Kannst du selbst kein Einhorn sein, fällt mir noch Einhörnchen ein.
Unbekannt
Der normalste Tag seit langer, langer Zeit war ein Sonntag. Meine Zwillingsschwester Lora jonglierte mit Orangen und zwang mich, in unter zwanzig Sekunden einen Zauberwürfel aufzulösen (bei knapp fünf Sekunden liegt der Weltrekord, man kann sich also vorstellen, wie sehr ich mich ins Zeug legen musste) und nebenher die Ergebnisse aller großen Pferderennen in Großbritannien auswendig zu lernen, während Tante Rose und Tante Helly Pfefferminzschokolade tranken und die Antworten überprüften.
Wer sich übrigens an dieser Stelle die Frage stellt, wie zur Hölle ein Zirkus wie dieser denn normal sein konnte, dem sei gesagt: Normaler wurde es bei uns nicht. Niemals. Zu keiner Zeit. Solange die Familie MacBiggs nun mal die Familie MacBiggs war, eine Familie, in deren Villa es mehr Geheimnisse als Trinkschokolade gab (und es gab eine Menge Trinkschokolade!), hatte dieser Sonntagmorgen den höchsten Grad an Normalität, den man erreichen kann.
Leider.
»Mann, Ophelia, so schwer kann das doch nicht sein, sich Ergebnisse vom Pferderennen zu merken. Das sind doch bloß ein paar Zahlen. Du weißt, wie wichtig Sportfragen letztes Jahr waren.« Jetzt tauschte Lora die Orangen gegen einige Lexika aus dem Regal und balancierte sie auf ihrem Kopf. »Die waren der Grund, weswegen wir gegen diese superintelligenten Muskelprotze aus Aberdeen verloren haben.«
Ich seufzte. Ich hatte wirklich vor, mich auf die Junior Highland Games nächste Woche vorzubereiten und mir alles, was Lora dafür wichtig fand, zu merken. Einfach, weil ich die jährlichen Highland Games liebte. Und ich es nicht erwarten konnte, endlich mal zu gewinnen. Aber musste ich mir ausgerechnet Ergebnisse von Pferderennen ins Kurzzeitgedächtnis hämmern?
»Kann das nicht deine Freundin Chelsea übernehmen?«, bettelte ich und pfefferte den Zauberwürfel in die Ecke. Ich war froh, wenn ich das Ding überhaupt lösen konnte. In Stunden. Tagen. Innerhalb eines menschlichen Lebens.
»Chelsea ist nicht so gut mit Zahlen. Sie kann dafür kochen.«
»Ich kann auch kochen«, erwiderte ich. Konnte ich nicht. Nicht mal im Geringsten. Aber alles war besser als Sportergebnisse vom Pferderennen.
»Ach, ich liebe die Rennbahn«, säuselte meine Tante Rose währenddessen und stibitzte sich ein Karamellbonbon aus der Kristallschüssel auf dem Esstisch. »Aber wart ihr schon mal bei einem Kamelrennen? Kamele sind viel eindrucksvoller als Pferde. Sie speichern Fett in ihren Höckern und können ihre Nasenlöcher verschließen, äußerst praktisch bei Sandstürmen in der …«
»Nicht, Rose.« Meine älteste Tante, Tante Mildred, die die ganze Zeit mit einer alten Kette aus ihrem Pfandleihgeschäft in einem Sessel gesessen und uns ignoriert hatte, sprang auf und griff nach Tante Roses Hand. Sie ahnte, was jetzt kam. Wir alle ahnten es. »Bleib bei mir, Rose. Ich bitte dich, bleib bei mir, hörst du?«, murmelte sie in einem beschwörenden Unterton.
»Oh Mann, Tante Mildred, sie segnet ja nicht das Zeitliche, sie verwandelt sich nur … ups.« In diesem Moment stolperte Lora über unser Hausschwein Mr Darcy, verlor das Gleichgewicht, plumpste auf den Teppichboden und beanspruchte damit einen kurzen Moment Tante Mildreds volle Aufmerksamkeit.
Und da war es auch schon geschehen. Der Wohnzimmerstuhl krachte zusammen, die Yuccapalme flog um und anstelle von unserer etwas rundlichen Tante Rose lag ein gertenschlankes braunes Kamel auf den Holztrümmern und ruderte mit den haarigen Beinen in der Luft.
Vor Schreck blieb mir fast das Herz stehen. Wie immer, wenn etwas in der Art geschah, befolgte ich Tante Mildreds Notfallinstruktionen für Tante Roses spontane tierische Verwandlungen (sie hatte sogar eine Liste an den Kühlschrank gepinnt!) und ging auf Sicherheitsabstand, während sich das Tante-Rose-Kamel ungelenk aufrappelte, durch die Nüstern schnaubte und mit der Stirn gegen den Kronleuchter stieß. Einige Kristalle klirrten und purzelten zu Boden.
»Herrje«, rief Tante Helly verärgert. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Macht es Sinn, sie mit irgendetwas zu betäuben?«
»Und womit bitte? Pferdeberuhigungsmittel?«, brummte Tante Mildred. »Ich habe gerade überhaupt keine Zeit für ungeplante Verwandlungen. Der Auftrag von gestern bringt mich noch zum …«
»Ein Auftrag?«, fragte ich verblüfft. Das Kamel im Wohnzimmer war für einen Moment vergessen. Stattdessen witterte ich ein Familiengeheimnis, dem ich schon seit Wochen auf der Spur war. War das der Grund, warum Tante Mildred schon den ganzen Abend nicht bei den Vorbereitungen half? Und sich hinten in der Ecke verschanzt hatte? Wie schon gesagt, Geheimnisse waren in unserer Familie nicht gerade Mangelware.
»Der eines Kunden vom Pfandleihladen«, zerstreute Tante Mildred meinen Verdacht und warf mir einen misstrauischen Blick zu. Doch bevor ich nachfragen konnte, ob es da wirklich um einen stinknormalen Kunden ging oder doch um etwas viel Geheimeres, schob sie mich auf das Kamel zu und legte meine Hand um das Halfter. »Jetzt hör auf, mich zu löchern, und pass auf deine Tante auf. Und du, Lora, mach dich doch auch mal nützlich.«
Lora und ich seufzten und packten das Halfter von Tante Rose, eine links, eine rechts.
»Und was jetzt?«, fragte ich. Aus der Nähe war das Kamel nicht nur unglaublich riesig, sondern auch, wie Tante Rose gesagt hatte, … eindrucksvoll. Nur leider nicht auf die gute Art.
»Wir überlegen, wie wir deine Tante wieder vermenschlichen«, ordnete Tante Mildred an. Das war es übrigens auch, was gleich nach »Erstens: Sicherheitsabstand« und »Zweitens: Bei Insekten aufpassen, wo man hintritt« auf Tante Mildreds Notfallliste am Kühlschank stand.
