Victoria Schlederer
FORTUNAS
FLUG
Roman
Originalausgabe
Wilhelm Heyne Verlag
München
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Originalausgabe 04/2012
Redaktion: Sabine Thiele
Copyright © 2012 by Victoria Schlederer
Copyright © 2012 dieser Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-04170-0
V002
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April 1899 – Eine Begegnung
Mit der Zeit hatte der Spuk in der Kapelle des k.-u.-k.-Pensionats für Höhere Töchter in Enns eine gewisse Berühmtheit erlangt. Alle Jahre trat er auf, so hieß es, unfehlbar, in der Osternacht: Da hallte scheußliches Zischen und Flüstern durch das Kirchengemäuer, unheimliches Gelächter erklang und verstummte erst, als Schlag Mitternacht eine hohe, zarte Geisterstimme auf der Galerie das Ave Maria anstimmte.
Freilich, das schaurige Treiben mit eigenen Ohren vernommen hatte noch keines der Mädchen, die im Frühling des Jahres 1899 in besagtem Pensionat lebten und lernten und sich redliche Mühe gaben, junge Damen zu werden. Dies war auf zweierlei Gründe zurückzuführen: Zum einen pflegten die meisten unter ihnen die Feiertage im Kreise ihrer Angehörigen statt im Pensionat zu verbringen; zum anderen wurde die Kapelle lediglich am Sonntag, zur Morgenmesse, aufgeschlossen, sodass auch jenen Unglücklichen, die sich gezwungen sahen, während der Ferien in der Schule zu verweilen, die Möglichkeit verwehrt blieb, aus ihrem Ungemach Kapital zu schlagen und Zeuginnen des Spuks zu werden.
Wohl aber hatten sie die Geschichte gehört, diese oder jene, die im vergangenen Jahr ihre Prüfungen abgelegt hatte, die hatte eine Freundin gehabt, und der war es gelungen, sich mit List und Tücke in die Kapelle zu schleichen; am nächsten Morgen war sie mit schlohweißem Haar erwacht und hatte fünf Tage lang nicht zu sprechen vermocht. Darin, dachte Stella, fand sich möglicherweise der dritte Grund, weshalb die Mitschülerinnen keine nachdrücklicheren Versuche unternahmen, sich in der fraglichen Nacht Zugang zu der Kapelle zu verschaffen. Schließlich waren sie samt und sonders auf ihr Äußeres bedacht; auch plauderten sie schrecklich gern miteinander, und weißes Haar und tagelanges Schweigen hätten weder auf ihr Erscheinungsbild noch auf ihr allgemeines Befinden sonderlich positive Auswirkungen gehabt.
Stella selbst war zu groß und zu mager für ihre zwölf Jahre, hatte fades braunes Haar, einen zu dunklen Teint und ganz beliebige Gesichtszüge. In der beruhigenden Gewissheit, dass sie niemals zu einer großen Schönheit heranwachsen würde, und da sie von Natur aus nicht sehr gesprächig war, hatte sie schon im Herbst vergangenen Jahres, inspiriert durch die – für ein junges Mädchen entschieden unschickliche – Lektüre mehrerer Detektivromane, einen Wachsabdruck des Schlosses zur Kapelle genommen. Ihr Großvater, der sich in all den Jahren noch eine knabenhafte Freude am Unerhörten bewahrt hatte, hatte gelacht, als sie ihm in den Weihnachtsferien zu Hause in Wien ihr Ansinnen gestanden hatte. Dann war er mit ihr und dem Wachsmuster zu dem Schlosser zwei Häuser weiter gegangen, auch wenn sie ihm versprechen musste, es nicht vorsätzlich darauf anzulegen, Ostern im Pensionat zuzubringen. Man sah sich doch so wenig, und der Spuk war bloßer Unsinn, und kam sie nicht gern zurück nach Wien?
Sie kam gern zurück. Sie liebte die großväterliche Wohnung, den hässlichen Pudel und das verblichene Porträt der Mutter, das jeden Samstag mit weißen Rosen geschmückt wurde, und ganz besonders den Großvater selbst, den die Schicksalsschläge, die er im Leben hatte erdulden müssen, nicht in die Knie gezwungen, sondern ihm vielmehr eine heitere Gleichgültigkeit verliehen hatten. Wohlwissend, dass nichts auf dieser Erde von Bestand und das nächste Unglück vielleicht nur einen Schritt entfernt war, hatte er seine Enkelin mit der Sorglosigkeit des wahren Bohemiens erzogen.
War sie im Pensionat, so vermisste Stella seinen lächelnden Großmut. Alle Schlüssel und allen Spuk der Welt hätte sie deshalb am Karsamstag des Jahres 1899 gegeben, wäre sie nur zu Hause gewesen, um die Vasen mit frischen Rosen zu befüllen.
Nun aber lag sie in ihrem Bett im Schlafsaal und fieberte schon seit Tagen – gar nicht besonders hoch, aber schlimm genug, dass ihr Arzt und Lehrpersonal die Reise nach Wien verboten hatten.
Stella ergab sich in ihr Schicksal, tastete nach dem Schlüssel unter ihrem Kopfkissen und wartete auf den Abend.
