DAS BUCH DER GEHEIMNISSE
112 Meditations-Techniken zur Entdeckung der inneren Wahrheit
Deutsche Übersetzung: Prem Nirvano
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel: »The Book of Secrets. The Science of Meditation«. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 im Innenwelt Verlag in fünf Einzelbänden: »Buch der Geheimnisse«, »Welt des Tantra«, »Mysterium der Liebe«, »Licht der Bewusstheit«, »Potential der Leere«.
Osho kommentiert 122 alte Sutras aus dem Vigyan Bhairav Tantra und zitiert aus dem Kapitel »Centering« aus dem Buch »Zen Flesh, Zen Bones« von Paul Rep, erschienen bei Tuttle Publishing.
Dieses Buch enthält den Originaltext der Vortragsreihe über das Vigyan Bhairav Tantra. Er wurde während seiner Live-Unterweisung aufgezeichnet. Alle Vorträge Oshos liegen bereits ungekürzt in Buchveröffentlichungen vor und sind auch als Original-Audioaufnahmen erhältlich. Audiomedien und das vollständige Textarchiv finden Sie im Internet in der »Osho Library« nachgewiesen unter www.osho.com
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Deutsche Erstausgabe
© 2009 der deutschsprachigen Ausgabe Arkana, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
© 1975 OSHO International Foundation, Switzerland.
www.osho.com/copyrights
Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Fine Pic® München
Satz: Barbara Rabus
978-3-641-27572-3
www.arkana-verlag.de
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Inhalt
Einleitung
1 Die Welt des Tantra Sutra
2 Der Weg des Yoga und der Weg des Tantra Fragen
3 Atem – der Nabel des Lebens Sutras
4 Die Täuschungsmanöver des Kopfes Fragen
5 Meister über Traum und Tod Sutras
6 Der Mensch ist Schlaf, seine Welt ist Traum Fragen
7 Liebe löst Sutras
8 Akzeptiere das Tier in dir – und werde zum Göttlichen Fragen
9 Die Welt ist dein Zuhause Sutras
10 Man muss kein Genie sein, um ein Buddha zu werden Fragen
11 Die Reise nach innen Sutras
12 Jenseits vom Verstand ist die Quelle Fragen
13 Auf das innere Zentrum stoßen Sutras
14 Und dann … Fragen
15 Werde nicht wütend auf das Boot Sutras
16 Ein Irrer ist nur ein bisschen mehr verrückt als du Fragen
17 Verschiedene »Stopp!«-Techniken Sutras
18 Bei den Fakten bleiben Fragen
19 Eine Technik für den intellektuellen Typ und eine Technik für den fühlenden Typ Sutras
20 Gewöhnliche Liebe und die Liebe eines Buddhas Fragen
21 Drei »schauende« Techniken Sutras
22 Das dritte Auge sehend machen Fragen
23 Weitere Techniken des »Schauens« Sutras
24 Zweifel oder Glaube, Leben oder Tod Fragen
25 Von Wörtern über reine Töne zum Sein Sutras
26 Akzeptiere die Gipfel und die Täler Fragen
27 Tonlosigkeit, Tonfülle und totale Bewusstheit Sutras
28 Meditation – Die Last des Verdrängten abwerfen Fragen
29 Techniken, um den Verstand fallenzulassen Sutras
30 Hingabe im Sex und Hingabe an einen Meister Fragen
31 Vom Klang zu innerer Stille Sutras
32 Nicht überall, wo Tantra draufsteht, ist Tantra drin Fragen
33 Die Spiritualität des tantrischen Sexaktes Sutras
34 Vom Gipfel- zum Tal-Orgasmus Fragen
35 Sich nach innen wenden – zum Wirklichen hin Sutras
36 Maya – das Illusorische – und die Wirklichkeit Fragen
37 Zeuge des Lebensfilms Sutras
38 Erst authentisch werden Fragen
39 Von der Welle zum kosmischen Ozean Sutras
40 Plötzliche Erleuchtung – und was sie verhindert Fragen
41 Tantrische Methoden der Bewusstwerdung Sutras
42 Wachheit durch Tantra Fragen
43 Im Vergänglichen das Unvergängliche finden Sutras
44 Liebe und Befreiung Fragen
45 Halte dich ans Wirkliche Sutras
46 Sich tantrisch von Begierden befreien Fragen
47 Tantrische Meditation mit Lichttechniken Sutras
48 Das Potential des Samenkorns Fragen
49 Bewusstes Handeln Sutras
50 An die Wurzeln gehen Fragen
51 Zurück zur Existenz kommen Sutras
52 Experimentiert, bis ihr die richtige Methode … Fragen
53 Von Tod zu Todlosigkeit Sutras
54 Das Licht der Bewusstheit Fragen
55 Nur das Unwirkliche löst sich auf Sutras
56 Die Leere entdecken Fragen
57 Du bist überall Sutras
58 Lass dein Karma hinter dir Fragen
59 Sei nur Wächter auf dem Berge Sutras
60 Befrei dich – von dir selbst Fragen
61 Eins mit allem Sutras
62 Genau jetzt ist das Ziel Fragen
63 Fang an, dich selbst zu erschaffen Sutras
64 Nicht zu wählen ist Seligkeit Fragen
65 Überschreite deine Grenzen Sutras
66 Ein Buddha ist ein Niemand Fragen
67 Gehe über Verstand und Materie hinaus Sutras
68 Meditation ist ein Solo-Spiel Fragen
69 Du kennst dich nicht wirklich Sutras
70 Ertrage den Schmerz des Alleinseins Fragen
71 Vergiss die Peripherie Sutras
72 Stell dich auf Ungewisses ein Fragen
73 Die Angst vor Transformation sitzt tief Sutras
74 Empfindsam sein ist Gewahrsein Fragen
75 Suche den Rhythmus der Gegenpole Sutras
76 Leben ist sexuelle Energie Fragen
77 Finde den inneren Lotsen Sutras
78 Die innere Wegführung Fragen
79 Die Philosophie der Leere Sutras
80 »Alles« und »nichts« bedeuten dasselbe Fragen
Liste der Meditationen
Über den Autor
Einleitung
Das Vigyan Bhairav Tantra ist eine alte tantrische Schrift, die der indischen Mythologie zufolge von Gott Shiva der Welt überbracht wurde. Sie enthält nicht weniger als 112 Meditationstechniken. Diese bilden die Grundlage aller Meditationstechniken überhaupt – so sagt uns Osho. Jeder wird unter diesen Techniken mindestens eine finden, die für ihn geeignet ist. Wie ein Archäologe wertvolle Funde aus den Tiefen der Geschichte zutage fördert und ihre Bedeutung in einer neuzeitlichen Weise deutlich macht, so hat Osho die uralten Texte des Vigyan Bhairav Tantra mit der Einsicht des Weisen durchdrungen und sie uns in einer klaren modernen Sprache erläutert. Wer seine Diskurse gelesen hat, wird gewiss dazu angeregt, mit seinen Meditationstechniken zu experimentieren. Das Buch der Geheimnisse gibt viele wertvolle praktische Hinweise für jeden, der sich durch die Wissenschaft der Meditation verwandeln möchte.
