Wo früher Gesellschaftstheorien auf Kommunikation setzten, erscheint nun zunehmend Empathie oder Einfühlung als Kitt, der die Gemeinschaften zusammenhält. Doch was genau ist Empathie und was leistet sie? Fritz Breithaupt berücksichtigt in seinem Buch die psychologischen und kognitionswissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, aber auch die Literatur und die Philosophie, die seit Jahrtausenden über Empathie und Mitleid nachgedacht haben, um verschiedene »Kulturen der Empathie« zu unterscheiden. Fluchtpunkt seiner Theorie ist eine Rhetorik der Empathie, die menschliche Einfühlung als einen sozialen Prozess ausweist, der komplexe Narrationen beinhaltet und eine Idee von Gemeinschaft ins Spiel bringt, die sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln allein nicht hinreichend beschreiben lässt.

Fritz Breithaupt ist Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft sowie Affiliate Professor für Kognitionswissenschaften an der Indiana University in Bloomington. Zuletzt erschien von ihm im Suhrkamp Verlag: Kultur der Ausrede (stw 2001).

Fritz Breithaupt

Kulturen der Empathie

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1906

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Cover nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73277-9

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Einleitung

Die Geschichte mit der Maus

These

Gliederung des Buches

Gebrauchsanweisung

Kapitel 1
Empathie und die Produktion der Nicht-Ähnlichkeit

1. Ähnlichkeit als Bedingung von Empathie

2. Landschaften der Ähnlichkeit

3. Fehlbefunde von Ähnlichkeit

4. Emotionale Ansteckung und der Schutz gegen dieselbe

5. Spiegelneuronen: Die Architektur der Ähnlichkeit

6. Können Spiegelneuronen blockiert und gesteuert werden?

7. Kurze Klärung eines scheinbaren Widerspruchs

8. Exkurs: Das Ich als Blockade gegen Empathie (Lessing)

9. Rück- und Ausblick: Von der Ähnlichkeit  zur Unähnlichkeit

Kapitel 2
Kulturen der Konstruktion (Theory of Mind)

1. Smarties oder Bleistifte (False-Belief-Aufgaben)

2. Die Konstruktion des anderen

3. Ich in deiner Haut: Empathie-Situationen

4. Die Ein-Punkt-Konstruktion des anderen

5. Narrativierung und Traumatisierung
(E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi)

6. Grenzen der Kultur der Konstruktion

Kapitel 3
Der unsichtbare Dritte
Stockholm, Macht, Reziprozität

1. 1973

2. Affen-Tratsch

63. Der unsichtbare Dritte

4. Empathie als Gabe (Exkurs zu Liebe und Kooperation)

Kapitel 4
Narrative Empathie

1. Narration und Bewusstsein
(narrative intelligence hypothesis)

2. Der Zwang zur Narration: Legitimationsdruck und Handlungsselektion

3. Narration: Was ist das?

4. Die Schere des Aristoteles

5. Theorie der Narration

6. Empathie als Parteinahme in Dreierszenen

7. Parteinahme versus »Identifikation«

8. Narrative Empathie

9. Die Perversion der Empathie
(Theodor Fontanes Effi Briest)

10. Rückblick

Nachwort zum Verhältnis von Empathie und Moral

Danksagung

Bibliographie

7Einleitung

Die Geschichte mit der Maus

Vor ein paar Jahren saß ich mit Kollegen nach einer Lesegruppe noch ein wenig zusammen. Die konzentrierte Arbeit am Text war getan und nun konnten wir unsere Gedanken frei wandern lassen. Wir kamen auf das Thema Empathie zu sprechen, zu dem ich, wie meine Kollegen wussten, einen Kurs unterrichten wollte. Eine einfache Frage kam auf: Wird Empathie von den meisten Menschen anhand ähnlicher Muster empfunden oder nicht? Gibt es eine Urszene der Einfühlung, die wir teilen? Wir entschieden, die Probe zu machen. Jeder sollte seine deutlichste Erinnerung erzählen, wann er oder sie in die Haut eines anderen geschlüpft war. Die erste damals vorgetragene Geschichte lautete wie folgt:

In meiner ersten eigenen Wohnung als Student gab es eine Maus. Ich konnte sie nachts bisweilen hören und ihre Spuren sehen, aber es gelang mir nicht, sie zu fangen. Als ich eines Morgens in die Küche kam, hörte ich ein sonderbares, kratzendes Geräusch aus dem Waschbecken. Ich trat näher heran und sah, dass die Maus in das Becken gefallen war. An den glatten Wänden konnte sie keinen Halt finden und war gefangen. Ich starrte die Maus an und sie blickte zurück. Dann machte ich den Wasserhahn an, so dass die Maus von dem Wasser in den garbage disposal (einen elektrischen Müllzerkleinerer) gespült wurde. Dann drückte ich den Knopf …[1]

Diese Geschichte ist bemerkenswert in vielerlei Hinsicht. Einfühlung ist hier nicht das positive Mitgefühl mit einem ähnlichen Menschen in Not. Vielmehr ist das Mitgefühl hier unmittelbar an ein Täterbewusstsein, ein schlechtes Gewissen, gebunden. Und auch die Ähnlichkeit zwischen dem empathisierenden Menschen und der Maus dürften relativ gering sein. Stattdessen gibt es eine Vorgeschichte, die Maus und Mensch gegeneinander stellt. Trotzdem ist diese Geschichte, zumindest für den Erzähler, eine Darstellung des Erlebens von Empathie, die ein Band zwischen ihm und der Maus knüpft.

8Ob diese Geschichte von der armen Maus nun in der Tat die Charakeristika einer Urszene der Einfühlung hat, sei erst einmal dahingestellt (im vierten Kapitel dieses Buches wird ein Vorschlag gemacht, wie eine solche Urszene aussehen könnte). Wichtig ist hier, dass dem Erzähler das Mitleid und Mitgefühl mit der Maus vor der Episode mit dem Müllzerkleinerer fern lag. Offensichtlich gab es etwas in dieser Situation, das ihn dazu bewegte, seine neutrale oder negative Haltung aufzugeben. Empathie kann also, vielleicht, aus- und eingeschaltet werden. Diese Vermutung, so einfach sie klingt, gab diesem Buch den Startschuss.

