Dieses Buch ist für euch Leser, die die Geschichte von Emma Band für Band mitverfolgt haben.
Vor mir stand ein riesiger Wolf mit gefletschten Zähnen. Er war kurz davor, mich anzugreifen und ich hörte schon, wie die Jäger, die um mich herumstanden und den Wolf und mich mit Argusaugen beobachteten, ihre Waffen zogen. Die Jäger sahen ihn ihm einen Feind, weil er mein Leben bedrohte, aber der Wolf vor mir war kein Feind, es war Nate. Nate, der gerade erst wieder zurück war. Nate, der seine Gestalt wiederhatte. Nate, der seine Gestalt anscheinend nicht mehr unter Kontrolle hatte – und dann sprang er mit offenem Maul auf mich zu.
Bevor seine Zähne mich erreichten, nahm auch ich Wolfsgestalt an und fing seinen Angriff ab. Laute Knurrgeräusche kamen aus unseren Kehlen und wir verbissen uns in das Fell des Gegners. Ich war stärker als er und landete ein paar gute Treffer, so gut, dass ich es schaffte, ihn aus der Halle zu drängen, weg von der Menschenansammlung, die sich hier aufgrund seiner Rückkehr eingefunden hatte. Die Wache am Eingang konnte gerade noch rechtzeitig die Tür öffnen, bevor der Wolf nach draußen raste und ich hinterher. Der Wind peitschte mir ins Gesicht und kleine Regentropfen, die vom Himmel fielen, verfingen sich in meinem Fell. Nate lief auf den Wald zu, der ihm mehr Sichtschutz bot als das offene Gelände … so wie es jedes gejagte Tier tun würde. Eindeutig hatten bei ihm die tierischen Instinkte die Oberhand gewonnen. Gerade als er die ersten Bäume erreichte, schaffte ich es, mich auf ihn zu stürzen. Ich biss fest in seinen hinteren Lauf und zog ihn so mit einem Ruck zurück. Als ich wieder losließ, wagte er noch einen Fluchtversuch, doch ich sprang auf ihn und verbiss mich in seinem Fell. Die zweite wilde Beißerei entstand, die ich wieder dominierte. Nate verlor viel Blut und ich merkte durch seine verlangsamten Reaktionen, dass er am Ende seiner Kräfte war. Ich machte so lange weiter, ohne ihn dabei ernsthaft zu verletzen, bis er seiner Erschöpfung wegen wieder fähig war, sich selbst zurückzuverwandeln. Meine Strategie ging auf.
»Oh Gott, Emma, es tut mir so leid. Ich wollte dich nicht angreifen.«
»Es ist schon gut, Nate«, sagte ich, wieder in der Haut eines Menschen. Er lag auf dem Boden, während ich über ihm stand. Als er wieder auf seine Beine sprang, kämpfte er kurz mit seinem Gleichgewicht. Die Auseinandersetzung hatte ihn sichtlich erschöpft.
»Ich weiß auch nicht, was los ist und warum ich mich immer wieder unkontrolliert verwandle. Seitdem ich den Wolf zurückhabe, fühle ich mich wie ein Anfänger, es ist so, als ob ich alles neu erlernen müsste.« Ich trat näher und schlang meine Arme um ihn.
»Das ist kein Problem«, tröstete ich ihn. »Du wirst schnell zu deiner alten Form zurückfinden. Ich bin einfach nur froh, dass du hier bist.« Die starken Gefühle der Lebenspartnerschaft trieben mich dazu, mich noch enger an ihn zu schmiegen und dann küsste er mich endlich wieder. Während wir vollkommen versunken waren in unseren Zärtlichkeiten, hörte ich Schritte von mehreren Menschen auf uns zukommen. Als ich mich von Nate löste, sah ich, dass meine Wachen um mich herumstanden. Wahrscheinlich dachten sie, ich würde ihre Hilfe beim Kampf gegen Nate brauchen. Es war mir sehr unangenehm, von ihnen angestarrt zu werden.
»Ich glaube, wir sollten uns an einen Ort zurückziehen, an dem wir ungestörter sind«, schlug ich vor.
***
»Findest du es so schlimm?« Nate stand mit freiem Oberkörper vor mir und ich sah das ganze Ausmaß seiner Entstellung. Die Haut war tiefschwarz an der Schulter, dem Übergang vom Schlüsselbein zur Brust und seinem Oberarm. Es glänzte im Sonnenlicht wie flüssiges Öl. Doch das war noch nicht alles, denn von den betroffenen Hautstellen ausgehend verliefen schwarze Adern, die sich über den Unterarm, die Brust und den Halsansatz schlängelten. Ich konnte nicht anders und schlug die Hand vor meinen weit aufgerissenen Mund. Doch dann besann ich mich und nahm den Arm wieder herunter. Nate war hier, er war wohlbehalten zurückgekommen und auch wenn sein Körper nicht mehr ohne Makel war, hatte er seinen Grauwolf zurück.
»Ich weiß, es sieht schrecklich aus, aber wir werden uns daran gewöhnen und ehrlich gesagt war ich schon lange nicht mehr so glücklich. Endlich bin ich wieder vollständig, der Wolf ist wieder in mir und ich bin der Nate, der ich einmal war.«
»Das freut mich so«, sagte ich und lächelte ihn glücklich an.
»Und dann erst die Lebenspartnerschaftsgefühle …« Er lachte, »… sie explodieren in mir wie kleine Feuerwerkskörper. Da nehme ich das hier gerne in Kauf.« Er zeigte dabei auf seinen Oberkörper. Ich trat zaghaft einen Schritt näher zu ihm.
»Mir geht es nicht anders«, sagte ich und dann stand ich vor ihm. Zögerlich streckte ich meinen Arm nach ihm aus. Ich wollte seine Haut berühren, dort, wo sie schwarz war, ich wollte herausfinden, ob sich diese Stelle anders unter meinen Fingern anfühlte.
»Darf ich?«, fragte ich.
»Natürlich, Emma, du darfst mich immer und überall berühren.« Das war das erste Mal, seitdem er zurück war, dass ich Unsicherheit in seinen Augen sah, wahrscheinlich lag es an meiner Frage. Aber irgendwie konnte ich nichts dagegen tun. Auch wenn Nate immer noch der schönste Mann auf der Welt für mich war, diese Entstellung war fremdartig für mich, daran musste ich mich erst noch gewöhnen. Ganz sanft strich ich über sein Schlüsselbein bis hin zu seiner Brust. Es war kaum ein Unterschied zu spüren. Die Haut war vielleicht etwas rauer, aber ansonsten fühlte sich Nate an wie Nate. Das erleichterte mich sehr und die Lebenspartnerschaftsgefühle taten ihren Rest, indem sie mir einen Schauer nach dem anderen über den Körper jagten.
