Johannes Schädler
Es gibt in der öffentlichen Rede über den gesellschaftlichen Stellenwert von Menschen mit Behinderungen eine Tendenz, die ethischen Prinzipien und die programmatischen Leitbegriffe sehr hoch zu hängen. Betrachtet man die Entwicklung in einigen Bereichen der Behindertenpolitik und Behindertenhilfe etwas genauer, dann entsteht gelegentlich der Eindruck, dass – um im Bild zu bleiben – das Hochhängen dieser Prinzipien es auch erleichtert, mit der eigenen Praxis‚ darunter durchzukommen. Gleichwohl wird man davon ausgehen können, dass die zentralen Begriffe, die von den relevanten Akteuren in einem sozialen Feld gebraucht werden, Wesentliches darüber aussagen, an welchen Aufgaben gearbeitet wird.
Im Mittelpunkt des Fachdiskurses in der sozialen Rehabilitation von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung stehen seit geraumer Zeit Leitbegriffe wie „Normalisierung“, „Selbstbestimmung“, „Nichtdiskriminierung“, „Empowerment“ oder „Inklusion“ (vgl. Theunissen 2009, 27 ff.). Die Leitbegriffe – so könnte man sagen – fordern die Akteure auf, sich in ihren Aktivitäten um eine Stärkung des bürgerrechtlichen Status von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu bemühen. Hält man sich die Gegenbegriffe vor Augen („Besonderung“, „Fremdbestimmung“, „Diskriminierung“, „Entmächtigung“ oder „Ausgrenzung“), dann wird deutlich, dass die begriffsbildenden Akteure des Feldes die bisherigen professionellen Ansätze für die betreffenden Menschen recht kritisch einschätzen. Offensichtlich wird erheblicher Handlungsbedarf darin gesehen, die persönliche Integrität, das individuelle Entwicklungspotential und die Rechte von Menschen mit Lernschwierigkeiten vor Einschränkungen und Verletzungen zu schützen. Die Problematik des Feldes wird vielleicht auch verstärkt durch den diskreditierenden Begriff der „geistigen Behinderung“, der doch im Kern zu verstehen ist als Zuschreibung „allumfassender Dummheit“, die kaum individuell kompetent zu bewältigen ist. Zu Recht hat hier eine von Betroffenen eingeforderte kritische Begriffsdiskussion stattgefunden, die in der Bezeichnung „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ mündete. Dies Begrifflichkeit soll auch in diesem Text gebraucht werden, wenn kein sozialrechtlicher Zusammenhang besteht. Nur dann wird die Bezeichnung „geistig Behinderte“ verwendet.
Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, die Entwicklung der bürgerrechtlichen Position von Menschen mit Lernschwierigkeiten nachzuskizzieren.
Dabei werden einerseits positive Tendenzen im Hinblick auf zivile und politische Elemente des Staatsbürgerstatus identifiziert. Andererseits werden weitgehende Defizite im Hilfesystem aufgezeigt, die die Verwirklichungschancen staatsbürgerlicher Rechte erheblich einschränken. Dies muss notwendigerweise stark vergröbernd geschehen. Reformansätze – so das Argument – müssen daher so konzipiert werden, dass sie Probleme des Leistungsgeschehens (v. a. der Eingliederungshilfe) in einer bürgerrechtlichen Gesamtperspektive angehen. Der Text endet mit Ausführungen zum Handlungskonzept des „inklusiven Gemeinwesen“ in Verbindung mit Formen örtlicher Teilhabeplanung für Menschen mit Behinderungen.
Aufschlussreich für das Verständnis bürgerrechtlicher Zusammenhänge ist nach wie vor der klassische Text „Staatsbürgerrechte und soziale Klassen“ des englischen Soziologen Thomas H. Marshall, der 1950 veröffentlicht wurde und 1992 in deutscher Übersetzung erschien (Marshall 1992). In dieser berühmt gewordenen Abhandlung zu Staatsbürgerrechten argumentiert Marshall, dass ein voller bürgerrechtlicher Status („full citizenship“) dann gegeben ist, wenn in drei Dimensionen individuelle Rechte gesichert sind: in der Dimension der bürgerlichen (zivilen) Rechte, der politischen Rechte und der sozialen Rechte (Marshall 1992, 40 ff.). Die bürgerliche Dimension bezieht sich auf „jene Rechte, die notwendig sind, die individuelle Freiheit zu sichern: Freiheit der Person, Redefreiheit, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums, die Freiheit, gültige Verträge abzuschließen, und das Recht auf ein Gerichtsverfahren“ (ebd., 40). Marshall weist darauf hin, dass die Gerichtshöfe die Institutionen sind, die sich unmittelbar mit den bürgerlichen Rechten verbinden. Die politische Dimension des Staatsbürgersstatus sieht er in dem „Recht auf Teilnahme am Gebrauch politischer Macht“ (ebd.) entweder als Mitglied einer mit politischer Autorität ausgestatteten Köperschaft oder als Wähler einer solchen politischen Institution (z. B. eines Parlaments). Die soziale Dimension der Bürgerrechte schließlich reicht „vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards“ (ebd.). Die am engsten damit verbundenen Institutionen sind das Erziehungswesen und – im weiten Sinne gemeint – die Sozialen Dienste. Betrachtet man die Entwicklung der einzelnen Dimensionen, dann – so Marshall (ebd. 42 f.) – ist in ihrer Entwicklung und Verallgemeinerung zumindest idealtypisch eine historische Abfolge auszumachen.