These

Empathie ist seit einigen Jahren zu einem der Kernthemen der Kognitionswissenschaften aufgestiegen. Der Begriff soll hier zunächst im weitesten Sinne verstanden werden als Einfühlung oder das In-die-Haut-des-anderen-Schlüpfen. Dies umfasst etwa das kalkulierende Gedankenlesen, das Mitgefühl, das unwillkürliche oder willkürliche Miterleben und das Einnehmen der Perspektive eines anderen. Dabei ist zu betonen, dass Empathie keineswegs nur eine Angelegenheit des Wohlwollens und der positiven Akzeptanz der anderen ist. Vielmehr erlaubt Empathie auch, die Konkurrenten besser zu verstehen und daher auszuschalten. Schadenfreude ist kein Randphänomen der Empathie.

Die Entdeckung der sogenannten Spiegelneuronen, die Diskussionen um die »Theory of Mind« und Überlegungen von Evolutionsbiologen zur sozialen Intelligenz des Menschen haben eine Reihe von Mechanismen zu Tage gefördert, die es uns erlauben, in die Haut der anderen schlüpfen. Die Kognitionswissenschaften geben uns nicht nur erstaunliche Aufschlüsse über die Mechanismen von Empathie, sondern zeigen auch, dass Menschen wohl gar nicht anders können, als mit anderen mitzufühlen. Die Fähigkeit des intellektuellen und emotionalen Verstehens von anderen beruht offenbar zu einem nicht unerheblichen Teil auf angeborenen Fähigkeiten zur Mimikri und auf basalen neuronalen Möglichkeiten, die uns das bei anderen beobachtete Verhalten wie das eigene Handeln erleben lassen. Soziale Wesen wie die Menschen leben in einer Welt voll empathischen Lärms, so dass sie fast unwillkürlich fortwährend 9die Perspektive der anderen einnehmen. Wenn wir etwa ein Gespräch in einer Gruppe von Menschen beobachten, springt unsere empathische Aufmerksamkeit oft in rasanter Geschwindigkeit von einem zum nächsten.

Die Frage meiner Kollegen in der Lesegruppe, die fast alle Geistes- und Kulturwissenschaftler sind, zielte nun darauf, ob die individuelle Steuerung dann eigentlich eine Rolle im Prozess der Empathie spielt, denn die Einsichten der Kognitionswissenschaftler in die Mechanismen der Empathie lassen wenig Raum für individuelle Entscheidungen. Menschen und manche Primaten deuten die Handlungen, Emotionen und Intentionen anderer anscheinend quasi automatisch, prä-reflexiv und prä-rational, einfach deshalb, weil sie eine ähnliche Gerhirnaktivität vollziehen, wie diejenigen, deren Handlung sie beobachten. Trotzdem gibt es hier eine Funktion für individuelle Steuerung. Wenn Empathie quasi automatisch stattfindet, genügt es nicht zu fragen, wie Empathie zustandekommt. Vielmehr muss zugleich untersucht werden, wie Empathie und der mit ihr verbundene Selbstverlust unterbunden wird. Wie wird Empathie gelenkt, kanalisiert, abgezogen, gefiltert und das heißt in einem Wort: blockiert?

Worin bestehen derartige Blockade-Mechanismen von Empathie und von wem oder was werden sie gesteuert? Vom Bewusstsein?[2] Von Kultur-Techniken? Wenn ja – welchen? Und unter welchen Umständen wird Empathie dennoch zugelassen? Vermutlich wird die Aktivität der Spiegelneuronen durch die Blockade-Mechanismen wohl nicht unterbunden (obwohl auch hier offene Fragen bestehen, siehe Kapitel 1). Dennoch wird nicht jede Aktivität der Spiegelneuronen in Mitleid, Mitgefühl und Verständnis übersetzt. Wie werden von anderen aufgenommene Emotionen und die Aktivität der Spiegelneuronen interpretiert, gefiltert und fokussiert? Warum kann eine Maus in meinem Freund Empathie auslösen, während mancher Mensch daran scheitert? Und warum haben wir mit einer Maus erst Empathie, wenn es zu spät ist?

Diese und verwandte Fragen markieren den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung. Untersucht und aufgetan werden soll der Raum zwischen der neuronalen Aktivität und dem Ausbilden von 10Verstehen, Mitgefühl und Mitleid, das heißt der Raum der Kulturen der Empathie.[3]

Die Antwort, die das Buch auf diese Fragen entfalten wird, lautet, dass wir andere Menschen (und uns selbst) verstehen, indem wir sie in kleine gedankliche Erzählungen verwickeln. Wir verstehen, indem wir erzählen. Es kann dabei durchaus möglich sein, dass bereits das sehr schnelle Hin- und Herspringen der Empathie zwischen diversen Kommunikationspartnern Fragmente von Erzählungen involviert, insofern auch hier regelmäßig eine zeitliche Dimension des von den Personen Intendierten, aber noch nicht Ausgeführten eine Rolle spielt. Indem wir in unseren Gedanken, bewusst oder nicht-bewusst, das zeitliche Nacheinander der Handlungen und Situationen eines anderen ausspinnen, sind wir ihm verbunden.

Was ist das Besondere an zeitlichen Prozessen? Zeitliche Prozesse entziehen sich der Sichtbarkeit in einem Augenblick. In jedem gegebenen Augenblick fehlt etwas. Ebendieses Fehlen nötigt oder ermächtigt den Beobachter dazu, spekulativ die fehlenden Momente hinzuzudenken und dadurch die bloße Beschreibung zu überschreiten. Durch ein solches narratives Hinzudenken, welches Autisten etwa schwer fällt, wird der Beobachter impliziert. Er selbst spannt die zeitliche Brücke zu den anderen Ereignissen, und beginnt dabei, die Perspektive des oder der Handelnden einzunehmen. Narration wird in diesem Sinne definiert als das Spannen einer Brücke zwischen zwei nicht zwingend miteinander verknüpften Ereignissen (vgl. dazu Kapitel 4, Abschnitt 1-5). Der Beobachter schlüpft also nicht direkt in die Haut des anderen, sondern kalkuliert oder erträumt die Handlungsmöglichkeiten des anderen. Dies hat den Effekt, dass er aus dessen Augen zu schauen scheint. In gewisser 11Hinsicht überlistet der Beobachter sich selbst, wenn dabei aus dem narrativen Kalkül Mitgefühl und Mitleid werden.

