Sämtliche Werke, ediert von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth
Band 1: Kinder der Straße. Kind des Salons. Bearbeitet von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth, Gütersloh 1996.
Band 2: Humoresken. Satiren. Albernes Zeug. Bearbeitet und kommentiert von Erich Dauzenroth, Gütersloh 2002.
Band 3: Bobo. Die verhängnisvolle Woche. Beichte eines Schmetterlings. Wenn ich wieder klein bin. Lebensregeln. Über die Einsamkeit. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 2000.
Band 4: Wie liebt man ein Kind. Erziehungsmomente. Das Recht des Kindes auf Achtung. Fröhliche Pädagogik. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 1999.
Band 5: Der Frühling und das Kind. Allein mit Gott. Unverschämt kurz. Senat der Verrückten. Die Menschen sind gut. Drei Reisen Herscheks. Kinder der Bibel: Mose. Bearbeitet von Erich Dauzenroth und Friedhelm Beiner, Gütersloh 1997.
Band 6: Geschichten und Erzählungen. Belehrungen und Betrachtungen. Die Schweizreise. Bearbeitet und kommentiert von Erich Dauzenroth, Gütersloh 2000.
Band 7: Sozialkritische Publizistik. Die Schule des Lebens. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 2002.
Band 8: Sozialmedizinische Schriften. Bearbeitet und kommentiert von Michael Kirchner und Erich Dauzenroth, Gütersloh 1999.
Band 9: Theorie und Praxis der Erziehung. Pädagogische Essays 1898-1942. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner, Gütersloh 2004.
Band 10: Eindrücke und Notizen aus Sommerkolonien. Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks. Die Józeks, Jasieks und Franeks. Ruhm. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 1999.
Band 11: König Maciuś der Erste. König Maciuś auf der einsamen Insel. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. Mit einem Nachwort für junge Leser von Igor Newerly, Gütersloh 2002.
Band 12: Der Bankrott des kleinen Jack. Kajtuś, der Zauberer. Bearbeitet von Friedhelm Beiner, Winfred Kaminski und Silvia Ungermann, Gütersloh 1998.
Band 13: Ein hartnäckiger Junge – Das Leben des Louis Pasteur. Publizistik für Kinder und Jugendliche. Berichte und Geschichten aus den Waisenhäusern. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 2003.
Band 14: Kleine Rundschau. Chanukka- und Purim-Szenen. Bearbeitet und kommentiert von Erich Dauzenroth und Michael Kirchner, Gütersloh 2005.
Band 15: Briefe und Palästina-Reisen. Dokumente aus den Kriegs-und Ghetto-Jahren. Tagebuch – Erinnerungen. Varia. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner, Gütersloh 2005.
Band 16: Themen seines Lebens. Kalendarium: Werk-Biographie. Erarbeitet von Friedhelm Beiner, Gütersloh 2010.
Ergänzungsband: Aleksander Lewin: So war es wirklich. Die letzten Lebensjahre und das Vermächtnis Janusz Korczaks. Herausgegeben von Friedhelm Beiner. Bearbeitet von Silvia Ungermann, Gütersloh 1998.
Ergänzungsband: Janusz Korczak in der Erinnerung von Zeitzeugen. Mitarbeiter, Kinder und Freunde berichten. Herausgegeben und bearbeitet von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 1999.