Tantra heißt Technik, so erklärt Osho. Es bedeutet »die Technik, die Methode, der Weg« und Vigyan Bhairav Tantra heißt »die Technik, über das gewöhnliche Bewusstsein hinauszugelangen«. Vigyan heißt Bewusstsein, und Bhairav ist der Zustand jenseits des gewöhnlichen Bewusstseins. Man kennt Shiva auch als »Bhairav« und Devi, seine Gemahlin, als »Bhairavi« – als diejenigen, die alle Dualität hinter sich gelassen haben. Shiva übermittelt Devi diese 112 Methoden; beide stehen in einer tiefen Liebesbeziehung zueinander.
»Nicht eine einzige Methode kann diesen 112 Methoden Shivas hinzugefügt werden«, sagt Osho, »und dies Vigyan Bhairav Tantra ist fünftausend Jahre alt.«
Sutra
Devi fragt:
O Shiva, was ist deine Wirklichkeit?
Was ist dies von Wundern erfüllte Universum? Was ist der Same?
Wer hält das Rad des Alls im Gleichgewicht?
Was ist dies Leben jenseits von Form, das alle Form durchdringt?
Wie können wir vollends hineingelangen?
Hinaus über Raum und Zeit, Namen und Bezeichnungen?
Schaffe meinem Zweifel Klarheit!
Ein paar Dinge zur Einführung. Erstens: Die Welt des »Vigyana Bhairava Tantra« ist nicht intellektuell. Sie ist nicht philosophisch. Ideologie ist für sie bedeutungslos. In ihr geht es um Methoden und Techniken, ganz und gar nicht um Prinzipien. Das Wort »Tantra« heißt Technik, Methode, Weg. Es ist also keine Philosophie – vergesst das nicht. Es hat nichts mit intellektuellen Problemen und Fragestellungen zu tun. Es hat nichts mit dem »Warum« der Dinge zu tun. Es hat etwas mit dem »Wie« zu tun – nicht damit, was Wahrheit ist, sondern wie man zur Wahrheit gelangt.
»Tantra« heißt Technik. Diese Abhandlung ist also eine wissenschaftliche. Der Wissenschaft geht es nicht um das Warum, der Wissenschaft geht es ums Wie. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft. Die Philosophie fragt: »Warum ist diese Existenz?« Die Wissenschaft fragt: »Wie ist diese Existenz?« Sobald man »Wie?« fragt, werden Methode und Technik wichtig. Theorien werden bedeutungslos. Erfahrung wird zum Mittelpunkt.
Tantra ist Wissenschaft. Tantra ist nicht Philosophie. Philosophie zu verstehen, ist nicht schwer, weil ihr dabei nur euren Intellekt gebraucht. Wer Sprache versteht, wer Begrifflichkeit versteht, der kann Philosophie verstehen. Man braucht sich nicht zu ändern, man braucht keine Transformation zu erfahren. Du kannst, so wie du bist, Philosophie verstehen. Aber nicht Tantra.
Du wirst dich ändern müssen. Ja, was du brauchst, ist eine Mutation! Solange du nicht anders bist, kann Tantra nicht verstanden werden; denn Tantra ist kein intellektuelles Konzept, es ist eine Erfahrung. Solange du für diese Erfahrung nicht empfänglich, bereit, verwundbar bist, kann sie dich nicht erreichen.
Philosophie ist Verstandessache. Der Kopf genügt, du brauchst deine Gesamtheit nicht dazu. Tantra fordert dich in deiner Gesamtheit. Es ist eine tiefere Herausforderung. Du musst dich mit Haut und Haaren darauf einlassen. Es ist nicht fragmentarisch. Ein anderes Verständnis, eine andere Einstellung, ein anderer Geist sind erforderlich, um es zu empfangen.
Weil das so ist, sind Devis Fragen nur scheinbar philosophisch. Tantra nimmt mit Devis Fragen seinen Anfang. All diese Fragen können philosophisch aufgefasst werden.
Tatsächlich kann jede Frage auf zweierlei Art aufgefasst werden: philosophisch oder total; intellektuell oder existentiell. Wenn zum Beispiel jemand fragt: »Was ist Liebe?«, kann man das intellektuell angehen: Man kann diskutieren, Theorien entwickeln, man kann eine bestimmte Hypothese verteidigen. Man kann ein System, eine Lehre entwickeln, ohne die Liebe überhaupt erfahren zu haben.