Daraus folgt, dass diejenigen zeitlichen Prozesse am geeignetsten für Empathie sind, in denen der Beobachter selbst aktiv die zeitliche Abfolge errichtet und die Ziele und die Intentionen der Handelnden errät oder erahnt. Damit der Beobachter aktiv wird, darf die Vorhersage oder Rekonstruktion nicht vorab gegeben oder zu offensichtlich sein. Es muss ein Rest an Arbeit für den Beobachter bleiben, ein Spielraum, in dem der Beobachter gebraucht wird. In vielen literarisch-narrativen Medien führt dies zur Bevorzugung von tendenziell kontra-intuitiven und überraschenden Verknüpfungen. Im Medium des Films oder in Computerspielen ebenso wie in vielen Alltagssituationen und dem Sport kann die Leistung des Beobachters auch darin bestehen, sich der großen Geschwindigkeit der Ereignisse anzupassen und mit nur sehr kurzer Reaktionszeit Vorhersagen und Entscheidungen zu treffen.

Diese These einer narrativen Empathie gewinnt Schärfe, wenn wir uns fragen, wann es nicht zu Empathie kommt. Die Narrationsmuster stellen nämlich zugleich einen Blockade-Apparat bereit, der Empathie auf einige wenige besondere Fälle reduziert. Zugelassen wird Empathie nur dort, wo zeitliche Prozesse des Vorher und Nachher entscheidend sind. Dort, wo es nichts vorherzusagen oder rückwirkend zu rekonstruieren gibt, also in stagnierenden Situationen, ebenso wie in vollkommen abrupten, wilkürlichen oder unübersichtlichen Situationen, versagt unsere Einfühlung, gleitet ab wie die Maus von dem Rand des Waschbeckens. Wenn jemand einfach leidet, ohne dass wir wissen oder ahnen, was passiert ist, ist unser Mitfühlen in der Regel wohl deutlich geringer als dort, wo wir ein Ereignis wahrnehmen oder hinzudenken, welches den Schmerz des anderen erklärt. Das Andauern der Empathie über das kursorische Hin und Her hinaus ist die Ausnahme. Vielleicht können wir nicht einmal registrieren oder glauben, dass jemand leidet, wenn wir nicht die Gründe dazu kennen oder erahnen oder wenn diese Gründe nicht aus direkten Handlungen hervorgehen. Hungernde Menschen in Afrika haben da keine großen Chancen.

Die Verstrickung des Beobachters in die Narration umgeht die Blockade-Mechanismen. Dennoch oder gerade deshalb strebt die Narration zu den Momenten, die den Beobachter wieder frei lassen, das heißt, aus seiner Position empathischer Beobachtung entlassen. 12Diese Momente bestehen in den dramatischen Höhepunkten, an denen die (vom Beobachter erkannten, miterzeugten) Absichten der Protagonisten verwirklicht oder vereitelt werden. Die Sequenz muss durchlaufen oder durch einen Kurzschluss unterbrochen werden, damit der Beobachter wieder auf sich zurückgeworfen werden kann. Wir werden sehen, welche Ereignisstrukturen und Narrationsformen dieser Anforderung am besten genügen.

Narration, so die These dieses Buches, ist die Ausnahmeform, in der Empathie zugelassen wird.[4] Zugespitzt kann man sagen: Empathie, das Verstehen der anderen, kommt nur zustande, weil unsere emotionale Aufmerksamkeit anderen gegenüber gestaut, blockiert und gefiltert wird. Ohne eine derartige (Teil)Blockade würden wir in einer Welt fortwährenden Perspektivenverlusts leben, in der wir unwillkürlich die Perspektiven aller anderen Menschen und darüber hinaus auch der Tiere, der Fabelwesen und Dinge einnehmen müssten. Erst das Filtern des empathischen Rauschens, das Kanalisieren und Blockieren erlaubt uns die Illusion einer Innensicht der anderen.

Was veranlasst uns aber, die Geschichte eines anderen in Gedanken zu »erzählen« und solcherart Empathie zu entwickeln? Ich glaube nicht, dass der Anlass zur Narration in einer primären Neugier zu suchen ist. Vielmehr beginnen wir zu erzählen, weil wir uns vorab für jemanden, den wir beobachten, entschieden haben, weil wir also seine Partei ergriffen haben und uns mit ihm verbunden fühlen. Um diese vielleicht ganz spontane Parteinahme zu vertiefen, zu erklären und zu rechtfertigen, beginnen wir, so meine Vermutung, die Geschichte des anderen zu narrativieren.

Zu den überraschendsten Konsequenzen dieses Modells von Empathie dürfte es gehören, dass narrative Empathie nicht zwei, sondern drei Individuen involviert. Während die meisten klassischen Theorien von Empathie stets von einer einfachen Szene der Beobachtung mit einem Beobachter und einem Beobachteten ausgehen, impliziert die narrative Empathie eine Dreierszene. Der Beobachter beobachtet den Konflikt oder zumindest eine 13Meinungsverschiedenheit von zwei anderen und spekuliert über die möglichen Ursachen, Motivationen, Intentionen und Folgen. Wenn er dabei (mental oder explizit) Stellung bezieht und also die Partei eines der Kontrahenten ergreift, kann es nachgeordnet zu den genannten Empathie-Effekten kommen. Die Parteinahme in Dreierszenen wird in diesem Buch als Grundtypus der narrativen Empathie vorgestellt.

Diese Annahme eines Dritten mag auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheinen. Viele Selbstwahrnehmungen von Empathie folgen dem einfachen Schema der Beobachtung: »Ich sehe, wie B sich wehtut und kann den Schmerz von B fühlen.« Doch auch derartige scheinbar simple Szenarien verbergen eine Reihe von komplexen Bedingungen, wie etwa die Vorhersage des zeitlich Kommenden. Zudem könnten sie sich als abgeleitete Szenen oder Schwundstufen einer komplexeren Szene erweisen, die einen Dritten einschließen. »Ich sehe, wie A dem B Schmerz zufügt.« Aus einer solchen Szene würde ebenfalls hervorgehen, dass wir empathisch reagieren, auch wenn nur B sich wehtut und kein A existiert. Auch in der Geschichte mit der Maus könnte man von einer verkappten Dreierszene sprechen. Der Mensch hat dort zwei Positionen inne. Zum einen ist er der Täter gegen die Maus. Zum anderen ist er der Beobachter des Konflikts von Maus und Mensch und ergreift die Partei der Maus.

