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Im Herbst 1950 kommt der junge Wiener Historiker Max Schreiber in ein Tiroler Bergdorf, um ein Verbrechen aus dem 19. Jahrhundert zu recherchieren. Konfrontiert mit der archaischen Bergwelt und einer misstrauischen Dorfgemeinschaft, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert, fühlt er sich befremdet und isoliert. In seiner Einsamkeit verliert sich Schreiber zunehmend in der Liebe zu einer stummen jungen Frau, um die jedoch auch ein anderer wirbt.

Als ein Bauer unter ungeklärten Umständen ums Leben kommt, eine Scheune lichterloh brennt und der Winter mit ungeheurer Wucht und tödlichen Lawinen über das Dorf hereinbricht, spitzt sich die Situation immer weiter zu, ein Mord geschieht, und Schreiber verschwindet spurlos.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später will ein alter Mann endlich die Wahrheit darüber wissen, was damals geschah. Von seinen eigenen Schatten verfolgt, begibt er sich auf Spurensuche, um eine letzte Chance zu nutzen.

Raffiniert, voller Rhythmus und Poesieerzählt Gerhard Jäger von der Magie, aber auch von der Brutalität eines Ortes, der aus Raum und Zeit gefallen scheint.

Gerhard Jäger, geboren 1966 in Dornbirn, arbeitete unter anderem als Lehrer, freier Journalist und Redakteur. 1994 erhielt er ein Nachwuchsstipendium des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, 1996 den Vorarlberger Literaturpreis für einen bisher unveröffentlichten Roman. Gerhard Jäger verstarb im November 2018.

Gerhard Jäger

DER SCHNEE, DAS FEUER,

DIE SCHULD UND

DER TOD

Roman

Blessing

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Copyright © 2016 by Gerhard Jäger
Copyright © 2016 by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von © shutterstoc k / Kirill Smirnov
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-19749-0
V003
www.blessing-verlag.de

Für Andrea und Anna,

die mit mir zusammen die Geschichte

unseres Lebens schreiben.

JETZT

Die Frau liegt am Boden. Im Schnee. Der linke Arm verdreht unter ihrem Körper. Keine Farben.

Sie hat keine Farben. Der Boden hat keine Farben. Alles ist schwarz und grau und weiß, nur schwarz und grau und weiß. Die Haare der Frau sind schwarz, die Kleidung grau, der Schnee weiß.

Nur nicht neben ihrer Schulter, da ist der Schnee schwarz. Schwarz von Blut.

»So viel Blut, so viel Blut«, flüstert der alte Mann und streift mit seinem riesigen Zeigefinger über das winzige Gesicht der Frau. Zärtlich, zitternd.

Dann greift er zu, nimmt die kleine Schwarz-Weiß-Fotografie mit dem gewellten Rand, die Fotografie mit der Frau im Schnee, mit der Frau ohne Farben, und steht auf. Es ist Zeit.

VOR SECHS TAGEN

Sonntag

»Ich sehe einen großen Vogel. Er wird dich nach Hause bringen an deinem achtzigsten Geburtstag.«

Es ist vierzig Jahre her, auf den Tag genau, dass diese Worte gesprochen wurden. Von einer Indianerin, über hundert Jahre alt, die Tochter des legendären Häuptlings Spotted Elk, der 1890 in dem Massaker am Wounded Knee erschossen wurde. So hat man es uns jedenfalls gesagt, vielmehr meiner Frau Rosalind, und deshalb schleppte sie mich an meinem vierzigsten Geburtstag zu dieser Indianerin.

»Du musst zugeben, sich von einer indianischen Seherin die Zukunft voraussagen zu lassen ist ein ganz besonderes Geschenk. Noch dazu von der Tochter von Spotted Elk. Das musst du dir mal vorstellen.« Ich stellte es mir vor, denn wenn es um Indianer ging, kannte meine Frau keinen Spaß.

Wie sich meine Frau dieses Treffen ausgemalt hatte, kann ich nur erahnen: Vielleicht hatte sie ein Zelt vor Augen gehabt, das Innere in ein fahles Licht getaucht, ein Feuer in der Mitte, seltsam riechende Kräuter, die zischend in den Flammen verbrennen, eine alte Indianerin, die trotz ihrer hundert Jahre mit erstaunlich geradem Rücken auf dem Boden sitzt, eine Trommel schlägt und mit kehliger Stimme uralte Lieder singt. Etwas in dieser Art. Aber ganz sicher keine Barackensiedlung und keinen Mann mit fettigen Haaren, nacktem Oberkörper und einer Bierflasche in der Hand, der die Tür öffnete und uns die freie Hand entgegenstreckte, um das Geld in Empfang zu nehmen. Wie viel meine Zukunft kostete, hat mir Rosalind nie erzählt.

Der Mann führte uns in die Baracke, stickig, halbdunkel, ein plärrendes Radio, an der Wand ein dicker Polsterstuhl und darin, in Decken eingehüllt, ein uraltes menschliches Wesen. Er legte eine Hand auf meine Schulter. Ich verstand nicht, erst als er mit dem Kinn eine herrische Bewegung nach unten machte, wurde mir klar, was er wollte: Ich kniete nieder, während er meine Hand nahm und sie der alten Frau in den Schoß legte. In diesem Moment, in dieser schwülen Hitze, das laute Radio im Hintergrund und die Bierfahne des Mannes in meinem Nacken, fielen die magischen Worte: »Ich sehe einen großen Vogel. Er wird dich nach Hause bringen an deinem achtzigsten Geburtstag.«

Diese Prophezeiung machte mir keine Angst. Wenn man mit vierzig erfährt, dass man mit achtzig sterben wird, so ist das weit weg. Und am achtzigsten Geburtstag zu sterben hat irgendwie auch Stil.