»Und?«, fragte er. »Wie fühlt es sich an?«
»Es prickelt überall«, sagte ich und lächelte ihn verliebt an. »So wie früher.« Damit meinte ich die Lebenspartnerschaftsgefühle, die wieder da waren, und er verstand sofort. Seine Augen strahlten mich an und in ihnen war die Liebe zu sehen, die er für mich empfand.
Meine Finger glitten tiefer. Die elektrischen Schauer strömten durch mich hindurch, bis zu meinem Bauch, in dem plötzlich tausende Schmetterlinge zu flattern begannen. Auch wenn ich gewollt hätte, hätte ich nicht aufhören können, ihn zu berühren. Er packte meine Schultern, zog mich noch näher an sich heran und dann umgriff er meine Hände und drückte sie zu seinem Hosenbund. In seinen Augen war jetzt nicht nur Liebe, sondern auch Verlangen zu erkennen. Ich wusste genau, was er wollte, denn ich sehnte mich auch danach.
Nates warme Lippen bedeckten meinen Mund, während ich ihm die Hose öffnete. Die Lebenspartnerschaftsgefühle durchflossen meinen Körper, wie lange hatte ich mich schon danach gesehnt, sie durch ihn zu fühlen. Es war wie ein süchtig machender Schauer, der immer wieder durch meinen Körper floss.
Er umfasste mich so fest, als ob er mich nie wieder loslassen wollte, bettete seinen Kopf an meine Schulter und ich spürte, wie sein Atem schneller wurde zwischen den prickelnden Küssen, die er auf meine Haut hauchte.
Es war verrückt, er war gerade erst angekommen und eigentlich hatte ich so viele Fragen und er bestimmt viel zu erzählen. All diese Gedanken wurden untergraben von dem großen Verlangen, das befriedigt werden wollte.
Ich spürte, wie seine Hände unter mein Schlafanzugoberteil wanderten und mir entschlüpfte ein Keuchen. Ich wollte von ihm berührt werden … überall und das sofort. Seine Küsse wurden fordernder und auch ich wollte nicht länger warten. Ich versuchte mit meinen Fingern unter seine Boxershorts zu schlüpfen, aber plötzlich umklammerte er meine Handgelenke und hob meine Arme über den Kopf. Mit einem Ruck zog er mein Oberteil über meinen Kopf.
Erst dachte ich, er würde mich wieder küssen, aber dann trat er einen Schritt zurück und musterte mich mit einem begehrenden Blick. »Oh, Emma, wie schön du bist«, flüsterte er. Irgendwie war mir das zuerst unangenehm, aber als ich sah, wie ernst er das Gesagte meinte, fühlte ich mich wie die schönste Frau auf Erden. Dann war er mir wieder ganz nah, schaute mir unverwandt in die Augen, während er eine Haarsträhne aus meinem Gesicht strich. Er umschlang meinen Hinterkopf und zog mich in einen langen intensiven Kuss, der mir den Atem raubte. Ich konnte nicht länger warten und er auch nicht. Ganz langsam entblätterten wir uns, während wir uns weiter liebkosten und dann schließlich zusammen auf das Bett sanken.
***
Es war so schön, diesen vertrauten Geruch von Nate aufzunehmen. Mein Kopf war auf seine nackte Brust gebettet. Ich strich mit meiner Hand sanft über seine weiche Haut und atmete noch mal tief ein, um seinen Geruch auszukosten, der schon viel zu lange aus der Bettwäsche verschwunden gewesen war. Ganz langsam glitten meine Fingernägel in Schlangenlinien über seinen Oberkörper und als ich seinen Bauch erreichte, zuckte er zusammen. »Das kitzelt«, sagte er und legte seine Hand auf meine, um mich daran zu hindern weiterzumachen. Ich beobachtete, wie seine gerade eben entstandene Gänsehaut sich wieder zurückbildete. Seine Finger verflochten sich mit meinen. Meine Augen wanderten weiter von seinem harten Bauch über seine makellose Brustmuskulatur bis hin zu seinem kräftigen Unterarm.
Dann blieb mein Blick an der schwarzen Haut hängen und ich konnte ihn nicht mehr abwenden. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen … vor ein paar Stunden hatte er mir erklärt, dass dieser Makel von der Vereinigung mit seinem Wolf stammen würde. Jedoch war ich mit dieser Erklärung noch nicht ganz zufrieden und ehe ich mich versah, wurde mein Kopf überschwemmt von all den Fragen, die ich ihm über seine Reise stellen wollte. Ich fing mit der ersten an, die mich überkam.
»Was ist eigentlich passiert, nachdem wir das letzte Mal telefoniert haben?«, fragte ich. Das letzte Lebenszeichen hatte ich vor zwei oder drei Wochen von ihm bekommen und dafür wollte ich eine Erklärung. Ich spürte, wie er sich plötzlich anspannte. Anstatt zu antworten, sagte er erst mal nichts.
»Ich meine, ich weiß, dass ihr den Yggdrasil gefunden habt, aber was war dann?«
»Ehrlich gesagt kann ich mich nicht mehr an alles erinnern. Vieles, das ich erlebt habe, ist einfach verschwunden.«
Ich spürte, wie sein Herz schneller schlug. Ihn schien die Ausfragerei ziemlich unter Stress zu setzen. Dennoch musste ich unbedingt wissen, was aus Samuel geworden war.
»Wo ist Samuel, was ist mit ihm passiert?«, fragte ich.
Auf einmal verkrampfte er sich völlig neben mir. Die Muskeln, auf denen ich lag, waren vor ein paar Sekunden noch weich gewesen, doch jetzt fühlten sie sich so hart an wie Stein.
»Er hat es leider nicht geschafft.« Mit einem Ruck entzog er mir seinen Arm und stand auf. Sofort überkam mich ein kalter Schauer, als ich neben mir die Leere spürte, die er hinterlassen hatte. Er stand mit dem Rücken zu mir und ich konnte den Blick auf seinen nackten Körper nicht abwenden. Ich bekam sofort wieder das Bedürfnis, ihm nahe zu sein, so nahe wie noch vor ein paar Minuten. Die Lebenspartnerschaft war wie eine Sucht, der man sich nicht entziehen konnte, auch wenn man gerade dabei war, ein ernstes Gespräch zu führen.
Er beugte sich hinunter, hob seine Boxershorts auf und zog sie sich über. Derweil setzte ich mich auf und beobachtete ihn. Als er seine Hose anzog, bewegten sich die harten Rückenmuskeln unter seiner Haut. Meine Augen wanderten höher, blieben an seiner ausgeprägten Schulterblattmuskulatur hängen und sofort spürte ich wieder die magische Anziehungskraft, die meinen Körper zu ihm hinzog. Ich wollte mich in diesen starken Armen wiederfinden, meine Lippen auf seine pressen und …
»Er hat es nicht geschafft, aber wie? Er ist doch gar nicht bis zum Yggdrasil gekommen, oder? Das durfte er auch gar nicht. Also … was ist passiert?«, fragte ich noch einmal und versuchte so, mich wieder auf die wichtigen Dinge zu fokussieren.