»Wir müssen ihr etwas vorsetzen, das sie kennt«, schlug Lora vor. »Das oder einfach warten, bis sie sich von alleine zurückverwandelt. Und hoffen, dass ein Kamelschaden von der Hausratversicherung gedeckt wird.«
Ihr etwas vorsetzen, das sie kannte, war nicht so schlecht. Zumindest in der Theorie. In der Praxis war es deutlich schwieriger, sich aus einer Verwandlung, ungewollt oder nicht, zurückzuholen. Das hatte ich schon mehrmals am eigenen Leib erfahren müssen.
»Und was?«, wollte Tante Helly wissen.
»Käsekuchen.« Tante Mildred machte Anstalten, in die Küche zu huschen. »Davon müssten wir doch noch was übrig haben.«
»Haben wir nicht. Alles verbraucht. Ging schon für die letzten Verwandlungen drauf«, war Tante Hellys Antwort.
Tante Mildred überlegte. »Wie wäre es mit einer Liebesschnulze, die wir dem Kamel zeigen? Eine Verfilmung von einem ihrer leidenschaftlichen Liebesromane? Läuft so etwas auf Netflix?«
Lora schüttelte den Kopf.
»Mist.« Tante Mildred wurde immer nervöser. Absolut verständlich, denn gerade knabberte Tante Rose mit ihren Kamelzähnen Löcher in die Samtvorhänge. »Rose, lass das, das sind Erbstücke!«
»Vergiss die Vorhänge und sei lieber froh, dass wir nicht in einer dieser winzigen Absteigen in der Innenstadt leben«, warf Lora ein. »Mit Ausnahme von Giraffen und Elefanten kann sich Rose hier eigentlich in jedes Tier verwandeln, ohne dass die Nachbarn was mitbekommen.«
Was übrigens auch der Grund war, weshalb wir meistens mit zugezogenen Vorhängen lebten. Doch heute schien unser stattliches Wohnzimmer nicht mal annähernd zu genügen. Das Tante-Rose-Kamel scharrte mit den Hufen, knurrte, drehte sich und bäumte sich auf wie ein Elefant im Porzellanladen. So wirkte das Tier leider weder zahm noch streichelbedürftig, wie es uns bei Tante Roses Tierverwandlungen am liebsten war, dafür umso heißblütiger.
»Wir könnten ihr etwas aus ihrem Lieblingsroman vorlesen, Stolz und Vorurteil«, schlug Lora vor.
»Ausgezeichnete Idee.« Eilig holte Tante Mildred das Buch aus dem Regal und drückte es Lora in die Hand. Dann schnappte sie sich Tante Roses Blümchenhut und setzte ihn Lora auf.
»Also gut. Wo fangen wir an?« Lora blätterte hektisch an den Anfang des Buches. »Es war eine allseits bekannte Wahrheit, dass ein Junggeselle mit Vermögen auf der Suche nach einer Frau sein musste.«
Unwillkürlich musste ich kichern. Nicht zu glauben, welches Bild sich mir da bot. Meine Schwester las einem Kamel Jane Austen vor. Mit Blümchenhut. Das gab es wirklich nur bei uns. Das Dumme war, dass die Aktion, so witzig sie auch sein mochte, keinerlei Wirkung hatte. Das Kamel machte keine Anstalten, sich zurückzuverwandeln, stattdessen fegte sein Hintern unentwegt Tante Mildreds gutes Porzellan zu Boden.
»Es klappt nicht«, stellte Tante Helly fest. »Was jetzt?«
»Nimm eine Szene, in der Mr Darcy vorkommt. Am besten eine romantische«, schlug ich vor. »Tante Rose ist total verliebt in Mr Darcy.«
Das stimmte. Welcher normale Mensch würde denn sonst sein Hausschwein so nennen, bloß um beim Fünf-Uhr-Tee mit ihrer Freundin Trudy behaupten zu können, sich mit Mr Darcy ein Bett zu teilen und dort schlabbrige Küsse auszutauschen?
»Romantische Szene?« Hektisch blätterte Lora im Buch. »Diese Figuren hier im Buch streiten sich die ganze Zeit. Versuch du dein Glück, Ophelia.«
Als Lora mir genervt das Buch in die Hand drückte, kam mir eine Idee. Warum hatte ich nicht schon viel früher daran gedacht? »Leute, wir können uns verwandeln! Wie wär es, wenn eine von uns Mr Darcy wird?«
»Mr Darcy ist eine Romanfigur«, schnaubte Lora. »Niemand kann sich in eine Romanfigur verwandeln.«
»Natürlich nicht. Aber vielleicht in den Schauspieler.«
»Das ist es!« Jetzt sah Lora doch beeindruckt aus. »In diesen Colin Irgendwas, aus dieser alten Verfilmung von Stolz und Vorurteil, die Tante Rose uns mindestens ein Mal im Monat anzusehen zwingt.«
»Hey, ich finde die großartig«, wandte ich ein.
Tante Mildred dachte nach. »Wenn der Schauspieler, Colin Firth, hier auftauchen würde, würde sich Tante Rose im Nullkommanichts zurückverwandeln. Und nicht länger meine kostbare Einrichtung in Schutt und Asche legen.«
Lora grinste. »Als Kamel kann man keinen schottischen Adeligen anschmachten.«
»Englischen Adeligen«, korrigierte ich. »Mr Darcy kommt aus Derbyshire.«
Lora rollte mit den Augen. »Du brauchst dringend einen Freund.«
Beleidigt senkte ich den Kopf.
Tante Mildred schien angestrengt nachzudenken, während sich die Ader auf ihrer Stirn anspannte. »Patrick Dempsey war kein Problem neulich in eurer Schule, von dem hatte ich die Zigarettendose. Aber Colin Firth? Von dem habe ich keinen persönlichen Gegenstand, mit dem ich mich in ihn verwandeln könnte. Noch nicht mal ein weggeworfenes Taschentuch.«
»Du nicht, aber Tante Rose. Sie hat ein Requisit der Produktion auf eBay ersteigert. Ein weißes Hemd«, fiel mir ein. Sie erzählte ständig davon. Sie wollte für Mr Darcys Hemd sogar eine eigene Ausstellung in ihrem Stockwerk machen. Ein paar Reisegruppen hatten sich schon angemeldet.
Tante Mildred schnaubte. »Ach, diesen Fetzen. Den hätte ich neulich fast in den Müll geworfen. Na gut, ihr wartet hier und sittet das Kamel.« Im nächsten Moment war sie auch schon nach oben verschwunden.
Ich gab mir Mühe, dem Maul des Kamels auszuweichen, mit dem es mir in die Hand beißen wollte. Von Lora hielt das Tier jedoch Abstand. Mit mir konnte man’s ja machen.
»Immer persönliches Zeug dabeihaben zu müssen, macht die Sache ganz schön kompliziert.« Lora zwinkerte mir zu. »Sich mit Gedanken zu verwandeln, so wie wir, ist um einiges cooler, findest du nicht?«
Cool hin oder her, mir war das egal. Ein Zwilling, oder wie bei meinen drei Tanten, Mildred, Rose und Helly, ein Drilling innerhalb der MacBiggs-Familie zu sein, war einfach nur anstrengend. Es gab nicht nur gruselige Verwandte, die als Geier verwandelt Partys ruinierten, sondern auch mysteriöse Familien-Websites, Kellerlabore mit Wassertanks und Laborkaninchen-Praktikanten. Das volle Programm.