Die Herausbildung der bürgerlichen Rechte lässt sich dem 18. Jahrhundert zuordnen. Zu Beginn der Bürgerrechtsentwicklung in der europäischen Moderne war der Staatsbürgerstatus vor allem verknüpft mit dem Recht, Verträge mit anderen Bürgern oder staatlichen Stellen abschließen zu können. Der klassische Liberalismus definierte den Bürger bis in das 19 Jh. hinein als geistig vollständig entwickelte erwachsene Person, die berechtigt und in der Lage ist, Vertragsabschlüsse zu tätigen und diese Fähigkeit dazu gebraucht, für sich selber zu sorgen und selbstbestimmt zu leben. Der „Bürger“ in diesem Sinne war männlich, von weißer Hautfarbe und frei (von Leibeigenschaft), verfügte über Besitz und stand einem Haushalt vor. Auf dieser Grundlage „handelte“ der „Bürger“ mit anderen gleichgestellten „Bürgern“, er schloss Verträge und formte dadurch ein Netzwerk von Marktbeziehungen mit anderen freien und gleichberechtigten Individuen. Der Bürger hatte das von Staats wegen garantierte Recht, Verträge zu schließen und die Pflicht, Steuern zu bezahlen. Die Verletzung von Verträgen konnte vor Gericht überprüft und Schadenersatz ggfs. eingeklagt werden.
Alle übrigen Personen, die über kein Eigentum verfügten und keine Haushaltsvorstände waren, waren in diesem klassisch liberalen Bürgerverständnis entweder in der absolut prekären Situation von Armen ohne jeglichen staatlichen Schutz, da sie – ganz banal – die Kosten von Gerichtsverfahren nicht aufbringen konnten, selbst wenn sie formal vor Gericht zugelassen worden wären. Oder aber sie waren in einer untergebenen Position, einem „Herrn“ zugehörig, dem sie als Gegenleistung für etwas Unterhalt, Schutz und einer gewissen Fürsorge Gehorsam schuldeten. Eingebunden in diese Gehorsamsstruktur durften sie keine Verträge schließen und schon gar nicht sich politisch beteiligen. Da sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht für sich selber und ihren Lebensunterhalt aufkommen konnten, blieb ihnen der Bürgerstatus auch formal vorenthalten. Historisch gesehen waren dies z. B. Männer ohne Besitz, Frauen, Kinder, Menschen nichtweißer Hautfarbe und selbstverständlich auch Menschen, die später als „geistig behindert“ bezeichnet wurden.
Der Politikwissenschaftler Karl Polany (1978) hat dargelegt, welchen prägenden Einfluss der „Vertrag“ und die „Hierarchie“ als zentrale Beziehungsformen in kapitalistischen Gesellschaften auf die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme hatten. Herausgebildet haben sich demnach bürokratische Mechanismen, die diejenigen, die staatliche Fürsorge benötigen, einer als Kollektiv behandelten Personengruppe zuweisen, deren Leben einer paternalistischen Führung und Hierarchie unterworfen und durch bürokratische Mittel reguliert wird. Soziale Unterstützung in Anspruch zu nehmen geht dann einher mit Verzicht auf Selbstbestimmung und individuelle Freiheitsrechte bis hin zur Infragestellung der Existenzberechtigung überhaupt. Mit der Einweisung in ein Armenhaus „verwirkten die Armenhäusler ihr Recht auf persönliche Freiheit sowie das Gesetz ihnen alle politischen Rechte nahm, die sie vielleicht besaßen“ (Marshall 1992, 50). Wer sich nicht selber versorgen kann und Hilfe braucht, hat kein Recht bzw. verliert sein Anrecht auf individuelle Rechte. Er oder sie kann kein Bürger oder Bürgerin sein, der oder die als Individuum frei ist und Verträge abschließen kann. Daraus haben sich Entwicklungsmuster für die Systeme der sozialen Sicherung und sozialen Hilfe ergeben, die bis in die heutige Zeit hineinwirken. Sozialhistorische Untersuchungen belegen eindrucksvoll, wie dieses Grundmuster des rechtlosen Fürsorgeempfängers auch die Behindertenhilfe geprägt hat, wo behinderte Menschen in der traditionellen Anstaltsbetreuung den Status der „Schutzbefohlenen“ zugewiesen bekamen (Bradl 1991; Lindmeier & Lindmeier 2002). Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung blieben in Deutschland und anderen westlichen Ländern lange Zeit von bürgerrechtlichen Emanzipationsprozessen ausgeschlossen. Bis heute steht das Leistungsrecht der Eingliederungshilfe in der Tradition des Armenrechts, mit entsprechenden freiheitseinschränkenden Folgen etwa für geistig behinderte Empfänger wohnbezogener Eingliederungshilfe in Heimen. Der durch teilstationäre und stationäre Kontexte von wohnbezogenen Hilfen produzierte Status des „Heimbewohners“ begrenzt in erheblichem Maße Vertragsrechte und andere z. B. Privatheit sichernde bürgerliche Rechte der Betroffenen.