Nach diesem Satz schien die Alte wieder in sich zu versinken. Ohne den Lärm des Radios wäre die Stille kaum auszuhalten gewesen. Ich wagte einen Seitenblick auf Rosalind. Sie stand etwa zwei Meter von mir entfernt, hatte eine Hand auf den Mund gelegt und fixierte einen imaginären Punkt an der Wand. Ich wartete, dann kam endlich wieder Bewegung in die Seherin. Sie nahm meine Hand, hielt sie ganz nah vor ihr Gesicht und suchte durch ihre dicke Brille hindurch nach meiner Zukunft. Schließlich führte sie die Hand zum Mund, streckte ihre Zunge heraus und leckte über meine Handinnenfläche. Sie verharrte kurz, ließ mich los und sagte etwas, was ich nicht verstand, was aber den Mann dazu veranlasste, vorzutreten und ihr die Flasche Bier zu reichen, die sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit ergriff und an die Lippen führte.

Der Mann sah mich an und sagte: »Zu heiß heute, die Geister sind müde, kann man nichts machen.«

Das war endgültig zu viel für Rosalind. Sie drehte sich abrupt um, stampfte zur Tür und verschwand. Ich blickte unsicher auf den Indianer, der bedauernd mit den Schultern zuckte. »Zu heiß, kann man nichts machen.«

Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich noch kniete. Ich kam mir vor wie ein Idiot, stand verlegen auf, reichte dem Mann unsicher die Hand und verließ die Baracke.

Rosalind saß schon im Auto. Ich stieg ein, startete den Wagen und fuhr los. Mir war bewusst, wie heikel die Situation war. Indianer waren Rosalinds Leidenschaft, wie sie diesen Reinfall nehmen würde, war nicht abzusehen. Nach einiger Zeit wagte ich einen Seitenblick, und etwas Wunderbares geschah: Unsere Mundwinkel verzogen sich nach oben. Wir lachten lauthals los. Dieses Lachen hatte etwas ungeheuer Befreiendes und war wirklich eines der schönsten Geschenke, die ich je zu meinem Geburtstag bekommen habe. Und das Vermächtnis dieser alten Indianerin hat in uns fortgewirkt. Der Satz »Die Geister sind müde« ging in das fixe Repertoire unserer Beziehung ein und hatte das Potenzial, schwierige emotionale Situationen im Nu zu entschärfen.

Aber das ist nicht die Geschichte, um die es geht.

Es ist trotzdem nicht verwunderlich, dass ich ausgerechnet jetzt daran denke. Es ist der siebte Mai 2006, mein achtzigster Geburtstag. Und ich sitze tatsächlich in einem dieser großen Vögel, ich sitze zwischen Himmel und Erde über einem nächtlichen Atlantik. Angst vor dem Tod habe ich nicht. Die Weissagung der alten Seherin hat eine andere Bedeutung für mich bekommen: Der Vogel wird mich nach Hause bringen, in das Land im Herzen Europas, in dem ich geboren wurde, in dem ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht habe und in dem ich noch etwas klären möchte. Und so bin ich jetzt auf dem Weg: weißbärtig, dünnbeinig, mit zitternden Händen, und habe mich von einer rothaarigen Stewardess mit himmelblauem Kostüm und himmelblauem Lächeln auf meinen Sitz führen lassen.

Es ist weit nach Mitternacht, der Flug verläuft angenehm. Dafür habe ich auch gesorgt, ich habe einen Sitzplatz in der ersten Klasse gebucht. Ich denke, dass ich mir diesen kleinen Luxus gönnen darf, Rosalind würde mich verstehen. Zumindest bilde ich mir das ein. Seit wir nicht mehr zusammen wohnen, seit zwölf Jahren, verstehen wir uns viel besser. Ich gehe sie zweimal in der Woche besuchen, und das regelmäßig, immer am Mittwochnachmittag um halb drei und am Sonntagnachmittag um fünf. Die Zeiten habe ich mir nicht selbst ausgesucht, sie sind der Willkür der Fahrpläne geschuldet. Wie auch immer, wir haben uns daran gewöhnt. Ich lasse keinen der Termine aus, nur heute und die nächste Woche wird Rosalind vergeblich auf mich warten.

Auch der kleine Blumenhändler wird vergeblich auf mich warten. Er hat die blauen Kornblumen, die ich Rosalind seit zwölf Jahren mitbringe, jeden Mittwoch bereits hergerichtet. Sie liebt Kornblumen über alles, und ich empfinde das als angenehm, weil es mir erspart, immer einen anderen Blumenstrauß aussuchen zu müssen. Und so nehme ich jeden Mittwoch die Blumen vom Verkaufstresen, bezahle, gehe die hundert Meter, die noch zu gehen sind, und lege den Strauß auf Rosalinds Grab. Ich mache das das ganze Jahr. Auch wenn die Blumen im Winter kaum die nächste Nacht überstehen und in einem sehr heißen Sommer auch nur einen oder zwei Tage. Am Sonntag, der Blumenhändler hat natürlich geschlossen, werfe ich die Blumen vom Mittwoch weg. Montag und Dienstag ist nichts auf dem Grab. Ich denke mir, dass Rosalind das mag. So ist die Freude über die frischen Blumen am Mittwoch umso größer.

