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Inhaltsverzeichnis

































































I.

Einführung

1. Eine Kindheit mit Tieren

Mein erster Molch! Ich werde ihn nie vergessen. Wieder einmal war ich in meinem Lieblingswald unterwegs und landete an einem kleinen Teich. Erwartet hatte ich, dass ich wie schon so oft die eine oder andere Kaulquappe finden würde, eine bizarre Köcherfliegenlarve oder ein bescheiden schillernder Stichling. Aber dann war da plötzlich dieses wurmartige, längliche Tier in meinem Kescher, das in seinem fast verzweifelten Kampf immer wieder seine faszinierende orange-farbene Unterseite zeigte. Solch ein Geschöpf kannte ich bisher nur aus meinem Biologiebuch. Natürlich nahm ich den kleinen Kerl mit, zeigte ihn voller Stolz allen zuhause, ob sie ihn sehen wollten oder nicht, und er gesellte sich in meinem kleinen Terrarium zu den anderen Bewohnern von Bach und Teich. Damals war ich zehn oder elf Jahre alt. Die Streifzüge durch meine münsterländische Heimat gehörten genauso in diese Jahre wie die Zoobesuche mit meinem Vater, das Versorgen »meiner kleinen Farm«, dazu das Füttern der Kaninchen und das Ausmisten ihrer Ställe. Doch auch die Tage sind sehr präsent, an denen Vater schlachtete. Sentimental war die Tierliebe eben nicht.

Meine Kindheit ist ohne die Tiere nicht vorstellbar. Da kommen mir diejenigen draußen in der Natur in den Sinn, über die ich mich freute, wenn sie sich in Feld, Wald und Flur zeigten. Und die anderen zuhause, die mir ans Herz gewachsen waren: unser leider erblindeter Dackel »Strolchi«, der behäbige Schildkröten-Herr »Sir Harry«, für dessen Erwachen nach dem Winterschlaf ich den ganzen Winter über betete, und »Jackie«, der grün-gelbe Wellensittich, der in seinem kleinen Käfig wahrscheinlich die Fähigkeit zu fliegen verloren hatte. Nicht zu vergessen schließlich das amphibische Getier, das Frühjahr um Frühjahr meine kleinen Terrarien bevölkerte, um später wieder als kleiner Frosch in die Teiche und Bäche oder als erdige Kröte in die Wiesen entlassen zu werden.

Später dann kamen die Exoten: Rotkehlanolis, japanische Feuerbauchmolche und Baleareneidechsen. Es war wie eine Reise in deren ferne Heimatländer, wenn ich mich hinsetzte und in die Bestimmungsliteratur vertiefte, dann ein neues Domizil hinter Glas und Fliegendraht für sie einrichtete, Steine und besondere Rindenstücke aus dem Wald holte und Bromelien, Kakteen und ab und an auch eine Orchidee kaufte.

Weder waren die Wälder, Tümpel und Bäche eine Kulisse für mich, vor der sich das eigentliche Leben abspielte, noch waren die Haustiere Spielzeuge wie LEGO und Märklin. Sondern die Natur, die mir zu allen Jahreszeiten vertraut und lieb war, erwies sich als Heimat. Die Erfahrung, dass ich ein lebendiger Teil von ihr bin, wurde in diesen Jahren begründet, wuchs zu einem tiefen unbewussten Wissen. Teilen konnte ich dies mit den Kindern aus der Nachbarschaft, meinem besten Freund und meiner Lieblingscousine. Und jedes Reh, das sich überraschend zeigte und all die Würmer, Schnecken und Libellenlarven aus dem kleinen Teich im benachbarten Wald waren Offenbarungen für mich.

Nachgedacht habe ich nicht darüber, und es wäre falsch, hier eine kindliche Idylle zu vermuten; zu oft hatte ich Angst vor dem dunklen Kiefernwald, holte mir blutige Knie beim Sturz aus dem alten Birnbaum oder steif gefrorene Finger beim Bau eines Staudammes im Bach in einem frühen sonnigen Februar. Sie waren einfach verlässliche und selbstverständliche Begleiter: die Zaunkönige, Feldhasen und Erdkröten. Und dass mich Strolchi, Jackie und Sir Harry verstanden und um mich wussten, war selbstverständlich für mich. Es war wohl der Ausdruck in ihren Augen, der mir zeigte, dass ich verstanden wurde. Eine geheime Kommunikation jenseits aller Worte verband mich mit ihnen. Diese Gefährten waren mir ebenso vertraut wie fast unheimlich fremd. Ein Blick aus den Augen des im April erwachten Schildkröten-Herrn lockte mich in eine längst vergangene Wirklichkeit dieses lebenden Fossils. Als Strolchi noch sehen konnte, lachten seine Augen mich jeden Mittag an, wenn ich aus der Schule kam; und das mit einer Freude und Leidenschaft, als sähe er mich nach monatelanger Abwesenheit endlich wieder.