Die mühsamen Auseinandersetzungen um die Einführung von personenzentrierten Unterstützungsformen und individueller Hilfeplanung (Schädler 2002; Kronenberger 2006; Rohrmann & Schädler 2006) sind vor dem Hintergrund dieses Entwicklungspfades auch als emanzipatorische Bemühungen um „De-Kollektivierung“ und Anerkennung der zivilen Rechte von Menschen mit Behinderungen zu deuten. Diesbezüglich sind positive Entwicklungen zu verzeichnen. So brachte die Reform des Vormundschaftsrechts 1992, die verfassungsmäßige Verankerung des Schutzes behinderter Menschen vor Diskriminierung in Art. 3 GG (1994) sowie die weitere Gleichstellungs- und Gleichbehandlungsgesetzgebung bis hin zur Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland im März 2009 (hier insbesondere Art. 12 „Gleichberechtigte Anerkennung als rechtsfähige Person“) in vergleichsweise kurzer Zeit eine deutliche Stärkung der bürgerlichen Rechtspositionen von Menschen mit Lernschwierigkeiten mit sich, die zunehmend auch justitiabel sind. Folgerichtig erscheint in dieser Perspektive die Forderung nach Schaffung eines eigenständigen Leistungsrechts für die Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen insgesamt, das mit der paternalistischen Tradition des Fürsorgerechts bricht1. Im Hinblick auf die zivilrechtliche Dimension des Bürgerstatus von Menschen mit Lernschwierigkeiten konnten in den letzten Jahrzehnten von einer „kollaborativen Allianz“ (Theunissen 2009, 33) zwischen der Behindertenbewegung und engagierten Fachwelt erhebliche Verbesserungen erkämpft werden.
Die Entwicklung der politischen Rechte von Bürgern ordnet Marshall (1992, 40) dem 19. Jahrhundert zu. Er führt dabei die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts an, von dem zunächst das Bürgertum profitierte, sowie nach intensiven Kämpfen der Arbeiterklasse um gleichberechtigte Anerkennung ihres Wahlrechts zunächst auch deren männlicher Teil. Breite Teile der Bevölkerung auch in demokratischen Ländern blieben lange Zeit aber davon ausgeschlossen. Es bedurfte der großen sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, wie der Frauenbewegung oder der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA, die erfolgreich dafür kämpften, dass politische Bürgerrechte für Frauen, Schwarze, aber auch für jüngere Menschen (durch Herabsetzung des Wahlalters) allgemein zugänglich wurden.
Soweit sie nicht als unmündig erklärt waren, haben in diesem Prozess der allgemeinen Durchsetzung auch Menschen mit Lernschwierigkeiten zumindest formal ebenfalls Zugang zu politischen Rechten erhalten. Aber erst in den 1990er Jahren wurden in Deutschland Menschen mit Lernschwierigkeiten von Seiten der politischen Parteien und der Regierungen auch als Wählergruppe ernst genommen. Parteiprogramme vor wichtigen Wahlen werden seither in leichter Sprache veröffentlicht2, Wahllokale werden auf Barrierefreiheit hin überprüft und die Bundeszentrale für politische Bildung und Andere veröffentlichen regelmäßig politische Informationen in leichter Sprache3, damit auch Menschen mit Lernschwierigkeiten ihre politischen Rechte auf informierter Grundlage wahrnehmen können. Mit dem Verband „Mensch zuerst“ Netzwerk People First Deutschland e. V. hat sich vor einigen Jahren auch eine bundesweite Selbstorganisation gebildet, die sich energisch für die Verwendung „leichter Sprache“ einsetzt und die es auf beeindruckende Weise schafft, in behindertenpolitische Prozesse einbezogen zu werden4.
Aber auch auf anderen Ebenen lassen sich Entwicklungen beobachten, die auf eine erhöhte gesellschaftliche Sensibilität gegenüber politischen Beteiligungsrechten von Menschen mit Lernschwierigkeiten schließen lassen. Dies drückt sich zum einen aus in Mitwirkungsgremien in Behinderteneinrichtungen, wie z. B. den „Heimbeiräten“ nach § 10 Heimgesetz oder den „Werkstatträten“ in Werkstätten für behinderte Menschen nach § 14 Werkstättenverordnung, deren Wirksamkeit äußerst abhängig von örtlichen Gegebenheiten ist und zum anderen in der formalen Besetzung von Verbandsgremien mit Menschen mit Lernschwierigkeiten als „Selbstvertrer/innen“5. Zum Dritten ist insbesondere auf kommunaler Ebene, aber auch auf Landes- und Bundesebene eine Stärkung der institutionalisierten Selbstvertretung behinderter Menschen zu beobachten. Behindertenbeiräte oderbeauftragte entwickeln sich zunehmend als „neue“ politische Akteure, die sich primär Nichtdiskriminierungsprinzipien und weniger den Interessen des etablierten Einrichtungssystems verpflichtet sehen (BAR 2000; Stamm & Weinbach 2007; Miles-Paul 2010).
Zivile und politische Rechte zu haben, bedeutet für Menschen nicht wenig. Diese bleiben jedoch lediglich formal, wenn die soziale Situation, d. h. die konkreten Lebensbedingungen, es Menschen nicht erlaubt, diese Rechte mit Inhalt zu füllen. Für Marshall bedeutet die Entwicklung der sozialen Dimension staatsbürgerlicher Rechte „die Entfernung der Schranken zwischen den Freiheitsrechten und den Mitteln ihrer Verwirklichung“ (Marshall 1992, 61). Für benachteiligte Bevölkerungsgruppen steht dabei vor allem der freie Zugang zu Bildung, zu Gesundheitsversorgung und zu sozialen Dienstleistungen im Mittelpunkt, und zwar – und das ist wichtig – ohne dass dadurch Einschränkungen in anderen bürgerrechtlichen Dimensionen einhergehen. Marshall ordnet 1950 bereits die Entwicklung der sozialen Bürgerrechte dem 20. Jahrhundert zu, der breite Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Strukturen und Dienste in westlichen Ländern gerade auch in der 2. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gibt ihm auch im Nachhinein recht.
