an die Einheit Allahs und Ablehnung sämtlicher gleichwertiger Konzepte neben / über Allah

Ummah / Umma

Islamische Weltgemeinschaft

Wilayah

Bezeichnung der föderalen Distrikte, in welche sich der Islamische Staat selbst unterteilt

Anmerkung zur arabischen Schreibweise

In der folgenden Studie wird, anders als etwa in den Islamwissenschaften, auf eine strikte Transkription der arabischen Sprache und Schrift in das lateinische Alphabet verzichtet. Stattdessen wird bei im Deutschen geläufigen Begriffen die deutsche Schreibweise verwendet. Bei nicht geläufigen Begriffen wird auf die Schreibweise der englischsprachigen Fachliteratur zurückgegriffen. Dies erleichtert sowohl den Lesefluss als auch das Verständnis für mit der Materie wenig vertraute Leser.1

Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2.Literaturdiskussion

3.Zentrale Fragestellung und thematische Eingrenzung

4.Theorieansatz

4.1.Framingansatz nach Benford und Snow

4.1.1.Inhaltliche Framedimensionen

4.1.2.Resonanzfaktoren

4.1.3.Frame bedingende Prozesse

4.2.Bildinhalte und Frames

4.3.Rekrutierungsprozess nach Wiktorowicz

4.4.Rolle des Web 2.0 sowie Social Media im Framingprozess

5.Forschungsmethodik und Datenauswahl

5.1.Datenauswahl

5.2.Datenmaterial

5.3.Methodik

6.Frameanalyse

6.1.Diagnostic Framing

6.2.Prognostic Framing

6.3.Motivational Framing

7.Resonanz

7.1.Salienz

7.1.1.Zentralität

7.1.2.Verhältnismäßigkeit

7.1.3.Kulturelle Übereinstimmung

7.2.Glaubwürdigkeit

7.2.1.Konsistenz

7.2.2.Empirische Glaubwürdigkeit

7.2.3.Glaubwürdigkeit des Sprechers

7.3.Zwischenfazit Resonanz

8.Prozesse der Framekonstruktion, Verbreitung und Behauptung

8.1.Konzeptualisierende Prozesse

8.2.Prozesse des frame alignment

8.2.1.Frame bridging

8.2.2.Frame amplification

8.2.2.1.Value amplification

8.2.2.2.Belief amplification

8.2.3.Frame extension

8.2.4.Frame transformation

8.3.Prozesse der diskursiven Umstrittenheit

8.4.Zwischenfazit

9.Frame-Inhalte im Bildmaterial

9.1.Bildmaterial 1

9.2.Bildmaterial 2

9.3.Bildmaterial 3

9.4.Bildmaterial 4

9.5.Bildmaterial 5

9.6.Zwischenfazit

10.Social Media

10.1.Chronologie des Medieneinsatzes durch Terrrororganisationen

10.2.Nutzungsgründe und Effekte von Social Media

10.3.Zwischenfazit

11.Einordnung der Ergebnisse in den Rekrutierungsprozess

12.Fazit

12.1.Triangulation der Ergebnisse

12.2.Analytische Probleme im Kontext der theoretischen Konzeption

12.3.Ausblick

1.Einleitung

Die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS)2 und deren Vorläufer-Organisationen Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) und Islamischer Staat im Irak (ISI) traten erstmals im Jahr 2003 mit einem Bombenanschlag auf die United Nations Assistance Mission for Iraq in Erscheinung.3 Bis zum Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte im Jahr 2011 blieb die Terrorgruppe gemessen an ihrem heutigen Ausmaß unbedeutend. In Folge der sich verstärkenden ethnisch-religiösen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten innerhalb des Iraks gewann die Terrorgruppe an Mitgliedern und Einfluss. Der Bürgerkrieg in Syrien eröffnete der Gruppe weitere Möglichkeiten der Rekrutierung.4 Gestärkt durch eine gewachsene Mitgliederbasis, begann die Gruppe sowohl in Syrien als auch im Irak Gefängnisse anzugreifen und, vorwiegend aus politischen Gründen, verhaftete Sunniten zu befreien und zu rekrutieren. Zusätzlich wurden die überwiegend sunnitischen Städte im Nordirak besetzt und die irakische Armee verdrängt. Der Aufstieg der Terrorgruppe hatte begonnen.5

Nach der Kontrolle immer größerer Gebiete auf syrischem und irakischem Territorium rief die Gruppe am 29. Juni 2014 das Kalifat aus und bezeichnet sich selbst seitdem nur noch als Islamischer Staat.6 Auffallend am rasanten Aufstieg des IS ist die steigende Anzahl ausländischer, auch europäischer Kämpfer. Diese schließen sich in großer Zahl dem IS an und bilden für die Sicherheitsbehörden der Herkunftsländer ein zunehmendes Problem. Einige kehren später in ihre Heimatstaaten zurück und gelten dann auf Grund ihrer ideologischen Radikalisierung und terroristischen Ausbildung als potenzielle Sicherheitsbedrohung. Fraglich ist jedoch, warum sich Ausländer, gerade aus Europa oder den Vereinigten Staaten, dem IS anschließen. Warum verlassen diese Menschen den sicheren Rahmen westlicher Demokratien und begeben sich in ein Bürgerkriegsgebiet, um dort unter Einsatz ihres Lebens zu kämpfen?

Eine zentrale Rolle bei der Anwerbung dieser ausländischen Kämpfer scheinen Soziale Medien und Neue Medien zu spielen. Ziel der Studie soll es sein, zu untersuchen, wie die Rekrutierung funktioniert und welche Rolle Social Media dabei spielt. Diese Frage ist dabei von hoher Aktualität, sowohl politisch als auch akademisch. Politisch, da sowohl die Sicherheitsbehörden als auch die Gesellschaft durch die Auswanderung vor Herausforderungen stehen. Die Politik steht im Kontext der Terroristenrekrutierung vor einer Reihe von Problemen, zum einen muss sie diese unterbinden und zum anderen mit Rückkehrern umgehen, die potenziell eine Sicherheitsbedrohung darstellen könnten, aber nicht immer präventiv verfolgt werden können. Aber es muss auch die Frage gestellt werden, wie man solche Rückkehrer wieder in die Gesellschaft eingliedert. Ein besseres Verständnis darüber, wie die Rekrutierung des IS innerhalb der Sozialen und Neuen Medien funktioniert und welche Beweggründe sie anspricht, ist die Grundlage, mit diesen politischen Herausforderungen adäquat umzugehen.