Die hier vorgeschlagene narrative Empathie ist in ihrer Struktur eng an komplexe soziale Situationen gebunden und ist damit sicher nur wenigen Tieren möglich. Überhaupt kann die menschliche Empathie wohl nicht ausschließlich als eine »bottom-up«-Theorie erklärt werden. Eine »bottom-up«-Theorie geht von den einfachen Fällen und den Basisstrukturen aus, um sie dann »von unten nach oben« für kompliziertere Fälle schlicht ein wenig zu erweitern. Sicherlich verfährt die Evolution in der Regel durch kontinuierliche Anpassung an die Umwelt. Das geläufige Schema davon ist stetiger Komplexitätsgewinn (doch soll dabei nicht vergessen werden, dass auch Simplifizierungen Teil einer neuen Anpassung sein können).[5] Dennoch gibt es auch in der Evolution eine besondere Art von Sprüngen. Wenn nämlich eine Reihe von Fähigkeiten schrittweise entwickelt wurde, kann es geschehen, dass die Kombination dieser 14Fähigkeiten plötzlich eine neue Handlungsmöglichkeit eröffnet, für die kein direkter Evolutionsdruck bestand. So könnte es mit der Entwicklung der Empathie von den Affen zum haarlosen Affen geschehen sein. In dem Moment, wo einem Individuum eine bestimmte Mixtur an mentalen Fähigkeiten zur Verfügung steht, wird, so die These, rückwirkend nur das als Empathie zugelassen, was diesem Mix an Fähigkeiten genügt. Die neuen Fähigkeiten dienen, so wäre es vorstellbar, zugleich als Filter, um andere und etwa auch frühere Formen von Empathie zu blockieren beziehungsweise zu dieser neuen Form von Empathie umzubilden. Dass es natürlich eine allmähliche Evolution dieser Fähigkeiten gibt, spielt dann keine Rolle für den plötzlichen Umschlag zu einem »top down«. Die einmal entwickelte narrative Empathie erfasst die Mehrzahl von Formen des Gedankenlesens, Mitfühlens und Mitleidens und ordnet sie ihrer Struktur unter.

Einen Beleg dieser Grundthese findet dieses Buch in dem Faktum, dass Menschen die Fähigkeit zu fiktivem Denken und zur Erschaffung elaborierter imaginärer Welten besitzen. In der Tat setzt es sich an einigen Stellen mit den sogenannten »Werken der Fiktion« auseinander. Doch das heißt nicht, dass hier nur literarische Kunstwerke verhandelt werden. Vielmehr besteht die Hoffnung der Untersuchung nicht zuletzt darin, dass die menschliche Fähigkeit zur Fiktion auch Aufschlüsse über die kognitiven Fähigkeiten des Menschen als Ganzes zu geben vermag. Anscheinend kann es Fiktionen nur geben, weil diese dem menschlichen Vorstellungsvermögen und eben auch den Vorstellungen von anderen Menschen entsprechen. Diese Überlegungen erlauben einige Vermutungen über eine Grundszene von Narration, die direkt aus dem menschlichen Vermögen entspringt. Möglicherweise hält narrative Literatur also einen Schlüssel zu dem erstaunlichen menschlichen Vermögen der Empathie bereit.

Zugleich aber hat erzählende Literatur auch einen wohl nicht unwesentlichen Anteil in dem Einüben von Mustern der Empathie. Dieses Einüben der Muster öffnet einen Raum, in dem zugleich auch variierende Formen von Empathie erprobt werden können, die wiederum Rückwirkungen auf die Fähigkeit zur Empathie haben können. Mit der Fiktion gibt es eine Historie der Empathie und den Plural der Kulturen der Empathie.

15Gliederung des Buches

Das Buch nähert sich der Struktur der narrativen Empathie zunächst, indem es die drei prominentesten Paradigmen zur Erklärung von Empathie diskutiert, die von einfacheren Erklärungen der Empathie ausgehen.

Dazu gehört zunächst das Paradigma der Ähnlichkeit (Kapitel 1). Ähnlichkeit zwischen dem einfühlenden Beobachter und dem anderen, so wird auf die eine oder andere Art und Weise oft argumentiert, sei die Basis der Empathie und mithin die Bedingung ihrer Möglichkeit. Auch wenn dies stimmt (man kann es wohl kaum widerlegen), ist Ähnlichkeit nur ein sehr mangelhaftes Mittel zur Erklärung von menschlicher Empathie, denn Ähnlichkeit wird regelmäßig überschätzt. Wer etwa die Ähnlichkeit des Körpergefühls oder bestimmter Emotionen annimmt, abstrahiert stets zugleich auch von der Situation und den Erfahrungen des anderen. Entsprechend scheint es, dass weniger die Ähnlichkeit an sich, als vielmehr die Überschätzung der Ähnlichkeit ein zentrales Medium von Empathie ist. Doch Überschätzung geht stets ins Maßlose und verlangt Mechanismen der Regulierung. Es gilt daher zu zeigen, dass selbst scheinbar simple Mechanismen wie die durch Spiegelneuronen ermöglichte Parallelisierung von Beobachter und Beobachtetem Ähnlichkeit zugleich sucht und kanalisiert, begrenzt und blockiert. Dies gelingt unter anderem durch Mechanismen der Vorwegnahme und Verzeitlichung.

Das zweite Kapitel diskutiert Konstruktionsmodelle von Empathie. Die Grundannahme dieser Konstruktionsmodelle besteht darin, dass wir die Perspektive eines anderen aufbauen können. Ähnlichkeit mit dem anderen ist dabei zwar sehr hilfreich, aber nicht mehr unbedingt erforderlich. Die Hoffnung der Konstruktionsmodelle besteht darin, dass wir auch jemanden intellektuell oder emotional verstehen können, der eine andere Sicht auf die Dinge hat als wir. In der Diskussion dieser Modelle wird die Wichtigkeit der konkreten empathie-induzierenden Situation hervorgehoben. Nur bestimmte Situationen erlauben derartige Konstruktionen, vor allem nämlich solche, die narrativ konstruiert werden können. Auch die Differenz zum anderen muss sich als eine konkrete vorhergehende Erfahrung »erzählen« lassen (die den anderen etwa prägt oder sein Nicht-Wissen exemplifiziert und so fort). Damit der andere kon16struierbar ist, müssen alle Intentionen, Vorbedingungen und Möglichkeiten in ein überschaubares Szenario überführt werden.