Eine Lehrmeinung zu entwickeln, dazu gehört keine Erfahrung. Ganz im Gegenteil: Je weniger du weißt, desto besser, denn umso unbedenklicher kannst du ein System aufstellen. Nur ein Blinder kann ohne weiteres definieren, was Licht ist. Wer keine Ahnung hat, ist kühn. Unwissenheit ist immer kühn; Wissen zögert. Und je mehr du weißt, desto mehr verlierst du den Boden unter den Füßen. Je mehr du weißt, desto mehr merkst du, wie unwissend du bist. Und wer wirklich weise ist, der wird unwissend. Er wird so einfach wie ein Kind. Oder so einfach wie ein Idiot.
Je weniger du weißt, desto besser. Philosophisch zu sein, dogmatisch zu sein, doktrinär zu sein, ist leicht. Ein Problem intellektuell zu bewältigen, ist sehr einfach. Aber ein Problem existentiell zu bewältigen, nicht nur darüber nachzudenken, sondern es zu durchleben, hindurchzugehen, zuzulassen, so dass es dich verwandelt, das ist schwer. Das heißt: Um die Liebe zu kennen, musst du lieben. Das ist gefährlich, denn du wirst nicht bleiben, wer du bist. Die Erfahrung wird dich verwandeln. In dem Moment, wo du in die Liebe hineingehst, gehst du in einen anderen Menschen hinein. Und wenn du herauskommst, kannst du dein altes Gesicht nicht wiedererkennen. Es wird nicht mehr deins sein. Ein Bruch ist geschehen. Jetzt klafft eine Lücke. Der alte Mensch ist tot, und der neue Mensch ist da. Das ist es, was Neugeburt heißt: zum zweiten Mal geboren zu werden.
Tantra ist nicht-philosophisch und existentiell. So stellt Devi zwar Fragen, die philosophisch klingen, aber Shiva wird sie nicht so beantworten. Es ist also besser, dies gleich von Anfang an zu verstehen, weil ihr euch sonst verwundert fragen werdet, wieso Shiva keine einzige Frage beantwortet. All die Fragen, die Devi stellt … Shiva beantwortet nicht eine einzige!
Und dennoch antwortet er. Tatsächlich, nur er und kein anderer hat sie beantwortet, allerdings auf einer anderen Ebene. Devi fragt: »Was ist deine Wirklichkeit, Herr?« Er wird es nicht beantworten. Stattdessen gibt er ihr eine Technik. Und wenn Devi diese Technik anwendet, wird sie es wissen. Die Antwort ist also indirekt, sie ist nicht direkt. Er antwortet nicht: »Der oder das bin ich.« Er gibt ihr eine Technik: Mach es, und du wirst es wissen!
Für Tantra ist Tun Wissen, und ein anderes Wissen gibt es nicht. Solange du nicht etwas tust, solange du dich nicht veränderst, solange du nicht aus einem anderen Blickwinkel, mit anderen Augen siehst, nicht in eine völlig andere Dimension als die des Intellekts hineingehst, gibt es keine Antwort. Es können zwar Antworten geliefert werden – es sind alles Lügen. Alle Philosophien sind Lügen. Du stellst eine Frage, und die Philosophie gibt dir eine Antwort. Sie mag dich befriedigen oder nicht. Wenn sie dich befriedigt, wirst du ein Anhänger dieser Philosophie, aber du bleibst, wie du bist. Befriedigt sie dich nicht, suchst du weiter, nach einer andern Philosophie, der du dich anschließen kannst. Aber du bleibst der Gleiche: Sie berührt dich nicht im Geringsten; sie verändert dich nicht im Geringsten.
Ob du nun also Hindu oder Moslem oder Christ oder Jaina bist, es macht keinen Unterschied. Der wirkliche Mensch hinter der Fassade des Hindus oder Moslems oder Christen ist der gleiche. Nur die Worte sind verschieden oder die Kleider. Der Mensch, der da zur Kirche geht – oder zum Tempel oder zur Moschee –, ist der gleiche Mensch. Nur die Gesichter sind verschieden, und es sind falsche Gesichter. Es sind Masken. Hinter den Masken findet ihr den gleichen Menschen, die gleiche Wut, die gleiche Aggression, die gleiche Gewalt, die gleiche Gier, die gleiche Geilheit … alles genau gleich. Ist mohammedanische Sexualität anders als hinduistische Sexualität? Ist christliche Gewalt anders als hinduistische Gewalt? Es ist die gleiche! Die Wirklichkeit bleibt gleich. Nur die Kleider sind verschieden.
Im Tantra geht es nicht um deine Kleider. Im Tantra geht es um dich. Wenn du eine Frage stellst, zeigt Tantra dir, wo du bist. Es zeigt dir auch, dass du nicht sehen kannst, wo immer du dich befindest … darum fragst du ja. Ein Blinder fragt: »Was ist Licht?« Und die Philosophie geht daran zu beantworten, was Licht ist. Tantra weiß nur so viel: dass einer, der fragt, was Licht ist, beweist, dass er blind ist. Tantra geht daran, den Betreffenden zu operieren, den Betreffenden zu verändern, so dass er sehen kann. Tantra sagt dir nicht, was Licht ist. Tantra sagt dir, wie du zur Einsicht gelangst, wie du das Augenlicht, wie du Sehkraft gewinnst. Ist die Sicht da, so ist auch die Antwort da. Tantra gibt dir nicht die Antwort, Tantra gibt dir die Technik, wie du zur Antwort gelangst.
Nun wird es keine intellektuelle Antwort mehr sein. Wenn du einem Blinden etwas vom Licht erzählst, so ist das intellektuell. Wenn der Blinde selbst sehen lernt, so ist es existentiell. Das meine ich, wenn ich Tantra existentiell nenne.
Shiva wird also Devis Fragen nicht beantworten. Und dennoch wird er antworten. Das ist das Erste.