Akademisch ist diese Frage von hoher Relevanz, da, wie die Literaturdiskussion zeigen wird, die Terroristenrekrutierung über die Neuen Medien und vor allem Social Media durch den IS in einem bisher einzigartigen Ausmaß betrieben wird. Diese Studie bildet dabei die Grundlage zukünftiger komparativer Studien, welche etwa die Rekrutierungsmechanismen des IS mit denen von Al Qaida, Boko Haram oder auch nicht dschihadistischer Gruppen vergleichen könnten.

2.Literaturdiskussion

Die bestehende Literatur weist auf Grund der relativen Aktualität des Themas eine Reihe von Lücken auf. Innerhalb der bestehenden Literatur wird neben der Beschreibung terroristischer Organisationen, deren Netzwerk, Organisation, Geschichte und Entwicklung, vor allem die Terrorbekämpfung in den Fokus gerückt. Neben diesen Grundfragen gibt es eine Reihe von Analysen, die sich den Ursachen von Terrorismus widmen und untersuchen, warum Menschen zu Terror als Mittel der politischen Partizipation greifen. Da diese Ursachenforschung den Forschungskontext deutlicher trifft, ist es nötig, diese genauer zu differenzieren. Es zeigt sich, dass innerhalb der Terrorismusforschung die Ursachenforschung in unterschiedliche Strömungen eingeteilt werden kann. Christopher Daase unterscheidet drei verschiedene Forschungsperspektiven.

Die individualistische Ursachenforschung untersucht individuelle Ursachen, seien es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die eine terroristische Betätigung prädestinieren oder Motivationslagen. Dabei geht dieser Ansatz davon aus, dass objektive Daten erhoben werden könnten, etwa mit Hilfe Ted R. Gurrs Theorie der relativen Deprivation wird Terrorismus als Individualentscheidung gedeutet.

Diese kann entweder individualpsychologisch oder mit Hilfe des rational choice Modells erklärt werden.7 Während erstere individuelle Persönlichkeitsmerkmale als ursächlich betrachtet, geht letzterer davon aus, dass jeder Mensch die gleichen Prädispositionen mitbringt und somit die Umgebungssituation Terrorismus bedingt.8 Daneben existiert eine kollektive Ursachenforschung, die die individuellen Ursachen in einen kollektiven Rahmen integriert. Grund dafür ist, dass einzelne Entscheidungen auf individueller Ebene irrational erschienen können, etwa ein Selbstmordattentat, aber auf eine Terrorgruppe als Kollektiv gedeutet, rational sein können.9 Letztendlich deutet eine regionale oder globale Ursachenforschung Terrorismus als Produkt systemischer Kräfte, wie etwa zerfallender bzw. nicht vorhandener Staatlichkeit, Armut oder der Globalisierung.10

Grundsätzlich wäre es möglich, aus dieser theoretischen Perspektive heraus den Zustrom neuer Mitglieder zum IS nicht als eine durch den IS stattfindende Rekrutierung, sondern als den Beitritt Freiwilliger, welche durch äußere oder individuelle Faktoren motiviert dem IS beitreten, zu erklären. Problematisch wäre an dieser Stelle die Grundannahme, dass Terrorismus das eindeutige Resultat eines oder mehrerer sozio-ökonomischer oder individualpsychologischer Problemlagen ist. Dieser Zusammenhang ist nicht eindeutig, viele der vermeintlichen Ursachen von Terrorismus finden sich in Staaten, in denen kein oder kaum Terrorismus anzutreffen ist. So ist bspw. die Verbindung zwischen Armut und Terrorismus ebenso unbestätigt wie die Verbindung einzelner Persönlichkeitsmerkmale und der Bereitschaft, terroristische Gewalt auszuüben. Viele Wissenschaftler, die aus der Ursachenperspektive argumentieren, stellen umfangreiche Kombinationen unterschiedlichster Ursachen zusammen, welche die Basis für Terrorismus bilden sollen, doch können diese das Phänomen des Terrorismus allenfalls partiell erklären. Es zeigt sich, dass innerhalb der Ursachenforschung zum Entstehen von Terrorgruppen eine Lücke klafft, keine der Forschungsperspektiven liefert bisher ein Modell, das die Funktionsweise von terroristischer Rekrutierung in Gänze adäquat erklärt.

Auch empirische Untersuchungen von Terrorgruppen weisen einen blinden Fleck auf. Zum einen gibt es verhältnismäßig wenige Untersuchungen des IS, was mit dem kurzen Zeithorizont erklärbar ist, da aktuell die Anzahl der Publikationen zunimmt. Zum anderen zeigt sich, dass die Untersuchungen zu Terrorgruppen, die bereits länger existieren, bspw. zu Al Qaida, dem Bereich der Rekrutierung wenig Raum geben: In kaum einer der betrachteten Untersuchungen fällt der Begriff der Sozialen Medien. Unabhängig von der zugrunde liegenden Erklärung offenbart sich Raum für weitere Forschung.

Dieser wird teilweise in Peter Neumanns und Brooke Rogers Studie Recruitment and Mobilisation for the Islamist Militant Movement in Europe11 aus dem Jahr 2007 geschlossen. In dieser interpretieren sie Terrorgruppen als Soziale Bewegungen und können so unter Zuhilfenahme multipler Theorieansätze terroristische Rekrutierung erklären. Neumanns und Brooks Studie stützt sich vorwiegend auf Interviews sowie die Informationen von Sicherheitsbehörden. Dabei wird der Framingansatz innerhalb der Social Movement Theory genutzt, doch fällt dieser verhältnismäßig knapp aus. Grund dafür ist der Charakter der Studie, diese wurde als Handlungsgrundlage und Policy-Advise im Auftrag der Europäischen Kommission verfasst. Dabei büßt die Studie auf Grund der enormen Breite, welche alle europäischen Staaten, deren Besonderheiten sowie den gesamten Dschihadismus berücksichtigt, an analytischer Tiefe ein. Hinzu kommt, dass Neumann und Brook islamistische Rekrutierung an sich betrachten und nicht gezielt die Rekrutierung einer einzelnen Terrorgruppe. Neben Neumann und Brook hat der Ethnologe Andreas Keller 2011 versucht, den globalen Dschihadismus als Soziale Bewegung zu verstehen.12 Im Zuge dessen nutzt er unter anderem auch die Frame-Theorie, jedoch nicht um die Rekrutierung zu untersuchen, sondern um die Narrative zu eruieren. Dabei forciert Keller ähnlich wie Neumann und Brooke den Dschihadismus an sich als Analyseobjekt und trifft keine Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Akteuren und Gruppen. Zwar nennt er Unterschiede und Strömungen, dennoch interpretiert er die Frames allgemein und nicht akteursspezifisch. Somit stellt diese Studie eine der ersten Analysen dar, welche das Ziel verfolgt, die Rekrutierungsmechanismen des Islamischen Staats umfassend und besonders im Hinblick auf Social Media und das Web 2.0 zu erklären.