Auf dem Grabstein von Rosalind sind Flammen zu sehen: Flammen aus Blattgold, die unter ihrem Namen den Großteil des Grabsteins einnehmen. Das war der Wunsch von Rosalinds Schwester, die ich beim Begräbnis zum ersten Mal und danach nie wieder gesehen habe. Trotzdem hat sie es in den Wochen nach Rosalinds Tod geschafft, mir am Telefon einzureden, dass es diese Flammen am Grabstein brauchen würde, als Symbol für das ewige Licht. Ich war so kraftlos, dass ich sie nicht einmal auf die schwierige Symbolik der Flammen in Bezug auf den grauenhaften Tod Rosalinds aufmerksam machen konnte. Aber letztlich war es mir auch egal, wie der Grabstein aussah, und außerdem, so tröstete ich mich, hätte Rosalind sich über das Feuer gefreut – in indianischem Sinne.

Irgendwo über dem Atlantik wird Essen serviert. Es schmeckt einigermaßen, aber ehrlich gesagt habe ich keinen Hunger, mir geht es mehr um die Ablenkung. Ich lasse mir zweimal etwas Wein einschenken, wohl wissend, dass mich nichts so müde macht wie Alkohol.

Ich habe mich gut auf meine Reise vorbereitet, Material gesammelt. In Zeiten des Internets ist das kein Problem. Man gibt einen Suchbegriff ein, in diesem Fall »Lawinenwinter 1951«, und bekommt 27 000 Treffer in 0,47 Sekunden geliefert, wie mir mein Browser dienstfertig mitteilt. Ich verstehe das nicht, aber das muss ich auch nicht.

Ich habe mir Dutzende Fotografien und Artikel über diesen Winter, der in Amerika als Winter des Terrors bekannt wurde, ausgedruckt, die besten sind in meiner braunen Ledertasche, die als Handgepäck zwischen meinen Füßen steht. Die Ledertasche war ein Geschenk von Rosalind an meinem letzten Geburtstag vor ihrem Tod. Wir haben diese Festtage immer zu zweit, nie mit Gästen gefeiert. Wir haben keine Kinder, Rosalind hatte kaum Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie, ich gar keinen zu meiner. Ich kann mich nicht erinnern, dass unser zurückgezogenes Leben für einen von uns jemals ein Problem gewesen wäre. Im Gegenteil, wir wollten es so.

»Die Tasche ist aus Büffelleder! Echt indianisch«, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln und drückte mir augenzwinkernd einen zarten Kuss auf den Mund. Sieben Monate später war sie tot. Dieser Kuss war einer der letzten innigen und intimen Momente, die uns vergönnt waren.

Ich widme mich wieder meinen Unterlagen, lese einen Artikel über diesen Winter, der Geschichte geschrieben hat – und Geschichten. Die meisten sind traurig. Zweihundertfünfundsechzig Tote in Österreich und der Schweiz, weit mehr, als jeder andere Winter in den Alpen gefordert hat. Allein in Tirol wurden mehr als fünfzig Dörfer von abgehenden Lawinen getroffen, und genau dahin, nach Tirol, wird mich meine vermutlich letzte Reise auf diesem Planeten führen.

Ich kenne große Schneemassen aus meiner Kindheit in Wien. Ich erinnere mich vor allem an einen Winter, in dem alles weiß war, in dem alles stillzustehen schien, in dem eine traumhafte Ruhe und ein märchenhafter Zauber über der Millionenstadt lagen. Als Bub habe ich das geliebt. Und wenn ich heute an diese Zeit, an diesen Winter, zurückdenke, sind meine Erinnerungen schwarz-weiß. Ich frage mich oft, warum das so ist. Denke ich an eine Begebenheit aus meiner Kindheit im Sommer, ist das Gras grün, die Sonne gelb, die Donau blau. Aber jede Erinnerung an einen Winter ist schwarz-weiß. Als ob die Wucht dieser alten Schwarz-Weiß-Fotografien meinen Erinnerungen die Farben genommen hätte. Als ob ich mir einen Winter nur mehr als eine Ansammlung von Schwarz und Weiß und Tausenden Grauabstufungen vorstellen könnte. Ich habe Rosalind einmal davon erzählt. Sie hat gelacht und gemeint, dass mein Gehirn offenbar angefangen hat, Kräfte und Ressourcen zu schonen, weil Bilder in Schwarz-Weiß abzuspeichern weit weniger Kapazitäten brauchen würde als bunte.

Meine Stewardess – in der ersten Klasse wird einem das Gefühl vermittelt, dass die Stewardess nur für einen selbst da ist – erkundigt sich nach meinem Befinden. Das ist so weit in Ordnung, ich beschränke mich aber auf eine kurze Antwort, denn ich bin mir noch nicht sicher, ob mein Deutsch schon so weit reaktiviert ist, dass eine einigermaßen fehlerlose Kommunikation möglich ist. Ich werde es noch früh genug erfahren.

Ich widme mich wieder meinen Unterlagen, einem Auszug aus einem Artikel, der die meteorologischen Verhältnisse erklärt, die damals zu der Katastrophe in den Alpen geführt haben. Schon der November 1950 brachte enorme Schneemengen. Anfang Jänner folgte der nächste Schnee, sodass zu dieser Zeit die doppelte, an manchen Stellen sogar die drei- bis vierfache Menge Schnee im Vergleich zu einem normalen Winter lag. Die Katastrophe kam in zwei Schüben: Mitte Jänner kam es zu einer Nordstaulage, und es schneite tagelang ohne Unterbrechung. Es lag so viel Schnee, dass manche Ortschaften bei Erkundungsflügen nicht mehr gesichtet wurden. Es folgten enorme Lawinenabgänge im gesamten Alpenraum. Damit nicht genug: Ein Warmwettereinbruch um den zwanzigsten Jänner ließ Regen bis auf zweitausend Meter fallen. Daraufhin donnerten ungeheure Nassschneelawinen selbst dort zu Tal, wo man sich vor Lawinen sicher fühlte.