Sie alle waren selbstverständlicher Teil der Familie und bildeten mein Zuhause ebenso wie meine Eltern, mein Bruder, die Verwandten und Freunde. Nicht wegzudenken sind auch die Stunden in der Kirche und Gemeinde, mein Messdienerleben, die Jugendarbeit und die Seelsorger: mein lieber Heimatpfarrer, der mich seit meiner Grundschulzeit kennt und bis heute begleitet, und der Kaplan, der Biologie studiert hatte, bevor er Priester wurde. Wenn ich beide Erfahrungsbereiche zusammenlege, geht mir heute auf, dass ein Fundament wuchs, das mich trägt: der Glaube an einen Gott, der in eine verlässliche menschliche Gemeinschaft und zugleich einen vertrauensvollen Umgang mit der Natur führt. Heute weiß ich, dass ich neben lieben Menschen und der Gemeinschaft der Kirche auch ihnen, den Tieren, mein Leben verdanke. Denn sie waren wie ein Spiegel für mich. In ihnen sah und erlebte ich etwas, das auch ich selbst war. Dies war eher eine Ahnung als etwas klar Gewusstes. Wenn ich mich ihnen näherte, sie berührte und mit ihnen sprach, war ich auch im Kontakt mit meinen inneren Welten. Und diese konnten sich entwickeln, entfalten und immer neu entstehen. Verantwortung für den Hund und die Schildkröte zu übernehmen bedeutete auch, dass etwas Dackelhaftes und Reptilienhaftes in mir Lebensrecht hatte, mich ebenso ausmachte wie das Flatterhafte des Wellensittichs. Ein ganzer Kosmos stellte sich mir zur Verfügung, um darin Mensch zu werden. Eine fast unendliche Fülle von Formen, Farben und Lauten rief nach Identifikation und Abgrenzung. Und sie alle bestanden aus Fleisch und Blut, waren warm oder kalt, suchten Nähe oder entzogen sich. Es handelte sich eben nicht um Geschöpfe aus der virtuellen Welt, obwohl mich damals auch die Hobbits, Elben und Zwerge aus dem »Herrn der Ringe« in ihren Bann zogen. Mitgeschöpf bin ich, lebendiges Kind dieser Erde, diese Erkenntnis wuchs in mir und dass ich das Leben lernen kann von den anderen um mich herum: Dass ich mein Mensch- und Mannsein nicht jenseits und in der Abwendung von den Tieren entwickle und entfalte, sondern dass ich in einer immer tiefer werdenden Kenntnis dieser Spielarten des Lebendigen meine unverwechselbare Gestalt finden kann. Dass ich das nämlich auch bin: kleiner Dackel, wechselwarme Schildkröte und farbenprächtiges Rotkehlanolis-Männchen. Ich bin Mensch, weil das Devote und Treue mich ebenso ausmachen wie das Kaltblütige, nach Sonne und Wärme Lechzende. Und dass ich gern so schillernd wäre und meine Farben wechseln könnte wie die flinke amerikanische Eidechse.

Allerdings war dies nicht nur spielerisch und erfüllend; denn spätestens in den Jahren der Pubertät zeigte sich die ganze Ambivalenz der Sexualität. Ausgeliefert fühlte ich mich dieser neuen Erfahrung, manchmal auch beglückt und stolz: das Kindsein hinter mir lassen, den eigenen Leib ganz neu erfahren. Neue Stimme, neue Haare, mehr Kraft und nächtliche Fantasien, die mich in völlig andere Welten des Begehrens, der Lust und auch der Aggression führten. Räume zu finden und Menschen, um das Lockende und Bedrängende zu besprechen, war allerdings alles andere als selbstverständlich; für mich war es unmöglich. Allein stand ich da mit den Fragen, wie Erwachsensein geht, wie ich gemeint bin. Allein mit dem Gefühl, nicht attraktiv genug zu sein und wahrscheinlich niemanden zu finden, um mit Haut und Haaren zu lieben und geliebt zu werden. Wie gern hätte ich meinen Leib verlassen, mir einen anderen gesucht. Ein Leben ohne dieses Ringen und Suchen, ohne die Not und die Gewissensbisse, das habe ich ersehnt.