In einem Glückwunschbrief des erwachsenen Korczaks an einen neuen Erdenbürger lesen wir: »So viele Papiere sind mir abhanden gekommen, aber den Brief eines Rabbiners, der mich gesegnet hat, als ich geboren wurde, den habe ich noch.« Und in dem schon erwähnten Pamiętnik finden wir seine Erinnerungen an die Kindheit:
»Nicht umsonst hat mich Vater in meiner Kindheit eine Schlafmütze und einen Trottel genannt und in stürmischen Augenblicken sogar einen Esel und Idioten. Allein die Großmutter hat an meinen Stern geglaubt. Sonst aber – war ich ein Faulpelz, eine Heulsuse, ein Tölpel … und zu nichts zu gebrauchen.… Großmutter gab mir Rosinen und sagte: ›Du Philosoph‹. Angeblich gestand ich dem Großmütterchen schon damals in einem vertrauten Gespräch meinen kühnen Plan zur Umgestaltung der Welt.… Ich war damals fünf und das Problem beschämend schwer: Was tun, damit es keine schmutzigen, zerlumpten und hungrigen Kinder mehr gibt, mit denen ich nicht spielen darf, im Hof, wo unterm Kastanienbaum, in einer blechernen Bonbonbüchse, in Watte eingepackt, mein erster mir nahe stehender und geliebter Toter beerdigt liegt, wenn auch nur ein Kanarienvogel. Sein Tod warf die geheimnisvolle Frage nach der Konfession auf. Ich wollte ein Kreuz auf sein Grab stellen. Das Dienstmädchen sagte, nein, das sei ein Vogel, etwas sehr viel Niedrigeres als ein Mensch. Sogar zu weinen sei Sünde. Soweit das Dienstmädchen. Schlimmer freilich war, dass der Sohn des Hausmeisters befand, der Kanarienvogel sei Jude. Und ich. Ich sei auch Jude, er aber sei Pole, Katholik. Er im Paradies, ich hingegen würde, sofern ich keine unanständigen Ausdrücke gebrauchte und daheim Zucker stähle, den ich ihm gehorsam brächte – nach meinem Tod in etwas kommen, das zwar nicht die Hölle sei, aber es sei dort finster. Und ich hatte Angst in einem dunklen Zimmer. Der Tod. – Der Jude. – Die Hölle. Das schwarze jüdische Paradies. – Übergenug, um mir Gedanken zu machen.«
Wie andere über ihn denken, ergibt sich aus Unterhaltungen der Erwachsenen: »Ich war ein Kind, das ›sich stundenlang mit sich allein beschäftigen kann‹, bei dem ›man nicht merkt, dass ein Kind im Hause ist‹.
Klötze (Bausteinchen) bekam ich mit sechs Jahren; ich hörte auf, damit zu spielen, als ich vierzehn war.
›Schämst du dich nicht? So ein großer Junge. – Nimm dir doch was vor. – Lies. – Bauklötze – ausgerechnet …‹
Meine Mutter pflegte zu sagen: ›Dieser Junge hat keinen Ehrgeiz. Ihm ist egal, was er isst, wie er sich kleidet, ob er mit einem Kind aus seinen Kreisen spielt oder mit den Hausmeisterkindern. Er schämt sich nicht, mit Kleinen zu spielen.‹
Ich befragte meine Bausteine, andere Kinder, Erwachsene, was sie seien. Ich machte mein Spielzeug nicht kaputt, es interessierte mich nicht, warum die Puppe im Liegen die Augen geschlossen hatte. Nicht der Mechanismus, sondern das Wesen der Sache – die Sache an sich.«
Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt der erwachsene Korczak rückblickend sehr lebendig: »Zu Recht vertraute Mama die Kinder der Obhut des Vaters nur ungern an, und zu Recht begrüßten wir – meine Schwester und ich – mit schauderndem Entzücken und stürmischer Freude selbst die übermütigsten, anstrengendsten, die unausgegorensten und in ihren Folgen beklagenswertesten ›Überraschungen‹, die Papa, dieser nicht sonderlich solide Pädagoge, mit einer überaus eigentümlichen Intuition für uns erfand, und wir vergaßen sie nie. Er zog uns an den Ohren, dass es schmerzte, trotz strengster Kritik von Seiten der Mama und der Großmama. ›Wenn das Kind taub wird, hast du es dir zuzuschreiben.‹ …
Ich erinnere mich, dass ich meinen Schal verlor. Und ich erinnere mich, dass Vater, als ich noch am dritten Tag im Bett lag, auf mich zukam und Mama ihn streng zurechtwies: ›Du hast kalte Hände. Geh nicht zu ihm.‹ Vater verließ fügsam das Zimmer und warf mir im Hinausgehen einen verschwörerischen Blick zu. Ich antwortete ihm mit einem verstohlen schalkhaften Blick, der etwa besagte: ›Alles in Ordnung.‹ Ich glaube, wir fühlten beide, dass letztlich nicht sie – Mama, Großmama, die Köchin, meine Schwester, das Dienstmädchen und Fräulein Maria (für die Kinder) – diesen ganzen Weiberzwinger regierten, sondern wir, die Männer. ›Wir sind die Herren im Haus. Wir geben nach um des lieben Friedens willen.‹«