Das dritte Kapitel schlägt eine weitere Grundform von Empathie vor, nämlich eine durch Gewalt nahezu erzwungene Empathie. In Extremsituationen wie der Geiselnahme wird häufig eine emotionale Anbindung des Opfers an den Gewalttäter (etwa einen Geiselnehmer) beobachtet (Stichwort: Stockholm-Syndrom). Diese emotionale Anbindung wird hier als Empathie beschrieben. Die Geisel, so steht zu vermuten, hofft mithilfe von Empathie eine positive Reaktion des Geiselnehmers zu erwirken. Diese Form der Empathie ist dabei nicht als Grenz- oder Ausnahmefall abzutun. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sich hier eine Grundform menschlicher Kommunikation und eine zentrale Eigenschaft von Empathie zeigt, insofern Empathie als Mittel der Kommunikation operiert. Mithilfe von Thesen aus der Evolutionstheorie wird auch der soziale Klatsch und Tratsch einbezogen. Als Mittel der Kommunikation könnte Empathie die Struktur für wechselseitigen Austausch und Erwiderung von Zuneigung bereitstellen. In diesem Kapitel stoßen wir auch zum ersten Mal auf die Rolle eines Dritten. In der Situation der Geiselnahme findet sich ein solcher Dritter in einer zentralen Position, nämlich in Form der staatlichen Ordnungshüter, die der Geiselnehmer fürchtet. Diese Furcht vor dem Dritten, so wird vermutet, wird von der Geisel registriert und erweist sich als zentral für die Empathie mit dem Geiselnehmer.

Die in den drei Kapiteln ausgemachten Elemente von Empathie – Verzeitlichung, empathie-induzierende Situation und Dreierszene – werden im vierten Kapitel zu dem Modell der narrativen Empathie ausgebaut. Dies geschieht über zwei Wege, einerseits der Narrationstheorie, andererseits einer anthropologischen Spekulation der »Parteinahme in einer Dreierszene« als einer Grundszene sozialen Verhaltens. Dort wird vorgeschlagen, dass die Urszene der Empathie in einem Akt der Parteinahme zu suchen sei. Weil sich einer in einem Konflikt für den einen und nicht den anderen entscheidet, ist er genötigt, seine Entscheidung zu begründen und zu legitimieren. Empathie, Mitgefühl, Mitleiden erweisen sich, wie entwickelt werden wird, als beste Strategien, die eigene Entscheidung zu rechtfertigen und zu festigen.

Dieses Buch, so viel sollte deutlich geworden sein, verfährt durchaus auch spekulativ. Der Akzent der Argumentation liegt 17nicht auf einem Katalog von Formen der Empatie, auch wenn hier zunächst verschiedene Konzeptionen von Empathie und Mitgefühl vorgestellt werden, sondern auf der Verdichtung aller Formen und Konzeptionen zu einem Modell. (Eine gute Übersicht über Formen der mentalen Prozesse von Empathie bietet Evan Thompson;[6] eine hilfreiche Katalogisierung von Formen der literarischen Identifikation leistet Hans Robert Jauss.[7]) Dieses Verfahren hat den Vorzug der Deutlichkeit. Andere Thesen und Ideen zur Frage der menschlichen Empathie werden es leicht haben, sich mit oder gegen diese Vorschläge zu positionieren.

Gebrauchsanweisung

Die Leser, die sich sofort ein Bild von dem in diesem Buch vorgeschlagenen Modell machen wollen, können direkt zu Kapitel 4, Abschnitt 6 springen.

Die Leser, die dieses Buch als Einführung in kognitionswissenschaftliche Ansätze zur Empathie nutzen wollen, können sich Kapitel 1, Abschnitt 5-6 (Spiegelneuronen), Kapitel 2, Abschnitt 1-2 (Theory of Mind) und Kapitel 4, Abschnitt 1-2 (Narrative Mind) zuwenden.

Wer das Buch als Beitrag zur Literaturwissenschaft lesen will, soll sich direkt auf die Literaturdiskussionen konzentrieren: Kapitel 1, Abschnitt 8 zu Lessing; Kapitel 2, Abschnitt 5 zu E.T.A. Hoffmann; Kapitel 4, Abschnitt 9 zu Fontanes Effi Briest sowie die Narrationstheorie mit eingebetteter Diskussion von Aristoteles (Kapitel 4, Abschnitt 1-5).

18Kapitel 1
Empathie und die Produktion der Nicht-Ähnlichkeit

In den folgenden drei Kapiteln steht je eine Grundstruktur von Empathie im Zentrum, das heißt, die Annahme über eine solche Grundstruktur. Es wird sich dabei erweisen, dass keine dieser Konzeptionen ein Monopol zur Erklärung von Empathie für sich beanspruchen kann. Den Anfang macht dabei die Vorstellung, Empathie beruhe auf echter oder unterstellter Ähnlichkeit zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten.

1. Ähnlichkeit als Bedingung von Empathie

Empathie – wie auch immer der Mechanismus, wie auch immer die Struktur – findet statt. Zumindest haben wir immer wieder das Gefühl, dass wir andere Menschen und Wesen verstehen, dass wir fühlen, was sie empfinden und dass wir ihre Intentionen erraten können. Zugleich wissen wir, dass dies nicht so einfach ist und wir regelmäßig irren. Die Frage ist also, wie es möglich ist, dass wir denken, andere zu verstehen trotz der Umstände, die dagegen sprechen. Woher stammt unser Zutrauen, andere lesen zu können?

Anscheinend rührt unsere Zuversicht von der Unterstellung, dass wir in der einen oder anderen Weise ähnlich denken, fühlen oder fühlen würden, wenn wir der andere wären und in seiner Situation stecken würden. Zumindest nehmen wir (vielleicht richtig, vielleicht zu Unrecht) an, dass wir wissen oder erahnen können, wie sich ein bestimmter Schmerz anfühlt, weil wir (wohl ohne uns dies bewusst zu machen) aus eigener Erfahrung schöpfen. Ebenso nehmen wir etwa an, dass die Frosch-Phobie einer Freundin unserer Angst vor Spinnen ähnelt oder dass wir spontan zu wissen glauben, was ein anderer tun wird. Ex negativo kann man sagen, dass Empathie wohl nicht stattfände, ohne die Unterstellung einer minimalen Ähnlichkeit oder Gleichartigkeit durch den Beobachter. Wenn wir etwa versuchen, uns in eine Fledermaus einzufühlen, so das berühmte Beispiel von Thomas Nagel, so tun wir es, indem wir die 19Gleichartigkeit der Erfahrung unterstellen, und etwa das Echolot in Sicht zurückübersetzen und das Flügelschlagen als Armbewegung auslegen (was es evolutionär ja auch war).[1]

Das Problem dabei ist, so fügt Nagel schnell hinzu, dass wir damit gerade nicht verstehen, »wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein.«[2] Nagel lässt diese Einsicht auch für weniger krasse Fälle als Fledermäuse und Marsmenschen gelten und betont dabei vor allem die Grenze in der Verschiedenheit von Wahrnehmungsformen, wie der zwischen Sehenden und Blinden. Ob Wesen mit den gleichen Wahrnehmungsapparaten sich verstehen können, lässt er dann aber letztlich offen. Wenn wir den Nagelschen Goldstandard wie es für A ist, A zu sein, scharf fassen, schärfer auch als Nagel selbst, dann müssen wir schnell die (Fast)Unmöglichkeit jeder Form von akkurater Einfühlung in den anderen akzeptieren. Jeder Mensch hat ein irgendwie verschiedenes Repertoire von Wahrnehmungsformen, Assoziationen und Erfahrungen, so dass es vielleicht nie möglich ist, die Welt wie ein anderer zu sehen, zu erdenken und zu erfühlen. Heinrich von Kleist hat in seiner sogenannten Kant-Krise an einem ähnlichen Problem gelitten; so zumindest hat er selbst es in einem berühmten Brief ausgedrückt, in dem er schreibt, dass jeder Mensch die Welt wie durch eine verschieden gefärbte Brille sähe und keiner den anderen wirklich je verstehen könne. Er schrieb dies an seine Verlobte – offensichtlich in der Hoffnung, dass sie ihn (dennoch) verstehe.