3.Zentrale Fragestellung und thematische Eingrenzung

Folgende zentrale Fragestellung lässt sich aus dem in der Einleitung beschriebenen empirisch bekannten Kontext sowie den aufgezeigten Lücken innerhalb der bestehenden Literatur bilden:

Wie gelingt es dem IS, Europäer und Nordamerikaner für den Dschihad zu gewinnen?

Aus dieser Leitfrage ergeben sich folgende Unterfragestellungen:

(a)Wie läuft der Rekrutierungsprozess ab und an wen richtet er sich?

(b)Welche Inhalte werden kommuniziert? Welche Wahrnehmungsfilter (Frames) lassen sich darin ausmachen?

(c)Welche inhaltlichen Konstruktionsprozesse haben stattgefunden, wie wird Resonanz erreicht?

(d)Spielen Neue Medien bei der Rekrutierung eine besondere Rolle? Und wie ist diese zu erklären?

Diese Fragestellung bezieht sich auf die Terroristenrekrutierung über Soziale und Neue Medien und grenzt das Arbeitsthema dabei über den untersuchten Akteur, den IS, und die Zielgruppe der Inhalte ab. In dieser Studie werden diejenigen Inhalte berücksichtigt, die dezidiert für „den Westen“ produziert werden, diese Zielorientierung kann anhand der gewählten Sprache ausgemacht werden.13 Inhalte in deutscher oder englischer Sprache richten sich anders als jene in arabischer Sprache ausdrücklich an Publikum außerhalb des Nahen und Mittleren Ostens.

Neben der sprachlichen Eingrenzung wird diese Studie thematisch begrenzt. Die Literaturdiskussion offenbarte dabei eine Lücke hinsichtlich der Rekrutierungsmechanik des IS, bisher existiert dezidiert hierzu keine Analyse. Diese Stuide leistet dabei einen Grundlagenbeitrag, um diese Lücke zu füllen. Thematisch wird sie über die zu untersuchende Terrorgruppe, den IS und dessen Rekrutierungsmechanismen, beschränkt. Da der IS weiterhin aktiv ist und auch die Rekrutierung andauert, sich der Untersuchungsgegenstand somit jederzeit verändern kann, ist es notwendig, diesen auch zeitlich einzugrenzen. In dieser Studie werden alle Entwicklungen bis einschließlich Juli 2015 berücksichtigt.

4.Theorieansatz

Hinsichtlich des theoretischen Rahmens der Studie ergibt sich die Herausforderung, dass es wenig Theorien gibt, welche die Mechanismen der terroristischen Rekrutierung umfassend und zeitaktuell erklären. In Ermangelung einer ‚Terroristenrekrutierungstheorie‘ ist es notwendig, den theoretischen Rahmen anderweitig aufzubauen, um diese theoretische Lücke zu füllen.

Wie in der Literaturdiskussion dargelegt, wird diese teilweise durch die Arbeit von Neumann und Brooke geschlossen. Für diese Studie wird der Ansatz, Terrorgruppen als Soziale Bewegungen zu verstehen, übernommen. Darauf aufbauend wird ein theoretisches Konzept aus der Frame-Theorie Sozialer Bewegungen, verbunden mit Ansätzen der Ursachenforschung für Terrorismus sowie medienwissenschaftlichen Theorien zu Sozialen und Neuen Medien entwickelt.

Aus der Anlehnung an Neumann ergeben sich drei für diese Studie grundlegende Prämissen. Zum einen, dass soziale Bewegungen, auf den Untersuchungsgegenstand übertragen Terrorgruppen, bei der Mobilisierung und Verwendung der eigenen Ressourcen rational vorgehen.14 Dies lässt auf den Untersuchungsgegenstand bezogen den notwendigen Rückschluss zu, dass Terrorgruppen ihre Methoden anhand einer Kosten-Nutzen-Abwägung aufrechnen, welche das Mobilisierungspotenzial gegen Beeinträchtigungen aufwiegt. Neumanns Studie verweist hinsichtlich der Beeinträchtigungen etwa auf die Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden oder aber gezielte Gegenkampanien.15

Zum anderen versuchen soziale Bewegungen, eine Deckungsgleichheit zwischen ihrer eigenen Narrative und den Vorstellungen ihrer Anhänger zu produzieren, sogenanntes frame alignment.16 Auf den Anwendungsfall bezogen versucht der IS, Deutungsrahmen (Frames) seiner potenziellen Rekruten mit den eigenen zu synchronisieren. Um diesen Vorgang zu analysieren, wird auf die Frame-Theorie zurückgegriffen, welche die Fragen nach dem Was, Wann, Wie und dem Sprecher stellt und so den normativen Deutungsrahmen von Gruppen untersucht.