Und natürlich, als Zuckerguss obendrauf, absurde Momente wie diesen. Denn soeben schritt ein braun gelockter Gentleman aus dem neunzehnten Jahrhundert in enger Hose und Reiterstiefeln ins Wohnzimmer. Er griff nach dem Halfter und streichelte Tante Rose über die Flanken.
Kaum hatte Mr Darcy Tante Rose die Hand aufgelegt, hörte das Tier auf zu wüten, flatterte mit den langen Wimpern und sah Mr Darcy aus großen Augen an. Und dann passierte es. Eine Handvoll dattelgroße Köttel landete mitten auf unserem Wohnzimmerteppich.
»Ich glaube, das Kamel ist aufgeregt«, sagte Lora grinsend.
Tante Rose gab einen fast menschlichen Schrei von sich und errötete bis zu den Kamelohren. Dann schrumpfte das Tier vor unseren Augen zusammen, als hätte jemand in einen Luftballon gepikst. Das helle Fell wurde zu rosafarbener Haut und die Mähne zu Tante Roses blondem Haar. Ihre menschliche Zunge leckte immer noch über Tante Mildred-Darcys rechte Wange.
»Was tun Sie denn hier?«, entfuhr es Tante Rose, als sie wieder ganz sie selbst war. »Haben Sie etwa meine Fanbriefe erhalten? Ich habe Sie eingeladen, wieder und wieder!«
»Krieg dich ein, ich bin’s nur, deine Schwester!«, knurrte Tante Mildred.
Tante Rose betastete misstrauisch die Koteletten in Mr Darcys Gesicht. »Mildred? Das ist aber fies! Einen Moment lang dachte ich, es wäre der echte Mr Darcy, der mich krault. Warum hast du das getan? Willst du etwa mit meinen Gefühlen spielen?« Jetzt entdeckte sie den Kamelhaufen und wurde puterrot. »Ach du liebe Güte, war das etwa das Kamel?«
Tante Mildred legte einen Arm um Tante Rose und führte sie in die Küche. »Schon gut. Jetzt machen wir dir erst mal eine leckere Pfefferminzschokolade und dann ist alles wieder in Ordnung.«
Tante Rose schniefte. »Na fein. Aber darf ich vorher noch ein Selfie mit dir machen? Für den Fünf-Uhr-Tee mit Trudy?«
»Meinetwegen. Helly, hilfst du mir mal?«
Als meine drei Tanten verschwunden waren, betrachteten Lora und ich das Chaos, das Tante Roses tierische Spontanverwandlung im Wohnzimmer hinterlassen hatte. Die zertrümmerten Teller, die umgeknickten Pflanzen und den ruinierten Teppich. Und dachten beide wohl dasselbe. Gut, dass wir für die Junior Highland Games Sport und nichts anderes gebüffelt hatten. Zum Beispiel Literatur. Lora und ich hatten noch einige Klassiker lesen wollen und Moby Dick lag ganz oben auf unserem Bücherstapel. Ich mochte mir lieber nicht ausmalen, wie das geendet hätte.
Spätestens jetzt war dieser Sonntagmorgen wieder so, wie man’s bei uns gewohnt war.
✵
Am nächsten Morgen beim Frühstück hatte auch Lora begriffen, dass ich mit Pferderennen nicht viel am Hut hatte. Stattdessen versuchten wir es mit dem Auswendiglernen von Fußballergebnissen. Weil es beim Fußball kein Tier gab, das Tante Rose hätte interessieren können, hatte sie sich weggedreht und las gelangweilt einen ihrer Liebesromane.
Das Dumme daran war bloß, dass Fußball in einem Land wie Großbritannien nicht gerade wenig Lernstoff bot, und weil die Zeit drängte und Lora alles für wichtig hielt, von der Schuhgröße David Beckhams bis zu den Abmessungen eines Fußballtors, aufs Inch genau, blieb mir nichts anderes übrig, als zwischen den Schulstunden weiterzupauken. Als Lora schließlich als Mitglied der Schülergemeinschaftshilfe in die Kantine gerufen wurde, um Essen auszuteilen, musste sogar Mae zum Abfragen einspringen, die auf Fußballwissen-Büffeln in etwa so große Lust hatte wie auf eine Woche Diät.
»Ich verstehe, warum du dir nichts davon merkst. Wer auch immer mir verständlich erklären kann, warum Fußball zum Volkssport geworden und der Grund ist, dass Ehen zerbrechen, dem gebe ich ein Mittagessen aus.« Mae starrte kopfschüttelnd auf Loras Fragenliste und reihte sich mit ihrem Tablett in die Schlange vor der Essensausgabe ein. »Aber was soll’s. Weiter im Text. Welches Land holte den Fußball-Weltmeisterpokal im Jahr 2002?«
»Probier’s mal mit Brasilien, Ophelia. Stimmt fast immer«, sagte da jemand hinter mir.
Adrian. Mehr brauchte es gar nicht und über der Essensausgabe mit den Dosenravioli ging plötzlich die Sonne auf. Adrian war der Junge aus meinem Schauspielkurs, in den ich seit zwei Jahren ziemlich verschossen war. Also, bis ich auf meiner sechzehnten Geburtstagsparty an einer plötzlichen Blitzverliebtheit in jemand anderen gelitten hatte, und zwar in … ach, unwichtig. Was zählte, war, dass nun zwei Monate vorüber waren und die unwichtige Blitzverliebtheit voll und ganz ausgestanden war. Und dass Adrian der war, auf den ich mich jeden Tag in der Schule freute. Der, der sich extra wegen mir für die Junior Highland Games angemeldet hatte, obwohl er die Stadt normalerweise nur verließ, wenn er zum Flughafen fuhr.
»Hey! Brasilien ist richtig.« Mae sah beeindruckt aus. »Du solltest die Sportfragen übernehmen und nicht die arme Ophelia.«
»Ich dachte, ich bin so was wie euer Experte bei Kunst, Schauspiel, Film und Geschichte. Aber ich habe eine Lösung. Du fährst einfach mit, Mae«, schlug Adrian vor. »Komm schon, du kannst mir nicht erzählen, dass du als Boxerin nicht bestens im Bilde bist.«
Ich seufzte. Was Adrian da gerade vorschlug, versuchte ich schon seit Jahren. Ohne Erfolg. Seit dem ersten Jahr, als Lora und ich uns für die Junior Highland Games angemeldet hatten, einem Wettkampf verschiedenster Schülerteams mitten im schottischen Nirgendwo, hatte ich mich bemüht, Mae mit ins Boot zu holen. Doch ganze zwei Wochen während der Sommerferien in der Wildnis mit merkwürdigen Spielen zu verbringen (und merkwürdig konnten sie schon sein. Oder war Toastbrot-Wettessen etwa normal?), übte irgendwie keinerlei Reiz auf sie aus.