Trotzdem glauben wir, auch wider besseres Wissen, dass Empathie stattfindet. Diese Zuversicht in unsere Empathie dürfte selbst einen entscheidenden Faktor der menschlichen Empathie ausmachen. Es wäre auch wohl zu einfach, diese Zuversicht als schlicht sekundär gegenüber unserem tatsächlichen Vermögen und unseren Apparaten der Empathie zu deklarieren. Wir sind wohl nicht nur optimistisch, weil wir über die kognitiven Apparate zur Empathie 20verfügen und sie bereits genügend erprobt haben. Vielmehr, so steht zu vermuten, spornt ein überzogener Optimismus gepaart mit der Ignoranz gegenüber den Differenzen zum anderen die Ausbildung von Empathie an und, entscheidender, verleitet uns selbst dort zu dem Glauben, wir würden den anderen verstehen, wo uns dazu die Mittel fehlen. Entsprechend kann Empathie in ihrer allgemeinsten Form definiert werden als die Vorstellung eines Beobachters, einen anderen emotional oder kognitiv zu verstehen.

Wir glauben zu verstehen, und die Basis dieser Zuversicht ist Ähnlichkeit zwischen mir und dem Beobachteten. Doch was als adäquate Ähnlichkeit fungiert und – genauso wichtig – wo das Wuchern der Ähnlichkeit aufhört, ist damit noch nicht gesagt. Wir können wohl auch nicht anders, als in der einen oder anderen Weise von uns auf den anderen zu schließen. Doch als ähnlich kann alles und nichts verstanden werden. Anscheinend haben die meisten Menschen mit ein bisschen Fantasie kaum ein Problem damit, sich auch in ihnen verschlossene Wahrnehmungswelten wie die einer Fledermaus einzufühlen, wie die von meiner ältesten Tochter geliebten Abenteuerromane von Kenneth Oppel nahelegen, deren Helden Fledermäuse sind. Auch wenn diese Einfühlungen weitgehend fehlgeleitete Projektionen sind, die falsch von mir auf den anderen schließen, finden sie statt. Der andere wird aufgeschlossen und mir angeähnelt. Wir besitzen anscheinend die Fähigkeit, uns wie unbegrenzt in alles einfühlen zu können, um es auf uns vertraute Schemata zu beziehen und dadurch imaginäre Brücken zwischen uns und anderen zu errichten, ohne das tatsächlich Unähnliche als Unähnliches mitdenken zu müssen. Der Anthropomorphismus regiert.

Ähnlichkeit, so zeigt sich, verleitet zur Überschätzung von Ähnlichkeit. Es lässt sich wohl immer eine höhere Ebene von Allgemeinheit konstruieren, in der Ähnlichkeit zwischen zwei zu vergleichenden Individuen angenommen werden kann. In dem Beispiel mit der Fledermaus kann man ohne weiteres argumentieren, dass das Echolot insofern mit dem Sehen zu vergleichen sei, als es dem Subjekt eine Repräsentation der räumlichen Verteilung von Objekten und dem Subjekt selbst liefert. Dabei wird allerdings das Spezifische der sinnlichen Wahrnehmung unterschlagen, also etwa, dass Sicht Farben involviert und durch zu große Helligkeit und Dunkelheit begrenzt wird, während das Echolot seine Grenze in der großen 21Entfernung findet, wenn das Echo nicht mehr lesbar wird. Anders gesagt, Ähnlichkeit verleitet zu einer Vielzahl von Fehlbefunden, die Ähnlichkeit suggerieren, wo keine vorliegt – beziehungsweise wo sie nur durch große Abstraktion auf höherer Ebene angesetzt werden kann (etwa: Auch eine Maus ist ein Säugetier wie wir). Diese Ausweitung der Ähnlichkeit ist aber nicht nur ein Fehler (das auch), sondern sie ist zugleich notwendig dafür, dass Empathie subjektiv überhaupt zustande kommt, denn umgekehrt gibt es stets eine Ebene des Spezifischen, die zwei Wesen nie miteinander teilen. Um also das subjektive Gefühl der Empathie aufrechtzuerhalten, muss die ihr zugrundeliegende Ähnlichkeit fortwährend verwässert werden. Doch diese Verwässerung muss auch aufgehalten werden, um konkrete Erfahrungen zu gewährleisten.

Dieses Kapitel wird, aufbauend auf den Einsichten in die Notwendigkeit der Ähnlichkeit, die Gegentendenz stark machen. Weil alles und nichts ähnlich sein kann, kommt auch Empathie vielleicht nicht allein durch Ähnlichkeit zustande, sondern, so die These, durch die gezielte Begrenzung von Ähnlichkeit. Wenn Ähnlichkeit derart leicht unterstellt, suggeriert und subjektiv generiert wird, darf gefragt werden, ob es umgekehrt auch einen Mechanismus der Produktion von Nicht-Ähnlichkeit gibt. Nur ein solcher Mechanismus könnte die Kanalisierung und Zuspitzung von Empathie gewährleisten.

Diskutiert wird die »Kultur der Ähnlichkeit« daher vor dem Hintergrund der gezielten Begrenzungen, die die Exzesse von Ähnlichkeit unterbinden. Wenn Empathie in der Tat auf Ähnlichkeit beruht, dann kann dies nur dann funktional, logisch und operativ zu zwischenmenschlichem Verstehen führen, wenn zugleich Nicht-Ähnlichkeit ins Spiel kommt, um Empathie (Projektion, emotionale Ansteckung und so fort) zu unterbinden. Ähnlichkeit kann nur durch Nicht-Ähnlichkeit kanalisiert und reguliert werden. Wie aber wird Nicht-Ähnlichkeit generiert? Und wie kann diese Nicht-Ähnlichkeit als Filter eines Zuviel der Ähnlichkeit operationalisiert werden?