Doch damit war die Katastrophe noch nicht vorbei: In der zweiten Februarwoche kam es zu einer Südstaulage. Wieder fielen enorme Mengen Schnee, Stürme taten ein Übriges, um die Situation zu verschärfen. Und wieder rasten die Lawinen zu Tal, rissen Menschen, Vieh und Häuser, Ställe, Stadel, Kapellen, Wälder und Brücken mit sich.

Ich betrachte noch ein paar Fotografien, auf denen ich längst jedes Detail kenne: die Schneemassen, die zerstörten Häuser, Männer mit langen Stangen, die die Lawinenkegel absuchen, aufgebahrte Leichen. Ich bleibe bei einer hängen, die mich immer sehr berührt, sie ist im Spiegel, der Nummer sechs aus dem Jahre 1951, abgedruckt: Kinder gehen mit Blumen und Kränzen in den Händen auf den Fotografen zu. Im Hintergrund ein völlig zerstörtes Haus, der Spiegel hat nur drei Worte darunter geschrieben: »Blumen aufs Grab!« Und dann, der Wein hat offenbar seine Schuldigkeit getan, schlafe ich ein, irgendwo über dem Atlantik, in einem großen Vogel, der mich nach Hause bringen wird.

Das Flugzeug landet pünktlich in München, die Fahrt im vorbestellten Taxi nach Innsbruck verläuft ruhig. Mein Hotel habe ich mit Bedacht gewählt: in der Nähe des Tiroler Landesarchivs. »Fünf Minuten zu Fuß«, hatte mir die freundliche Dame am Telefon in einwandfreiem Englisch versichert. Das ist gut so, gut für einen alten Herrn, der nicht mehr allzu fit ist, aber in der Vergangenheit wühlen möchte.

Mein Zimmer ist erstaunlich groß. Eine schöne Aussicht habe ich mir gewünscht. Keine Ahnung, ob sie schön ist, die Dämmerung hat begonnen, graue Wolken hängen wie nasse Leintücher über der Stadt. Vielleicht morgen, vielleicht werde ich morgen die Berge sehen.

Obwohl ich nach der langen Reise übermüdet bin, schlafe ich schlecht in dieser ersten Nacht in den Alpen. Von der Straße herauf sind bis weit nach Mitternacht Autos, Stimmen, Schritte zu hören. Aber das ist nicht der wirkliche Grund, das ist mir klar. Der wirkliche Grund liegt mehr als fünf Jahrzehnte zurück.

VOR FÜNF TA G EN

Montag

Es sind fünf Minuten von meinem Hotel zum Landesarchiv. Ich habe zwei Stunden gebraucht. Nicht, dass die Zeitangabe falsch gewesen wäre oder ich den Weg nicht gefunden hätte. Einfach nur, weil ich die Zeit für mich brauchte. Ich schlenderte einige Schritte in diese Richtung, einige in die andere, ich beobachtete Passanten, Autos, blickte in die Auslagen der Geschäfte, suchte am immer noch mit Wolken bedeckten Horizont nach Bergen, die sich auch heute noch nicht zeigen wollten. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach nicht hineinzugehen in das Archiv, alles ruhen zu lassen, stattdessen ein paar gemütliche Tage hier zu verbringen, gut zu essen, gut zu trinken, vielleicht ein gutes Konzert besuchen und dann wieder zum Flughafen, den Bergen und diesem Land Auf Wiedersehen sagen, endgültig. Eine solche Reise macht man in meinem Alter kein zweites Mal.

Aber schließlich stand ich doch vor der Tür des Landesarchivs. Stand da und wartete, unschlüssig, was ich tun sollte. Schon vor Wochen hatte ich per E-Mail angefragt, ob es in meiner Angelegenheit Unterlagen gebe. Es gab sie, wie mir eine Mitarbeiterin mitteilte. Sie werde alles für mich vorbereiten, versicherte sie, als ich meinen Besuch ankündigte. Und sie freue sich, es komme schließlich nicht jeden Tag vor, dass jemand aus Amerika komme, um Forschungen zu betreiben.

Jetzt also ist dieser Jemand da. Dieser Jemand aus Amerika, ein alter Mann, der unschlüssig an der Tür steht. Und dann macht dieser Jemand, mache ich den Schritt, den entscheidenden Schritt, stoße die schwere Holztür auf und trete ein.

Ich brauche eine Weile, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Vor mir ist eine Rezeption, dahinter eine Dame, die Haare streng zu einem Knoten zusammengebunden. Ich räuspere mich und habe Erfolg.

»Ja?« Die Dame schaut zu mir.

»Guten Tag«, sage ich, »ich bin angemeldet.«

Die Dame runzelt die Stirn, jemand nähert sich von der Seite.

»Mr. Miller?« Eine junge Frau, oder sollte ich sagen, ein Mädchen, kaum über zwanzig Jahre alt, mit blonden kurzen Haaren und einem rundlichen Gesicht, steht vor mir. »Wir hatten Kontakt.«

»Ja, ja, natürlich«, bestätige ich und komme mir lächerlich vor.

»Kommen Sie, ich habe alles hergerichtet. Das ist ja ungeheuer spannend, das mit Ihrem Cousin.«

Ich erinnere mich, dass ich ihr per E-Mail mitgeteilt hatte, Nachforschungen über meinen verschwundenen Cousin machen zu wollen, und folge ihr einen Gang entlang. Sie dreht sich alle paar Schritte um, wohl um sicherzugehen, dass ihr dieser alte Herr folgen kann. Irgendwie vermittelt sie den Eindruck, etwas auf dem Herzen zu haben. Und tatsächlich, während sie mir eine Tür in einen anderen Gang aufhält, sagt sie plötzlich, dass sie das Manuskript meines Cousins gelesen habe.

»Sind Sie mir böse?«

»Nein, nein.« Ich schüttle den Kopf.