Für mich und Lora jedoch hatten die zwei Wochen in den Highlands eine ganz eigene Bedeutung. Sie erinnerten uns an früher, als wir mit unserem Vater Campen gegangen waren, über dem Lagerfeuer gegrillt und jede Nacht die Sterne gezählt hatten. Die Highland Games waren hier, weit weg von zu Hause, ein Stück Vergangenheit, in der ich mich mit meiner Zwillingsschwester super verstand und wir zusammenhielten wie Pech und Schwefel. Dazu hatte ich diesmal auch noch einen anderen Grund, mitzufahren. Ich konnte Zeit mit Adrian verbringen, abseits von Edinburgh und unserer Schule, wo mich immer noch alles an diese … Unwichtigkeit erinnerte, die meine Gefühlswelt durcheinandergebracht hatte.
Deshalb freute ich mich dieses Jahr ganz besonders auf die Spiele. Selbst wenn Lora gerade in diesem Moment mit Haarnetz vor mir an der Essensausgabe stand, den Kochlöffel unheilvoll über zwei Töpfen schweben ließ und streng fragte: »Manchester City oder Liverpool?«
»Bitte was?«, fragte ich und schaute in die Töpfe. Das waren aber schwer belämmerte Namen für die Mittagsmenüs. Oder kamen da etwa die Dosenravioli her?
»Ich fragte, Manchester City oder Liverpool? Welche Mannschaft hat von allen britischen Clubs bisher die meisten Pokale geholt?«
Ich schluckte. Ich hatte leider nicht die geringste Ahnung. Und schlimmer noch, ich war fest davon überzeugt, dass ich mir mein Mittagessen abschminken konnte, wenn ich falschlag. Ich entschied mich für …
»Weder noch. Es ist Manchester United«, rettete mich jemand in der anderen Schlange.
Unwillkürlich bekam ich weiche Knie. Nicht, weil es der kleine rothaarige Roger war, der mich mit seiner Antwort so aus dem Konzept gebracht hatte. Sondern weil ich genau wusste, wen er in seinem Windschatten mit dabeihatte. Und der hatte noch nicht mal ein Wort gesagt.
Mr Unwichtig.
Okay, das war natürlich nicht sein richtiger Name. In Wirklichkeit hieß er Clifford Waldo MacAllister, was auch nicht so viel besser war als »Mr Unwichtig«, zumindest der Mittelname nicht. Und doch war ausgerechnet er es, in den ich mich schockartig blitzverliebt hatte und der nicht erst seit gestern eine Freundin namens Amalia hatte, mit der er schon die eine oder andere Krise durchlebt hatte. Aber da ich auf meiner Geburtstagsparty nicht ganz im Besitz meiner Sinne gewesen war und unbedingt meine Gabe hatte nutzen müssen, um mich in besagte Freundin zu verwandeln und ihn stürmisch zu küssen, war er nun der Ansicht, mit Amalia sei alles in Butter. Und ich, Ophelia, war nichts weiter als eine Freundin.
Was okay war, wirklich! Denn wie es aussah, war der stürmische Kuss auch zu etwas nütze. Damit hatte ich seine Beziehung gerettet, was doch eine gute Sache war, oder nicht? Außerdem war Amalia eigentlich ganz nett und hatte jemanden wie Cliff verdient. Nun, wo zwischen den beiden wieder alles in Butter war, wünschte ich ihnen Glück, Zufriedenheit und später viele zuckersüße Kinder. Das Blöde war nur, dass ich nicht abstellen konnte, dass mein Herz in Cliffs Gegenwart gefährlich aus dem Takt geriet.
»Hallo«, begrüßte ich ihn und gab mir Mühe, seinem Blick standzuhalten, etwas, das ich nach der Blitzverliebtheit erst hatte lernen müssen. Heute trug Cliff seine stinknormale Schuluniform, aber mit den breiten Schultern, den aufgekrempelten Hemdsärmeln und der Sonnenbrille in den blonden Haaren sah er trotzdem verboten gut aus. Viel besser, als Jungs in schlecht geschnittenen Schuluniformen mit Einhornmotiv auf dem Jackett eigentlich aussehen durften. Ich muss wohl nicht dazusagen, dass ich nicht das einzige Mädchen an der Schule war, das regelmäßig Herzflattern bekam.
»Stimmt das, was Roger sagt?«, vergewisserte sich Lora bei Cliff, bevor der auch nur eine Begrüßung loswerden konnte.
»Och … ähm.« Cliff zögerte.
Er hatte nicht die geringste Ahnung. Denn obwohl er Teamkapitän unseres Fußballteams war, verstand er in Wahrheit kaum etwas von Fußball. Und das war noch nicht mal das Erstaunlichste an ihm. Irgendwie hatte er es über all die Jahre geschafft, sein wahres, theaterstückschreibendes, menschenscheues Ich in der Schule gut zu verstecken und uns allen hier die Lüge vom perfekt angepassten, allseits beliebten Schulschwarm aufzutischen. Hätte ich mich nicht erst kürzlich so intensiv mit ihm beschäftigt, hätte auch ich nie hinter die Fassade geblickt. Dann hätte ich nie sein wahres Ich entdeckt. Und das gefiel mir leider viel zu gut.
»Natürlich hab ich recht, Cliff«, nahm ihm Roger die Antwort ab. Dann wandte sich Roger Mae zu und seine Nase mit den Sommersprossen zuckte. »Ich frage mich allerdings, warum ihr Mädchen Fußballwissen büffelt.« Er betrachtete Mae. »Willst du dich etwa unserem Team anschließen? Keine Sorge, wenn du so aussiehst wie heute, würde niemand merken, dass du kein Junge bist.«
»Im Gegensatz zu dir, wo jeder längst gemerkt hat, dass du ein Hohlkopf bist«, schnaubte Mae.
Ich spürte, wie Cliff mich anlächelte. Ihm war auch aufgefallen, dass Roger und Mae wieder zu ihren alten Gewohnheiten übergegangen waren. Kaum zu glauben, dass sie auf meiner Party wild miteinander rumgeknutscht hatten.
»Cliff und Roger, ihr beide solltet in die Highlands mitkommen«, schlug Lora jetzt vor. »Wir sind erst zu viert und sollen acht Spieler aufstellen. Adrian, Ophelia, meine Freundin Chelsea und ich. Dann müsste Ophelia auch keine Sportfragen mehr büffeln.«
Entgeistert starrte ich sie an. Oh, Lora. Sie konnte ja nicht ahnen, dass sie da den hirnverbranntesten Vorschlag überhaupt unterbreitete. Ich fühlte mich gerade erst wieder absolut liebeskummerbefreit, genoss Adrians Gesellschaft und fühlte mich sogar imstande, eine platonische Freundschaft mit Cliff aufzubauen. Da konnte man mich doch nicht zwei Wochen Nacht für Nacht unterm Sternenhimmel an einem Lagerfeuer mit ihm sitzen lassen. Oh nein! Da paukte ich lieber Sportergebnisse. Und zwar zurück bis zum Beginn der Neuzeit.