Das Zweite: Dies hier ist eine andere Sprache. Ehe wir da hineingehen, müsst ihr etwas darüber wissen. Alle Tantra-Texte sind Dialoge zwischen Shiva und Devi. Devi fragt, und Shiva antwortet. Alle Tantra-Texte fangen so an. Warum? Warum dieses Grundmuster? Es ist sehr bedeutsam. Es ist kein Dialog zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, sondern ein Dialog zwischen zwei Liebenden. Und damit weist Tantra auf etwas sehr Bedeutsames hin: dass die tieferen Lehren nur auf einer Ebene von Liebe zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden weitergegeben werden können. Lernender und Lehrer müssen zu Liebenden werden. Nur dann kann das Höhere, das Jenseitige, zum Ausdruck kommen.
Es ist also eine Sprache der Liebe: Die Haltung des Lernenden muss die der Liebe sein. Aber nicht nur das, denn auch Freunde können Liebende sein. Im Tantra muss der Lernende zu reiner Empfänglichkeit werden. Der Lernende muss von einer weiblichen Empfänglichkeit sein, nur so kann etwas geschehen. Man braucht keine Frau zu sein, aber man muss in einer weiblich-empfänglichen Haltung sein. Devi fragt. Das heißt: Die weibliche Haltung fragt. Warum wird so viel Wert auf eine weibliche Haltung gelegt?
Mann und Frau sind nicht nur körperlich verschieden; sie sind es auch psychologisch. Das Geschlecht macht nicht nur einen körperlichen Unterschied, sondern auch einen seelischen. Die weibliche Haltung bedeutet Empfänglichkeit – totale Empfänglichkeit, Hingabe, Liebe. Ein Jünger braucht eine weibliche Einstellung; andernfalls kann er nicht lernen. Du kannst fragen, aber wenn du nicht offen bist, kannst du keine Antwort bekommen. Du kannst eine Frage stellen und trotzdem verschlossen bleiben. Dann kann die Antwort nicht in dich eindringen, deine Türen sind verschlossen: Du bist tot. Du bist nicht offen.
Die weibliche Einstellung bedeutet eine tiefe Empfänglichkeit im Innern, so dass du aufnehmen kannst. Und nicht nur das: Es spielt noch viel mehr mit. Eine Frau empfängt nicht nur etwas, es wird auch Teil ihres Körpers. Eine Frau empfängt ein Kind. Noch im Augenblick der Empfängnis ist das Kind Teil des weiblichen Körpers geworden. Es ist nichts Fremdes, kein Fremdkörper mehr. Es ist absorbiert worden. Von nun an lebt das Kind nicht als etwas, das der Mutter hinzugefügt worden ist, sondern einfach als Teil von ihr, wie die Mutter selbst. Und das Kind wird nicht nur empfangen: Der weibliche Körper wird kreativ, das Kind beginnt zu wachsen.
Ein Jünger muss empfänglich sein wie ein Mutterleib. Was auch immer empfangen wird, es darf nicht als totes Wissen aufgelesen werden. Es muss in dir wachsen, es muss zu deinem eigenen Fleisch und Blut werden. Es muss jetzt Teil von dir werden und wachsen! Dies Wachstum wird dich verändern, wird dich transformieren – dich, den Empfänger. Deshalb benutzt Tantra dieses Mittel: Jeder Text beginnt damit, dass Devi eine Frage stellt und Shiva darauf eingeht. Devi ist Shivas Gemahlin, sein weiblicher Teil.
Und noch eins: Die moderne Psychologie, vor allem die Tiefenpsychologie, sagt heute, dass der Mensch sowohl Mann als auch Frau ist. Niemand ist nur männlich, und niemand ist nur weiblich. Jeder ist bisexuell. Beide Geschlechter sind vorhanden. Dies ist im Westen eine sehr neue Erkenntnis, aber für Tantra war das über Tausende von Jahren hinweg eines der grundlegendsten Dinge. Ihr habt vielleicht schon einmal Darstellungen von Shiva als Ardhanarishwar gesehen – halb Mann, halb Frau. Ein Konzept wie dieses ist einmalig in der Geschichte der Menschheit: Shiva, halb Mann, halb Frau.
Devi ist also nicht nur seine Gemahlin. Sie ist Shivas andere Hälfte. Und solange der Lernende nicht zur anderen Hälfte des Lehrers geworden ist, ist es unmöglich, die höheren Lehren, die esoterischen Methoden zu vermitteln. Wenn du eins mit ihm wirst, dann gibt es keine Zweifel mehr. Wenn du eins wirst mit dem Lehrer, so total eins, so tief eins, dann gibt es weder Argument noch Logik noch Verstand. Du nimmst nur auf: Du wirst zum Schoß. Und dann beginnt die Lehre in dir zu wachsen und dich zu verändern.
Das ist der Grund, warum Tantra in der Sprache der Liebe geschrieben ist. Auch diese Sprache bedarf der Erklärung: Es gibt zwei Arten von Sprache, die Sprache der Logik und die Sprache der Liebe. Die beiden unterscheiden sich grundlegend.
Die Sprache der Logik ist aggressiv, streitsüchtig, gewaltsam. Wenn ich die Sprache der Logik verwende, übe ich Gewalt über deinen Verstand aus. Ich versuche dich zu überzeugen, zu bekehren, eine Marionette aus dir zu machen. Ich habe »recht« mit meinem Argument, und du hast »unrecht«. Logische Sprache ist egozentrisch. »Ich habe recht, und du hast unrecht, also muss ich beweisen, dass ich recht habe und du nicht recht hast.« Du bist mir egal. Mir ist allein mein Ego wichtig. Mein Ego hat immer recht.
Die Sprache der Liebe ist völlig anders. Es geht mir nicht um mein Ego, es geht mir um dich. Es geht mir nicht darum, etwas zu beweisen, mein Ego zu stärken. Es geht mir darum, dir zu helfen. Mein Mitgefühl will dir helfen zu wachsen, dich zu verwandeln und neu geboren zu werden.