Als dritte und letzte Prämisse ergibt sich aus der Wahl der Social Movement Theory, dass soziale Bewegungen in großem Maße auf informelle Netzwerke und soziale Verbindungen wie Interaktion angewiesen sind.17 Dies wird unter anderem von Quintan Wiktorowicz damit begründet, dass frame allignment alleine nicht ausreiche, Personen zu Gewalttaten zu bewegen, dieses sei nur über einen Sozialisationsprozess innerhalb persönlicher Bindungen möglich.18 Während dieses Sozialisationsprozesses internalisiert der Rekrut die Ideologie weiter, nimmt die Gruppenidentität an und tritt der Gruppe schließlich bei. Wie der Sozialisationsprozess individuell abläuft und welche Dynamik er aufweist, macht Wiktorowicz von individuellen externen Faktoren, wie der vorherigen Anzahl sozialer Kontakte u.Ä., abhängig.19

Um die Wahrnehmungsfilter, die Frames der Gruppen, zu identifizieren, wird auf die Verbindung von Frame-Theorie und der Theorie sozialer Bewegungen von Robert D. Benford und David A. Snow zurückgegriffen.20

Betrachtet man Neumanns Studie, welche sich ebenfalls das Framing nach Benford und Snow zunutze macht, fällt auf, dass Neumann das Internet als Rekrutierungsinstrument zwar nennt, dessen Anteil an der Terroristenrekrutierung aber als marginal beschreibt.21 Vor allem, weil er festzustellen glaubt, dass das Internet nicht jene persönlichen Beziehungen bietet, die für eine erfolgreiche Rekrutierung unumgänglich sind. Diese Feststellung mag dem zeitlichen Horizont seiner Studie geschuldet sein, dennoch ist es an dieser Stelle nötig, Neumanns Theorie zu ergänzen, da neue Studien zum Web 2.0 seine Feststellung hinsichtlich persönlicher Beziehungen wiederlegen. Caja Thimm stellt in ihrem Beitrag „Ökosystem Internet – zur Theorie digitaler Sozialität“22 fest, dass das Beziehungsgeflecht von Menschen nicht mehr nur eindimensional im Realraum besteht, sondern multimodal. So existierten im Web 2.0 sowohl unverbindliche, lose Kontakte als auch solche, die engen Beziehungen im Realraum ähneln.23 Somit sind die Neuen und Sozialen Medien, welche das Web 2.0 ausmachen, als Medien zu bestimmen, die bei der Theorie sozialer Bewegungen berücksichtigt werden müssen. Sie sind sowohl eine Methode der Mobilisierungsakteure, weshalb ihr Einsatz durch die erste Prämisse erklärt werden muss, als auch auf Grund ihrer Merkmale bestimmend für die Verbreitung der Frames.

Diese Merkmale Sozialer und Neuer Medien werden von Thimm in ihrem Aufsatz „Digitale Gesellschaft – auf dem Weg zum „digitalen Citoyen“?“24 beschrieben. In diesem betrachtet sie Formen politischer Partizipation und Kommunikation im Web 2.0. Dabei charakterisiert sie Neue und Soziale Medien über die Beteiligungsoption, das Verschwinden der Grenze zwischen Konsument und Produzent, Gleichzeitigkeit, Unmittelbarkeit, Ortsungebundenheit, Anonymität sowie die dezentrale Organisations- und Kommunikationsstruktur.25 Dass Medienstruktur, Inhalt und Mobilisierung einander bedingen, zeigen empirische Studien, etwa zum Zusammenhang zwischen politischer Partizipation und dem Internet von Martin Emmer oder Markus Seifert, oder zum Zusammenhang von Identität und Social Media von Caterina Ewig.26 Bezogen auf die Konstruktion von Frames verweisen schon Benford und Snow auf das Spannungsverhältnis zwischen Mobilisierungsakteur und dem Medium vor allem hinsichtlich des Zugangs, der Framekonstruktion, als auch hinsichtlich alternativer Frames, die den Frame der Mobilisierungsakteure im Implementierungsprozess bedrohen.27

Da diese Studie unter anderem auf die Rolle des Web 2.0 bei der Terroristenrekrutierung abzielt, ist es unumgänglich, die Wechselwirkung zwischen deren Struktur und dem frame alignment, aber auch dem Rekrutierungsprozess zu untersuchen.

Um sowohl eine mit dem Theorieansatz kompatible Forschungsmethodik auszuwählen als auch eine theoriegeleitete Analyse durchzuführen, ist es nicht ausreichend, sich auf die Prämissen, welche Neumann aus den Ansätzen der Theorien Sozialer Bewegungen herleitet, zu beschränken.

Um erklären zu können, wie die Framekonstruktion und das frame alignment theoretisch funktionieren, ist es notwendig, die Theorie Benfords und Snows umfassend zu verstehen, zumal diese bereits auf Soziale Bewegungen bezogen ist und dezidiert zum Ziel hat, die Inhaltskonstruktion wie die Techniken, welche Unterstützer oder Sympathisanten gewinnen sollen, zu erklären. Dabei wird aus der Perspektive der Rekrutierer versucht, die Wahrnehmungsfilter zu identifizieren und ihren Konstruktionsprozess sowie ihre Resonanz zu erklären. Anschließend wird theoretisch aus der Perspektive der Rekrutierten verstanden, wie der Rekrutierungsprozess nach Wiktorowicz zu verstehen ist. In diesem werden die im ersten Schritt identifizierten Wahrnehmungsfilter genutzt, um Menschen in eine Terrorgruppe einzuführen.

4.1.Framingansatz nach Benford und Snow

Benford und Snow beschreiben das Prinzip der Collective Action Frames in ihrem Aufsatz „Framing Processes and Social Movements: An Overview an Assessment28. Diese sehen sie neben der Mobilisierung von Ressourcen und der politischen Gelegenheit als die wichtigste Dimension Sozialer Bewegungen an. Nur über Collective Action Frames, so die Autoren, könne man die Produktion von mobilisierenden und demobilisierenden Ideen und Sinnstrukturen nachvollziehen.29 Gleichzeitig bedeutet dies, dass Soziale Bewegungen ihre Inhalte konstruieren, sich diese also nicht aus umgebenen Strukturen oder bereits vorhandenen Ideologien per se ergeben, sondern durch eine Interpretation dieser geschaffen werden.

Collective Action Frames verstehen Benford und Snow als Interpretationen der Wirklichkeit, die wiederum simplifizierenden Charakter haben und das Ziel haben zu mobilisieren, weshalb es häufig zu inhaltlichen Verkürzungen etwa auf einzelne Aspekte komplexer Phänomene kommt.30 Dabei wird versucht, eine Narrative zu konstruieren, welche sowohl die Problemlage, die Notwendigkeit der Veränderung, die Zuweisung von Schuld und Verantwortung für die Problemlage, einen Lösungsvorschlag, sowie die akute Gelegenheit zur Veränderung enthält.31 Zumeist übersteigt diese Vielzahl an inhaltlichen Facetten den Umfang eines einzelnen Frames. Deshalb zeigt sich, dass die Narrative der meisten Sozialen Bewegungen eine Reihe von Frames nutzt, um die oben genannten Inhalte zu kommunizieren.