Zusammen mit seinem Vater macht Henryk aber auch beängstigende Erfahrungen, beispielsweise das Kennenlernen des Teufels in einem Kindertheater: »Im Saal war es unerträglich heiß. Die Vorbereitungen zogen sich schier unendlich in die Länge. Die Geräusche hinter dem Vorhang hielten uns in einer Anspannung, die jedes den Nerven erträgliche Maß überstieg. Die Lampen schwelten. Die Kinder drängelten. ›Rutsch weiter!‹ ›Nimm deine Hand da weg!‹ ›Tu dein Bein zur Seite.‹ ›Fläz dich nicht auf mich.‹ Klingeln. Eine Ewigkeit lang. Klingeln. Solche Gefühle hat ein Pilot unter Beschuss, der selbst alles schon verschossen, nichts mehr zu seiner Verteidigung hat, aber dem die wichtigste Aufgabe noch bevorsteht. – Es gibt kein Zurück, und er hat keinen Wunsch, keine Lust, keinen Gedanken mehr an eine Umkehr. Ich glaube nicht, dass der Vergleich fehl am Platz ist. Es begann. Etwas Einmaliges, Einzigartiges, Endgültiges. An die Menschen erinnere ich mich nicht. Ich weiß nicht einmal mehr, ob der Teufel rot war oder schwarz. Wohl eher schwarz, er hatte einen Schwanz und Hörner. Keine Puppe. Ein leibhaftiger. Kein verkleidetes Kind. Ein verkleidetes Kind? An solcher Art Ammenmärchen können nur die Erwachsenen glauben. Der König Herodes in eigener Person sagt ja zu ihm: ›Satan!‹ Und so ein Gelächter und solche Sprünge und so ein echter Schwanz und so ein ›Nein‹ und so eine Ofengabel und so ein ›Komm mit mir‹ habe ich nie mehr gesehen, nie mehr gehört, und ein Ahnen, wenn es nun wahr ist, dass es die Hölle wirklich gibt.«
Trotz aller problematischen und aufregenden Erlebnisse in der Kindheit erfährt der kleine Henryk aber in seiner Familie doch auch viel Zuwendung und Selbstbestätigung, so dass er sein erstes Lebensjahrsiebt später sehr positiv resümieren kann: »Wenn ich mein Leben zurückverfolge, dann gab mir das siebte Jahr das Gefühl für den eigenen Wert. Ich bin. Ich habe ein Gewicht. Eine Bedeutung. Man sieht mich. Ich kann. Ich werde.«
Mit 7 oder 8 Jahren beginnt für Henryk die Schulzeit, über die es ebenfalls keine Dokumente gibt, und noch weniger Selbstzeugnisse als über die Vorschulzeit. Mit der Grundschule wird er aber lebenslang keine guten Erinnerungen verbinden: »In der Freta-Straße gab es noch die Schule von Szmurlo. – Dort bekam man die Rute.«
»Als ich acht Jahre alt war, da ging ich in diese Schule. Das war meine erste Elementarschule, sie hieß – vorbereitende Schule. Ich kann mich daran erinnern, dass ein Junge damals Prügel gekriegt hat. Der Kaligraphielehrer schlug ihn. Ich weiß nur nicht, ob der Lehrer Koch hieß, und der Schüler Nowacki, oder der Schüler Koch, und der Lehrer Nowacki. Ich hatte damals grässliche Angst. Ich hatte so das Gefühl, dass, wenn man mit Nowacki fertig ist, könnte man mich fassen. Und ich schämte mich furchtbar, weil man ihn nackt schlug. Alles hatte man ihm aufgeknöpft. Und vor der ganzen Klasse, anstatt der Kaligraphie. …«
»Überhaupt waren zu meiner Zeit die Schulen nicht gut. Streng ging es dort zu und langweilig. Nichts haben sie erlaubt. So fremd war es dort, kalt und stickig; wenn ich später davon träumte, wachte ich immer schweißgebadet auf und immer glücklich, weil es ein Traum war, nicht Wirklichkeit.«
Das einzige Foto aus Henryk Goldszmits Grundschulzeit wird der Kinderbuchautor Janusz Korczak später in seinem berühmten Kinderbuch König Maciuś der Erste veröffentlichen:
Wahrscheinlich ab dem Jahr 1891 besucht Henryk das humanistische Gymnasium im Warschauer Stadtteil Praga. Mit Ausnahme der Religionsstunden müssen auf den Gymnasien Warschaus alle Fächer auf Russisch unterrichtet werden. Henryk erfährt nun am eigenen Leibe, was schon Dostojewski und Tschechow bemerkt hatten, nämlich, dass die russische Schule »auf einer seltenen Vereinigung von Unbildung, geistloser Stoffanhäufung und Drill« beruht.