»Es war so interessant, ich konnte nicht …« Sie zuckt mit den Achseln, wirkt bekümmert, als hätte sie etwas Verbotenes getan.

»Am Telefon … also, da sagten Sie …« Ich suche nach Worten, um sie zu beruhigen, aber nur langsam scheint die deutsche Sprache zurückzukommen.

»Ja?« Sie schaut mich erwartungsvoll an, offenbar froh, dass ich irgendetwas gesagt habe.

»Also, Sie sagten etwas von den Polizeiberichten …?«

»Ja, natürlich«, ein schüchternes Lächeln huscht über ihr Gesicht, »die Polizeiberichte, wegen dem Mord. Leider ist davon nicht mehr viel übrig, ich habe mich erkundigt, 1973 hat die Polizeistation gebrannt, in der sie im Keller gelegen sind.«

»Ja, leider«, sage ich, nur um irgendetwas zu sagen. Wir stehen mitten in einem dieser Gänge, und ich wünsche mir, dass sie weitergeht, endlich weitergeht, mich diese letzten Schritte auf diesem Weg führt, auf diesem Weg zu einem Geheimnis, das ich alter Narr lösen will.

Sie scheint noch auf etwas zu warten, doch als nichts mehr von mir kommt, wiederholt sie nur leise mein »Ja, leider«, dreht sich um, geht mir wieder voran und führt mich in einen Lesesaal. Unsere Schritte sind unangenehm laut. Zwei Tische sind besetzt mit zwei Herren, beide weißhaarig, aber trotzdem gute zehn Jahre jünger als ich, zumindest schätze ich das.

»Da hinten, direkt am Fenster, passt Ihnen der Platz?«, flüstert sie.

Ich nicke.

»Setzen Sie sich, ich hole Ihre Unterlagen!«

Sie geht den Weg durch den Lesesaal zurück. Ich warte, bis ihre Schritte verklungen sind. Plötzlich ist es sehr still. Das Rascheln einer Seite, die von einem der beiden Herren umgeblättert wird, wirkt unnatürlich laut. Weit entfernt, abgedämpft, wie ein Geräusch aus einer anderen Welt, das Hupen eines Autos. Ich setze mich nicht, gehe ein paar Schritte, vorsichtig und möglichst leise einen Fuß vor den anderen setzend, zu dem Regal an der Wand, das vom Boden bis zur Decke reicht. Bücher über Bücher über Bücher. Es dürfte sich um irgendeine historische Abteilung handeln. Die Bücher sind alt, was man nicht nur an den Lederrücken erkennen kann, sondern auch riecht. Ich atme tief ein und genieße diesen Augenblick, genieße die Vertrautheit, die in diesem Geruch liegt. Mehr als dreißig Jahre lang habe ich das eingeatmet, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Im Jahr 1962 habe ich zusammen mit Rosalind ein kleines Antiquariat eröffnet, sieben Jahre nachdem wir uns kennengelernt, fünf Jahre nachdem wir geheiratet hatten. Wir sind damit nicht reich geworden, aber darum war es uns auch nie gegangen. Die Jagd nach alten, seltenen Büchern, die Freude darüber, wieder ein Schmuckstück gefunden zu haben, die Ehrfurcht, eine Erstausgabe, vielleicht noch mit Widmung, in Händen zu halten – all das wurde uns zu einem Lebensinhalt. Wir haben es nie bereut.

Der absolute Höhepunkt für Rosalind war aber, wie konnte es auch anders sein, alles, was mit indianischer Literatur zu tun hatte. Dass es so etwas überhaupt gab, eine indianische Literatur, die sogar eine historische Tradition hatte, hatten wir beide nicht gewusst. Bis zu jenem Tag im Mai 1968. Rosalind durchsuchte eine Kiste mit Büchern, die sie bei einer Auktion erstanden hatte. Plötzlich stand sie vor mir, mit aufgerissenen Augen, in ihren Händen ein kleines vergilbtes Buch: die erste von einem Indianer geschriebene Autobiografie. Die Lebenserinnerungen von Black Hawk, verfasst 1833. Sein unglaublicher indianischer Name war Ma-ka-tai-me-she-kia-kiak, ich musste ihn auswendig lernen, Rosalind bestand darauf. Nach diesem Fund kannte sie kein Halten mehr: Sie suchte alles, was je von einem Indianer geschrieben worden war oder mit Indianern zu tun hatte, und sie fand vieles.

Bald war ein Drittel unseres Antiquariats für indianische Literatur reserviert, wir wurden eine der ersten Adressen, wenn es darum ging, schriftliche Zeugnisse der Indianer ausfindig zu machen. Rosalind bekam Einladungen von Universitäten, Anfragen aus ganz Amerika, schließlich auch aus Europa und Asien. Das war lange nach ihrer ersten naiven Indianerphase, in der sie mich zu der angeblichen Tochter von Spotted Elk geführt hatte. Sie wurde eine anerkannte Expertin auf dem Gebiet der indianischen Literatur. Mehr als ein Mal verirrten sich Forscher und Studenten in unser kleines Antiquariat. Und immer war da dieser Geruch, dieser unverwechselbare Geruch, den alte Bücher verströmen und der jetzt im Landesarchiv in Innsbruck Erinnerungen und längst vergangene Szenen in mein Bewusstsein zaubert: Rosalind über eine Kiste mit Büchern gebeugt, Rosalind mit einem alten Schmöker am Fenster sitzend, Rosalind in einer angeregten Diskussion mit einem Kunden, Rosalind, die mir mit einem triumphierenden Blick ein seltenes Exemplar reicht, Rosalind, Rosalind.