Zu meinem Entsetzen zögerte Cliff. Sein Blick ruhte gedankenverloren auf mir, und in seinen Augen flackerte einen kurzen Moment etwas auf, das mein Herz schneller schlagen ließ. Doch bevor Lora, Adrian oder die anderen etwas merken konnten, räusperte er sich, streckte den Rücken durch und verkündete: »Vielleicht nächstes Jahr. Da oben in den Highlands ist mir zu viel Wildnis, mit all den Wölfen und Vogelspinnen und so. Roger und ich verbringen die ersten Ferienwochen in einem Club auf Skiathos, mit meiner Schwester Penny und Mum und Dad. Wir wollen surfen lernen, stimmt’s, Roger?«
Ich verkniff mir ein Grinsen. In den Highlands gab es seit dem achtzehnten Jahrhundert keine Wölfe mehr, und wenn selbst mir das klar war, wusste ein heimlicher Naturwissenschaftsfreak wie Cliff es längst und spielte hier und jetzt wieder eine Rolle. Und dass das mit den Vogelspinnen Blödsinn war, das ahnte vermutlich sogar Roger.
Doch der ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Er kaute auf seiner Lippe herum, während Lora die Ravioli auf seinem Teller anrichtete und liebevoll mit einem Sträußchen Petersilie garnierte.
»Wenn du mit uns mitfährst, bekommst du eine Extraportion«, zwinkerte Lora ihm zu und schwenkte verheißungsvoll ihren Kochlöffel.
Entsetzt schnappte ich nach Luft.
»Nun, eine Extraration von im letzten Jahrhundert konservierten Ravioli ganz sicher nicht italienischen Ursprungs hätte schon ihren Reiz.« Vorsichtig spähte Roger rüber zu Mae. »Fährst du denn dieses Jahr mit?
»Roger!« Empört schob Cliff sich zwischen ihn und Mae. »Ich dachte, Griechenland wäre abgemacht?«
»Nach Skiathos können wir doch nächstes Jahr immer noch. Dann haben wir den Schulabschluss in der Tasche und fahren alleine. Ohne Penelope.« Beim Gedanken an Cliffs Schwester verzog er das Gesicht. »Also, was ist nun, kommst du mit, Mae?«
Ach, Roger. Er konnte Mae noch so oft auf den Schlips treten, sie hänseln, ärgern, treten oder ein Mannweib nennen – keinem war entgangen, dass er bis über beide Ohren in sie verknallt war. Er würde für sie alles tun. Einen einsamen Lagerplatz in den Highlands mit ihr zu teilen, gemeinsam mit Wölfen und ein paar fetten Vogelspinnen, war bestimmt seine leichteste Übung.
»Eher friert die Hölle zu.« Mae lud unendlich viele Päckchen Ketchup auf ihren Teller, obwohl es heute absolut gar nichts gab, was dazu passte. »Verschwinde nach Skiathos, Roger, und hol dir einen Sonnenbrand, der dich in ein menschliches Glühwürmchen verwandelt.«
Hinter uns begannen Stimmen laut zu werden, weil wir die Ausgabe blockierten. Lora warf einen Blick auf den Stau vor ihrem Tresen, knallte für Cliff und seine Freundin die übliche gesunde Pampe aufs Tablett und übergoss beinahe Adrians Finger mit heißen Ravioli. Als ich dran war, schnappte sie sich meinen Arm und zog mich zu sich.
»Es ist mir egal, wie du es anstellst, aber überrede deine Freundin, mitzufahren«, zischte sie. In ihren Augen funkelte etwas, das keine Widerrede zuließ. »Mit Roger und Cliff im Team treten wir diesen eingebildeten Möchtegern-Highlandern von Aberdeen so fest in den Hintern, dass sie denken, sie hätten sich in ein Wespennest gesetzt.« Dann legte sie ihren Finger auf die Stirn, als imitiere sie ein Einhorn, und rief: »Auf geht’s, Unicorns!«
Ich knurrte. Der Finger auf der Stirn war der Gruß unserer Schule bei den Spielen. Etwas, das wir aus Gründen der Peinlichkeit in der Schule nicht durchführten. Eigentlich.
»Na fein. Ich versuche es«, murmelte ich. Und da Lora mich immer noch anguckte, als hätte ich etwas Wichtiges vergessen, stellte ich das Tablett ab und erwiderte gehemmt ihren Gruß. »Auf geht’s, Unicorns.«
Lora nickte zufrieden.
Oje. Das konnte ja was werden.
»Du hast zwei Möglichkeiten«, erklärte Tante Helly in ihrer Lieblingsverwandlung als Eichhörnchen, als wir in meinem Zimmer saßen und ich ihr in allen Einzelheiten meine Zwickmühle mit Cliff, Roger und den Junior Highland Games geschildert hatte. »Möglichkeit eins: Du überredest Mae, mitzukommen, akzeptierst, dass dadurch Roger und Cliff dabei sein könnten, und gewinnst die diesjährigen Junior Highland Games, was dieser selbstverliebten Marsha und diesem dusseligen Don aus Aberdeen ganz recht geschehen würde. Weißt du noch, wie ich sie am Abholtag für eure Lehrer gehalten habe, weil sie so muskulös waren? Die sind doch alle auf Steroiden.«
Ich knirschte mit den Zähnen. Ein Sieg gegen unsere Erzfeinde wäre natürlich genial. »Und die zweite Möglichkeit?«
»Du schlägst Loras Bitte aus, ihr meldet euch nur zu viert an und müsst nehmen, wer sich eben noch so zusätzlich bewirbt, wohl wissend, dass du aus Angst vor deinen Gefühlen den Schwanz eingezogen hast«, erklärte Tante Helly.
Ich kicherte. Nicht, weil die Sache nicht ernst war, sondern weil Tante Helly in diesen Moment ihren eigenen, haarigen Eichhörnchenschwanz zu sich zog, um ihn von Tannennadeln zu säubern.
Meine dritte Tante, Tante Helly, war nicht nur meine Lieblingstante, sondern auch die beste Verwandlerin im Haus. Sie konnte sich mühelos in Menschen und Tiere verwandeln und war sogar so gut, dass weder mein spionierender Großonkel noch meine anderen Tanten oder Lora etwas davon mitbekamen. Sie alle glaubten, dass Tante Helly die Gabe einfach nicht abbekommen hatte. Nur ich kannte die Wahrheit.
»Du hast ja recht«, gab ich zu. Jetzt ließ sich das Tante-Helly-Eichhörnchen in ein Kissen auf meinem violetten Sofa fallen und putzte sich das Fell, was total niedlich aussah. »Ich sollte mit Cliff endgültig abschließen. Er liebt Amalia.«
»Du meinst diese besserwisserische Schnepfe, die sich nur von undefinierbarem Körnerfraß ernährt?«, wollte Tante Helly wissen.