4.1.1.Inhaltliche Framedimensionen

Benford und Snow kategorisieren die aufgeführten allgemeineren Inhalte des Collective Action Frames in drei Kernaufgaben, das diagnostic framing, das prognostic framing sowie das motivational framing.32 Anhand dieser drei Kernaufgaben von Frames verweisen Benford und Snow auf mehr als 50 verschiedene Fallstudien, welche sich mit Hilfe der Kategorisierung der Kernaufgaben von Collective Action Frames sortieren lassen. Dabei stellen sie sowohl überdurchschnittlich häufig vorkommende Frametypen als auch deren Kernmechanismus heraus.

Hinsichtlich des diagnostic framing weist eine hohe Anzahl an empirischen Studien auf die Bedeutung von Ungerechtigkeitsframes für Soziale Bewegungen hin. Bis auf wenige Ausnahmen, etwa im Fall religiöser oder identitärer Sozialer Bewegungen, sind diese wiederkehrender Bestandteil der Frames Sozialer Bewegungen. Sie identifizieren Verantwortliche und weisen Schuld zu. Ähnlich bedeutend im Bereich des diagnostic framing sind Abgrenzungsframes, welche auf einer solchen Zuordnung aufbauen und klare Grenzen zwischen der Sozialen Bewegung und der Umwelt ziehen. Häufig, so zeigen es die Studien von Scott A. Hunt, et al.33 oder Ira Siver,34 kommen dabei Binärstrukturen zum Einsatz, etwa die Zuschreibung von Gut und Böse oder die Benennung von Protagonisten der Sozialen Bewegung und Antagonisten der vermeintlich oppositionellen Umwelt.35

Benfords und Snows Untersuchung empirischer Fallstudien hinsichtlich dessen, was sie als prognostic framing bezeichnen, zeigt, dass es keine einheitlichen Frametypen gibt, welche sich im Zuge des prognostic framing überdurchschnittlich häufig empirisch nachweisen lassen. Die vorhandenen Fallstudien weisen jedoch auf eine Verbindung zwischen dem diagnostic framing und dem darauf folgenden prognostic framing hin. Grund dafür ist, dass prognostic framing mögliche Lösungen für die identifizierte Problemlage artikuliert und eine Strategie zum Erreichen dieser aufzeigt. Da die Lösung eines Problems vom selbigen abhängig ist, ist die enge Verbindung von diagnostic und prognostic framing nicht unerwartet, aber nicht weniger relevant.36

Im Zuge des motivational framing versucht die Soziale Bewegung, eine Handlungsaufforderung zu konstruieren. Ziel ist es, kollektive Handlungen zu provozieren und eine möglichst große Anzahl an Mitgliedern der Sozialen Bewegung sowie Außenstehende in diese zu involvieren und zu mobilisieren. Die Auswertung der empirischen Analysen zeigt jedoch keine Häufung eines bestimmten Frametypus in diesem Zusammenhang.37

4.1.2.Resonanzfaktoren

Dieser Wahrnehmungsfilter, der durch eine Soziale Bewegung geschaffen und verbreitet wird, wird nicht nur innerhalb der Sozialen Bewegung geteilt, sondern auch nach außen getragen. Ziel ist es dabei, durch die Verbreitung der Frames Außenstehenden die Wahrnehmung der Sozialen Bewegung nahe zu bringen und somit Sympathisanten, Unterstützer oder sogar Mitglieder zu gewinnen. Die Techniken der Verbreitung der Collective Actions Frames, das frame alignment, werden nachfolgend genauer präzisiert.

Zunächst ergibt sich aus dem Ziel, den Collective Action Frame zu verbreiten, eine Resonanzabhängigkeit, denn nur wenn der Frame auch außerhalb der Gruppe auf Resonanz stößt, kann er erfolgreich verbreitet werden. Dies bedeutet zum einen, dass Frames zielgruppenorientiert sind und zum anderen, dass Framing ein an Dynamik variierender Prozess ist, in dem Frames, sollten sie nicht auf Resonanz stoßen, durch die Soziale Bewegung angepasst werden müssen, damit diese nicht an Magnetwirkung verliert. Empirisch, so Benford und Snow, sei die Resonanz vor allem von der Glaubwürdigkeit des Collective Action Frames sowie der Salienz gegenüber konkurrierenden Frames abhängig.38 Die Glaubwürdigkeit ist dabei durch die Konsistenz des Frames, die empirische Überprüfbarkeit sowie die Glaubwürdigkeit des Sprechers zu definieren. Erstere beschreibt die sowohl logisch argumentative Kongruenz als auch die mögliche Diskrepanz zwischen den verbreiteten Frames und den Handlungen der Sozialen Bewegung.39 Die empirische Überprüfbarkeit sowie die Glaubwürdigkeit des Sprechers müssen nicht allgemein anerkannt sein, gerade bei terroristischen Organisationen als Ausformung einer Sozialen Bewegung sind Sprecher, die bspw. den Koran interpretieren, zumeist nur innerhalb radikaler Gruppen anerkannt. Dennoch reicht diese Anerkennung, damit Mitglieder dieser Partikulargruppen den Frame für potenziell glaubwürdig halten. Oft kommt es auch vor, dass Soziale Bewegungen Mitglieder mit hohem Wissen im eigenen Themengebiet oder hohem gesellschaftlichen Status zu Sprechern des Frames auswählen, damit diese Eigenschaften die Glaubwürdigkeit des Frames erhöhen.40

Selbiges lässt sich für die empirische Überprüfbarkeit feststellen, beispielhaft kann dies am Beispiel der 9/11 Truth Movement nachvollzogen werden, welche sich auf vermeintliche Beweise stützt, die zwar einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten, innerhalb der Bewegung und bei Sympathisanten aber für belastbar gehalten werden und so dem Collective Action Frame Glaubwürdigkeit verleihen.