Die Bücher, das war unsere gemeinsame Leidenschaft. Meine Faszination für Lawinen und Lawinenkatastrophen hat Rosalind hingegen stets belächelt – bis zu unserem Winterurlaub im Jahre 1963. Dieser Urlaub ist eine der lebendigsten Erinnerungen, die ich habe. Und die Bilder, die dabei aus meinem Inneren steigen, sind auch schwarz-weiß. Aber das habe ich Rosalind nie erzählt. Ich wollte nicht noch einmal ihren Spott hören.

Wir wollten damals in einem kleinen Nest in den Rocky Mountains Skifahren lernen. Das war Rosalinds Idee gewesen: »Du bist Österreicher, also musst du Ski fahren können.« Mein schwacher Protest, »ich bin in Wien aufgewachsen, nie auf Skiern gestanden«, interessierte sie nicht, sie hatte noch nie etwas übriggehabt für logische Begründungen.

Als wir in diesem schneereichen Winter aus dem Bus in den Rocky Mountains stiegen, schlug uns der Wind mit seiner kalten Hand ins Gesicht, und ein großer schwarzer Vogel strich mit einem heiseren Schrei direkt über unsere Köpfe hinweg, sodass wir uns instinktiv duckten.

»Was für eine Begrüßung!«, lachte Rosalind.

Ich gab keine Antwort. Es gibt Momente, Orte, die dir Angst machen. Du weißt, dass da etwas ist, das auf dich wartet, gesichtslos, namenlos, jenseits aller Begriffe, jenseits aller Konturen, und doch, es ist da, du spürst es, und du weißt nur eines: Es ist nichts Gutes. Dieses Gefühl beschlich mich, als wir aus dem Bus stiegen. Meine Augen suchten in der einbrechenden Dunkelheit nach Sicherheit, nach dem Hotel, das uns aufnehmen würde, nach Personal, das uns erwartete, nach irgendetwas, das dieses ungute Gefühl vertreiben könnte. Doch da war nichts: Der Parkplatz lag hinter dem Hotel, das uns nur seine Rückseite zudrehte. Wir nahmen, so wie die anderen, unser Gepäck und gingen, die Schultern gegen die Angriffe des Windes hochgezogen, rund um das Hotel zum Eingang. Direkt vor dem Gebäude ragte ein steiler Hang auf, in der Dämmerung war es nicht möglich zu sehen, wie hoch er hinaufreichte. Mannshohe Schneewände säumten den Weg, und wenn es möglich ist, dass etwas in der Dämmerung noch Schatten werfen kann, dann taten sie es. Wir schwiegen. Erst als wir durch die Tür in das Hotel traten, in eine andere Welt, in der der Wind keinen Zutritt hatte und Schneewände keinen Schatten werfen konnten, löste sich die seltsame Beklommenheit. Erste Worte wagten sich in die Stille, da und dort Gelächter, wir kamen an.

Ich schlief schlecht in dieser ersten Nacht. Wind war aufgekommen, starker Wind. Ich hörte das Heulen des Sturmes, hörte, wie er seine verzerrten Melodien auf den Stromleitungen spielte, wie seine Böen an den Fensterläden rissen, sah in dem trüben Licht, das eine einsame Straßenlampe vor unserem Fenster verbreitete, dass es angefangen hatte zu schneien. Ich sah die Schneeflocken tanzen, sah immer weiter in die Höhe wachsende Schneewände, die sich in schwarz-weiße Bilder verwandelten, Bilder vom Winter des Terrors, sah Menschen mit langen Stangen Lawinenkegel absuchen, mit Schaufeln sich einen Weg bahnen, mit Blumen ihre Trauer durch den Ort tragen. Bild auf Bild tauchte auf aus meinem inneren Album, eine Welt in Schwarz-Weiß.

Am Morgen hatte der Wind nachgelassen. Der Schneefall nicht. Unser Skilehrer ließ sich davon nicht aufhalten. Nachdem wir uns passende Schuhe, Skier und Stöcke ausgesucht hatten – »alles im Preis inbegriffen«, flüsterte Rosalind stolz –, gingen wir. Es war längst nicht mehr so kalt wie gestern, aber bewölkt, und die dicken Schneeflocken gestatteten auch jetzt meinen Blicken nicht, dem steilen Hang vor dem Hotel bis zu seinem Anfang zu folgen. Dafür folgten wir unserem Skilehrer auf einem schmalen, freigeschaufelten Weg, der direkt zu einem Schlepplift führte. Die Schneewände rechts und links von dem Weg waren über zwei Meter hoch, wenn man sich nicht genau in der Mitte hielt, streifte man sie mit den Schultern, was mir jedes Mal ein Schaudern durch den Körper jagte. Ich versuchte mich auf Rosalind zu konzentrieren, die vor mir ging, die rechte Hand an den Skiern über ihrer Schulter, in der linken Hand die beiden Stöcke, genau wie ich, versuchte mich auf die Farben zu konzentrieren, die Farben ihrer Mütze, Rot und Blau, die Farben ihrer Jacke, Rot mit dunkelgrauen Streifen, die Farben ihrer Skier, Rot, Schwarz und Grün, baute mir aus diesen Farben eine bunte Mauer gegen die schwarz-weißen Bilder in meinem Inneren und rannte fast gegen Rosalind, als diese stehen geblieben war und den Kopf über die Seite zu mir wandte.