Zweitens wird Logik immer intellektuell sein. Begriffe und Grundsätze sind wichtig, Argumente sind wichtig. In der Sprache der Liebe ist es nicht so wichtig, was gesagt wird, sondern eher die Art, wie es gesagt wird. Das Gefäß, das Wort, ist nicht so wichtig. Der Inhalt, die Botschaft, ist wichtiger. Es ist eine Zwiesprache von Herz zu Herz, nicht eine Diskussion von Kopf zu Kopf. Es ist keine Debatte, es ist Kommunion.
Es ist eine unverwechselbare Situation: Parvati, auf dem Schoß von Shiva sitzend, und Shiva antwortet. Es ist ein Zwiegespräch von Liebenden – ohne Konflikt, so als spräche Shiva mit sich selbst.
Warum wird so viel Wert auf Liebe gelegt, auf die Sprache der Liebe? Weil sich die ganze Gestalt ändert, wenn du Liebe für deinen Lehrer empfindest: Alles wird anders. Dann hörst du nicht auf seine Worte. Dann trinkst du ihn. Dann werden Worte unwichtig. Ja, die Stille zwischen den Worten wird mächtiger als die Worte. Was er sagt, mag bedeutsam sein oder nicht: Was zählt, sind seine Augen, seine Gesten, ist sein Verständnis, seine Liebe.
Deshalb also hat Tantra eine feste Methode, eine Struktur. Jeder Text beginnt damit, dass Devi fragt und Shiva antwortet. Es gibt kein Streitgespräch, keine überflüssigen Worte. Es werden einfach Tatsachen festgestellt, telegraphische Mitteilungen gemacht, nicht um den anderen zu überzeugen, sondern nur um sich auf ihn zu beziehen.
Wenn du Shiva eine Frage stellst, aber verschlossen bist, dann wird er dir nicht auf diese Weise antworten. Erst muss deine Verschlossenheit aufgebrochen werden. Er muss aggressiv sein. Deine Vorurteile, deine festen Meinungen müssen zerstört werden. Solange du nicht endgültig mit deiner Vergangenheit aufgeräumt hast, kann dir nichts gegeben werden. Aber auf seine Gemahlin Devi trifft dies nicht zu: Für Devi gibt es keine Vergangenheit.
Vergiss nicht: Wenn du wirklich liebst, dann hält dein Verstand an, dann gibt es keine Vergangenheit; der gegenwärtige Augenblick ist alles. Wenn du liebst, ist die Gegenwart die einzige Zeit. Das Jetzt ist alles – ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.
Devi ist einfach nur offen. Ohne Abwehr – nichts muss erst ausgeräumt werden, nichts muss zerstört werden. Der Boden ist bereitet. Es braucht nur ein Samenkorn auf ihn geworfen zu werden. Der Boden ist nicht nur bereitet, sondern er ist erwartungsvoll, offen, er bittet darum, befruchtet zu werden. All diese Sätze, über die wir sprechen werden, sind also telegraphisch. Es sind nur Sutras. Aber jedes Sutra, jede dieser telegraphischen Botschaften, durch die Shiva sich mitteilt, ist so viel wert wie die Veden, wie die Bibel, wie der Koran. Jeder einzelne Satz kann das Fundament einer großen Schrift werden. Schriften gehen logisch vor: Sie müssen Lehrsätze aufstellen, müssen verteidigen, argumentieren. Hier gibt es keine Argumente, einfach nur Worte der Liebe.
Drittens: Die Worte Vigyana Bhairava Tantra bedeuten genau dies: die Technik, über das Bewusstsein hinauszugehen. Vigyana bedeutet Bewusstsein, Bhairava bedeutet den Zustand jenseits des Bewusstseins, und Tantra bedeutet Technik: die Technik, über das Bewusstsein hinauszugelangen. Dies ist die oberste aller Lehren – eine Lehre ohne jede Lehre.
Wir sind unbewusst. Daher geht es bei allen religiösen Lehren darum, den Menschen aus der Unbewusstheit herauszubringen und ihn bewusst zu machen. Bei Krishnamurti zum Beispiel, oder im Zen, geht es darum, wie sich die Bewusstheit steigern lässt: denn wir sind unbewusst. Wie können wir also bewusster und wacher sein? Wie können wir von der Unbewusstheit zur Bewusstheit gelangen?
Aber Tantra sagt, das ist eine Dualität – Unbewusstheit und Bewusstheit. Wenn man von der Unbewusstheit zur Bewusstheit übergeht, geht man vom einen Pol der Dualität zum andern.
Geht über beide hinaus! Solange ihr nicht über beide hinausgeht, könnt ihr niemals das Höchste erreichen. Sei also weder das Unbewusste noch das Bewusste. Geh darüber hinaus. Sei einfach. Sei weder das Bewusste, noch das Unbewusste: Sei einfach. Damit geht man über Yoga hinaus, über Zen hinaus, über jede Lehre hinaus. Vigyana heißt Bewusstsein, und Bhairava ist ein spezifischer Ausdruck, ein tantrischer Ausdruck, der denjenigen bezeichnet, der transzendiert hat. Darum wird Shiva auch Bhairava genannt und Devi Bhairavi – die, die über die Dualität hinausgegangen ist.
Innerhalb unserer Erfahrung kann uns nur die Liebe einen Ahnungsschimmer davon geben. Darum wird die Liebe zur eigentlichen Grundtechnik für die Übertragung tantrischer Weisheit. Innerhalb unserer Erfahrung können wir sagen, dass die Liebe das Einzige ist, was über Dualität hinausführt. Wenn zwei Menschen einander lieben, dann hören sie in dem Maße auf, zwei zu sein, wie sie tiefer in die Liebe hineingehen – sie werden immer mehr eins. Und es kommt der Punkt, es kommt ein Gipfel, wo sie nur noch scheinbar zwei sind: Innerlich sind sie eins. Die Dualität ist überwunden.