Er drehte sich zu mir um und blickte mich traurig an. »Ich kann jetzt noch nicht darüber reden.« Er wirkte richtig niedergeschlagen. Der Tod des Jägers schien ihn furchtbar mitzunehmen und ich wollte nur zu gerne wissen, wieso, drängen wollte ich ihn jedoch auch nicht.
»Tut mir leid, Nate, du bist gerade erst angekommen und ich löchere dich mit Fragen. Vielleicht kannst du mir einfach ein bisschen von deiner Reise erzählen, also natürlich nur die Dinge, für die du dich bereit fühlst.«
Er griff nach seinem T-Shirt und ich betete, dass er es nicht anzog. Ich presste die Lippen zusammen, als meine Augen sich schon wieder selbstständig machten.
»Ach ja?«, fragte er. »Möchtest du wirklich reden oder gibt es da etwas, was du lieber tun möchtest? So wie du mich anschaust.«
Ich sah, wie sein Mundwinkel sich schalkhaft nach oben schob. »Ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust auf Reden, besonders wenn du so halbnackt vor mir sitzt.«
Ich zog automatisch die Decke höher, um meine Brust zu bedecken.
Er schnalzte mit der Zunge. »Das wollte ich damit aber nicht erreichen«, sagte er lächelnd.
»Wir sollten wirklich reden«, machte ich noch einen jämmerlichen Versuch, aber als ich in seine dunklen Augen sah, die mein Verlangen widerspiegelten, war mein Verstand wie leergefegt und es verschlimmerte sich noch, als er plötzlich auf mich zukam. Seine kraftvollen Arme stemmten sich auf das Bett und er kroch auf mich zu. Verlangen lag in seinem Blick, dann entriss er mir mit einer schnellen Bewegung die Decke, sodass ich nackt vor ihm saß. »Schon besser«, hauchte er und dann lag ich plötzlich wieder auf dem Rücken und er war über mir.
***
»Emma, endlich erwische ich dich«, sagte William. Er kam durch die Küchentür. Ich gönnte mir gerade ein großes Frühstück. Nate und ich waren gestern nicht mehr aus dem Zimmer gekommen und nach unserer kraftraubenden Aktivität hatte mich mein ziemlich großer Hunger aus dem Bett getrieben. Er dagegen hatte noch geschlafen, als ich das Zimmer verlassen hatte. William setzte sich zu mir an den kleinen Küchentisch.
»Ist bei dir alles in Ordnung?«, fragte er. Ich schaute ihn böse an. Ich gab ihm dafür die Schuld, dass ich ganz unvorbereitet auf Nates Entstellung gewesen war. Für mich war das wirklich ein großer Schock gewesen und das hätte nicht sein müssen.
»Wenn du damit meinst, ob ich seine Verletzung gesehen habe und ob ich deswegen nicht ohnmächtig geworden bin, ja, dann kann ich dir sagen, dass bei mir alles in Ordnung ist.«
Verwirrt schaute er mich an.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass er für immer gezeichnet ist?«, machte ich ihm daraus einen Vorwurf.
»Das habe ich doch versucht, aber du bist so schnell zu Nate gerannt, dass ich gar keine Chance hatte, dir noch etwas zu sagen.«
Ich erinnerte mich an Williams Worte, nachdem ich von Andrea erfahren hatte, dass Nate wieder da war. Er hatte gesagt, Nate wäre nicht mehr derselbe. Das also hatte er damit gemeint und ja, er hatte recht, ich war einfach losgerannt, ohne ihm weiter zuzuhören. Aber er hätte mich doch aufhalten oder mir hinterherrennen können. Irgendwas …
»Aber eigentlich meinte ich das gar nicht, sondern die Sache mit Harry. Hast du das gut verkraftet?«, fragte er. Harry, der Jäger, dem ich am meisten vertraut hatte, hatte es geschafft, meine Befehle als Oberste zu umgehen. Harry, der sich mit den abtrünnigen Novizen gegen mich verschworen und gemeinsam mit ihnen ein Attentat geplant hatte.
»Mir geht es gut.«
Er warf mir einen prüfenden Blick zu.
»Er hat mich betrogen und wollte mich umbringen, okay, das ist eine schlimme Sache, aber mir ist schon weitaus Schlimmeres widerfahren, dementsprechend habe ich es einfach abgehakt«, sagte ich monoton und zuckte mit den Schultern.
»Ich glaube, es würde dir guttun, wenn du mit dem gefangenen Novizen sprechen würdest. Er könnte dir noch einige deiner Fragen beantworten, vielleicht kannst du mit der Sache dann besser abschließen.«
»Ich habe damit schon abgeschlossen, keine Sorge.« Obwohl ich es nicht wollte, klang meine Stimme genervt.
William presste die Lippen zusammen. »Dann wird es für dich ja auch ein Leichtes sein, dir eine Bestrafung für den Novizen auszudenken. Carlton hat mir erklärt, dass du als Oberste das Strafmaß festlegen musst. Er macht übrigens den Job besser als sein Vorgänger Harry.« Carlton hatte ich nach dem Tod von Harry als neuen Verantwortlichen für die Bibliothek bestimmt und den freien Platz im Rat hatte er auch übernommen.
Meine Augen weiteten sich. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber William hatte recht, der Kodex sah vor, die Novizen zu bestrafen, die sich nicht an die Regeln hielten, und der Oberste musste über die Strafe entscheiden. Da die Novizen noch nicht an den Befehl des Obersten gebunden waren, mussten sie anders gezwungen werden, sich an den Kodex zu halten und das bedeutete Bestrafung bei Fehltritten.
Eigentlich war es Harrys Aufgabe gewesen, mich an so etwas zu erinnern, aber er war ja nicht mehr da und ehrlich gesagt war ich froh darüber, dass er nicht mehr am Leben war. Sonst hätte ich mir auch für ihn eine Bestrafung ausdenken müssen und das wäre mir mit Sicherheit schwergefallen. Ich runzelte die Stirn und seufzte leise.
»Du solltest mit Carlton darüber reden, er wird wissen, was zu tun ist«, gab mir William zu bedenken. »In deinem süßen Köpfchen sind bestimmt keine gängigen Foltermethoden vorhanden, die du für solche Fälle abrufen kannst. Deswegen ist Carlton der richtige Mann, der dir helfen kann.« Er lachte rau, seine Version vom Kichern. »O Gott, jetzt fange ich auch noch an zu reimen, ich sollte lieber die Klappe halten.«
»Gut«, sagte ich, immer noch völlig ernst.
»Am besten so schnell wie möglich«, setzte er noch drauf.
»Okay«, gab ich mich geschlagen. Warum war William im Moment so nervig?