222. Landschaften der Ähnlichkeit

Beginnen wir mit einer begrifflichen Klärung. Es wurde soeben implizt zwischen akkurater und subjektiver Empathie unterschieden. Akkurate Empathie würde in einem vollständigen und korrekten Verstehen des anderen in seiner Situation bestehen und dabei mitdenken, wie es ist, der andere zu sein. Subjektive Empathie dagegen umfasst ein weiter gestreutes Spektrum an Empathie-Effekten, die in der einen oder anderen Weise dazu führen, dass der Beobachter sich vorstellt, wie der andere empfindet. Während akkurate Empathie die Empfindungen des Beobachteten korrekt auf den Beobachter übersetzt, erfolgt die subjektive Empathie oder auch »Projektion« genau in die andere Richtung, vom Beobachter auf den Beobachteten. Kurz: Akkurate Empathie versteht den anderen, Projektion dagegen wirft dem anderen ein Vorverständnis des Beobachters schlicht über, schließt also von der Natur des Beobachters auf den Beobachteten. In diesem Buch wird stets von der Situation der subjektiven Empathie ausgegangen (die daher auch nur kurz »Empathie« heißt). Es ließe sich auch argumentieren, dass eine akkurate Empathie eigentlich ein Oxymoron ist, insofern der andere ja nie wirklich bekannt sein kann, wenn er erst durch Empathie verstanden werden soll.

Echtes, also akkurates Verstehen des anderen gibt es nur, wenn absolute Gleichartigkeit zwischen mir und dem anderen vorliegt. Dies ist aber nicht der Fall. Ähnlichkeit beruht stets zumindest auf einer Teil-Gleichartigkeit. Und so könnte Ähnlichkeit in der Tat eine Gewähr dafür geben, dass es möglich ist, einzelne Aspekte korrekt (also akkurat) von mir auf den anderen zu übertragen. Wenn etwa beide über ähnliche sinnliche Wahrnehmungsformen verfügen, dann wäre es denkbar, dass der eine seine Tasterfahrungen in vielen Fällen korrekt (akkurat) auf den anderen überträgt, so dass hier Projektion und akkurate Empathie gleichförmig sind. (Das parallele Mitlaufen der Spiegelneuronen in der Beobachtung legt etwa eine derartige Vermutung nahe, dazu mehr im Folgenden.) Doch selbst wo diese Teil-Gleichartigkeit vorliegt, ist sie stets auch vermischt mit Ungleichheit. Es gilt daher auch hier, dass es keine dem Einzelnen zugängliche Position gibt, die die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit mit Sicherheit feststellen kann. Den23noch bleibt die Annäherung an eine akkurate Empathie Ziel des Prozesses.

Wir müssen also fragen, auf welchen Ebenen Ähnlichkeit vorliegen kann, um zu erörtern, wie jede dieser Ebenen der Ähnlichkeit zu spezifischen Formen der Überschätzung verleiten kann. Diese Ermittlung der verführerischen Dimension von Ähnlichkeit wird im Folgenden unter dem Stichwort des »Fehlbefunds« behandelt, die Begrenzung der überschätzten Ähnlichkeit dagegen unter dem Stichwort der »Blockade«.

Ähnlichkeit zwischem einem Beobachter und einem Beobachteten kann auf einer Vielzahl von Ebenen unterstellt werden. Zu betonen ist dabei vorab, dass diese Ebenen sich zugleich überlappen und wechselseitig involvieren. Es ist wohl in Hinblick auf Ähnlichkeit nicht möglich, strikt zwischen Handlung, Erfahrung und Situation zu trennen, ohne dass ein Begriff auch die anderen implizierte. Die folgenden Unterscheidungen sind insofern nicht systematisch zu verstehen, sondern schlicht an gängigen Diskursen orientiert. Es wäre auch möglich, andere Formen der Ähnlichkeit ins Feld zu führen, wie etwa »das Merkmal der Bewusstheit« wie Benjamin Libet vorschlägt:[3]

a) Angenommen werden kann etwa eine körperliche Ähnlichkeit. Weil wir alle einen Körper haben, kann und muss es möglich sein, von einem auf den anderen zu schließen.[4]

b) Ähnlich ist auch die Art und Weise der Wahrnehmungen. Die Struktur der Wahrnehmungsapparate, also der Sinne, ist derart präzise, dass das Hören des einen prinzipiell dem Hören des anderen gleicht und insofern Rückschlüsse von dem einen auf den anderen erlaubt. Wenn ein Blinder die Welt durch den Hörsinn erfährt, so teilt ein anderer Blinder diese Wahrnehmungsform;[5]

c) Vermutlich werden die Beobachtungen von Handlungen (eines anderen) und der Exekution (eigener) Handlungen zumindest zum Teil durch ähnliche oder gleiche neuronale und andere Prozesse ermöglicht. Wenn nachgewiesen werden kann, dass das Gehirn (oder ein anderes Organ) dieselben Prozesse durchläuft, wenn es um eigene oder um fremde Handlungen, Emotionen und 24andere kognitive Prozesse geht, so könnte diese prozessuale Architektur als Basis der Ähnlichkeit gelten.[6] Es wäre dann möglich, von einer akkuraten Simulation des anderen mittels des eigenen kognitiven Apparats zu sprechen.[7]

d) Ähnlich könnte auch die Kodierung von Emotionen und Affekten sein, so dass hier eine intersubjektive Gleichförmigkeit unter den Individuen besteht. Starke Emotionen etwa geben das Gefühl, dass sie kollektiv gleich erfahren werden. Jaak Panksepp argumentiert in diesem Sinne, dass Menschen (und andere Tiere) ein bestimmtes Repertoire an tiefen Grundemotionen teilen.[8]