Nur so verstanden gewinnt der Ausdruck von Jesus Bedeutung, dass Gott die Liebe ist, sonst nicht. Innerhalb unserer Erfahrung kommt die Liebe dem Göttlichen am nächsten. Damit ist nicht gemeint, dass Gott, wie die Christen es immer deuten, liebevoll ist, dass Gott ein liebender Vater ist. Unsinn! »Gott ist Liebe« ist eine tantrische Aussage und bedeutet, dass die Liebe innerhalb unserer Erfahrung diejenige Wirklichkeit ist, die dem Göttlichen am nächsten kommt. Warum? Weil in der Liebe Einheit empfunden wird. Die Körper bleiben getrennt, aber etwas jenseits der Körper verschmilzt und wird eins.
Deshalb sehnt sich jeder nach Sex. Die wirkliche Sehnsucht gilt der Einheit, aber diese Einheit ist nicht sexuell. Im Sex haben zwei Menschen nur das täuschende Gefühl, eins zu werden, aber sie sind es nicht. Sie sind nur zusammengefügt. Aber für einen einzigen Augenblick vergessen sich zwei Menschen ineinander, und eine gewisse körperliche Einheit wird empfunden. Diese Sehnsucht ist okay, aber dabei stehenzubleiben, ist gefährlich. Diese Sehnsucht zeigt einen tieferen Drang, Einheit zu erfahren.
In der Liebe geht das Innere auf einer höheren Ebene in den anderen über und vereinigt sich mit ihm; ein Gefühl der Einheit entsteht. Die Dualität löst sich auf. Nur in dieser nichtdualen Liebe können wir eine Ahnung davon bekommen, was der Zustand eines Bhairava ist. Wir können sagen, dass der Zustand eines Bhairava absolute Liebe ohne Rückkehr ist. Vom Gipfel der Liebe gibt es kein Zurückfallen mehr. Man bleibt auf dem Gipfel.
Wir haben Shivas Wohnstätte auf dem Berg Kailash errichtet. Das ist nur symbolisch: Der höchste Gipfel ist der heiligste Gipfel. Wir haben daraus Shivas Wohnstätte gemacht. Wir können dort hinaufgehen, aber wir müssen wieder herunterkommen. Wir können uns dort nicht häuslich einrichten. Wir können nur eine Pilgerreise machen. Es ist eine Teerthyatra – eine Pilgerfahrt, eine Reise. Wir können für kurze Augenblicke den höchsten Gipfel berühren; danach müssen wir wieder zurückkommen.
In der Liebe geschieht diese heilige Pilgerreise; aber nicht für alle, denn fast niemand geht über den Sex hinaus. So leben wir im Tal weiter, im dunklen Tal. Manchmal steigt jemand auf den Gipfel der Liebe, doch dann fällt er wieder zurück, weil ihm so schwindlig wird. Der Gipfel ist so hoch, und du bist so niedrig; und wie schwer ist es, dort zu leben! Wer geliebt hat, der weiß, wie schwer es ist, ständig in der Liebe zu bleiben. Man muss immer wieder zurückkommen. Es ist Shivas Wohnstätte. Er lebt dort. Es ist seine Heimat.
Ein Bhairava lebt in der Liebe: Das ist seine Heimat. Wenn ich sage, dass das seine Heimat ist, meine ich damit, dass er sich der Liebe nicht einmal bewusst ist, denn wenn du auf dem Kailash lebst, weißt du nicht, dass dies der Kailash ist, dass es der Gipfel ist. Der Gipfel wird zur Ebene. Shiva nimmt die Liebe nicht wahr. Wir nehmen die Liebe wahr, weil wir in der Nicht-Liebe leben. Und aufgrund des Kontrasts spüren wir die Liebe. Shiva ist Liebe. Ein Bhairava zu sein bedeutet, dass man zu Liebe geworden ist, nicht, dass man liebt. Nun ist man Liebe, man lebt auf dem Gipfel. Der Gipfel ist nun die Wohnstätte.
Wie aber wird dieser Gipfel möglich, der Gipfel jenseits von Dualität, jenseits von Unbewusstheit, jenseits von Bewusstheit, jenseits von Körper und jenseits von Seele, jenseits von Welt und jenseits von so genannter Moksha, Befreiung? Wie kann man diesen Gipfel erreichen? Die Technik ist Tantra. Aber Tantra ist reine Technik. Es ist also nicht leicht zu verstehen. Lasst uns erst die Fragen verstehen – was sagt Devi?
»O Shiva, was ist deine Wirklichkeit?«
Warum diese Frage? Ihr könnt die gleiche Frage stellen, aber es würde nicht das Gleiche bedeuten. Versucht also zu verstehen, warum Devi fragt: »Was ist deine Wirklichkeit?« Devis Liebe ist tief. In tiefer Liebe begegnest du zum ersten Mal der inneren Wirklichkeit. Jetzt ist Shiva nicht mehr Form, jetzt ist Shiva nicht mehr Körper. Wenn du liebst, löst sich der Körper des Geliebten auf, er verschwindet. Die Form ist nicht mehr, und das Formlose offenbart sich. Du stehst vor einem Abgrund. Darum haben wir solche Angst vor der Liebe. Vor einem Körper haben wir keine Angst, vor einem Gesicht haben wir keine Angst, vor einer Form haben wir keine Angst. Aber vor einem Abgrund haben wir Angst.
Wenn du jemanden liebst, und wirklich liebst, verschwindet sein Körper unweigerlich. In einigen Augenblicken des Höhepunkts, des Gipfels, wird die Form sich auflösen, und du wirst durch den Geliebten in das Formlose eingehen. Das ist der Grund, warum wir Angst haben: Es ist der Fall ins Bodenlose. Diese Frage kommt also nicht nur aus Neugierde: »O Shiva, was ist deine Wirklichkeit?«
Devi muss sich in die Form verliebt haben. So fängt es immer an. Sie muss diesen Mann als Mann geliebt haben, und jetzt, wo die Liebe gereift ist, wo die Liebe zur Blüte gelangt ist, ist dieser Mann verschwunden. Er ist formlos geworden. Jetzt ist er unauffindbar: »O Shiva, was ist deine Wirklichkeit?« Es ist eine Frage, die in einem sehr intensiven Augenblick der Liebe gestellt wird. Und wenn Fragen gestellt werden, kommt es ganz darauf an, aus welcher Haltung heraus sie gestellt werden.