Die Salienz des Frames aus der Vielzahl an Frames, die im Alltag präsent sind, ist gemäß Benford und Snow von drei Faktoren abhängig.41 Als ersten Faktor von der Zentralität des Frames, diese beschreibt, wie stark die Inhalte des Frames, die durch ihn vermittelten Werte und Ideen mit der Lebenswirklichkeit der Zielgruppe korrespondieren. Die Analyse der empirischen Studien zeigt eine Korrelation zwischen der Salienz und der Zentralität des Frames und seinem Mobilisierungspotenzial. Als zweites Kriterium, welches die Salienz des Frames bedingt, identifizieren die Autoren Verhältnismäßigkeit des Collective Action Frames, dabei steht die Frage im Vordergrund, inwieweit der Collective Action Frame von den täglichen Erfahrungen der Zielgruppe abweicht. Fallstudien etwa von Lorna Erwin42 oder Jiping Zuo und Robert D. Benford43 zeigen, je experimenteller und abstrakter ein Frame, desto eher wird dieser von der Zielgruppe als salient wahrgenommen. Als drittes und letztes Kriterium identifizieren Benford und Snow die kulturelle Übereinstimmung, darunter verstehen sie, inwieweit der Frame deckungsgleich zur Kultur der Zielgruppe ist, heißt, inwieweit decken sich Elemente oder Argumentationsmuster des Frames mit zielgruppenkulturtypischen Inhalten und schaffen einen wechselseitigen Impuls. Dabei stellen sie empirisch eine Korrelation zwischen der Stärke der kulturellen Übereinstimmung eines Collective Action Frames und seinem Herausstechen aus konkurrierenden Frames und somit auch seiner Mobilisierungskraft fest.44

4.1.3.Frame bedingende Prozesse

Folgend auf diese, die Resonanz eines Collective Action Frame determinierenden Faktoren, analysieren Benford und Snow den Prozess, mit dem die inhaltlichen Kriterien, welche die Resonanz bedingen, konstruiert und verbreitet werden. Dieser Prozess ist dreigeteilt in eine konzeptualisierende, eine strategische sowie die diskursiv umstrittene Dimension.45

Erstere ist unterteilt in zwei Unterprozesse, die frame articulation sowie die frame amplification. Die frame articulation schafft eine Verbindung zwischen Ereignissen und Erfahrungen, Benford und Snow beschreiben diesen Prozess als: „Slices of observed, experienced and/or recorded ‚reality‘ are assembled, collated and packaged“46. Dabei wird eine neue Perspektive auf bestehende Sachverhalte geschaffen, diese müssen nicht zwanghaft inhaltlich neu sein, vielmehr beschreibt die frame articulation, dass ein neuer Sichtwinkel konstruiert wird.47

Die frame amplification betont innerhalb der durch die frame articulation geschaffenen Narrative einzelne Punkte und hebt diese als wichtiger hervor. Dabei entsteht zumeist eine Zuspitzung des gesamten Collective Action Frames, die in einem Slogan kondensiert werden kann. Ein Beispiel für diesen Prozess wäre der Slogan Power to the People der Black-Panther-Bewegung, welcher die Vielzahl der Ziele und Inhalte der Bewegung auf einen Slogan reduziert, gleichzeitig aber zuspitzt und Wiedererkennungswert schafft.48

Die zweite Dimension des Prozesses, in dem die Inhalte des Collective Action Frames auf Basis taktischer Entscheidungen und taktischer Muster konstruiert und verbreitet werden, stellt die strategische Dimension dar. Diese Dimension, die auf das Erreichen von frame alignment abzielt, lässt sich in vier unterschiedliche Strategien einteilen, das frame bridging, die frame amplification, die frame extension sowie die frame transformation.49 Das frame bridging beschreibt die Verbindung zweier ideologisch ähnlicher, aber bisher unverbundener Frames, so kann die Gruppe der potenziellen Unterstützer und Sympathisanten verbreitert werden. Die frame amplification bezeichnet die Aufladung der Frames bzw. einzelner Teile eines Frames, dabei kann die Aufladung mit einem oder mehreren Werten, die value amplification, von der Aufladung mit einem Glaubensmuster, der belief amplification, unterschieden werden. Während die value amplification vor allem für das Endziel der Bewegung mobilisiert, mobilisiert die belief amplification hinsichtlich der im prognostical und motivational framing geforderten Handlungen und Aktionen. Benford und Snow unterscheiden dabei fünf unterschiedliche Glaubensstrukturen, mit denen im Zuge der belief amplification mobilisiert werden kann. Die erste Glaubensstruktur beschreibt das Hervorrufen des Glaubens der Rezipienten daran, dass die identifizierten Probleme auch tatsächlich existent sind. Die zweite Struktur stellt den Glauben an die Ursache und die Wirkung von Schuld dar. Das dritte Glaubensmuster, mit dem im Zuge der belief amplification mobilisiert werden kann, bildet der Glaube an Antagonisten, welche den Zielen der Bewegung entgegenstehen. Das vierte von Benford und Snow identifizierte Muster der belief amplification ist die Aufladung der Frames mit Elementen, die beim Rezipienten den Glauben daran auslösen, dass die identifizierten Probleme behebbar sind und die von der Sozialen Bewegung beworbenen und genutzten Handlungen dies leisten können. Das letzte Glaubensmuster, welches durch die Soziale Bewegung evoziert werden kann, stellt der Glaube an die Notwendigkeit dar, sich zu erheben, aufzustehen und gegen das Unrecht anzukämpfen. Ziel der frame amplification ist es, das Mobilisierungspotenzial der Frames zu erhöhen und frame alignment beim Rezipienten zu erreichen.50

Durch die frame extension inkludieren Soziale Bewegungen neue Themen, welche ursprünglich nicht Teil des Collective Action Frames waren. Ähnlich wie die frame amplification zielt die frame extension darauf ab, die mögliche Sympathisantengruppe zu erweitern, dies kann durch die Veränderung der Frames oder durch gezielte Aktionen erreicht werden. Benford und Snow nennen das Beispiel der Friedensbewegung, welche durch Popkonzerte ihre Rezipientengruppe erweitern konnte. Eine Vielzahl empirischer Studien verweist jedoch darauf, dass eine zu starke frame extension zu Spannungen innerhalb der Sozialen Bewegung führen kann. 51

Als letzte Strategie, welche Soziale Bewegungen im Zuge des frame alignment verfolgen, lässt sich die frame transformation identifizieren. Diese beschreibt die Veränderung und Neubestimmung bereits existierender Frames, welche, entweder um Hindernisse für die Bewegung abzubauen oder um weitere Unterstützer zu gewinnen, gewandelt werden. Dabei kann die Transformation einzelner spezifischer und abgegrenzter Bereiche oder einer abgegrenzten Gruppe, bspw. die Veränderung der Wahrnehmung von Frauen in der Gesellschaft und die Transformation eines gesamten interpretativen Ordnungsrahmens, unterschieden werden.52