»Dann ist da noch eine Sache, über die du Bescheid wissen solltest … der Gestaltwandler, den wir in der Nähe der toten Novizen gefunden haben …«
»Habt ihr ihn schon befragt?«, unterbrach ich William.
»Das wollte ich dir gerade sagen, es ist unmöglich, ihn zu befragen.«
Verdutzt schaute ich ihn an. »Warum?«
»Er verwandelt sich einfach nicht zurück. Ich habe ihn noch nie in Menschengestalt gesehen. Für diesen Trottel mussten wir deswegen einen illegalen Tiertransport von Norwegen bis hierher durchführen. Glücklicherweise waren die Grenzkontrolleure doch bestechlicher als erwartet.«
»Und was meinst du, sollen wir tun? Wir können ihn ja schlecht zwingen, sich in einen Menschen zu verwandeln.«
»Genau genommen gibt es da schon ein paar Methoden. Das würde ich aber mit euch allen gerne morgen früh bereden. Du kommst doch zur morgendlichen Besprechung, oder?«
»Welche Besprechung?«
»Ach, hat dir das Liam noch nicht erzählt? Bis auf Montag und Donnerstag treffen wir uns täglich um 8, aber nur George, Liam und ich, manchmal kommt auch Merle dazu. Eigentlich ist es keine richtige Besprechung, sondern mehr ein Austausch oder Auskotzen über Probleme. Da du ja sowieso wieder alles in die Hand nehmen wirst, kannst du dann auch darüber entscheiden, ob diese Treffen weiter bestehen bleiben sollen.«
»Das Erste, was ich tun werde, wird bestimmt nicht die Abschaffung eurer kleinen Therapietreffen sein. Ich bin gerne dabei, da ich auch einiges habe, über das ich mich auskotzen könnte.«
»Das fällt mir schwer zu glauben, …« Er lächelte mich wissend an. »… so wie du die ganze Zeit lächelst. Du strahlst pures Glück aus, als wärst du frisch verliebt.«
»Ja, aber deswegen vergesse ich nicht die Probleme, die mich hier als Oberste erwarten. Es gibt viel zu tun nach dieser langen Pause.«
»Stimmt, und es wird wohl besser sein, wenn du gleich damit anfängst. Sonst wächst Liam noch alles über den Kopf.« Er klopfte auf den Tisch. »Ich muss jetzt zum Unterricht. Wir sprechen uns später.«
Eigentlich hatte ich gehofft, den Tag noch ungestört mit Nate verbringen zu können, aber William hatte recht, ich sollte endlich wieder etwas Nützliches tun und zwar sofort. Seit dem Angriff der Novizen hatte ich nicht mehr gearbeitet, erst war ich zu verletzt gewesen, dann hatte ich um Nate getrauert, weil ich dachte, er wäre tot. Aber nun war ich wieder fit und Nate war auch wieder hier und dazu lebendig. Ich hätte zwar gerne noch mehr Zeit mit ihm ohne die störende Arbeit verbracht, aber alles war schon zu lange an Liam hängen geblieben. Nun gab es keine Entschuldigungen mehr für mich. Ich musste endlich wieder arbeiten.
Ich ging gleich in mein Arbeitszimmer. Andrea warnte mich vor, dass Merle, Liam und Carlton, der die Nachfolge von Harry angetreten hatte und auch Ratsmitglied war, sich in meinem Arbeitszimmer befanden. Als ich die Tür öffnete, verstummten sie sofort.
»Emma, ich wusste nicht, dass du heute kommen würdest«, sagte Liam und räumte sofort den Platz hinter dem Schreibtisch.
»Ich kann mich nicht länger vor meinen Pflichten drücken«, antwortete ich. Carlton grüßte mich mit dem Jägergruß, während Liam in einem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz nahm.
»Was besprecht ihr gerade?«
Liam nahm seine liegen gelassenen Zettel an sich und fing an zu erzählen: »Ich glaube es wird dich freuen zu hören, dass wir große Fortschritte mit dem Kodex gemacht haben. Carlton leistet wirklich hervorragende Arbeit und wenn es so weitergeht, dann werden wir noch diesen Monat fertig.«
Carlton, der neue Harry, schien seine Pflichten gut zu erfüllen.
»Wirklich?«, fragte ich. Ich konnte die Skepsis in meiner Stimme nicht verbergen. Merle nickte bestätigend. Sie war offenbar der gleichen Meinung.
»Wie ist das möglich?«, fragte ich. Das war zu gut, um wahr zu sein.
»Mein großes Ziel ist es, den Weg zu einem harmonischen Zusammenleben der Gestaltwandler und Jäger zu ebnen. Deswegen arbeite ich fast rund um die Uhr am Kodex«, sagte Carlton.
»Okay«, antwortete ich zögerlich. Ich wusste nicht, wie ich das einordnen sollte. Zwar stand ich hinter Carlton, ich hatte ihn nicht umsonst ausgewählt, aber trotzdem konnte ich seine Begeisterung für das Zusammenführen von Gestaltwandlern und Jägern nicht nachvollziehen. Dafür kannte ich die Jäger zu gut.
»Darf ich wissen, warum dir als Jäger daran gelegen ist, die Jäger und Gestaltwandler zusammenzuführen?«, fragte ich.
»Mein Sohn ist mit einer Gestaltwandlerin zusammen. Ihr Name ist Lia, Sie kennen sie und meinen Sohn und haben beide an dem Abend der Gründungsfeier des Hauptsitzes vor Gestaltwandlern gerettet. Vielen Dank noch mal und auch danke dafür, dass Sie den Bruder von Lia aus dem Zentrum ausgeschlossen haben.«
Ich erinnerte mich an den Kampf gegen Lias Bruder und eine Freundin von ihm. »Das habe ich doch gerne gemacht«, sagte ich.
»Lia ist ein wundervoller Mensch«, erzählte er weiter. »Ich meine, als ich erfahren habe, dass mein Sohn eine Gestaltwandlerin liebt, bin ich zuerst geschockt gewesen, aber nachdem ich sie kennengelernt habe … ehrlich gesagt war ich noch nie ein Anhänger der Vorstellungen der Jäger. Ich habe getan, was ich tun musste, und jedem Obersten gehorcht, seitdem ich den Schwur geleistet hatte, aber tief in mir wusste ich, dass vieles falsch war. Vielleicht lag das auch an der Erziehung durch meine Mutter, sie war ein Mensch und hat mir beigebracht, dass jeder Mensch gleich ist. Nur leider konnte ich meiner Bestimmung nicht entfliehen. Bei Ihnen habe ich ein gutes Gefühl, ich glaube, Sie können wirklich etwas verändern.«
Ich lächelte geschmeichelt. »Wie ist der Name deines Sohnes?«
»Jasper. Ich weiß, dass Sie ihn beschützt haben, als er von Gestaltwandlern angegriffen wurde, und dafür danke ich Ihnen. Ich möchte, dass er ein Leben führen kann, in dem er alleine die Entscheidungen trifft, er soll frei sein von äußeren Zwängen. Deswegen versuche ich den Kodex so schnell wie möglich zu erneuern.«
»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Dann macht an der Stelle weiter, an der ihr aufgehört habt, und ich versuche in das Thema hineinzufinden.«
Es war gut, ihrem Gespräch zuzuhören. Sie waren wirklich erstaunlich weit gekommen und mit ihrem Erfolg war der Druck in mir nicht mehr so groß.