2. Studium und Ausbildung ohne jegliches Getier

Ein Terrarium wollte ich damals mitnehmen ins Collegium Borromäum, als ich 19 Jahre alt war und dort einzog, um Priester zu werden. Ich habe es dann doch nicht getan. Die Tiere traten in dieser neuen Phase meines Lebens in den Hintergrund. Sie und die Natur wurden mehr und mehr zur Kulisse, waren nicht mehr Betrachtungsgegenstand, von dem her der Glaube an einen allmächtigen und liebenden Schöpfergott plausibel schien. Die Mitgeschöpfe und ihre Welt zu erfahren und am eigenen Leib zu erspüren, stand nicht auf der Tagesordnung.

Heute frage ich mich, ob die Ausbildung nicht zu einseitig war, ob sie nicht zu sehr darauf abhob, in eine andere Wirklichkeit geführt zu werden wie in ein Aquarium. Es kommt mir fast so vor, als würde man junge Männer ganz langsam von der natürlichen Lungenatmung zur Kiemenatmung umerziehen, damit sie in einem Paralleluniversum sesshaft werden. Eine außerordentliche Lebensweise, das fordernde Studium, eine feste kirchliche Ordnung und das Erlernen einer anderen, klerikalen Sprache führen dazu, immer mehr in jener anderen Welt heimisch zu werden, die die Kirche ist. Verlockend war das für mich; denn dort erst einmal angekommen – spätestens nach der Priesterweihe – würden die Ganzhingabe an Christus, die totale Verfügbarkeit für die Gemeinde und die »Gnade der Berufung« schon dazu führen, dass sich die innere Welt beruhigt, alles Animalische beherrschbar und nicht mehr lebensbestimmend und bedrohlich sein wird.

Wie faszinierend das war! Ein immer intensiverer Blick durch die Scheiben in das Aquarium einer klerikalen Welt, bestehend aus schillernden liturgischen Farben und besonderem Gehabe, eigenen Spielregeln für den Tages-, Wochen- und Jahresverlauf. Und manchmal sehr bewegend und existenziell berührend klang das, was da im Bassin in den aufsteigenden Blasen zu hören war – wenn man mehr und mehr eintauchte: Von verwandelter und erlöster Existenz in Christus war da die Rede und von einem gelungenen Leben aus dem Geheimnis der Eucharistie, von Brüderlichkeit im Klerus und nie enttäuschender Mütterlichkeit der Kirche. Und die Schöpfung, die eigene Geschöpflichkeit und die Tiere, kamen sie vor? In der systematischen Theologie wurde die Schöpfung behandelt, allerdings nur als ein Traktat neben anderen, wichtigeren Themen. Bei Wallfahrten wurde sie gepriesen als Ort der Stille und Ruhe.

Die eigene Leiblichkeit wurde als bekannt vorausgesetzt, ebenso die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte, das Ringen um das Mannsein, die Ablösung aus dem Elternhaus; offizielles Thema waren diese Lebensbereiche nie, nur als Hintergrundgeschichten für das Eigentliche, nämlich die Berufung für das Priesteramt. Mit der Sexualität beschäftigten wir uns im Rahmen der so genannten »Zöli-Woche« nach dem zweiten Semester an genau zwei Nachmittagen. Dort fielen tatsächlich Begriffe wie Selbstbefriedigung und Geschlechtsverkehr. Ich weiß noch, wie froh ich war, dass es zu keiner Vertiefung oder gar Konfrontation kam und das Thema bald als abgearbeitet galt auf dem Weg in die andere, von der Gnade durchwalteten Welt jenseits der Scheibe des Aquariums.

Von den Tieren wurde nur geschwiegen. Von dem einen oder anderen Haushund wurde erzählt, manchmal berichtete ich noch von meinem etwas exzentrischen Hobby der Terraristik, aber mehr und mehr, fast geräuschlos verschwanden sie aus meinem Leben. Mehr unbewusst als bewusst setzte sich die Entscheidung durch, dass die Mitgeschöpfe in eine Welt gehören, die ich hinter mir lassen würde.

3. Neue Biotope

Nach der Priesterweihe und vier ungemein bewegenden, alle Kräfte zehrenden und letztlich glücklosen Jahren in der Gemeindeseelsorge fühlte ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die Umwandlung war nicht gelungen, Kiemenatmung funktionierte nicht, und der Teichmolch meiner Kindheitstage erschien mir fast brüderlich. Denn auch der brauchte alles: Wasser, Erde und Luft zum Atmen.