e) Auch Erfahrungen beziehungsweise die Arten und Weisen, wie Erfahrungen abgespeichert und aufgerufen werden, dürften intersubjektiv sehr ähnlich sein. Wenn man annimmt, dass das Gehirn vergangene Erfahrungen in der einen oder anderen Weise verkürzt abspeichert, um sie schnell aufrufen zu können, etwa um in ähnlichen Situationen schnell zu Entscheidungen zu kommen, dann können diese verkürzten Abspeicherungen oder Programme, gerade weil sie eine Abstraktion von den Einzelheiten einer Erfahrung darstellen, die Grundlage von Ähnlichkeit zwischen Individuen herstellen. Verschiedene Individuen reagieren auf bestimmte Reize ähnlich, und werden daher füreinander transparent. Die kollektiv geteilte Reaktion auf Warnrufe könnte auf einen derartigen Mechanismus zurückgeführt werden. Antonio Damasio spekuliert, dass Erfahrungen als Gefühle abgespeichert werden, die in späteren Situationen, die ähnlich sind, wieder abgerufen werden können, und dann als positive oder negative Gefühle Entscheidungshilfen bieten, wie sich der Einzelne in seiner jeweiligen Situation verhalten soll. Wenn wir etwa ein »schlechtes Gefühl« in einer Situation haben, entscheiden wir uns gegen die Optionen, die mit einer Situation verbunden sind. Diese auf den Emotionen aufbauenden Mechanismen der Entscheidungshilfe 25könnten etwa eine Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Individuen herstellen.[9]

f) Weiterhin kann man über Ähnlichkeiten nachdenken, die aus Situationen resultieren. Die Annahme ist hier, dass wir alle in der gleichen Situation ähnlich reagieren würden. Mit dieser letztgenannten Form der Unterstellung von Ähnlichkeit, die aus Situationen entspringt, setzen wir uns ausführlicher in Kapitel 2 auseinander. Das vorliegende Kapitel widmet sich den Formen der Ähnlichkeit, die auf Annahmen über die physiologischen und kognitiven Apparate aufbauen.

Es mangelt mithin nicht an Möglichkeiten, Ähnlichkeit zu lokalisieren. Es ist leicht zu ermessen, wie jede dieser möglichen Ebenen von Ähnlichkeit (und andere mehr, die hier schlicht ausgeklammert werden) zu einer je spezifischen Überschätzung von Ähnlichkeit führen kann. Und jedes spezifische Feld des Zuviel an Ähnlichkeit, so steht zu vermuten, begünstigt wiederum eine besondere Form (oder Vielfalt an Formen) von Projektionen und subjektiven Empathie-Empfindungen.

3. Fehlbefunde von Ähnlichkeit

Um sich einen kurzen, unsystematischen Überblick über einige Phänomene der Fehlbefunde der Ähnlichkeit zu verschaffen, sollen im Folgenden einige Beispiele genannt werden. Es sei damit aber nicht behauptet, dass sie alle auf die gleiche Struktur zu reduzieren sind.

Eines der beeindruckendsten Phänomene, das mit Empathie assoziiert ist, besteht in der emotionalen Ansteckung. Man spricht von emotionaler Ansteckung in den Fällen, in denen ein Individuum die Gesten, Körperhaltungen, Bewegungen, Gesichtsausdrücke und Laute eines anderen automatisch imitiert und dadurch oder dabei zugleich die Emotionen oder Affekte des anderen übernimmt.[10] Die starke Emotion oder der Affekt des einen wirkt wie infizierend auf andere, auch wenn diese anderen den Grund für den Affekt 26oder die Erregung nicht teilen. Es ist so, als wäre die Differenz zwischen mir und dem anderen in Bezug auf die Emotion nicht existent. Ein Individuum in einer Gruppe agiert in Panik und alle anderen reagieren sofort, etwa indem sie das gleiche Panikgefühl haben. Wenn ein Kleinkind in einer Gruppe schreit, reagieren die anderen Kinder ebenfalls durch Weinen oder Schreien, auch wenn den anderen die Ursache des Weinens nicht bekannt ist. Der sogenannte Gähnreflex gehört ebenfalls zu der Liste der Phänomene der emotionalen Ansteckung.

Emotionale Ansteckung ist zwar per se keine Form der Empathie, denn der Beobachter »versteht« den anderen nicht, doch kann die emotionale Ansteckung als eine basale Struktur der Transparenz und Transferenz verstanden werden, die entwicklungsgeschichtlich Empathie möglich macht. Insofern kann emotionale Ansteckung als eine unwillkürliche Form des Fehlbefunds der Ähnlichkeit gelten. Die Ähnlichkeit zwischen mir und dem anderen ist hier maximal, da die Unterscheidung zwischen Beobachter und Beobachtetem für den Moment der Ansteckung wie nicht-existent ist. Die Gefühle des einen springen wie infizierend über und werden unmittelbar auch die Gefühle des Beobachters, obwohl diese nicht oder nicht unbedingt dessen Situation entsprechen (beziehungsweise die Situation erst generieren, die dem Verhalten entspricht, da durch den Gähnreflex tatsächlich Müdigkeit hervorgebracht werden kann). Ein Fehlbefund von Ähnlichkeit liegt also vor, da das Verhalten des anderen beobachtet wird und diese Beobachtung zu einer unwillkürlichen Übernahme des Verhaltens im Beobachter führt, unabhängig davon, ob die Situation des anderen der seinen ähnelt. Die Verknüpfung der Wahrnehmung der Emotionen oder Affekte eines anderen (etwa: Angst) mit bestimmten Repräsentationen dieser Emotion (Schreie, Flucht) und den Reaktionen des Beobachters ist hier anscheinend derart stark und eng, dass die aufgerufene Emotion beziehungsweise der Affekt das gleiche Repertoire an Repräsentationen und Verhaltensformen im Beobachter nach sich zieht. Es ist daher auch durchaus plausibel, dass emotionale Ansteckung ein zentrales Medium des Films sein könnte.[11]

Andere Fälle von Fehlbefunden der Ähnlichkeit gehen von einer falschen Unterstellung aus; ich sehe im anderen etwas, was ich zu 27verstehen glaube, in der Regel weil ich voreilig (also ohne besseres Wissen oder trotz besseren Wissens) von meinem Wissen, meinen Erfahrungen, Körper-Schemata und Wahrnehmungen auf den anderen schließe. Ähnlichkeit wird hier (implizit) als Legitimation von Projektionen verwandt.

Andrew N. Meltzoff hat in seinen Studien von Säuglingen und Kleinkindern Evidenz dafür gesammelt, dass Kinder schnell lernen, von sich auf andere zu schließen und dadurch ein tieferes Verständnis sozialer Situationen zu entwickeln. Etwa können bereits 15 Monate alte Kinder die Intentionen von anderen erkennen, nicht aber 9 Monate alte.[12] Entsprechend argumentiert Meltzoff, dass die Ich-andere-Äquivalenz nicht das Ende, sondern der Ausgangspunkt sozialen Lernens sei. Meltzoff nennt diesen Mechanismus sozialen Lernens die »Wie ich«-Annahme (»like me«), die Ähnlichkeit unterstellt.

Seit langem ist auch der sogenannte Falsche-Konsens-Effekt (false consensus effect[13]