Die Entwicklung der sozialen Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung war in Deutschland vor allem eine Entwicklung der sozialen Hilfen in (teil-)stationären Einrichtungen. Auf der Grundlage des 1961 in Kraft getretenen Bundessozialhilfegesetzes und der darin verankerten Eingliederungshilfeleistungen wurde flächendeckend ein rehabilitationsorientiertes System von Sondereinrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit geistiger Behinderung geschaffen. Dies geschah in Fortführung zentraler fachlicher und ordnungspolitischer Entwicklungspfade, die ihre Ursprünge in der Herausbildung des „Idiotenwesens“ im 19. Jahrhundert hatten. Das Anstaltsmodell wurde ergänzt durch das „teilstationäre Modell“ der Lebenshilfe, das einer gemäßigten Rezeption des skandinavischen Normalisierungsprinzips folgte (vgl. Bradl 1991; Schädler 2003; Rohrmann & Schädler 2010). Der Ausbau dieses Systems sozialer Hilfen hält bis heute noch an. So hat sich nach aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden die Zahl der Empfänger von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen zwischen 1963 und 2008 fast verzehnfacht6. Bezogen 1994 in Deutschland etwa 360 000 Menschen entsprechende Leistungen, waren es 2009 rund 725 0007. Schätzungsweise ⅔ dieser Menschen können leistungsrechtlich dem Personenkreis „geistig behindert“ zugeordnet werden.
Das professionelle Unterstützungssystem für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist nunmehr in ganz Deutschland vor Ort mehr oder weniger einheitlich durch folgende Versorgungskette gekennzeichnet: Frühförderung, integrativer Kindergarten oder Sonderkindergarten, Sonderschule, Werkstatt für behinderte Menschen, teilstationäres Wohnheim oder stationäre Vollzeiteinrichtung. Von zentraler Bedeutung im Hilfesystem waren dabei lange Zeit die Sonderschulen, über die seit Mitte der 1960er Jahre auch Kinder mit sogenannter geistiger Behinderung Zugang zu schulischer Bildung erhielten. Seither hat sich ein zunehmend professionalisiertes Feld sozialer und pädagogischer Hilfen herausgebildet, dessen segregierende stationäre Struktur bereits vor 30 Jahren unter Menschenrechtsperspektiven angeprangert wurde8. Für Deutschland etwa macht dies der 2009 von der Bundesregierung herausgegebene Behindertenbericht (Bundesregierung 2009) mehr als deutlich: Im Bereich der vorschulischen Erziehungseinrichtungen sind integrative Angebote an zahlreichen Orten zwar weit verbreitet, aber vor Ort längst nicht regelhaft vorhanden (Bundesregierung 2009, 31). Im Schulbereich ist die Förderschulbesuchsquote trotz zurückgehender Gesamtschülerzahl gestiegen (von 4,4 % 1998 auf 4,8 % 2006), während die Integrationsquote auf niedrigem Niveau stagniert (ebd., 34). Die Anzahl behinderter Personen, die Eingliederungshilfe in Einrichtungen erhalten, ist zwischen 2005 und 2007 um weitere knapp 12 % auf ca. 409 000 gestiegen (ebd., 66). In kaum einem anderen europäischen Land ist der Anteil der behinderten und alten Menschen, die den Status „Heimbewohner“ haben, so hoch wie in Deutschland. Die genaue Datenlage in diesem Bereich ist schlecht, aber von den ca. 200 000 behinderten Heimbewohner/innen lebt der größte Teil in Einrichtungen mit mehr als 24 Plätzen, mehr als 50 000 dieser Menschen haben wohl kein Zimmer für sich alleine, ein nicht geringer Teil lebt wohl noch immer dauerhaft in Dreierzimmern (Wacker 1998; BMFSJ 2006, 231; ZPE 2005; Schädler et al. 2008, 222).
In den neuen Bundesländern wurden stationäre Wohneinrichtungen in den 1990er Jahren so massiv ausgebaut, dass dort der Anteil der behinderten Menschen in Heimen pro 1 000 Einwohner nun nahezu überall höher ist als im Westen9. Im Lebensbereich Arbeit wuchsen die Zahlen der behinderten Mitarbeiter/innen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) von 236 000 (2003) auf rund 275 500 im Jahr 2007 (Bundesregierung 2009, 60).
Dem Grunde nach offenbart sich in der Eingliederungshilfestatistik die Problematik eines sich selbst über Routinen reproduzierenden Hilfesystems, das sich über lange Zeit erfolgreich allen Veränderungsforderungen entzog, obwohl es in den vergangenen Jahren an strukturellen Reformanstrengungen nicht gefehlt hat (Schädler 2003). Entgegen den Forderungen des personenzentrierten Ansatzes werden behinderte Menschen mit einem spezifischen Hilfebedarf noch allzu oft über gängige Verfahren in vorgegebene Behindertenrollen (z. B. von „Heimbewohnern“ oder „Werkstattgängern“) hinein „prozessiert“. Wenn Reformeffekte im Sinne fachlicher und politischer Leitideen z. T. doch erreicht worden sind, dann geschah dies meist im Rahmen eines „additiven Veränderungsmusters“: Neue Hilfeformen kommen hinzu, ohne dass herkömmliche stationäre Formen wirklich weniger werden (Schädler & Rohrmann 2009, 233).