In seiner Gymnasialzeit führt Henryk Goldszmit sein erstes Tagebuch, das er als Erwachsener unter dem Titel Beichte eines Schmetterlings veröffentlichen wird. Dank dieser Beichte bleibt uns das Erleben des Jugendlichen Henryk nicht ganz verborgen.
Die Aufzeichnungen beginnen am 1. April (wahrscheinlich im Jahr 1892): »Ich habe Zosia wiedergesehen. Ich liebe sie aufs Neue. Diese unglückliche Liebe und der Tod der teuren Großmama haben bewirkt, dass ich nicht weiß, was mit mir geschieht. Ich leide, aber ich lästere nicht.«
Frustrationen, aufwühlende Erlebnisse und jugendliche Träume vertraut Henryk ab dem 1. April diesem Tagebuch an.
Zosia, zu der er eine »reine und jungfräuliche Liebe« empfindet, erscheint ihm allerdings schon bald als »etwas Unerreichbares, Imaginäres«. Später wird er ihr in seinem Buch Kajtuś, der Zaubere, ein Denkmal setzen. Vorerst verlagert er seine Interessen und setzt sich eine ehrgeizige Lebensaufgabe: »Die Natur erforschen, den Menschen nützlich sein, den Landsleuten zur Ehre gereichen – das ist das erhabene Lebensziel. So oder überhaupt nicht leben.« Folgerichtig konzentriert er sich auf den Erwerb von Wissen und auf weitere Reflexionen über seinen Werdegang. Er wünscht sich, Unsterbliches zu vollbringen, fühlt sich mit seinem Wunsch jedoch von niemandem verstanden. Begeistert von den polnischen Klassikern der Literatur träumt er davon, selbst ein erfolgreicher Schriftsteller zu sein: »Erst in der letzten Zeit ist in mir der Geist des Strebens nach einer höheren Idee, schöneren Neigungen erwacht. Ich bin jetzt 14. Bin ein Mensch geworden – weiß, denke. So ist es: cogito ergo sum. Ach, wie schwer war das Leben genialer Menschen; Menschen, die nicht verstanden wurden, deren Verstand ihrer Zeit weit vorauseilte. Ich fühle mich von der Vorsehung inspiriert, etwas Großes, Unsterbliches zu vollbringen. Wenn der Tod nicht meinen Lebensfaden durchschneidet, werde ich berühmt. Werde ich es!?«
Im Pamiętnik erinnert er sich, dass die Gedanken des Vierzehnjährigen in verschiedene Richtungen gingen: »Erstes Nachdenken über erzieherische Reformen. – Ich lese. – Erstes Suchen und Sehnen. – Mal Reisen und stürmische Abenteuer, ein andermal ein zurückgezogenes Familienleben, die Freundschaft (Liebe) mit Stach. Der oberste Traum unter vielen: er Priester, ich Arzt in jenem kleinen Städtchen. Ich denke über Liebe nach, bisher habe ich nur gefühlt, geliebt.« Jetzt aber geht es tiefer und weiter: »Die interessante Welt ist nicht mehr außerhalb meiner. Jetzt ist sie in mir. – Ich bin nicht dazu da, geliebt und bewundert zu werden, sondern um zu handeln und zu lieben. Es ist nicht Pflicht meiner Umgebung, mir zu helfen, sondern ich habe die Pflicht, mich um die Welt, um den Menschen zu kümmern.«
»Als ich fünfzehn Jahre alt war, verfiel ich einer wahnsinnigen Lesewut. Die Welt verschwand vor meinen Augen, nur das Buch existierte … .«