Ich hob eine Augenbraue. »Darf ich dich daran erinnern, dass du als Eichhörnchen auch jeder Nuss hinterherjagst?«
»Du sagst es. Als Eichhörnchen!« Sie schnaubte. »Als Mensch mag ich Nüsse gar nicht so gerne. Die machen meine Zahnkronen kaputt.«
Ich seufzte. So übel, wie Tante Helly Cliffs Freundin Amalia jetzt darstellte, war sie in Wirklichkeit nicht. Früher hatte ich sie für unausstehlich gehalten, aber inzwischen wusste ich, dass sie einfach nur bis über beide Ohren in ihren Traumprinzen Cliff verknallt war. Und dass niemand etwas für seine Essensvorlieben konnte.
Ich setzte mich aufrecht hin und ließ Tante Helly auf meine Handfläche klettern. »Wie dem auch sei. Ich bin über Cliff hinweg. Habe ich dir erzählt, dass Adrian und ich schon drei Mal gemeinsam im Theater waren? Einmal in Romeo und Julia und zweimal in irgendeinem modernen Stück, das selbst mir zu abgedreht war. Adrian fand es aber ganz toll. Und wir proben außerdem laufend Cliffs Stück, du weißt schon, für die Theateraufführung in der Schule nächsten Herbst.«
»Hauptsächlich den Kuss im letzten Akt. Ich hab euch neulich gesehen.« Tante Helly grinste.
Ich wurde rot. Das war der Nachteil, wenn man in einer Familie lebte, in der jeder im wahrsten Sinne des Wortes Mäuschen spielen konnte. Man war einfach nie alleine.
»Schon okay, Ophelia. Ich hab es nur ein einziges Mal zufällig mitbekommen. Ich spioniere dich nicht aus, ich bin ja nicht dein Großonkel«, versicherte mir Tante Helly. Dann legte sie ihren haarigen Eichhörnchenkopf schief und betrachtete mich. »So verlegen, wie du jetzt bist, muss das ein ziemlich schöner Kuss gewesen sein. Und das sagt mir, dass dir eine zweiwöchige Cliff-Intensivdröhnung nichts mehr anhaben kann. Du bist über ihn hinweg, Schätzchen.«
Das aus Tante Hellys Mund zu hören, tat gut. Doch da war noch eine Sache. »Aber selbst wenn Cliff und Roger mit in die Highlands kämen, wir haben trotzdem noch keinen Plan, wie ich Mae jemals überreden soll …«
An dieser Stelle polterte es laut an der Tür. »Ophelia!« Es war meine Schwester. »Ich habe einen Plan, wie wir Mae überreden können, mit uns in die Highlands zu fahren. Kann ich reinkommen?«
Tante Helly zwinkerte mir zu, bevor sie einen weiten Satz auf den Fußboden machte und hinter meinem Kleiderschrank verschwand. Einen Moment später stürzte Lora ins Zimmer.
»Es liegt doch nur an dieser furchtbar anstrengenden Sind-wir-zusammen-oder-sind-wir-nicht-zusammen-Angelegenheit zwischen ihr und diesem Rotschopf Roger«, rief sie und zwirbelte sich angestrengt das Haar. Weil es jetzt nur noch bis zu den Ohren reichte wie meins, ging das nicht mehr so gut wie früher. »Gott, ich hasse Leute, die nicht offen über ihre Gefühle sprechen können. Du bist zum Glück nicht so. Bei dir war immer schon klar, dass du total auf Adrian stehst. Bei dir ist das so einfach.«
Ich schnaubte. Sollte ich noch mal extra erwähnen, dass Lora keine Ahnung von der Blitzverliebtheit in Mr Unwichtig hatte?
»Wir mögen ja noch so verschieden sein, du und ich, aber in dieser Sache sind wir komplett gleich«, plapperte sie weiter und ließ sich aufs Sofa fallen. »Ich habe Paul auf unserer Party nämlich auch gesagt, dass ich total auf ihn stehe. Klare Verhältnisse. Weißt du?«
Mir entging nicht, dass sie vermied, mich anzusehen. »Hat er sich immer noch nicht gemeldet?«, fragte ich vorsichtig.
Paul war der Praktikant meines Großonkels. Er war kein Teil der Familie und konnte sich somit auch nicht verwandeln, aber er half meinem Großonkel dabei, ein riesiges Untergrundarchiv zu führen, versteckt unter dem alten Familiensitz. Dort unten war es nicht nur kahl und ungemütlich, dort wurden auch Psychotests durchgeführt (nicht die lustigen aus den Zeitschriften, sondern richtig unangenehmer, verrückter Kram), um etwas, das sich »Verwandlungsgrad« nannte, zu bestimmen. Alleine schon deshalb hätte sich Lora niemals mit Paul einlassen sollen. Aber sie wusste es ja besser.
»Nope. Seit Wochen Funkstille. Aber das kümmert mich nicht die Bohne, alles, was mich beschäftigt, sind die Highland Games.« Sie nahm meine Hand und rückte etwas näher an mich heran. »Ophelia, ich weiß, wie ich Mae dazu bringe, mitzufahren. Ich werde mich verwandeln. Morgen, noch vor der Schule.«
»Eine Verwandlung?« Ich runzelte die Stirn. »Muss das sein?«
Ich mochte es gar nicht, wenn Lora ihre Fähigkeiten einsetzte, um unwichtige Probleme in den Griff zu bekommen. Selbst jetzt, mit Verwandlungsfreigabe in der Tasche – der offiziellen Erlaubnis für unseren Familienwahnsinn –, führte ich Verwandlungen so selten wie möglich durch. Was sich als gute Idee herausgestellt hatte, denn mein als Geier spionierender Großonkel saß inzwischen viel seltener auf der Buche vor dem Haus.
»Oh ja, es muss sein.« Sie schritt auf mein Bücherregal zu, zog mein Jahrbuch heraus und blätterte darin herum, bis sie Rogers Jahrgangsstufe fand. »Und zwar in Roger. Ah ja, geboren in Irland, interessiert sich für Fußball, zwei Schwestern, hmm.« Sie überlegte. »Mit dem, was er so auf Instagram postet, müsste ich ein ziemlich gutes Bild von ihm haben.«
»Tu es nicht, Lora«, bat ich. Ich dachte an Mae und ihre Gefühle für Roger. Sie war meine beste Freundin, und ich wollte nicht, das Lora irgendetwas manipulierte. »Was immer du vorhast, Mae und Roger mögen sich wirklich, und ich bin sicher, sie finden alleine zusammen.«
»Nur wann?« Energisch klappte Lora das Buch zu. »In fünfzig Jahren? Hör zu, es bleiben nur zwei Möglichkeiten. Beide abfüllen, noch eine Party veranstalten und hoffen, dass sie wieder rumknutschen, oder …«
»Ja, warum nicht? Schmeißen wir eine Party«, sagte ich hilflos. Alles, wirklich alles war besser, als bei Herzensangelegenheiten Verwandlungen ins Spiel zu bringen. Das führte zu Missverständnissen, Liebeskummer und Chaos. Das wusste ich aus leidiger Erfahrung.