Wenngleich die stationären Einrichtungen der heutigen Behindertenhilfe nicht mit den Anstalten zu vergleichen sind, die Erving Goffman in den 1960er als „totale Institutionen“ beschrieben hat, so treffen viele der von ihm analysierten Merkmale auch auf diese Organisationen zu. Alle Aktivitäten in den Einrichtungen werden unter einem scheinbar rationalen Plan zusammengefasst, der mit gesellschaftlicher Eingliederung oft wenig zu tun hat. Im Mittelpunkt des rationalen Plans steht die Sicherung des sozialen Schutzes der Klienten, begleitet von einer pädagogischen Legitimation, die sich oft mit einer äußerst pessimistischen Einschätzung des „normalen“ sozialen Raumes außerhalb der Einrichtungsgrenzen verbindet. Die Welt außerhalb wird tendenziell als voller Überforderungen, als feindselig und bedrohlich interpretiert. Dem wird dann die Möglichkeit stationärer Einrichtungen entgegengestellt, einen Raum zu bieten, wo Menschen mit Behinderungen gut und sicher untergebracht sind, wenn dies in ihrer Herkunftsfamilie nicht mehr möglich ist. Sicherheit wird von stationären Einrichtungen meist dadurch hergestellt, dass sie ihre behinderten Bewohner/innen durch materielle Vorkehrungen schützen, die die räumliche Bewegungsfreiheit beschränken (wie z. B. Mauern, Zäune, verschlossene Türen, reinigungsfreundliche Materialien) oder durch verbindliche organisatorische Regelungen und deren Kontrolle (z. B. Zentralversorgung mit Wäsche und Nahrung, Hygienevorschriften, Baderoutinen, zeitliche Regulierungen, Gestaltung des Tagesablaufs in Gruppen, „Ämtchensystem“), die die individuellen Handlungsmöglichkeiten begrenzen. Die alltäglichen Mitarbeiterroutinen werden zentral bestimmt durch die Überwachung der Einrichtungsregeln (Goffman 1972, 17 f.), die meist einseitig die Schutz- und Hilflosigkeit betroffener Menschen betonen und oft festschreiben.
Individuelle Vorstellungen Betroffener kommen umso weniger zum Tragen, je höher der jeweilige Hilfebedarf und umso geringer die individuelle Artikulationsfähigkeit der Betroffenen ist. Menschen, die in den Einrichtungen leben, bilden Verhaltensweisen aus, die für das Leben in ihrer Institution sinnvoll und richtig sind, die aber nicht dafür geeignet sind, im Leben außerhalb des stationären Einrichtungsrahmens zu Recht zu kommen. Wenn vom Leben in einer Einrichtung auf die Behinderung geschlossen wird und so das gesellschaftliche Bild und der soziale Umgang mit behinderten Menschen geprägt wird, dann tragen die dominierenden Organisationsformen der Behindertenhilfe zur Perpetuierung des paternalistischen Verständnisses von Behinderung bei, das mit dem Ansatz der vollen bürgerrechtlichen Gleichstellung gerade überwunden werden soll (Rohrmann 2007).
In großen Teilen reproduziert das deutsche System der Behindertenhilfe die traditionelle Ambivalenz zwischen sozialem Schutz und Diskriminierung in einer Weise, die Menschenrechtskonflikte aufwirft.
Mit der Überwindung der Nazi-Herrschaft 1945 war weltweit eine große Sensibilität gegen rassistische Ideologien, gegen Kolonialismus und soziale Ungleichheit entstanden. Dies stärkte auf internationaler Ebene die Kräfte, die sich für die Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte und Grundfreiheiten einsetzten. 1948 verkündeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wo es unter Artikel 2 heißt: „Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, wie etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen“ (Art. 2, Abs. 1). Die Liste der aufgeführten Rechte bezieht sich auf alle Elemente eines uneingeschränkten Bürgerstatus, ganz explizit aber auch auf das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22), das Recht auf Bildung (Art. 26) oder das Recht der Teilnahme am kulturellen Leben der Gemeinde (Art. 27) etc. 1950 verabschiedete der Europarat die Europäische Konvention über die Menschenrechte, in der die Prinzipen der allgemeinen Menschenrechte und die Bedeutung der sozialen Rechte bestätigt wurden. Darüber hinaus wurde 1959 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg geschaffen, vor dem Menschenrechtsverletzungen in den Vertragsstaaten justitiabel wurden.
Auf internationaler Ebene wurden die Allgemeinen Menschenrechte in den darauffolgenden Jahrzehnten für immer mehr Personengruppen konkretisiert. Es wurde das Instrument der sogenannten „Konventionen“ geschaffen, d. h. internationale Vertragswerke, denen sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen anschließen und somit für sich als verbindlich erklären konnten. Solche Übereinkommen (Konventionen) wurden geschaffen etwa für die Rechte der Frauen (1952, 1979), für die Rechte von rassischen Minderheiten (1969), für die Rechte von Migranten (1990) oder zum Schutz der Rechte von Kindern (1994). Wichtig ist es zu betonen, dass es in den UN-Konventionen nicht darum geht, für eine bestimmte Gruppe „Spezialrechte“ zu formulieren. Vielmehr bekräftigen und konkretisieren Menschenrechtskonventionen für einzelne von Diskriminierung bedrohte Bevölkerungsgruppen die universellen Menschenrechte, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommen.
Menschenrechtskonventionen richten sich in erster Linie an den Staat als den Garanten des Rechts. Der Staat ist gehalten, die Menschenrechte zunächst als Vorgabe (und gegebenenfalls als Grenze) eigenen Handels zu achten („respect“); darüber hinaus hat er die betroffenen Menschen vor drohenden Rechtsverletzungen durch Dritte aktiv zu schützen (protect); schließlich soll er außerdem Infrastrukturmaßnahmen ergreifen, damit die Menschen von ihren Rechten auch tatsächlich Gebrauch machen können (fulfil) (vgl. Bielefeld 2009). Allerdings wird bei der Umsetzung der vertraglichen Verpflichtungen zunehmend auch auf Konzepte der Menschenrechtsbildung gesetzt. Damit ist gemeint, dass die Zuerkennung und die Ausübung von Menschenrechten behinderter Menschen bei den Betroffenen und in der Gesellschaft auch Lernprozesse und Prozesse der Bewusstseinsbildung voraussetzt, die bewusst initiiert werden müssen. Menschenrechtsbildung soll zu der Fähigkeit führen, seine eigenen Rechte wahrzunehmen und für seine eigenen Rechte sowie die Rechte anderer aktiv einzutreten. Tatsächlich ist festzustellen, dass Menschenrechtsbildung zunehmend zum ausdrücklichen Inhalt des Schulunterrichts wird (Forum Menschenrechte 2006)10.