»Das ist doch wunderbar romantisch! Findest du nicht?«

Zum Glück erwartete sie keine Antwort, und ich war froh, schon kurz darauf diesem engen, weißen Schlund entkommen zu sein und mich unterhalb der Skipiste auf das Anschnallen der Skier, auf die ersten Stehversuche, auf die ersten zaghaften, von den Stöcken angeschobenen Fahrversuche konzentrieren zu können. Das Lachen von Rosalind, die Anweisungen des Skilehrers, das Rattern des Schleppliftes, entfernte Rufe anderer Skifahrer, der wieder auffrischende Wind, der stärker werdende Wind, der Wind, der uns wieder mit seiner kalten Hand ins Gesicht fuhr, Rosalinds Lachen in der Luft zerfetzte, die Anweisungen des Skilehrers zerstückelte und uns schließlich wieder, die Skier über den Schultern, den Kopf eingezogen, in den weißen Schlund trieb, zusammen mit den anderen auf dem Weg zurück in das Hotel, auf dem Weg zurück in eine Welt, in der der Wind keinen Zutritt hatte und in der Schneewände dich nicht an den Schultern berühren konnten.

Es war das einzige Mal, dass wir in diesem Urlaub auf Skiern gestanden waren. Aber das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Der Sturm wurde stärker in der Nacht. Ein Heulen, Pfeifen, Kreischen war die Begleitmusik, die das friedliche Atmen Rosalinds, die in meinen Armen lag, übertönte. Bis weit nach Mitternacht war ich wach, kämpfte gegen die Bilder, die der Gesang des Sturmes in meinem Innern aufwühlte, kämpfte gegen schwarz-weiße Gestalten von alten Fotografien, die der Wind zum Tanz aufforderte, die mit langen Stangen auf einer weißen Bühne standen und sie in einem gleichbleibenden Rhythmus in den Boden stießen, hinein in das gelöste Haar der Lawine, die mit weißen Fingern nach mir griff.

Das war der Moment, in dem ich aufschrie, und plötzlich war eine Hand auf meiner Stirn, eine Stimme drängte sich beruhigend durch die Symphonie des Sturmes, und ich sah das Gesicht von Rosalind über mir, die Lippen bewegten sich leicht, und ich hörte beruhigende Worte aus ihrem Mund kommen, hörte das Wort »Traum«, und dann »Du«, und dann »Keine Angst«, und ich nickte, immer wieder, immer wieder nickte ich, bis Rosalind ihren Kopf wieder auf meine Schulter legte, ihre Hand noch zweimal flüchtig über meine Wange streifen ließ und gleich darauf wieder eingeschlafen war. Wieder sang mir der Sturm sein Lied, vergriff sich an den Stromleitungen, an den Fensterläden, an den Ziegeln auf dem Dach, und erst als der Morgen eine erste leise Ahnung von Licht an die Wände unseres Zimmers malte, schlief ich ein.

Der nächste Tag war vor allem grau. Kein Blick aus dem Fenster schaffte es, mehr als zwei Meter weit ins Freie zu dringen, bevor ihm die Elemente die Sicht verstellten. Der Sturm wurde stärker, das Heulen, Zischen, Pfeifen zu einem ständigen Hintergrundgeräusch, das man irgendwann kaum noch wahrnahm. Schon beim Frühstück erklärte uns der Skilehrer, dass heute nicht daran zu denken sei, ins Freie zu gehen, und verschwand. Ich habe ihn den ganzen Tag nicht mehr gesehen. Rosalind schien das nichts auszumachen: Sie war gut aufgelegt, fand den Sturm abwechselnd sehr romantisch und sehr spannend und verstand nicht, warum ich so schweigsam war, wieso meine Blicke immer wieder unruhig zu den Fenstern wanderten, weshalb ich in Gedanken ganz woanders war. Ich dachte an den Hang vor unserem Hotel, den steilen Hang, von dem ich keine Ahnung hatte, wie hoch er war, weil das Wetter noch nie den Blick freigegeben hatte. Ich wusste nur, dass da draußen Unmengen von Schnee lagen, dass meine Unruhe mit jeder Stunde stieg und ich kaum in der Lage war, ein vernünftiges Gespräch mit Rosalind oder anderen Personen, die genauso wie wir in dem Hotel gefangen waren, zu führen.

Offenbar war ich der Einzige, der sich Sorgen machte. Alle anderen unterhielten sich, schwatzten, lachten, tranken, zwei jüngere Paare begannen zu tanzen, nachdem auf ihren Wunsch die Musik lauter gestellt worden war. So laut, dass das Wüten des Sturmes übertönt wurde. Das hätte mich ablenken können, tat es aber nicht. Im Gegenteil, es steigerte meine Unruhe nur weiter. Jetzt, so schien es mir, gab es überhaupt keine Kontrolle mehr. Hatte der Sturm aufgehört? Wurde er stärker? Nichts war mehr zu hören als Tanzmusik. Wie auf der Titanic, dachte ich.

Immer wieder verdrückte ich mich aus dem Saal, ging an der Rezeption vorbei auf die Toilette, sperrte mich in eines der Klos ein, riss das Fenster auf und versuchte, aus den Schreien des Windes irgendetwas herauszuhören, irgendeine Tendenz, irgendetwas. Alles schien mir besser als diese Ungewissheit. Rosalind war zunehmend frustriert und zornig, nicht von der Situation an sich, sie unterhielt sich prächtig an der Bar mit zwei anderen Frauen, sondern wegen mir.

»Was ist los? Verdammt noch mal, was ist los mit dir?«, nahm sie mich auf die Seite. »Du benimmst dich unmöglich! Ist es so schlimm, wenn wir heute nicht auf die Skier kommen?«

Ich schüttelte den Kopf. Rosalind und auch die anderen ahnten nichts.

»Begreifst du denn nicht?«, fragte ich Rosalind.

»Was begreifen? Was denn?«

»Der Sturm, der Schnee, der viele Schnee, der Hang da draußen. Ich habe keine Ahnung, wie weit er raufgeht.«

Rosalind verstand immer noch nicht.