Die Not war groß; Abstand vom Bisherigen und ein Neubeginn waren notwendig. In meinem Bischof Reinhard Lettmann fand ich einen verständnisvollen väterlichen Zuhörer, der mich in meiner Entscheidung ermutigte, das Studium der Biologie und Philosophie aufzunehmen, später dann auch das Projekt einer Promotion. Hier liegen die Anfänge des für mich lebensbestimmenden Projektes einer theologischen Zoologie (vgl. ).

4. Zum Aufbau des Buches

Die gesamte Brisanz des Themas finde ich in einem Zitat, das dem Literaturnobelpreisträger Elias Canetti zugeschrieben wird: »Mit zunehmender Erkenntnis werden die Tiere den Menschen immer näher sein. Wenn sie dann wieder so nahe sind wie in den ältesten Mythen, wird es kaum mehr Tiere geben.« In diesem Wort verdichtet sich mein eigener Erkenntnisweg. Es soll Leitfaden dieses Buches sein.

Das erste Kapitel widmet sich den zunehmenden Erkenntnissen: Die Evolution zeigt den Menschen als Werdenden und nicht als vom Himmel gefallenes Geschöpf. Die moderne Verhaltensbiologie gibt immer mehr Charles Darwin recht, wonach die Unterschiede zwischen Mensch und Tier im Blick auf Denkleistungen, innere Gefühlswelt und Selbstbewusstsein fließend und nicht grundsätzlicher Art sind. Nicht zuletzt dokumentieren eindrucksvolle Biografien von Menschen im Bereich tiergestützter Therapie und Pädagogik die zutiefst heilsame Nähe von Tier und Mensch.

Im zweiten Kapitel folgt eine Relektüre der ältesten Mythen. Noch gehören sie in das Grundrepertoire einer Gesellschaft, die sich der jüdisch-christlichen Tradition verpflichtet weiß: die biblischen Geschichten vom Garten Eden, von Adam und Eva, Schlange und Baum, vom Sieben-Tage-Werk, in dem der Sabbat die Krone der Schöpfung darstellt und nicht der Mensch, und nicht zuletzt von Noahs Arche, Gottes Bund mit Mensch und Tier unter dem schillernden Regenbogen. Sie alle zeugen von der untrennbaren Verwandtschaft alles Lebendigen und ihrer Schicksalsgemeinschaft.

Ausgehend von der Tatsache, dass der Wert und die Würde des Tieres im vermeintlich christlichen Abendland längst in Vergessenheit geraten sind, kommen im dritten Kapitel ausführlich drei Denker der europäischen Geistesgeschichte zur Sprache, unter deren Einfluss die westliche Philosophie- und Theologiegeschichte vermutlich nicht zu einer Entfremdung des Menschen von den Tieren und der Umwelt geführt hätte. Diese Gedanken sollen den heutigen Lesern Hoffnung machen und dazu anregen, über ihr eigenes Verhältnis zu den Tieren nachzudenken.

Spätestens in der Neuzeit nämlich mutierte der Mensch zu einem »Interplanetarischen Eroberer« (Meyer-Abich), für den die Natur pure Ressource wurde, und die Tiere degradierte man mehr und mehr zu »seelenlosen Automaten« (Descartes). Heute werden sie in die Fleischfabriken verdrängt, werden dort verarbeitet und geraten mehr und mehr in Vergessenheit. Diese »Anthropologie mit dem Rücken zum Tier« bereitete den Industrienationen den Weg in eine dreifache Verantwortungslosigkeit; denn den Preis unseres Wohlstands zahlen die so genannte Dritte Welt, unsere Nachwelt und die natürliche Mitwelt. Wenn der Raubbau fortschreitet, wird es sie bald nicht mehr geben: die atemberaubende Vielfalt in den Ökosystemen dieser Welt. Und eine Gesellschaft, die sich von den Lobbys der Pharma-, Unterhaltungs- und Lebensmittelindustrie regieren lässt, hat längst Hühner, Puten, Schweine und Rinder zu Rohlingen der Fleisch-, Eier- und Milchindustrie entwürdigt.

 

Zusammenfassend will eine theologische Zoologie und so auch dieses Buch an die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Mensch, Tier und Gott erinnern. Sie zieht dazu die Erkenntnisse der Naturwissenschaften ebenso zu Rate wie die Ergebnisse einer wissenschaftlich fundierten Sicht in die biblischen Traditionen. Eine in der Weise formulierte Würdigung der Tiere kann einen profunden Beitrag leisten, um einen Bewusstseinswandel herbeizuführen und so der ökologischen Katastrophe zu begegnen. Sie möchte zudem, in Erinnerung an fast vergessene Gedanken aus Theologie, Philosophie und Dichtung, verschüttete Hoffnungspotentiale wachrufen.