Die dritte und letzte Facette des Prozesses, durch den Soziale Bewegungen ihre Collective Action Frames inhaltlich konstruieren, ist die diskursive Umstrittenheit des Prozesses. Alle empirischen Fallanalysen, welche Benford und Snow auswerten, zeigen, dass die Framekonstruktion nicht problemlos und ohne Einschränkungen vonstatten geht. Die bestehende Literatur kennt drei Arten von Herausforderungen, welche im Zuge der Framekonstruktion relevant sind, das Counterframing, welches durch oppositionelle Bewegungen oder die Medien betrieben werden kann. Erstere betreiben dabei eigenes Framing, um das Framing der Sozialen Bewegung zu entkräften oder seines Motivationspotenzials zu berauben, während bei letzteren, den Medien, eine strategische Opposition nicht notwendig sein muss, schon die Art der Berichterstattung über eine Soziale Bewegung und deren Collective Action Frame kann sich positiv wie negativ auf deren Mobilisierungspotenzial auswirken. Zu Herausforderungen für die Framekonstruktion zählen weiterhin die Auseinandersetzungen über Frames innerhalb der Sozialen Bewegung sowie die Dialektik zwischen Frames und Ereignissen.53

Es zeigt sich, dass die theoretischen Ansätze Benfords und Snows in der Lage sind, für die Framekonstruktion, die Frameverbreitung und das frame alignment theoretische Erklärungsmuster zu liefern. Fraglich bleibt jedoch weiterhin, wie Menschen einer Sozialen Bewegung, in diesem Fall dem IS, beitreten. Frame alignment, also das Teilen der Frames, mag eine wichtige Vorrausetzung sein, kann jedoch nicht als einziger Faktor angenommen werden, zumal Benford und Snow nur davon sprechen, Unterstützer gewinnen zu wollen. Da die Unterstützung von Sozialen Bewegungen je nach deren Charakter mannigfaltig ausfallen und von Geldspenden über die Beteiligung an Referenden und Demonstrationen bis hin zu Gewalttaten reichen kann, ist es an dieser Stelle notwendig, den Rekrutierungsprozess genauer zu forcieren. Dies leistet Wiktorowicz, welcher aus der Perspektive der Rekrutierten erklären kann, wie die Rekrutierung als Prozess abgelaufen ist. Innerhalb dieses Prozesses können dann die im Zuge der Frameanalyse identifizierten Frames verortet werden, die dann wiederum in Bezug zur Verbreitungsform des Web 2.0 und der Sozialen Medien gesetzt werden können.

4.2.Bildinhalte und Frames

Zunächst ist es jedoch wichtig, nicht auf der inhaltlichen Ebene stehenzubleiben. Grund dafür ist, dass die vom IS verbreiteten Inhalte sich nicht einzig auf Sprachinhalte in Text oder Audiodateien beschränken. Neben diesen verbreitet der IS Videos und Bilder, die für diese Studie nicht weniger immanent sind, aber durch das auf Sprache fokussierte Framekonzept zunächst nicht erfassbar sind. Um diese bildliche Ebene der Kommunikation nicht außer Acht zu lassen, ist es notwendig, an dieser Stelle auf die Untersuchungen von Stefan Meier zu verweisen, welcher visuelle Kommunikation in das Konzept von Frames integriert und methodisch operationalisiert.54 Ursprünglich versucht Meier, Bildinhalte in Frame basierte Diskursanalysen einzubinden, dabei verweist er darauf, das Kommunikation zunächst multimodal ablaufe und ein generelles Ignorieren bildlicher Inhalte zu unvollständigen Abbildungen der Kommunikation führe. Ausgehend von dieser Prämisse, verweist Meier auf die sozialwissenschaftliche Definition von Frames, anhand derer er feststellt, dass Bildinhalte nicht isoliert wahrgenommen, sondern framebezogen aufgenommen und interpretiert würden. Demnach finden sich vorher bestimmte Frames in Bildinhalten wieder, welche den Frame in seiner Aussage unterstützen.55

Um dies zu erfassen und einen Frame in einem Bild wiederzufinden, bzw. die Wechselwirkung zwischen einem Frame und den dargestellten Bildinhalten methodisch zu erfassen, entwickelt Meier drei Analysekategorien. Diese lehnt er an die von van Leeuwen identifizierten Metafunktionen bildlicher Kommunikation an. Innerhalb der ersten Analysekategorie, welche auf die repräsentative Metafunktion abzielt, werden die Bildinhalte beschrieben. Dabei werden ausdrücklich nicht nur denotative Inhalte erfasst, sondern auch „symbolhafte oder metaphorische Verweisfunktionen und soziale bzw. gruppenspezifische Aussagemöglichkeiten“56. Die zweite Analysekategorie nach Meier beschreibt die interaktionale Beziehung zwischen dem Bildinhalt und dem Rezipienten, dies bezieht sich auf die formale Gestaltung, etwa den Bildausschnitt oder die Perspektive. Innerhalb der dritten und letzten Analysekategorie werden die Elemente der Bildgestaltung berücksichtigt, welche sich auf die Bildkomposition beziehen, bspw. die visuelle Zugehörigkeit, Abgrenzungen oder Hierarchien einzelner Bildelemente oder –strukturen ebenso wie Schärfenverteilungen oder Lichtführungen, welche zum Ziel haben, einzelne Elemente in den Vordergrund zu heben.57

Es zeigt sich, dass über den theoretischen und methodischen Rahmen Meiers die Möglichkeit besteht, bildliche Inhalte in die Analyse der vom IS verbreiteten Inhalte einzubeziehen, da es möglich wird, innerhalb der Bilder die identifizierten Frames wiederzufinden und zu untersuchen, wie diese eingebettet sind. Ausgehend von der Prämisse, dass die Bildinhalte die Aufgabe haben, die sprachlichen Inhalte zu unterstützen, da sie ansonsten obsolet wären, kann analysiert werden wie diese Unterstützung umgesetzt ist.