Auch als Gedichtschreiber versucht sich der jugendliche Henryk – allerdings mit mäßigem Erfolg, wie er sich selbst später erinnert:
Vierzehn- oder fünfzehnjährig sucht er Aleksander Świętochowski, einen bekannten polnischen Positivisten und Redakteur der Zeitschrift Prawda, auf und trägt ihm sein »letztes Gedicht« vor. Fünfunddreißig Jahre später erinnert sich Janusz an den Auftritt: »Das Gedicht war lang und endete so:
Schon will ich nicht mehr wissen,
träumen oder glauben.
Erspart mir neue Enttäuschung,
neue Prüfung,
lasst mich sterben,
lasst mich nicht mehr leben,
statt des Lebens
lasst das Grab mich finden.
Er (Świętochowski) lächelte betrübt. ›Nun, wenn du unbedingt willst, kann man dich ja lassen.‹ … Ich hörte auf, Gedichte zu schreiben. Ich bin dankbar für die wohlwollende Kritik.«
Statt ans Gedichteschreiben denkt der Sechszehnjährige im Tagebuch (Beichte eines Schmetterlings) über eine notwendige Verbesserung der Welt und der Erziehung nach. Bekannte Reformer der Erziehung sind für ihn frühe Identifikationsmodelle: »Spencer, Pestalozzi, Fröbel usw. Einst wird auch mein Name in dieser Reihe stehen.« Seinen Mitschülern pädagogisch unter die Arme zu greifen macht ihm Freude und verweist ihn auf eine mögliche Berufung. Obwohl seine Familie auf das Geld angewiesen ist (es wird neuerdings für teure Klinikaufenthalte seines Vaters benötigt), hat Henryk Skrupel, sich seinen Nachhilfeunterricht bezahlen zu lassen: Am Ende der Sommerferien von 1894 notiert er: »In Warschau erwarten mich meine Nachhilfestunden. Die ideale Frau G., und wie sie dennoch zu feilschen versteht. Wie widerwärtig für mich. Ist es nicht eine Schande, Geld zu nehmen für die Erfüllung der erhabenen Berufung, die darin besteht, den Geist zu fördern, das Denken zu entwickeln – ich wiederhole – darf man für alleinige Pflichterfüllung Geld nehmen? Die kapitalistische Gesellschaftsordnung muss abgeschafft werden, ich weiß nur nicht wie.«
Wie zum Beleg für seine Berufung bringt er 1895 seine erste pädagogische Erkenntnis zu Papier: »Die Welt reformieren heißt, die Erziehung reformieren …«
In der satirischen Wochenschrift Kolce (Stacheln) tritt er 1896 mit der Humoreske Der Gordische Knoten an die Öffentlichkeit und unterzeichnet den Text mit seinem ersten Kryptonym »Hen«. In der Redaktion dieser Zeitschrift wird sein Talent entdeckt und gefördert werden. Schon der erste Beitrag thematisiert Erziehungsfragen:
»Bleich, zitternd, mit zerzausten Haaren ging ich durch die Welt. Zweifel und schreckliche Vorahnungen – mir blutete das Herz. Finde ich irgendwann eine Antwort auf die Frage, die mir das Hirn zermartert? … Plötzlich erblicke ich ihn. Ein grauhaariger Greis mit einem runzeligen Gesicht. Auf seinem Antlitz zeichnet sich majestätischer Ernst ab, er ist erleuchtet von der starken Kraft der Ausgeglichenheit, der Ergebenheit in sein Schicksal, der Versöhnung mit seinem Los. Ihn frage ich; möge er mir Antwort geben: ›Meister!‹, rief ich und vertrat ihm den Weg, ›sag mir, sage, ob eine Zeit kommen wird, wo die Frauen ihre Gedanken an Kleider, Moden und Spaziergänge verwerfen, wo die Väter ihre Fahrräder und ihre ›grünen Tische‹ in eine Ecke feuern und die Eltern die Erziehung ihrer Kinder in Angriff nehmen werden? …‹<