In den 1970er Jahren wurde in mehreren Dokumenten der Vereinten Nationen explizit ausgedrückt, dass die Allgemeinen Menschenrechte auch für behinderte Menschen gelten, allerdings in der vergleichsweise unverbindlichen Form von Deklarationen. So erfolgte 1971 die „Erklärung der Rechte geistig behinderter Menschen“ („Declaration of the Rights of Mentally Retarded Persons“) und 1975 die „Erklärung der Rechte behinderter Menschen“ („Declaration on the Rights of Disabled People“). Ergänzt und präzisiert wurden beide Erklärungen 1991 in einem weiteren UN-Dokument mit Empfehlungscharakter, den sogenannten „Standard Rules on the Equalisation of Opportunities for People with Disabilities“. Die „Standard Rules“ wurden zunächst v. a. in Skandinavien aufgegriffen und z. B. über die AGENDA 22 als Grundlage für örtliche Behindertenplanungen benutzt. In Deutschland wie in vielen anderen UN-Mitgliedstaaten wurden die „Standard Rules“ nur schwach rezipiert11. Im europäischen Kontext wurden sie bedeutsam im Rahmen der Beitrittsverhandlungen der EU mit den betreffenden osteuropäischen Staaten12.
In den 1990er Jahren kam das Thema der Diskriminierung behinderter Menschen in vielen europäischen Ländern auf die öffentliche Tagesordnung und führte in allen EU-Ländern zu gesetzlichen Veränderungen; in einigen Ländern, wie in Deutschland, auch zu Verfassungsänderungen. Das Prinzip des Schutzes behinderter Menschen vor Diskriminierung wurde elementarer Bestandteil der EU-Behindertenpolitik und schlug sich in den Mitgliedstaaten in spezifischen Ländergesetzgebungen nieder, in Deutschland etwa das Bundesgleichstellungsgesetz (BGG) oder das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), mit Ausführungsgesetzen in den Bundesländern. In diesem Zuge hat sich auch ein gemeinsamer europäischer Begriff von Diskriminierung durchgesetzt, der nicht nur direkte Formen von Benachteiligung kennt, sondern auch indirekte Formen der Ungleichbehandlung, Herabsetzung und Beleidigung und die Sanktionierung von Personen, die sich gegen Diskriminierung wehren (vgl. Bericht der Deutschen Bundesregierung 2009, 21 ff.).
Als im Herbst 2006 von der UN-Generalversammlung das „Übereinkommen über die Rechte von Personen mit Behinderungen“13 verabschiedet wurde, war nicht damit zu rechnen, dass dieses Dokument eine solche politische Mobilisierungswirkung entfalten würde, wie sie seit einiger Zeit beobachtet werden kann. Der Grund dafür liegt sicher auch in dem dort formulierten Verständnis von Behinderung: „In der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“ (Präambeltext UN BRK). Damit wird an das Verständnis von Behinderung als erschwerte Partizipation angeknüpft, wie es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Klassifizierungssystem International Classification of Functioning (ICF) formuliert hat. Der Begriff der Inklusion ist der positive Zielbegriff der Behindertenrechtskonvention und durchzieht sowohl als Substantiv wie als Adjektiv den gesamten Text. Der Begriff steht für ein „selbstbestimmtes Leben in sozialen Bezügen“ (Bielefeld 2009, 10). Was dies bedeutet, wird im Sinne einer Konkretisierung von Menschenrechten in insgesamt 50 Artikeln sehr fachlich und differenziert dargelegt. Insbesondere Artikel 19 („Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gesellschaft“) und Artikel 24 („Bildung“) eröffnen ein brisantes Spannungsverhältnis zum etablierten sozialen Leistungs- bzw. Erziehungssystem, dessen Grundmodell in immer größeren Gegensatz zu neueren fachlichen Unterstützungskonzepten für behinderte Menschen gerät.
In der Tatsache, dass noch immer die dominierende Antwort des Hilfesystems auf einen erheblichen und dauerhaften Unterstützungsbedarf behinderter Menschen der „Platz“ in einer Einrichtung ist, drückt sich das ungelöste Modernisierungsproblem der deutschen Behindertenhilfe aus. Deutlich wird, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Gefahr stehen, trotz formal gestärkter Rechte, „Bürger II. Klasse“ zu bleiben. Dieses erhöhte Diskriminierungsrisiko kann sowohl verursacht werden durch fehlende Hilfen, d. h. wenn ihnen soziale, kulturelle und wirtschaftliche Teilhaberechte vorenthalten bleiben, weil erforderliche Hilfen nicht zur Verfügung stehen. Diskriminierung kann auch verursacht werden durch Hilfen, d. h. wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten durch die Inanspruchnahme von sozialen Dienstleistungen grundlegende zivile und politische Rechte verwehrt werden.