Versetzt euch also in die Situation, in die Atmosphäre der Frage. Parvati muss ratlos sein. Devi muss ratlos sein. Shiva ist verschwunden. Wenn die Liebe ihren Höhepunkt erreicht, verschwindet der Liebende. Warum geschieht das? Das geschieht, weil in Wirklichkeit jeder formlos ist. Du bist kein Körper. Du bewegst dich als Körper, du lebst als Körper, aber du bist kein Körper. Solange wir jemanden nur von außen sehen, ist er ein Körper. Die Liebe dringt ins Innere ein, und wir sehen den andern nicht mehr von außen. Liebe kann den andern so sehen, wie der andere sich selbst von innen her sieht. Dann verschwindet die Form.
Ein Zen-Mönch, Rinzai, erlangte die Erleuchtung. Das Erste, was er aussprach, war: »Wo ist mein Körper? Was ist aus meinem Körper geworden?« Und er fing an, ihn zu suchen. Er rief seine Schüler und sagte: »Geht und findet heraus, wo mein Körper geblieben ist. Ich habe meinen Körper verloren.«
Er war ins Formlose eingegangen. Du bist ebenfalls eine formlose Existenz, aber du kennst dich nicht unmittelbar, sondern nur durch die Augen anderer. Du kennst dich durch den Spiegel. Schließ einmal, während du in den Spiegel schaust, die Augen und überlege und meditiere dann: Wenn es keinen Spiegel gäbe, woher würdest du dann dein Gesicht kennen? Ohne Spiegel gäbe es kein Gesicht. Du hast kein Gesicht. Spiegel geben dir Gesichter. Stell dir eine Welt ohne Spiegel vor! Du bist allein, kein Spiegel ist da, nicht einmal die Augen anderer können dir noch ein Spiegel sein. Du bist allein auf einer einsamen Insel; nirgends kannst du dich spiegeln. Hast du dann überhaupt ein Gesicht? Oder einen Körper? Du kannst keinen haben, und du hast auch keinen. Wir kennen uns selbst nur durch andere, und die anderen können nur die äußere Form kennen. Deshalb identifizieren wir uns damit.
Ein anderer Zen-Mystiker, Hui-Hai, pflegte zu seinen Schülern zu sagen: »Wenn ihr beim Meditieren völlig euren Kopf verloren habt, kommt sofort zu mir. Wenn ihr den Kopf verliert, kommt augenblicklich zu mir. Wenn ihr das Gefühl bekommt, dass kein Kopf mehr da ist, dann habt keine Angst; kommt sofort zu mir. Das ist der richtige Augenblick. Jetzt könnt ihr etwas lernen.« Mit dem Kopf ist kein Lernen möglich. Der Kopf stellt sich immer in den Weg.
Parvati – Devi – fragt Shiva: »O Shiva, was ist deine Wirklichkeit? Wer bist du?« Die Form ist verschwunden; daher die Frage. In der Liebe gehst du in den anderen – du wirst zum anderen. Nicht du bist es, der antwortet. Ihr werdet eins, und zum ersten Mal erfahrt ihr den Abgrund – eine formlose Präsenz. Darum haben wir über Jahrhunderte hinweg, viele, viele Jahrhunderte lang, keine Statue, kein Bild von Shiva gemacht. Wir haben nur Shivalingam, das Symbol, abgebildet. Der Shivalingam ist nur eine formlose Form. Wenn du jemanden liebst, wenn du in den andern hineingehst, ist er nur noch eine leuchtende Gegenwart. Der Shivalingam ist nur eine leuchtende Gegenwart, nur eine Aura von Licht.
Darum fragt Devi:
»Was ist deine Wirklichkeit? Was ist dies von Wundern erfüllte Universum?«
Wir kennen das Universum, aber wir kennen es nicht als von Wundern erfüllt. Kinder kennen es, Liebende kennen es. Manchmal kennen es Poeten und Irre. Wir wissen nicht, dass die Welt voller Wunder ist. Alles ist nur Wiederholung – ohne Wunder, ohne Poesie – einfach nur platte Prosa. Die Welt erzeugt in euch keinen Gesang, erzeugt in euch keinen Tanz; sie lässt die Poesie in eurem Innern ungeboren. Das ganze Universum erscheint mechanisch. Kinder betrachten es mit wunder-vollen Augen. Wenn die Augen wunder-voll sind, ist das Universum wunder-voll.
Wenn du liebst, wirst du wieder wie ein Kind. Jesus sagt: »Nur wenn ihr werdet wie die Kinder, werdet ihr das Himmelreich Gottes betreten.« Warum? Weil man nicht religiös sein kann, solange das Universum nicht zum Wunder wird. Das Universum lässt sich erklären; dann ist dein Ansatz wissenschaftlich. Das Universum ist bekannt oder unbekannt, aber was unbekannt ist, kann jederzeit bekannt werden. Es ist nicht unkennbar. Das Universum wird erst dann unkennbar, erst dann zum Geheimnis, wenn deine Augen mit Wundern erfüllt sind.
Devi fragt: »Was ist dies von Wundern erfüllte Universum?« Plötzlich also ein Sprung von einer persönlichen Frage zu einer sehr unpersönlichen. Sie hatte gefragt: »Was ist deine Wirklichkeit?«, und nun plötzlich: »Was ist dies von Wundern erfüllte Universum?«
Wenn die Form verschwindet, wird der Mensch, den du liebst, zum Universum, zum Formlosen, zum Unendlichen. Plötzlich wird Devi gewahr, dass sie gar nicht Shivas wegen fragt; ihre Frage gilt dem ganzen Universum. Jetzt ist Shiva zum ganzen Universum geworden. Jetzt kreisen alle Sterne in ihm, und das gesamte Firmament, der ganze Weltraum wird von ihm umhüllt. Jetzt ist er der allumfassende Faktor, das »Große Allumfassende«. Karl Jaspers hat Gott als das »Große Allumfassende« definiert.