Wir waren fast am Ende unseres Gesprächs, als es an der Tür klopfte.
»Herein«, rief ich. Keine Sekunde später wurde die Tür geöffnet und Nate erschien.
»Hey«, begrüßte er uns und stolzierte selbstbewusst in den Raum. Er hatte sich verändert, seitdem er seinen Wolf wiederhatte, das sah man ihm an. Er kam auf mich zu, legte eine Hand um meinen Hinterkopf und zog mich in einen leidenschaftlichen Kuss. Die Lebenspartnerschaftsgefühle in mir tobten. Ich konnte nicht aufhören ihn zu küssen, auch wenn es in dieser Situation eigentlich nicht angebracht war. Wenn er den Kuss nicht beendet hätte, dann hätte ich ewig so weitergemacht.
»Tut mir leid, ich wollte eigentlich nicht stören, aber ich habe meine Verlobte heute noch nicht gesehen und wollte ihr wenigstens kurz Hallo sagen.« Sein Blick war auf Liam gerichtet, der ihn nicht erwiderte, sondern nur auf seine Unterlagen starrte.
Was sollte das? Er wollte doch nicht etwa sein Revier markieren?
»Essen wir gleich zusammen zu Mittag?«, fragte mich Nate.
»Ja, in zwanzig Minuten können wir uns gerne im Salon treffen«, antwortete ich.
»Liam, möchtest du mit uns essen?«, fragte Nate.
»Nein danke, ich muss noch etwas erledigen.«
Nate zuckte mit den Schultern. »Dann beim nächsten Mal.« An mich gewandt sagte er: »Ich warte draußen auf dich.« Natürlich ging Nate nicht hinaus, ohne mir einen Abschiedskuss zu geben. Ich konnte nicht anders und schaute ihm schmachtend nach, während er das Arbeitszimmer verließ.
***
»Das ist köstlich«, schwärmte er. Wir saßen im Salon am Tisch und aßen mit Spinat gefüllte Cannelloni.
Es war etwas schwer, den Nudelteig nur mit der Gabel zu durchtrennen, aber um keinen Preis der Welt hätte ich Nates Hand losgelassen, um mein Messer zu Hilfe zu nehmen.
»Ich würde gerne wieder anfangen, als Lehrer zu arbeiten und die Gestaltwandler unterrichten«, sagte er.
»Natürlich, wir können später mit George reden, er hat bestimmt einen Platz für dich frei.«
Er lächelte zufrieden.
»Jetzt, da ich wieder ein vollständiger Gestaltwandler bin, erhoffe ich mir auch andere Lehreinheiten zu übernehmen. Die Entspannungsübungen sind etwas langweilig … übrigens ist das Wetter heute wirklich schön. Vielleicht könnten wir es ausnutzen und als Wölfe das Schlossgelände unsicher machen? Ich würde mich so sehr darüber freuen, mit dir zusammen nach so langer Zeit endlich wieder in Wolfsgestalt rennen zu können.«
Er hörte gar nicht mehr auf zu reden. Nur leider erzählte er nichts über seine Erlebnisse. Es schien fast so, als ob er mich nicht zu Wort kommen lassen wollte, damit ich ihn nicht danach fragen konnte.
»Wo ist eigentlich das Harz? Du hast es doch, oder?« Ehrlich gesagt war mir erst heute Morgen das Versprechen gegenüber dem Geist des Yggdrasils eingefallen, wonach ich geschworen hatte, das Harz zu trinken. Die Gefühle zu Nate hatten wirklich alles überdeckt, selbst diese wichtige Verpflichtung, die ich eingegangen war.
Er nickte.
»Gibst du es mir nach dem Essen? Ich sollte es so schnell wie möglich zu mir nehmen, damit ich mein Versprechen gegenüber dem Geist des Yggdrasils einhalte.«
»Später, ich muss es noch auspacken und dann …«, er umschloss meine Hand so stark, dass es schmerzte, »… dann werde ich es dir geben.« Er lockerte seinen Griff, führte meine Hand an seinen Mund und hauchte mir einen sanften Kuss auf die Haut. »Vorher aber möchte ich, dass du mit mir als Wolf über das Schlossgelände jagst.«
»Hältst du das für eine gute Idee, wenn du deine Tiergestalt nicht mehr unter Kontrolle hast?«
»Das ist immer nur zu bestimmten Momenten so und auch nur dann, wenn ich die Verwandlung nicht selbst initiiere.«
Verdutzt schaute ich ihn an.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann es mir auch nicht erklären«, sagte er.
»Nate, dennoch sollte ich es gleich machen, immerhin habe ich es ihm versprochen. Du bist jetzt schon seit zwei Tagen hier und mein schlechtes Gewissen gegenüber dem Geist des Yggdrasils wird mit jeder weiteren Stunde, in der ich das Harz nicht getrunken habe, größer. Es geht hier immerhin auch um die Geschichte der Gestaltwandler und Jäger und ich bin – als einzige Vertraute dafür verantwortlich, dass sie bestehen bleibt.«
»Du hast eigentlich recht, Emma, aber dir wird es heute ohnehin nicht möglich sein, das Harz zu trinken.«
»Wieso?«, fragte ich.
»Der Geist des Yggdrasils hat mir genaue Instruktionen gegeben. Es muss Vollmond sein, so wie damals bei Thorwin, als er den Yggdrasil gefunden hat.«
»Das verstehe ich nicht. Die Benennung des Obersten wurde nie zum Vollmond durchgeführt und nach dem, was wir wissen, wurde das Harz in den Minnebecher gefüllt, damit der Oberste auch gleichzeitig zum Vertrauten Thorwins wird.«
»Stimmt, damit hast du recht. Aber es gibt keine Vertrauten mehr und das ist der bezeichnende Unterschied. Du wirst keine Vertraute sein, du wirst in die Fußstapfen von Thorwin treten. So hat er es mir erklärt.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Ein Vertrauter zu werden war damals in der Jägerschaft eine Übertragung von Wissen an eine andere erwählte Person. Da hat es ausgereicht, das Harz einfach an diesen Menschen weiterzugeben. Aber jetzt existiert dieses Wissen nicht mehr in der Menschenwelt. Es muss erst in deinem Geist neu erzeugt werden und das hat zur Folge, dass du an einen festen Zeitpunkt gebunden bist – den Vollmond. Erst dann kannst du es empfangen.«
»Okay!? Und wann ist der nächste Vollmond?«
»In genau drei Wochen.«
»So lange noch!?« Ich hatte gehofft, noch ein paar Antworten zu erlangen, wenn schon nicht von Nate, dann hätte ich wenigstens gerne vom Geist des Yggdrasils erfahren, was geschehen war, als Nate den Baum erreicht hatte. Aber wie es aussah, musste ich mich wohl noch ein bisschen gedulden.