Sogar die deutsche Bundesregierung konstatiert, dass grundlegende Veränderungen im Leistungssystem überfällig sind und das Leistungssystem der Eingliederungshilfe einer weitreichenden Reform bedarf (ebd. 65). Eine wirksame Reform wird umso dringlicher, weil sich jenseits der „großen Maschine“ gleichzeitig innovative Praxiskonzepte entwickelt und verbreitet haben und auch die Theoriebildung zu inklusionsorientierter und personenzentrierter Unterstützung Fortschritte gemacht hat (vgl. die Zusammenstellung in Theunissen & Wüllenweber 2009). Auch in Deutschland gibt es mittlerweile vielerorts behinderte Menschen mit komplexem Hilfebedarf, die mit sehr individuellen Hilfearrangements ein relativ normales Leben außerhalb von Einrichtungen leben: Sei es als Kunde von ambulanten Diensten oder als Arbeitgeber verschiedener Assistenten, als „Budgetnehmer“ im allgemeinen Beschäftigungssystem und/oder als WG-Bewohner/innen mit hohem Unterstützungsbedarf. Diese konkreten Beispiele, aber auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegen die positiven Auswirkungen solcher offenen Hilfekonzepte auf die Lebensqualität und das Selbstkonzept der Betroffenen, wenn fachliche Standards eingehalten werden (Seifert 1997; Seifert & Forneld 2001, 2010; Mansell 2010).
Wie kann vor diesem Hintergrund eine Reformstrategie aussehen?
Sicherlich sind auf der Ebene der Leistungserbringung und des Leistungsrechts der Eingliederungshilfe wichtige sektorale Reformaufgaben auf Bundes- und Länderebene dringend zu bearbeiten (vgl. hierzu Schädler & Rohrmann 2008, 2009; sowie Lohest & Schöpfer 2010). Diese gilt es aber perspektivisch in einen behindertenpolitischer Orientierungsrahmen einzuordnen, der über Fragen der Leistungserbringung hinausgeht. Anzuknüpfen wäre zum einen an die bürgerrechtlichen Veränderungen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene, die in den vergangen 20 Jahren zu einer deutlichen Stärkung der Bürgerrechte behinderter Menschen geführt haben. Zum anderen wäre zu berücksichtigen, dass das Thema „Behinderung“ als Folge gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Tagesordnung der kommunalen Politik immer mehr zurückgekehrt ist und die Teilhaberechte von Menschen mit Behinderungen auch im Bewusstsein der örtlichen Politik zum Verantwortungsbereich der kommunalen Daseinsvorsorge gehört. Es eröffnet sich eine kommunalpolitische und fachliche Perspektive, die entlang eines Lebenslauf-Modells nach ausgrenzenden institutionellen Bedingungen vor Ort fragt, um diese im Sinne der Antidiskriminierungsgesetzgebung aufzuheben oder weitgehend zu reduzieren. Hierfür wurde der normative Begriff des „Inklusiven Gemeinwesens“ entwickelt (Schädler et al. 2008, 345 ff.)14.
In mehrerer Hinsicht werden damit Handlungsnotwendigkeiten begründet: Zum einen ergeben sich erhebliche Anforderungen an die barrierefreie Gestaltung der öffentlichen Infrastruktur in der Kommune. Deren Leitmotiv besteht darin, diskriminierendes Verhalten gegenüber behinderten Menschen, behindertenfeindliche Bedingungen, bauliche und kommunikative Barrieren im öffentlichen Leben weitestgehend zu vermeiden und gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten herzustellen. Anstelle des bisher meist zögerlichen und unsystematischen Vorgehens bei der Herstellung von Barrierefreiheit besteht die Herausforderung für kommunale Politik nun darin, dies in einem koordinierten Prozess umzusetzen.
Zum anderen entsteht in der Inklusionsperspektive jenseits leistungsrechtlicher Zuständigkeiten auch eine kommunale Verantwortung für die Art und Weise, wie das Hilfesystem für die behinderten Bürger/innen der Kommune ausgerichtet ist. Es geht darum, durch den systematischen Aufbau inklusionsorientierter Dienste für verschiedene Lebensphasen und -bereiche auch Bürger/innen mit Lernschwierigkeiten ein selbstbestimmtes Leben im Gemeinwesen zu ermöglichen. Damit wird ein Entwicklungspfad verlassen, mit dem das explizite Ziel verbunden war, die kommunale Ebene von der Sorge für behinderte Menschen zu entlasten und die Verwaltungszuständigkeit von den Kommunen auf überörtliche Sozialbehörden zu übertragen (vgl. Bradl 1991, 61 ff.).
Zum Dritten geht es um Aufgaben der Sensibilisierung der Öffentlichkeit im Gemeinwesen für die Bürgerrechte bzw. die erhöhten Diskriminierungsrisiken von Menschen mit Lernschwierigkeiten und anderen Beeinträchtigungen. Auch in diesem Bereich geht es darum, durch Informationen und andere geeignete Formen der Öffentlichkeitsarbeit bestimmte als selbstverständlich angesehene Annahmen über Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Lernschwierigkeiten hinterfragbar zu machen und inklusionsförderliches Bewusstsein zu bilden.
Zum Vierten geht es darum, Menschen mit Lernschwierigkeiten systematisch Zugang zu Erfahrungen des Empowerments zu ermöglichen, die sie dabei unterstützen, ihre Rechte im konkreten Alltagshandeln zu erkennen, sich in Gruppen zu organisieren, ihre Interessen als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger im Gemeinwesen zu artikulieren und auf geeignete Weise wirksam durchzusetzen. Für den deutschen Menschenrechtsexperten Heiner Bielefeld kommt in keiner Menschenrechtskonvention die Bedeutung von „Empowerment“ mehr zum Ausdruck als in der UN-Behindertenrechtskonvention. Diese dient dem Empowerment, „indem sie Ansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit, und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe formuliert, sie rechtsverbindlich verankert und mit möglichst wirksamen Durchsetzungsinstrumenten verknüpft“ (Bielefeld 2009, 4). Georg Theunissen hat das Konzept des „Empowerment“ für die Heilpädagogik und die Behindertenhilfe differenziert entfaltet (vgl u. a. Theunissen & Plaute 2002; Theunissen 2010). Er sieht darin ein „Konzept, das den Konflikt mit der Gesellschaft, insbesondere ihre Agenten und Instanzen sozialer Kontrolle, nicht scheut“ (Theunissen 2010, 62).