»Schatz, ist mit dir alles in Ordnung? Was soll schon sein mit dem Hang? Wieso musst du wissen, wie hoch er ist?«

»Es ist gefährlich, Rosalind. Gefährlich, da liegt so verdammt viel Schnee draußen, Lawinen, du verstehst?«

Rosalind lachte auf.

»Ach komm schon. Du und deine Lawinen! Diese alte Geschichte mit deinem Cousin.« Sie blickte mich mitleidig an. »Überleg doch mal: Die Einheimischen hier wissen das doch sicher besser? Wenn es hier irgendwie gefährlich wäre, hätten sie uns schon längst rausgeholt!«

Ich nickte, sagte wohl so irgendetwas wie: »Du hast recht, natürlich, du hast recht!« Aber ich war nicht beruhigt, keineswegs, auch nicht, als der Sturm plötzlich nachließ und sich eine gespenstische Ruhe über dem tief verschneiten Land ausbreitete.

Wir gingen früh zu Bett, lagen stumm nebeneinander, Rosalind in meinem Arm, den Kopf auf meiner Schulter, ich spürte ihren Atem an meinem Kinn. Die unnatürliche Stille lastete schwer im Raum, fast hätte ich mir das Heulen und Toben des Sturmes zurückgewünscht. Irgendwann sind wir eingeschlafen. Ich erwachte Stunden später. Rosalind hatte sich auf die andere Seite gedreht. Etwas schien mir auf der Brust zu sitzen, schnürte mir den Hals zu. Ich schlug die Decke zurück, wollte aufstehen, und in diesem Augenblick hörte ich es: ein dumpfes Grollen, das mich zuerst an einen entfernten Donner denken ließ, aber mich im nächsten Moment traf wie eine Faust.

»Rosalind!«, brüllte ich. »Wach auf!«

Und dann ein Knall, ein Kreischen, ein Splittern, irgendetwas Kaltes schoss mir in den Nacken, schob mich nach vorne. Ich schrie und schrie und schrie, schob mit den Armen den Schnee von mir weg, und plötzlich war alles still, still, erstarrt. Ich stand auf, stapfte über den Schnee, der etwa einen halben Meter hoch lag, auf das Bett zu, flüsterte »Rosalind«, sagte »Rosalind«, flehte »Rosalind«, schrie »Rosalind«, und dann war ich beim Bett, das von der durch das geborstene Fenster hereinstürzenden Lawine nur auf meiner Seite verschüttet war, sah Rosalind aufrecht auf ihrer Seite sitzend, die Decke mit beiden Händen hochgezogen, vor den Mund gepresst. Ich riss ihr die Decke weg, nahm sie in meine Arme, wiegte sie hin und her, Rosalind und Rosalind und Rosalind, und dann, ich weiß nicht, wie lange es dauerte, brach etwas aus ihrem Mund, ein Schluchzen zuerst, dann ein Schrei, und schließlich weinte sie hemmungslos.

Wir hatten Glück, genauso wie alle anderen Gäste, wir konnten alle unverletzt das Hotel verlassen. Es war unser letzter Winterurlaub, nie mehr wieder hat einer von uns den Wunsch geäußert, Skifahren zu gehen.

»… Ihre Unterlagen.«

Verblüfft drehe ich mich um. Ich war so in meine Erinnerungen versunken, dass ich die Schritte des Mädchens nicht gehört habe. Ich gehe zurück zum Tisch, auf den sie bereits einen großen Karton gestellt hat.

»Da ist alles drin«, sagt sie leise, ihre Stimme der Stille im Lesesaal anpassend. Sie nimmt den Deckel vom Karton, greift hinein und zieht ein großes, in Leder gebundenes Buch heraus.

»Sehen Sie«, flüstert sie, »das Manuskript Ihres Cousins!«

Ich atme tief durch, merke, wie sich das Tempo meines Herzschlags erhöht. So nahe dran, so nahe am Ziel, falls es denn in dieser Geschichte so etwas wie ein Ziel überhaupt gibt.

»Hier drinnen sind die Polizeiberichte, die Reste«, sagt sie mit ehrlich bekümmerter Stimme und hält eine gelbe Mappe in die Höhe. »Ich könnte versuchen, also wenn Sie wollen, sie zu kopieren …?«

»Ja, kopieren, ja …«, höre ich mich sagen, meinen Blick fest auf das Manuskript gerichtet, das in Reichweite vor mir auf dem Tisch liegt.

»Dann … viel Spaß!« Sie zuckt bedrückt mit den Schultern, offenbar, weil sie das Wort »Spaß« auch etwas befremdend findet. Aber schließlich wendet sie sich zum Gehen, und ich höre ihre Schritte, als sie durch den Lesesaal davoneilt, dann die Tür, und es ist still.

Irgendwann sitze ich und weiß nicht mehr, wann ich mich gesetzt habe. Meine Finger berühren das Buch, und ich weiß nicht mehr, wann ich meine Arme danach ausgestreckt habe. Ich kann mich nicht überwinden, es aufzuschlagen. Immer noch versuche ich, den wilden Reigen der Bilder in meinem Inneren anzuhalten. Jetzt, nach so vielen Jahren, nach so vielen Jahrzehnten, wirklich hier zu sein, die Chance zu haben, Klarheit zu bekommen, lässt meinen Puls rasen. Auch wenn mir klar ist, dass die Spuren nach diesem halben Jahrhundert nur noch undeutlich sein werden, vielleicht auch gar nicht mehr zu sehen. Auch wenn mir klar ist, dass es diese Spuren, nach denen ich suche, vielleicht nie gegeben hat. Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich schlage das Buch auf und tauche ein in die Welt von Max Schreiber.

SCHREIBERS MANUSKRIPT

I. Der Schnee