Wenn du in die Liebe hineingehst, in die zutiefst intime Welt der Liebe, dann verschwindet der Mensch, verschwindet die Form, und der Geliebte ist nunmehr eine Tür zum Universum.
Deine Neugier ist vielleicht nur eine wissenschaftliche. Dann musst du deinen Weg durch die Logik nehmen, dann darfst du nicht ans Formlose denken. Dann hüte dich vor dem Formlosen. Dann gib dich mit der Form zufrieden. Die Wissenschaft beschäftigt sich immer nur mit der Form. Wann immer der wissenschaftliche Verstand mit etwas Formlosem konfrontiert wird, muss er es zu Form zurechtschneiden. Solange es keine Form hat, ist es bedeutungslos. Gib ihm zuerst eine Form – eine definitive Form; erst dann kann das Forschen beginnen. Wenn es in der Liebe noch Form gibt, dann hat sie Grenzen.
Löst die Form auf! Wenn die Dinge formlos werden, verschwommen, ohne Grenzen – alles dringt in alles ein, das ganze Universum wird zu einer Einheit –, erst dann ist es ein von Wundern erfülltes Universum.
»Was ist der Same?«
fährt Devi fort; vom Universum kommt sie auf die Frage: »Was ist der Same?« Dies formlose, von Wundern erfüllte Universum – woher kommt es? Wo hat es seinen Ursprung? Oder hat es gar keinen Ursprung? Was ist sein Same?
»Wer hält das Rad des Alls im Gleichgewicht?«
fragt Devi. Das Rad dreht sich und dreht sich – all diese enormen Wandlungen, dies ständige Fließen! Aber wer hält es im Gleichgewicht? Wo ist die Achse, der Mittelpunkt, der ruhende Pol?
Sie lässt ihm keine Zeit zu antworten … Sie fragt immer weiter, als frage sie gar niemanden, als spräche sie zu sich selbst.
»Was ist dies Leben jenseits von Form, das alle Form durchdringt?
Wie können wir vollends hineingelangen? Hinaus über Raum und Zeit, Namen und Bezeichnungen?
Schaffe meinem Zweifel Klarheit!«
Die Betonung liegt nicht so sehr auf dem Fragen, sondern auf dem Zweifeln. »Schaffe meinem Zweifel Klarheit!« Dies ist sehr bedeutsam. Wenn du eine intellektuelle Frage stellst, fragst du nach einer definitiven Antwort, so dass dein Problem gelöst wird. Aber Devi sagt: »Schaffe meinem Zweifel Klarheit!« Sie fragt nicht wirklich um Antwort. Sie bittet um geistige Transformation; denn ein zweifelnder Verstand wird ein zweifelnder Verstand bleiben, wie auch immer die Antworten ausfallen mögen. Merkt es euch gut: Ein zweifelnder Verstand bleibt ein zweifelnder Verstand. Antworten sind gleichgültig. Wenn du eine Antwort bekommst und du hast einen zweifelnden Verstand, dann wirst du sie anzweifeln. Gebe ich dir eine weitere Antwort, wirst du sie ebenfalls anzweifeln. Du hast einen zweiflerischen Verstand. Ein zweiflerischer Verstand – das bedeutet, dass du hinter alles ein Fragezeichen setzt.
Antworten nutzen also nichts. Du fragst mich: »Wer erschuf die Welt?«, und ich sage dir: »A erschuf die Welt.« Daraufhin fragst du unweigerlich, wer A erschuf. Das wirkliche Problem lautet also nicht: Wie soll man Fragen beantworten? Das wirkliche Problem lautet: Wie soll man den zweiflerischen Verstand verändern? Wie einen Verstand hervorbringen, der nicht zweifelt – oder der vertrauen kann? So sagt Devi: »Schaffe meinem Zweifel Klarheit.«
Noch zwei oder drei Dinge. Wer eine Frage stellt, mag aus vielerlei Gründen fragen. Einer davon mag einfach nur sein, dass du eine Bestätigung willst. Du weißt schon die Antwort; du möchtest nur bestätigt haben, dass deine Antwort richtig ist. Dann ist deine Frage falsch, unecht. Es ist keine Frage. Man kann eine Frage lediglich aus Neugierde stellen, nicht weil man nicht bereit ist, sich zu verändern.
Der Verstand fragt immerzu weiter. Ihm kommen die Fragen so wie dem Baum die Blätter. Das ist die eigentliche Natur des Verstandes – zu fragen. Also fragt er immer weiter. Egal, was du fragst. Wirf dem Verstand irgendeinen Brocken hin, er macht eine Frage daraus. Er ist eine Zerkleinerungsmaschine, die Fragen produziert. Gib ihm irgendwas: Er wird es zerstückeln und lauter Fragen produzieren. Sobald eine Frage beantwortet ist, wird er aus der Antwort viele neue Fragen herstellen. Die gesamte Geschichte der Philosophie ist nichts anderes.
Bertrand Russell erinnert sich, als Kind geglaubt zu haben, dass er eines Tages, wenn er reif genug wäre, die gesamte Philosophie verstehen und alle Fragen ausräumen könne. Später dann, als Achtzigjähriger, sagte er: »Jetzt kann ich sagen, dass meine Fragen bestehen blieben, so wie sie für mich als Kind bestanden.« Und viele weitere Fragen sind aufgrund dieser philosophischen Theorien entstanden. Und er sagte: »Als ich jung war, sagte ich immer, dass Philosophie ein Forschen nach endgültigen Antworten sei. Heute kann ich das nicht mehr behaupten. Es ist ein Forschen nach endlosen Fragen.«