Der Mond trat hinter den Wolken hervor und mir trat der kalte Schweiß auf die Stirn. Er aber erhob beide Hände zum Himmel und nach einer langen Weile des Schweigens begann er so: ›Menschenskind! Junger Mann! Ich lebe schon sehr viele Jahre auf dieser Welt und diese Augen, die bald der Schatten des Todes in Nebel hüllen wird – haben schon viel gesehen; und sie haben Wunder gesehen, wahre Wunder. – Dieses Jahrhundert ist das Jahrhundert der Träume. Vor meinen Augen wurde das Olivenöl durch Petroleum ersetzt, das Petroleum durch Gas, das Gas wurde mit dem Auernetz umhüllt, heute ist die Elektrizität beherrschend. … Das XIX. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Wunder. Denk nur, wie viele Erfindungen uns in den letzten Jahren begeistert haben, wie viele bedeutende Menschen uns mit ihrem Glanz geblendet haben … Ja, wir dürfen glauben, dass der lang ersehnte Augenblick naht, wo die Mütter anstelle der ›allerneuesten Romane‹ irgendein pädagogisches Werk zur Hand nehmen, der Moment, wo die pädagogischen Bücher nicht mehr auf den Regalen der Buchhandlungen vermodern …‹<
›Meister, du hast den Gordischen Knoten durchschlagen, du hast das Problem gelöst, das wie ein Geier meine Eingeweide fraß. Aber sag, wann wird dieser gesegnete Augenblick eintreten?‹ ›Er wird kommen‹, gab er zur Antwort und hob die Hände zum Himmel. …
Hätte ich vor einem Jahrhundert gelebt, so hätte ich meine Erzählung mit den Worten beendet: Der Alte verschwand. Oder: Er fiel auf die feuchte Erde, und als ich seine Hand berührte – war sie kalt. Er war tot. Aber ich mache einen anderen Schluss: Nach einer Weile trat der Alte auf mich zu und sagte: ›Ich bekomme drei Rubel.‹«
Am 25. April 1896 stirbt Henryks Vater nach mehreren längeren Aufenthalten in einer Anstalt für Geisteskranke.
Henryks Familie trauert um den Ehemann und Vater Józef Goldszmit und beerdigt ihn auf dem alten jüdischen Friedhof an der Warschauer Okopowa-Straße. Sein Grab ist dort erhalten geblieben. Auf dem Grabstein steht:
Józef Goldszmit,
Vereidigter Advokat;
er durchlebte 50 Jahre, starb am 26. April 1896.
Friede seiner Seele.
Dem geliebten Ehemann und Vater.
Die Ehefrau und die Kinder.
Die Krankenhausaufenthalte Józef Goldszmits haben allmählich alle materiellen Ressourcen der Familie verschlungen. Ohne das Einkommen eines Geldverdieners steht die Familie nun vor dem finanziellen Ruin. Die wertvollen Möbel und Gemälde müssen im Pfandhaus veräußert werden, die Mutter bemüht sich um eine Beschäftigung und Henryk verstärkt seinen Einsatz als Nachhilfelehrer, um den Unterhalt der Familie zu sichern.