Nicht einmal als sie später zu nächtlicher Stunde auf Zehenspitzen durch die langen Gänge und die dunklen Stiegenhäuser huschte, vermochte sie mit Gewissheit zu sagen, ob sie an den Spuk glaubte, oder ob sie sich nur vergewissern wollte, dass der Unsinn, den man erzählte – nun, Unsinn war.
Der Schlüssel knirschte und hakte ein wenig im Schloss, gerade so, wie er es bei ihrem ersten Versuch, gleich nach ihrer Rückkehr aus den Ferien, getan hatte, aber er sperrte doch. So leise wie möglich öffnete sie die Tür und trat ins Innere der Kapelle. Das Gaslicht zu entzünden wagte sie nicht, aber vorne am Altar brannte eine Kerze, das ewige Licht. Sie setzte sich in die erste Bankreihe, zog die Knie an, sodass der Saum des Nachthemds über ihre bloßen, kalten Füße fiel, und harrte aus.
»Die kleine Schönthal ist geradezu eine mustergültige Schülerin«, so hatte sie das Fräulein Werner, dem die undankbare Aufgabe zufiel, die Pensionatszöglinge Algebra und Geometrie zu lehren, einmal sagen hören. »So ruhig, so fügsam, so vernünftig.«
Ein Glück, dass Fräulein Werner sie jetzt nicht sehen konnte, frierend und fiebernd in der Kapelle! Bestimmt wäre sie entsetzt gewesen. Das stimmte Stella traurig, denn sie mochte das Fräulein Werner; sie mochte auch Algebra: Es erschien ihr als kultivierter Weg, von den richtigen Entscheidungen im Meer der unendlichen Möglichkeiten zu träumen. Sie lächelte. Der Satz gefiel ihr. Oben im Schlafsaal würde sie ihn in ihr Tagebuch notieren, später, wenn alles vorbei war, das Warten und der Spuk. Denn dass der Spuk kommen würde, dessen war sie sich jetzt hier, im Dunkel der Kapelle, vollkommen sicher.
Doch der Spuk kam nicht. Es schlug Mitternacht, und kein Ave Maria erklang. Stella wusste, dass sie aufstehen, die Kapelle verlassen sollte, aber ihre Glieder waren kalt und sehr, sehr schwer, und ihre Gedanken verwirrten sich in einem fort; bald meinte sie, zu Hause auf dem Diwan zu liegen, glaubte den Samt zu spüren und das struppige Fell des Pudels, der auf ihren Füßen lag; dann wieder war ihr, als stünde sie auf einer Brücke, die war durchsichtig wie Glas. Eine Melodie kam ihr in den Sinn, ein vertrautes, liebgewonnenes Lied, doch sie erinnerte sich nicht, wann sie es gehört haben mochte; und die Brücke, sie führte sie weit fort, in einen Garten, am anderen Ende der Nacht.
Sie überraschte sich selbst, indem sie nicht sonderlich erschrak, als der Mann zu ihr sprach.
Sie konnte ihn nicht sehen, aber seine Stimme war dunkel und weich, mit einem fremdartigen Akzent, wie sie ihn noch nie zuvor vernommen hatte.
»Kind, Kind«, sagte er. Und: »Du siehst ihr kein bisschen ähnlich.« Er klang enttäuscht.
Wer sind Sie, wollte sie fragen, aber sie fand keine Worte, ihr Mund war trocken, ihre Zunge taub. Also haben die Tage des Schweigens begonnen, dachte sie.
»Weshalb hast du nach mir gerufen?«, erkundigte sich der Unsichtbare an ihrer Seite. »Du möchtest doch nicht etwa mit mir kommen?« Die Ahnung eines Lächelns schwang in seiner Stimme mit. »Sie hat es stets von mir verlangt. Das Land jenseits der Schatten wollte sie sehen, und dieser, eurer Welt den Rücken kehren.«
Stella überlegte. Kein Held der verbotenen Abenteuerromane, die sie so gern las, hätte solch ein Angebot ausgeschlagen, sagte sie sich. Gleichzeitig erkannte sie, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, zwei große Wahrheiten: Das Leben war kein Roman, und sie wollte keine Heldin sein. Später sollte sie behaupten, dass sie ausgerechnet in jenem wahnwitzigen Moment den tröstlichen Mantel der Kindheit, mit all ihren Träumen und Phantastereien abgestreift hätte, und der Welt mit nüchternem Blick begegnete.
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann geh«, sagte der Unsichtbare. »Ich bin froh, dich gesehen zu haben, nach all den Jahren.«
Sie ging – das heißt, sie schleppte sich zurück in den Schlafsaal. Sie legte sich auf ihr Bett. Träumte – und vergaß. Fünf Tage lang fieberte sie so hoch, dass die Leiterin des Pensionats ihrem Großvater telegraphierte, dass es mit ihr zu Ende ging. Er traf am ersten Tag, da das Fieber gebrochen war, in Enns ein.
Er saß an ihrer Bettkante und erzählte ihr Geschichten, wie früher, als sie noch Kind gewesen war.
»Erzähl mir von meinem Vater«, bat sie.
»Dein Vater war ein Schuft und ein Taugenichts, der deiner armen Mutter das Herz brach, als er eines Tages spurlos verschwand.«