»Dafür haben wir keine Zeit, Ophelia.« Sie sah mich an. »Morgen ist der letzte Tag der Anmeldefrist. Wo wohnen Mae und ihr Bruder Stan noch mal? Im Süden der Stadt, nicht wahr?«
Ich nickte und sah hilflos zu, wie Lora aus der Tür verschwand und mein Jahrbuch mitnahm. Dann zückte ich mein Handy, um Mae zu warnen, legte es aber wieder aus der Hand. Was sollte ich ihr denn bitte schön schreiben? Vorsicht, gleich kommt Roger vorbei, aber glaub ihm kein Wort. Er ist in Wirklichkeit meine Schwester!
Nein. Unmöglich. Ich musste Lora vertrauen. Und, wenn der Plan doch in die Hose ging, mit großer Sicherheit die Scherben beseitigen.
✵
Am nächsten Nachmittag war es so weit. Direktor MacScott, unser noch recht junger und stets Schottenröcke tragender Schulleiter, hatte zur Verkündung der diesjährigen Teamaufstellung geladen. Jahr für Jahr versammelten wir uns in unserem historischen, von Backsteingebäuden umringten Schulhof und hörten zu, wie MacScott sich lang und breit darüber ausließ, wie unabdingbar diese Spiele für die Entwicklung und Förderung von Jugendlichen waren. Ihm zufolge ging es um Wissen, Sport, Ehrgeiz und Zusammenhalt.
In Wahrheit ging es eigentlich niemandem so wirklich um Wissen, Sport, Ehrgeiz und Zusammenhalt – sondern eher um einen kostenlosen Trip in die Highlands, Grillpartys und ums Flirten. Manchen, ganz vereinzelt, ging es außerdem um die Collegebewerbung, in der die Highland Games meist vorteilhaft hervortraten, zumindest, wenn man gewann.
Als wir uns an diesem Nachmittag im Schulhof aufreihten, fehlte jede Spur von Mae, dafür entdeckte ich Lora.
»Und?« Ich platzte regelrecht vor Spannung. Ich hatte Mae den ganzen Tag noch nicht gesehen und hoffte seit Stunden, dass Lora sie ohne Katastrophen hatte überreden können. Ein Trip mit Lora, Adrian und meiner besten Freundin wäre einfach der Knaller, Cliff hin oder her. »Sag schon, wie war es? Was hast du gemacht? Fährt Mae mit?«
Lora rieb sich hintergründig die Hände. »Nun, wir werden sehen. Ich hab mein Bestes getan.«
Enttäuscht ließ ich den Kopf hängen. Das konnte eine ganze Menge bedeuten. Wenn Mae nur in der Nähe wäre, damit ich sie fragen könnte. Suchend ließ ich meinen Blick über die Köpfe der anderen gleiten. Sie hatte vor der Pause ihr Training gehabt, vermutlich stand sie irgendwo am Rand.
»Liebe Schülerschaft. Bald stehen sie wieder vor der Tür, die jährlichen Junior Highland Games, die dieses Jahr im Nationalpark Loch Lomond und den Trossachs stattfinden werden«, begann MacScott und stieg mit Kilt und Leinenhemd aufs Podium. »In den letzten Jahren haben wir wunderbar abgeschnitten und jedes Mal nur knapp den Sieg verpasst. Die Vorjahresteilnehmer unter Ihnen können wahrlich stolz auf sich sein.«
Einige Blicke glitten zu Lora und mir, sowie auf Raul und Eugene aus dem Hochbegabten-Physikkurs, die in Sachen Sport nicht besonders nützlich gewesen waren. Verhaltener Applaus ertönte und ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Wenn man bei den Spielen teilnahm, galt das hier nicht unbedingt als cool. Noch uncooler war nur die knappe Niederlage gegen unsere Rivalenschule in Aberdeen. Aber das kümmerte uns nicht. Wir wussten, dass die Highland Games klasse waren, ganz egal, was die anderen dachten.
»Ich bin sicher, dass Sie dieses Jahr die guten Ergebnisse noch übertrumpfen werden«, machte MacScott gut gelaunt weiter. »Da es immer neue Kategorien gibt und man sich nur schwer darauf vorbereiten kann, ist wie jedes Jahr Ihre Spontaneität gefragt.«
»Ja, ja, bla, bla, bla, das übliche Geschwafel, komm zum Punkt, Mr Schottenrock.« Lora sah mich an. »Glaubst du eigentlich, MacScott trägt was drunter?«
Abgelenkt runzelte ich die Stirn. Wer in aller Welt machte sich denn über MacScott und seinen Kilt Gedanken? »Keine Ahnung.«
»Wir alle drücken Ihnen jedenfalls fest die Daumen, nicht wahr, liebe Schüler? Es ist für uns von großer Bedeutung, wenn Sie unsere Schule, an der Ihre Wurzeln sind, repräsentieren. Getreu unserem Schulmotto, das wir hier seit der Gründung vor Hunderten von Jahren pflegen: Radicibus carentem ventus auferet.«
»Was heißt das eigentlich?«, fragte ich, den Blick aufs Podium gerichtet. »Ventus … irgendwas mit Wind?«
»Schließ die Augen, wenn der Wind geht«, murmelte Lora.
»Wirklich?«
»Natürlich nicht. Aber das solltest du besser tun, denn Scottie macht gleich die MacMonroe. Und zwar … jetzt!«
Tatsächlich brauste in diesem Moment ein Windstoß über den Hof und MacScott kam gerade noch dazu, die Anmeldekärtchen mit den Namen der diesjährigen Spieler festzuhalten. Sein Kilt hob sich nicht die Spur.
»Bestimmt hat er den Kilt an sich festgetackert«, schmunzelte Lora. »Gut so, niemand will seinen Dudelsack sehen.«
»Du bist die widerlichste Person auf diesem Planeten«, kicherte ich.
Sie stupste mich neckisch an. »Und du die prüdeste.«
»Gar nicht wahr.« In Sachen Erfahrung mit Jungs hatten wir bisher so ziemlich dasselbe erlebt, oder eher, dasselbe noch nicht erlebt. »Und jetzt sei endlich leise. Er verliest die Teilnehmer.«
»Dieses Jahr klingt die Zusammensetzung der Teams besonders spannend«, begann MacScott und nahm die Anmeldekarten zur Hand. »Mit im Team sind wie jedes Jahr Ophelia und Lorelei Sedgewick, aber auch Adrian Huxley, der übrigens neben Ophelia die männliche Hauptrolle in Señora Garcias Theaterstück spielt.«
Adrian drehte sich zu mir um, dabei fuhr eine Brise durch sein dunkles Haar, und mir wurde bei seinem Anblick ganz warm ums Herz. Das schöne Gefühl währte zumindest so lange, bis einige Jungs hinter uns wild zu kichern begannen, komische Knutschgeräusche machten und murmelten: »Ist ja wohl klar, mit wem sich der einen Schlafsack teilen will.«
»Romeo und Julia in den Highlands«, stimmte Nicolas aus dem Fußballteam in das Gekicher ein und legte sich theatralisch eine Hand auf die Brust. »Hoffentlich geht die Liebesgeschichte nicht tragisch aus und einer wird von einem Krokodil gefressen.«
»Kann bitte einer Nicolas den Mund zukleben?«, knurrte Lora.