Die Kombination des Frameansatzes, inklusive der Integration von Bildinhalten sowie der folgenden Rekrutierungstheorie Wiktorowicz‘, erklärt die Inhaltskonstruktion in Form von Frames und Bildern, verortet diese im Beitrittsprozess und klärt somit nicht nur wann und wie Personen dem IS beitreten, sondern auch welchen Einflüssen sie während der Rekrutierung ausgesetzt sind, aber auch welche Techniken der IS nutzt, um mit seinen Frames die größtmögliche Resonanz zu erzeugen.

4.3.Rekrutierungsprozessualität nach Wiktorowicz

Wiktorowicz‘ Aufsatz „Joining the Cause AL-Muhajiroun and Radiacal Islam“58 beginnt bei der Ausgangsfrage, wieso Menschen trotz der enormen Kosten und Risiken sich gewaltausübenden radikalen Gruppen anschließen und an deren Aktionen partizipieren. Als Prämisse geht Wiktorowicz davon aus, dass Individuen überzeugt werden müssen, dass das Ziel der Terrororganisation die Risiken und Kosten wert ist; Mitglieder und Sympathisanten treten also nicht aus eigener Initiative der Gruppe bei, sie werden rekrutiert.59

Auf der Basis von Umfragen und Daten am Beispiel der Al-Muhajiron-Bewegung in Großbritannien beschreibt er dann die Rekrutierung von Anwärtern an Hand von vier konsekutiven Stufen. Die kognitive Öffnung, die religiöse Suche, das frame alignment sowie die Sozialisation.60

Die kognitive Öffnung bildet die erste Stufe des Rekrutierungsprozesses, sie entfernt die Abwehrhaltung, welche die meisten Individuen gegenüber radikalem Gedankengut, vor allem wenn es die legitimierende Grundlage für Gewalt bildet, aufweisen. Radikale Ideen werden nach der kognitiven Öffnung nicht mehr a priori abgelehnt, sondern offener und vorbehaltsloser konsumiert.61 Diese kognitive Öffnung erfolgt dabei Krisen induziert oder tritt auf Basis gezielter Kampagnen radikaler Organisationen auf. Wiktorowicz unterscheidet drei in der Literatur verbreitete Krisentypen, die den Prozess, den er als kognitive Öffnung beschreibt, ermöglichen: ökonomische Krisen, wie den Verlust des Arbeitsplatzes, soziokulturelle Krisen, wie etwa rassistische Erfahrungen, sowie politische Krisen, wie bspw. staatliche Repression. Diese drei Krisentypen ergänzt er um den Krisentyp der persönlichen Krise, diese beschreibt Krisenursachen wie etwa den Tod eines Familienmitgliedes, welcher in die bisher gängigen Typen nicht einordbar wäre. Neben diesen Krisen induzierten, kognitiven Öffnungen beschreibt Wiktorowicz kognitive Öffnungen durch gezielte Kampagnen. Insbesondere von moralischen Schocks, welche radikale Organisationen durch Bilder, Schriften oder Demonstrationen auslösen. Diese können bei der Zielgruppe der Kampagne das Verlangen wecken, mehr über den thematisierten Sachverhalt zu erfahren und sie so kognitiv öffnen.62

Bevor Menschen, die eine kognitive Öffnung erfahren haben, sich einer gewaltausübenden radikalen Gruppe anschließen, durchlaufen sie zwei weitere Rekrutierungsstufen: die religiöse Suche sowie das frame alignment. Die religiöse Suche folgt auf die kognitive Öffnung, sie stellt einen Prozess dar, in dem die Individuen auf der Suche nach religiösem Sinn sind, durch den sie ihre Problemlage interpretieren und gegebenenfalls auflösen können. Diese ist, so Wiktorowicz, stark von der Sozialisation und dem Selbstbild der Individuen abhängig. So habe die religiöse Suche von Individuen, die bereits vor ihrer kognitiven Öffnung dem Islam eine große Rolle in ihrem Leben zugeschrieben haben, öfter ihr Ende in radikalen Interpretationen des Islam als die religiöse Suche vorher nicht religiöser Menschen. 63

Klassifiziert man den Prozess der religiösen Suche, so lassen sich zwei Formen unterscheiden. Die erste lässt sich durch die selbstständige Suche durch kognitiv geöffnete Individuen beschreiben. Hierbei tauschen sich die Individuen über die religiösen Inhalte mit der eigenen Familie und Freunden aus, zusätzlich wird auf Bücher und das Internet zurückgegriffen. Der Suchende überprüft dabei das bestehende Angebot religiöser Interpretationen auf seine eigene Problemlage hin. Die zweite identifizierbare Form der religiösen Suche kann als angeleitete religiöse Suche verstanden werden. Hierbei wird das suchende Individuum durch Mitglieder einer radikalen Gruppe angeleitet. Im Zuge der angeleiteten religiösen Suche, so Wiktorowicz, würden die anleitenden radikalen Gruppen zwar augenscheinlich unterschiedliche religiöse Interpretationen anbieten, jedoch stünde das Ergebnis, die religiöse Interpretation der radikalen Gruppen, bereits im Voraus fest. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die suchenden Individuen zumeist wenig Vorwissen über die Interpretation religiöser Texte mitbringen und somit stark von den Auslegungen, welche durch die radikale Gruppe präsentiert werden, abhängig sind, bzw. diese nur unzureichend in Frage stellen können. Darüber hinaus fände während des gesamten Prozesses der Sinnsuche eine Indoktrination statt, welche die Wahrscheinlichkeit des Beitritts des suchenden Individuums zur radikalen Gruppe erhöhe.64

An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die zwei zu unterscheidenden Arten des Prozesses der religiösen Suche sowohl den Vorgang der Selbstrekrutierung als auch den Vorgang der direkten Rekrutierung potenziell teilerklären könnten. Es bleibt jedoch fraglich, ob einzig eine religiöse Suche stattfindet oder ob der Prozess vielmehr eine allgemeine Form von Sinnsuche beschreibt.

Kommt es während der religiösen Suche dazu, dass das suchende Individuum Teile der Ideen, Werte und Ansichten der Gruppe übernimmt, spricht Wiktorowicz wie schon Benford und Snow von frame alignment.65 Wichtig ist, dass er frame alignment als Ergebniszustand der religiösen Suche versteht und nicht als eigenständigen Prozess wie die ersten beiden Stufen der Rekrutierung.

Gelingt ein vollständiges oder partielles frame alignment66