***
So wie Nate es vorgeschlagen hatte, verwandelten wir uns nach dem Mittagessen in Wölfe und liefen über das Schlossgelände. Das Glück, welches ich dabei empfand, war nicht in Worte zu fassen. Nate war wunderschön als Mensch, aber als Wolf schien er fast noch schöner.
Zuerst war es merkwürdig, ihn wieder in Wolfsgestalt zu sehen. Er wirkte irgendwie anders, sein Fell war dunkler, aber dann wurde mir klar, dass es wahrscheinlich einfach nur daran lag, dass ich ihn schon so lange nicht mehr als Wolf gesehen hatte, ausgenommen bei unserem Kampf am ersten Tag, da konnte ich ihn aber nicht so intensiv betrachten wie jetzt. Während wir in Richtung Wald rannten, waren alle bedrückenden Gedanken verflogen. Ein Wolf zu sein war so komplett anders in Hinblick auf den Schneeleoparden, besonders wenn man als kleines Rudel unterwegs war. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter Wölfen war viel stärker. Schneeleoparden waren Einzelgänger, aber Wölfe brauchten ihr Rudel und so war es ein befreiendes Gefühl, endlich wieder mit einem anderen Wolf unterwegs zu sein. Der Wolf fühlte sich komplett, ich fühlte mich komplett.
***
»Danach habe ich mich gesehnt«, flüsterte Nate in mein Ohr und dann beugte er sich zu mir und küsste mich. Dieser Kuss war unglaublich, so voller Liebe, Erleichterung und Zugehörigkeit. Wir gehörten zusammen, ob als Mensch oder als Wolf, und das würde sich niemals ändern. Wir standen vor dem Eingang des Schlosses und konnten mal wieder unsere Finger nicht voneinander lassen.
Leider wurden wir von Andrea unterbrochen. »Oberste«, sprach sie mich an. Nate und ich hörten sofort auf uns zu küssen.
»George hat mir aufgetragen, Sie an Ihren Unterricht zu erinnern.«
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Er sagte, wenn Sie körperlich fit genug sind, sollen Sie den Unterricht wieder übernehmen.«
Warum hat George mir das nicht persönlich gesagt, er kann doch nicht meine Leibdienerin dafür nutzen.
»Danke, Andrea«, sagte ich und sie verließ mich wieder.
Ich seufzte schwer, ich wollte nicht wieder Lehrerin sein, besonders angesichts der Tatsache, dass ich auf dem Weg zu meiner letzten Unterrichtseinheit angegriffen worden war. Das lastete noch immer auf mir.
»Soll ich den Unterricht für dich übernehmen?«, fragte Nate.
Fragend schaute ich ihn an.
»Ich würde gerne. Du weißt, dass ich gerne unterrichte«, fügte Nate noch hinzu.
Ich nickte. »Gut, dann übernimm heute meine Stunde und später werden wir mit George darüber reden, wie wir dich am besten einsetzen können.«
Er lächelte hinreißend. »Das freut mich so sehr.« Er gab mir noch einen Kuss, dann begleitete ich ihn zur Unterrichtsstunde und erzählte ihm alles über die Schüler und was ich ihnen vor dem Angriff beigebracht hatte. Er hörte aufmerksam zu und als ich ihn dann alleine in die Übungshalle gehen ließ, stand ich noch ein paar Minuten davor, um ihm zuzuhören. Er erklärte den Schülern, was er ihnen abverlangen würde.
Ein schönes Kribbeln ging durch meinen Körper, als ich hörte, mit welcher Freude er den Gestaltwandlern erklärte, wie sie am besten verhinderten, sich zu verwandeln.
Er wäre auch in der richtigen Welt ein guter Lehrer, ging es mir durch den Kopf. Aber glücklicherweise musste er nicht mehr zurück in die richtige Welt. Von nun an gehörte er wieder zu uns, in die Welt der Jäger und Gestaltwandler. Darüber war ich unendlich glücklich. Er hatte mir so gefehlt und endlich war er wieder bei mir. Wir beide zusammen ergaben ein Rudel und zwar für immer …
Ich hörte eine Stimme. Es war Nate, der redete, doch ich war noch zu müde, um zu hören, was er sagte. Ich rieb mir dir Augen. »Was ist los?«, fragte ich und eine Sekunde später spürte ich, wie er mich küsste, zuerst meine Wange, dann mein Kinn und schließlich meinen Mund.
Ich schlug die Augen auf und sah in seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen.
»Wir haben noch eine halbe Stunde, bis der Wecker klingelt …« Verheißungsvoll schaute er mich an und in meinem Bauch tanzten tausend Schmetterlinge, die mich sofort wach machten. Ich wollte nicht aus diesem Zimmer hinaus, ich wollte nur noch mit ihm zusammen sein und das für immer … ich wollte nur Nate … alles andere spielte für mich keine Rolle mehr.
***
»Wo warst du?«, fragte George. Ich traf ihn zufällig im Flur, als ich auf dem Weg zum Arbeitszimmer war. Ich hatte seinen Unterricht in Punktueller Verwandlung verpasst.
»Es tut mir leid, George. Ich habe verschlafen.« Ich hatte natürlich nicht verschlafen. Aus der halben Stunde mit Nate war eine Stunde geworden. Ich konnte mich einfach nicht von ihm losreißen, auch nicht für den Unterricht in Punktueller Verwandlung.
Er zog eine Augenbraue hoch. »Von dir hätte ich das am wenigsten erwartet, nicht in deiner Position.« Noch immer ruhte sein strenger Blick auf mir. »Emma, du musst langsam wieder anfangen, deine Pflichten zu erfüllen. Die Zeit der Schonung ist für dich vorbei.«
»Du hast vollkommen recht und es tut mir wirklich leid. Am Donnerstag werde ich wieder da sein, versprochen.«
»Das will ich auch hoffen, du bist diejenige, die am ungeübtesten ist und bisher auch wenig Talent für die punktuelle Verwandlung gezeigt hat.«
Na toll, das hatte gesessen.
Ein Jäger ging an uns vorbei, schaute uns ganz merkwürdig an, bevor er mich grüßte. Hatte er etwa gelauscht? Hatte er mitbekommen, wie ich, die Oberste, eine Standpauke von einem Rangniederen bekam?