In Korczaks Schriften erfährt man allerdings kaum etwas von seinen damaligen Entbehrungen. Interpretiert man jedoch das Kapitel »Reich – arm« in seinem späteren Buch Lebensregeln autobiographisch, so erfährt man: »Ich war reich, als ich noch klein war, später war ich arm, ich kenne also das eine wie das andere. Ich weiß, dass man so oder so anständig und gut, aber auch reich und sehr unglücklich sein kann.«
Nach dem Tod des Vaters intensiviert der Gymnasiast neben der Nachhilfe seine Schreibtätigkeit und veröffentlicht bereits im Jahr 1897 zwanzig Feuilleton-Artikel in der Zeitschrift Kolce, für die der Text Frühling stellvertretend stehen mag:
»Ein kleiner Spatz flatterte von einem Kamin, drehte sich hierhin und dorthin und landete im Sächsischen Garten. Die Bäume waren mit frischen Blättern bedeckt, die Sonne schien warm. Dem Spätzchen war so wohl, so wohl. Es atmete tief ein, senkte das Köpfchen und rief aus: ›Frühling!‹ Das Hündchen entwischte aus dem Zimmer, schnupperte entlang der Hofmauer, bellte den Hauswirt, der vorbeiging, an, wedelte mit dem Schwanz und rief aus: ›Frühling!‹ Die Fliege schaute hinaus auf Gottes Welt. Sie rieb die verschlafenen Augen, reinigte die verstaubten Flügel und flog durchs offene Fenster auf die Straße. Dort war es warm und lustig. Die Fliege lächelte, setzte sich auf irgendein Dach, hob ihre beiden Vorderbeinchen und rief freudig aus: ›Frühling!‹ Aus seiner Wohnung kam die Krone der Schöpfung – der Mensch; er dachte an die Mieterhöhung, überlegte sich, ob er im selben Loch bleiben oder in ein anderes umziehen sollte. Und plötzlich hüpften ihm lustige Sonnenstrahlen direkt auf seine Nase und von der Nase in die Augen. Die Krone der Schöpfung, der Mensch, kniff die Augen zusammen, blickte nach der Sonne, seufzte betrübt und sagte: ›Jetzt fängt wieder dieser Kampf um Kleider und Hüte an!‹«
Nach seinen frühen Publikationserfolgen beteiligt sich der Gymnasiast an einem im Namen von Jan Ignacy Paderewski ausgeschrieben literarischen Wettbewerb und reicht ein Theaterstück mit vier Akten ein mit dem Titel: Wohin? (Którędy?)
Als ihm beim Abschluss der Arbeit einfällt, dass ihm noch ein Pseudonym für die Autorenschaft fehlt, greift er zu seiner aktuellen Lektüre, der Geschichte von Janasz Korczak und der schönen Schwertfegerstochter vom polnischen Schriftstellers Kraszewski und unterzeichnet mit dem Namen des Titelhelden.
In der Liste der 1899 beim Wettbewerb ausgezeichneten Arbeiten wird dann auch sein Stück erscheinen, allerdings – bedingt durch einen Druckfehler – nicht unter dem Namen Janasz, sondern Janusz Korczak.
Das Stück ist nicht erhalten geblieben, aus der Beschreibung der Jury wissen wir aber, dass es sich um eine literarische Bearbeitung des Verlustes seines Vaters gehandelt haben dürfte. Die Tragödie des geisteskranken Vaters geht nämlich nicht spurlos am jungen Henryk vorüber, und sie wird ihn zeitlebens belasten. Noch als Vierundsechzigjähriger gesteht er: »Ich fürchtete mich panisch vor der Irrenanstalt, in die mein Vater mehrmals eingeliefert worden war. Also ich – der Sohn eines Umnachteten. Also erb – lich belastet. Jahrzehnte ist das her, und bis heute quält mich der Gedanke zeitweise.« Aber die literarische Beschäftigung mit der Krankheit seines Vaters hilft dem Halbwaisen, seinen Weg weiterzugehen. Auch spätere Schicksalsschläge wie den Tod seiner Mutter wird er literarisch bearbeiten, um darüber hinwegzukommen. Auch sein Theaterstück Senat der Verrückten – 1931 uraufgeführt – spielt in einer Anstalt für Geisteskranke und thematisiert depressive Zustände der Gesellschaft.