Da sprach MacScott auch schon weiter. »Als Nummer vier im Team haben wir hier noch, na, sieh mal einer an, Mae Cavendish, unsere Weltklasseboxerin. Die Bären sollten sich also besser mal in Acht nehmen.«
Müdes Gelächter, während Lora ein kleines Tänzchen aufführte und sich selbst zu ihrer Genialität beglückwünschte. Konnte das wirklich wahr sein? Hatte ich mich nicht verhört? Wie zur Bestätigung vibrierte es in meiner Hosentasche. Es war eine SMS von Mae.
Roger hat mich überredet, mitzukommen. Lass uns die Highlands rocken!
Ich spürte, wie mich helle Freude überkam. Mae war dabei. Meine beste Freundin und ich würden zwei Wochen zusammen in der Wildnis verbringen.
»Jetzt sag schon, wie hast du das angestellt?«, drängte ich.
»Ich habe mich in Roger verwandelt, mit seiner krakeligen Jungsschrift einen Liebesbrief verfasst und ihn auf ihre Türmatte gelegt.« Lora grinste.
»Dieses Jahr steckt ja voller Überraschungen. Nummer fünf und sechs im Team sind Roger O’Malley und Clifford MacAllister«, machte MacScott da weiter. »Ich hätte eine Schafherde darauf verwettet, dass die zwei niemals in die Highlands fahren.« Er hielt inne. »Und da ist noch jemand auf der Karte. Amalia Sanders, die Jahrgangssprecherin. Na, sieh mal einer an, das liest sich ja wie ein Who’s Who der Schülergemeinde.«
»Amalia? Ist die nicht Veganerin? Wie soll die denn zwei Wochen dort oben überleben? Soll die sich ein Tofu-Steak jagen, oder was?«, mokierte sich Lora, während in mir die unterschiedlichsten Gefühle hochquollen. Da war einerseits Enttäuschung. Amalia kam mit. Natürlich kam sie mit. Die ließ Cliff ja noch nicht mal alleine aufs Klo, wie ich seit meiner Geburtstagsparty wusste.
Und dann, gleichzeitig, war da Erleichterung. Mit Amalia im Camp würde ich jede einzelne Sekunde daran erinnert werden, dass Cliff nicht mir gehörte. Sollte ich doch wieder einen spontanen Blitzverliebtheitsanfall erleiden, wäre da jemand, der mir vor rasender Eifersucht einen Holzpflock überziehen würde. Das war auf beunruhigende Weise beruhigend.
»Macht sieben Spieler.« MacScott griff in die Tasche seines Kilts. »Hm. Keine weiteren Karten da. Uns fehlt immer noch ein achter Spieler.« Er sah sich um. »Hat jemand noch Interesse, spontan mitzufahren? Sie müssten natürlich vorher noch das Einverständnis Ihrer Eltern einholen, die Kosten übernimmt die Förderstelle …«
»Da stimmt etwas nicht«, murmelte Lora. Amalias Anmeldung schien sie nicht sonderlich nervös gemacht zu haben, doch jetzt sah sie ernsthaft beunruhigt aus. Sie formte ihre Hände zum Trichter. »Sie haben Chelseas Namen nicht vorgelesen, Herr Direktor. Sie fährt mit. Sie hat es mir versprochen.«
Der Direktor kniff die Augen zusammen und zögerte. »Ich fürchte, hier ist keine achte Karte mit dem Namen von … wie sagten Sie noch gleich?«
»Chelsea Livingston«, rief Lora. Ihr Echo hallte von den Backsteinwänden wider. »Verdammter Mist, Chelsea, wo steckst du?«
»Miss Sedgewick, wenn Sie sich bitte beruhigen würden«, mahnte der Direktor streng.
Doch Lora dachte nicht daran, sich zu beruhigen. Aufgeregt zückte sie ihr Handy und tippte eilig eine SMS. »Sie müssen noch einen Moment warten, Herr Direktor. Chelsea hat bestimmt vergessen, die Karte abzugeben. Ich hab sie heut noch nicht gesehen. Wahrscheinlich ist sie krank.«
»Miss Sedgewick, die Anmeldefrist ist abgelaufen. Ich muss leider andere Anmeldungen zulassen.« Der Direktor seufzte und wandte sich einer Gruppe Mädchen aus der Stufe unter uns zu, die nicht nur kurz, sondern auch wild entschlossen aussahen. Vor allem jetzt, da Cliff und Roger dabei waren. »Wenn eine von Ihnen Interesse hat, junge Damen, das ist Ihre Chance.«
»Wagt nicht, mitzufahren, ihr elenden Groupies, habt ihr gehört?«, drohte Lora. »Wehe, jemand nimmt meiner besten Freundin ihren Platz …«
»Ich fahre mit«, tönte es von der anderen Seite des Platzes. Es war eine Stimme, die nicht nach Chelsea klang. Ich stand zu weit weg, um das Mädchen zu sehen, und Lora zu weit weg, um sie in die Finger zu kriegen.
»Da haben wir unsere achte Spielerin. Kommen Sie hoch zu mir, dann stellen wir Sie Ihrer Gruppe vor«, schlug MacScott vor.
Die Menge schob sich auseinander und machte einem mir unbekannten Mädchen Platz. Sie hatte rotes, wild toupiertes Haar, trug derbe Boots zu ihrer Schuluniform und hätte locker schon für achtzehn oder neunzehn durchgehen können. Ich mochte mich täuschen, aber sie wirkte nicht gerade wie eine typische freiwillige Bewerberin für das Sommercamp einer schottischen Privatschule, in das hauptsächlich Streber fuhren.
»Heilige Scheiße.« Lora stand der Schock ins Gesicht geschrieben. »Wer ist die denn? Etwa auch ein Roger-und Cliff-Groupie?«
»Ein Groupie? Die sieht eher aus, als könnte sie Roger ohne Mühe verprügeln«, stellte ich fest.
»Komm, lass uns die mal aus der Nähe ansehen«, beschloss Lora und zog mich durch die Menge, bis wir vor dem Podium angekommen waren.
»Möchten Sie sich nicht vorstellen?« MacScott hielt dem Mädchen das Mikro entgegen. Einen Moment zögerte sie und sah in die Menge, dann setzte sie einen genervten Blick auf. »Nicht nötig. Kann ich jetzt so eine blöde Karte haben? Sie sagten doch, der Trip sei kostenlos, oder?«
»Das ist er. Sind Sie sicher, dass Sie mitfahren möchten?« Der Direktor schien zu bereuen, dass er das Mädchen zu sich geholt hatte. »Ich könnte auch noch mal in die Runde fragen, ob …«
»Ich bin sicher«, schnitt ihm das Mädchen das Wort ab. »Außerdem kenne ich mich in der Natur aus. Ich bin in den Highlands aufgewachsen.«
»Haben dich die Wölfe aufgezogen?«, lachte Nicolas, was das Mädchen dazu brachte, ihre Faust zu heben. Nicolas grinste nervös.