»George«, sagte ich in einem mahnenden Ton. »Ich weiß, dass du es gewohnt bist, Schüler zurechtzuweisen, aber vergiss nicht, mit wem du hier sprichst.«
Georges Augen weiteten sich.
»Ich nehme immer gerne Ratschläge von dir an und wenn wir unter uns sind, habe ich auch kein Problem damit, dass du mich behandelst wie jeden anderen auch«, flüsterte ich. »Aber wir sind hier nicht unter uns und ich bin immer noch die Oberste. So ein Benehmen kann ich nicht akzeptieren.«
»Emma, tut mir leid, es kommt nicht wieder vor.«
Sah ich da etwa Verunsicherung in den Augen von George, der eigentlich immer so selbstbewusst wirkte?
»Du bist einfach noch so jung und manchmal vergesse ich, wo wir uns …«
Ich winkte ab. »Es ist schon gut, aber merke dir das fürs nächste Mal.«
Er nickte.
»Und jetzt schrei mich ruhig noch mal so richtig an. Damit auch wirklich alle hören, was für einen schlimmen Fehler ich begangen habe«, flüsterte er und zwinkerte mir zu.
»Das werde ich.« Ich atmete tief ein, musste dann aber grinsen, weil ich es so lächerlich fand, ihn mit seiner Erlaubnis anzubrüllen. Doch dann schaffte ich es, mich zusammenzureißen und schrie ihn so laut an, wie ich konnte. Irgendwie machte es Spaß, aber natürlich nur, weil es abgesprochen war. Danach konnte ich endlich in mein Arbeitszimmer verschwinden.
Noch war Liam nicht da, er hatte mir, als ich duschen war, auf die Mailbox gesprochen, gefragt, warum ich nicht bei Georges Unterricht sei, und mir mitgeteilt, dass er mich unbedingt sprechen müsse. Ich hatte ihm daraufhin eine Nachricht geschickt, um ihm zu sagen, dass er um 10 Uhr in meinem Arbeitszimmer vorbeischauen konnte.
Andrea kam herein. »Kann ich Ihnen etwas bringen?«, fragte sie.
»Einen Kaffee bitte, schwarz«, antwortete ich. Sie nickte und wollte gerade die Tür schließen, doch dann stand Liam hinter ihr.
»Darf ich?«, fragte er. Fragend schaute Andrea mich an. »Komm rein, Liam«, wandte ich mich zu ihm.
»Was möchten Sie trinken?«, fragte Andrea.
»Ich nehme einen Espresso, bitte.«
Liam trat auf den Schreibtisch zu, nachdem Andrea uns alleine gelassen hatte. Er sah müde und gestresst aus. Sonst konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen, wenn er mich sah, doch diesmal war sein Blick einfach neutral. Er ließ sich in den Stuhl sinken.
»Dann übernimmst du ab jetzt wieder die Führung?«, fragte er.
»Tut mir leid, dass ich dich so lange alleine gelassen habe – mit alldem hier. Es war bestimmt nicht einfach für dich.« Er rieb sich den Nacken und zuckte dann mit den Schultern. »Du musstest erst mal wieder richtig gesund werden und dann war da noch die Sache mit Nates Verschwinden …« Er verstummte und schien über etwas nachzudenken, doch dann ergriff er das Wort wieder. »Ich bin immerhin der stellvertretende Oberste und da muss ich damit rechnen, dich ab und zu ersetzen zu müssen.«
»Danke, dass du hier die Stellung gehalten hast.« Ich lächelte ihn an, doch auch jetzt wollte er mir kein Lächeln schenken. Er blieb ernst.
»Ich habe dir übrigens eine Zusammenfassung darüber geschrieben, was die letzten Wochen alles passiert ist.« Er zeigte auf einen kleinen Stapel von Blättern, der am Rand des Schreibtischs lag. »Das solltest du dir durchlesen und wenn du noch Fragen hast, kannst du mich gerne rufen lassen.«
»Ich schaue mir das gleich an«, versprach ich. »Du bist aber nicht nur deswegen hierhergekommen, um mich auf die Zusammenfassung hinzuweisen, oder?«
»Nein, nicht nur. Emma …« Er schaute mich sorgenvoll an. »Seit dem Attentat auf dich hat sich die Stimmung hier im Zentrum ziemlich stark verändert und ich weiß nicht, ob du das schon bemerkt hast.«
»Was meinst du? Mir ist nichts aufgefallen.«
»Du warst längere Zeit nicht einsatzfähig und deswegen ist es dir entgangen, aber die Jäger sind im Moment viel angriffslustiger.«
Andrea brachte die Getränke und ließ uns dann sofort wieder allein.
»Ich glaube, den Jägern hat es nicht unbedingt gefallen, so lange von mir, einem Gestaltwandler, geführt zu werden, außerdem hat der Anschlag auf dich, der fast tödlich gewesen wäre, ihnen gezeigt, dass du verwundbar bist.«
In seiner Stimme hörte ich keinerlei Emotionen, sein Ton war eher geschäftsmäßig, so als ob er nicht gerade über meinen Tod, der beinahe eingetreten war, sprechen würde. Das verwirrte mich sehr.
»Die Situation war schon vorher schwierig, du bist nicht ihre Wunschoberste, aber ich habe derzeit das Gefühl, dass die Stimmung zu kippen droht. Die Jäger scheinen den Gestaltwandlern gegenüber noch feindseliger zu sein und es gab auch schon ein paar Vorfälle, Auseinandersetzungen zwischen beiden Fraktionen«, erklärte er mir.
»Aber wie kann das sein? Die Jäger sind doch an meine Befehle gebunden, ich habe ihnen verboten, Gestaltwandlern wehzutun.«
»Das weiß ich, aber die Jäger werden immer kreativer darin, Schlupflöcher in deinen Befehlen zu finden. Zum Beispiel provozieren sie gerne Gestaltwandler, bis sie dann von ihnen angegriffen werden. Da du den Jägern erlaubt hast, sich zu verteidigen, können sie die Gestaltwandler in diesem Fall verletzen.«
Ich riss die Augen auf. »Wie habt ihr die Übeltäter bestraft?«
»Das ist auch so ein Problem, wenn wir die Kämpfenden getrennt haben, wurden beide von den jeweiligen Seiten geschützt, sodass wir nie wussten, wer wirklich angefangen hat.«
»Ist es wirklich so schlimm?«, fragte ich und wollte noch mal seine Bestätigung dafür hören, dass alles aus dem Ruder zu laufen schien.
»Ja, und ich bin nicht der Einzige, der dieser Ansicht ist.« Ich schluckte, ich hätte mir keine derartige Auszeit nehmen sollen. Das war absolut falsch gewesen.