Für diese Aufgaben können Ansätze örtlicher Teilhabeplanung ein bürgerrechtlich orientiertes Handlungskonzept darstellen, das für die Verwirklichung von Teilhabechancen von Menschen mit Lernschwierigkeiten in ihrem Sozialraum nutzbar gemacht werden kann (Rohrmann et al. 2010). Örtliche Teilhabeplanung steht dabei für einen lernorientierten und partizipativen Prozess, in dem sich unter politischer Federführung der Kommunen die örtlich relevanten Akteure auf den Weg machen, die Zielsetzungen eines „inklusiven Gemeinwesens“ unter den Bedingungen ihrer spezifischen Örtlichkeit zu verwirklichen. Über Formen der Teilhabeplanung sollen Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe in ein ergänzendes, teilweise nachrangiges Verhältnis zu Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit im örtlichen Gemeinwesen gesetzt werden. Ausgegangen wird von einem Verständnis von örtlicher Planung als einem politischen Prozess, der strategisch zu gestalten ist (Schädler 2010). Teilhabeplanung ist dabei als Fachplanung einzuordnen in den systematischen Aufbau einer integrierten sozialräumlich ausgerichteten Sozialplanung (vgl. Hammer et al. 2010). Dies kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Stattdessen kann abschließend verwiesen werden auf ermutigende Projekterfahrungen und -ergebnisse zu einem Konzept der „Örtlichen Teilhabeplanung für Menschen mit Behinderungen“, an dem seit einigen Jahren am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen geforscht wird15.
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Werner Schlummer
Die Frage nach der Urheberschaft von „Henne oder Ei“ bzw. danach, ob zuerst Empowerment von Menschen mit Behinderung oder Veränderungen im Bereich der Behindertenhilfe vorlagen, wird nicht im Zentrum des folgenden Beitrags stehen. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung muss diese Frage zwar weiter verfolgt werden, und der Blick auf die gegenseitige Bedingtheit dieser Aspekte ist bedeutsam. In diesem Gesamtband geht es aber vor allem darum, anhand von Konkretisierungen im Kontext von Theorie und Forschung und besonders anhand von Beispielen praktischer Umsetzungen einen ganzheitlichen Eindruck und Überblick zur Thematik des Empowerments zu vermitteln. Dieser Intention sind auch die weiteren Ausführungen dieses Beitrags gewidmet. Dabei soll die Exemplifizierung der Gesamtthematik anhand der Auseinandersetzung mit den Aspekten Mitwirkung und Mitbestimmung wirksame Facetten des Gesamtwerkes Empowerment verdeutlichen und dabei helfen, das schillernde Phänomen wahrzunehmen und zu verstehen.
Vorwegzuschicken sind aber zumindest ein paar Anmerkungen hinsichtlich beobacht- und beschreibbarer und damit realer Veränderungen innerhalb der Behindertenhilfe bzw. der Wissenschaftsdisziplinen Sonder- und Heilpädagogik. Trotz dieser unübersehbaren Veränderungen ist es seit rund dreißig Jahren immer wieder erforderlich, die Umbruchsituationen zu beschreiben, die inhaltlich z. B. mit den weiteren Begriffen Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Normalisierung und auch Empowerment verbunden, charakterisiert und veranschaulicht werden. Dies ist wichtig, um Veränderungsprozesse der Vergangenheit zu verdeutlichen; und es ist wichtig, um auch für die Zukunft Veränderungen zu initiieren, Innovationspotentiale aufzuzeigen und damit Stillstand positiver Entwicklungen für Menschen mit Behinderung zu verhindern bzw. rückläufigen Tendenzen entgegenzuwirken. In diesem Kontext werden besonders auch der UN-Behindertenrechtskonvention (BGBl 2008) entsprechende Veränderungspotentiale zugeschrieben. Durch die insgesamt menschenrechtliche Verankerung und Ausrichtung dieser Konvention enthält dieses verbindliche Werk gleichsam auch einen Auftrag in Richtung Empowerment. Lindmeier verortet hier ein „menschenrechtliches Empowerment“, das „stets gegen beide komplementären Formen der Entrechtung – soziale Exklusion und Fremdbestimmung – gerichtet sein muss“ (Lindmeier 2009, 5).
Subsumiert werden die angesprochenen Veränderungsprozesse häufig in den Begriffen Paradigmen- oder Perspektivenwechsel. Sie stehen im Kern für eine radikale Neuorientierung: Der Mensch mit Behinderung ist nicht mehr Objekt, sondern Subjekt. Dass diese Veränderung in einem sozialstaatlichen Gefüge, wie es in Deutschland eine lange und fest verankerte Tradition hat, zu deutlichen Veränderungen z. B. im weiten Feld der Behindertenhilfe und der darin bestehenden Dienstleistungssysteme führt, wird in weiteren Beiträgen dieses Bandes deutlich. Grundsätzliche Hinweise dazu gibt Johannes Schädler in diesem Band.
Bei der generellen Umorientierung ist als Kerngedanke die Grundidee einer humanistischen Sichtweise zu konstatieren, in der der Mensch mit der Fähigkeit der Selbstregulierung ausgestattet ist und Behinderung als Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses angesehen wird. Vor allem mit Blick auf Menschen mit geistiger Behinderung sollen Lebensmuster und Alltagsbedingungen ermöglicht werden, die auch anderen Mitgliedern der Gesellschaft zugänglich sind.
Diese grundsätzliche Auseinandersetzung (vgl.vgl.