»William hat mir erzählt, dass er dich auf die Bestrafung des Novizen angesprochen hat. Es ist wirklich wichtig, den Jägern zu zeigen, dass niemand ungeschoren davonkommt, wenn er dich verletzt. Am besten redest du mit Carlton, er weiß, was Oberste mit solch einem Verbrecher gemacht haben.«
Das hatte ich schon wieder vollkommen vergessen, obwohl es mir William erst gestern nahegelegt hatte, oder eher gesagt, ich hatte es verdrängt. Ich wollte mich nicht mit Bestrafung und Folter auseinandersetzen, denn ich hatte eine Ahnung, was Jäger mit Novizen oder Gestaltwandlern gemacht hatten. Dieses Wissen hatte ich durch meine Lektüre der Tagebücher der Obersten und Jace, der mich gezwungen hatte, Nate auszupeitschen.
»Ich möchte ihn nicht bestrafen oder gar hinrichten«, sagte ich zu Liam, der wirklich schockiert über meine Aussage schien.
»Das musst du aber, sonst bist du in den Augen der Jäger schwach, und auch wenn sie dich wegen ihrer Hörigkeit nicht töten können, werden sie einen Weg finden, um dich loszuwerden. Ohne angemessene Bestrafung des Novizen werden sie auch noch den letzten Respekt vor dir verlieren.«
Ich atmete laut aus. Diese Art von Mensch wollte ich nicht sein und deswegen wollte ich meine Untergegebenen auch keiner unmenschlichen Folter aussetzen, niemand, noch nicht einmal ein Attentäter, sollte so etwas erleiden. Ja, ich verspürte Wut auf den Novizen, der mich beinahe umgebracht und zusammen mit anderen einige junge Gestaltwandler verletzt hatte.
Zudem hatte das Attentat anscheinend noch andere Auswirkungen, wie die Erschwerung des Zusammenführens von Jägern und Gestaltwandlern, und genau aus diesem Grund sollte ich nach der Meinung von Liam ein Exempel statuieren, um meine Macht zu demonstrieren. Aber was bitte wurde von mir erwartet? Sollte ich ihn zum Tode verurteilen, am besten anschließend noch eigenhändig töten und das auf die grausamste Art und Weise? Wahrscheinlich wäre das noch nicht genug. Vorher musste ihn noch tagelang foltern – am besten vor den Augen aller, so wie es im Mittelalter üblich war.
Aber ich konnte niemanden einfach so umbringen, wenn er mich nicht angriff, und schon gar nicht konnte ich Wehrlose foltern. Natürlich hatte ich getötet, ich hatte Jäger umgebracht, viele sogar, aber die hatten immer zuerst angegriffen, und deswegen war das für mich eine Art Selbstverteidigung gewesen. Alles andere konnte ich nicht mit meiner Moral vereinbaren.
»Ich kann doch niemanden töten, der gefesselt und wehrlos ist.«
»Emma, du musst. Du solltest dir nicht zu viele Gedanken um eine einzelne Person machen, besonders wenn sie dich beinahe getötet hat.« Ich sah, wie er die Armlehne des Stuhls fester umklammerte. »Es geht hier um mehr als nur um dich und wenn du den Frieden nur aufrechterhalten kannst, indem du ihn umbringst, dann ist das eben so.«
»Das klingt ziemlich hart. Ich weiß nicht, ob ich so ein Mensch sein will, der sich durch die Verhängung von Todesstrafen seinen Respekt verschafft.«
»Wenn du es nicht kannst, dann befehlige jemanden, oder ich mache es für dich.« Schockiert schaute ich ihn an. Ich wusste, dass er nach dem Tod von Emily einige Zeit Dinge getan hatte, die ziemlich grausam waren, aber dennoch glaubte ich nicht daran, dass er wirklich den Tod des Novizen herbeiführen wollte.
Ich stand auf, denn noch länger konnte ich dieses Gespräch nicht ertragen, und wollte ihn so zum Gehen zwingen.
»Ich werde gleich mit Carlton reden und ihn fragen, was man als Oberste in solch einer Situation zu tun hat.«
Liam trank seinen Espresso in einem Zug aus. Meinen Kaffee, den ich in der Hitze der Diskussion einfach vergessen hatte, ließ ich stehen.
***
Es war komisch, die Bibliothek mit dem Wissen zu betreten, dass Harry nicht mehr da war. Er war immer hier gewesen, wirklich immer, und hatte sich um die Bücher gekümmert, fast so fürsorglich, als ob sie seine Kinder wären.
»Carlton?«, rief ich in den Raum hinein. Er trat hinter einem Bücherregal hervor.
»Oberste«, begrüßte er mich. Ich schilderte ihm den Grund für meinen Besuch und er bat mich, mich hinzusetzen.
»Für Bestrafungen gibt es auch ein Buch?«, fragte ich, als er mir die Lektüre auf den Tisch legte.
Er nickte. »Das sind Inspirationen für den Obersten. Foltermethoden, Bestrafungen und die Erfahrungen, die damit gemacht wurden.«
Mir wurde augenblicklich flau im Magen. Carlton schien zu merken, dass es mir nicht gut ging. »Sie müssen sich davon keine aussuchen, es liegt bei Ihnen, auf welche Art Sie den Novizen bestrafen möchten.«
»Reicht es nicht einfach aus, ihn im Verlies eingesperrt zu lassen?«
»Regelverstöße kommen in der Jägerschaft sehr selten vor und ein Anschlag auf die Oberste ist das schlimmste Verbrechen, das von einem Novizen begangen werden kann. In der momentanen Situation, in der die Jäger Ihnen nur aufgrund der Hörigkeit folgen, müssen Sie bei der Bestrafung des Novizen hart durchgreifen, das würde ich Ihnen zumindest raten. Zudem ist uns nicht bekannt, ob in den Reihen der hier lebenden Novizen nicht immer noch unerkannte Anhänger existieren. Diese müssen abgeschreckt werden.«
»Ich verstehe«, sagte ich und schluckte schwer. Wir hatten nicht viele Novizen, die hier lebten, aber auch die wenigen konnten innerhalb des Schlossgeländes viel Schlimmes anrichten. Sein Argument gab mir zu denken sowie auch die Worte von Liam, die ich gerade gehört hatte.
»Also muss es etwas sehr Grausames sein?«, fragte ich kleinlaut.
Er nickte. »Und es muss vor den Augen der Jäger stattfinden.«
Das setzte mich gar nicht unter Druck … Ich nahm das Buch an mich. »Ich werde mal einen Blick reinwerfen und wenn wir uns morgen früh mit den anderen treffen, besprechen wir alles Weitere.«
Ich verließ die Bibliothek mit einem unguten Gefühl. Das Buch mit den Bestrafungen wog schwer in meinem Arm. Ein Jäger lief an mir vorbei und würdigte mich keines Blickes. Obwohl er mich heute zum ersten Mal sah – worüber ich mir zu 100% sicher war, denn sein vernarbtes Gesicht wäre mir aufgefallen –, begrüßte er mich nicht.