Cover

© Vania

DIE AUTORIN

Jennifer L. Armentrout hat es mit ihren Büchern bereits auf die Bestsellerliste von USA Today geschafft. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.

Von Jennifer L. Armentrout ist außerdem bei cbt erschienen:

Dämonentochter – Verbotener Kuss

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

cbt ist der Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 2012 by Jennifer L. Armentrout
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Pure«
bei Spencer Hill Press, Contoocook, USA
© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Dr. Barbara Röhl
Lektorat: Friedel Wahren
Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft
Umschlagbild: © 2012 K. Kaynak with artwork by Misha
MG · Herstellung: KW
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-10741-3
V003
www.cbt-jugendbuch.de

Für meine Familie und für Loki

(Ja, ich widme dieses Buch einem Hund!)

1. Kapitel

Ich starrte an die Decke der Turnhalle, und kleine schwarze Punkte tanzten mir vor den Augen. Meine Güte, tat mir der Hintern weh! Kein Wunder, schließlich war ich schon ungefähr fünfzigmal darauf gelandet. Nur mein Gesicht brannte nicht vor Schmerz – es glühte aus einem ganz anderen Grund.

Mein Nahkampfunterricht lief nicht gut.

Diese Art von Handgemenge lag mir nicht gerade im Blut. Meine Muskeln protestierten spürbar, als ich mich von den Matten hochhievte und unseren Trainer ansah.

Trainer Romvi fuhr sich mit einer Hand durch das schüttere Haar und betrachtete die ganze Klasse mit angewiderter Miene. »Wenn er ein Daimon gewesen wäre, wären Sie jetzt tot. Haben Sie verstanden? Tot, nicht lebendig, Miss Andros.«

Als gäbe es noch eine andere Definition von tot, die ich nicht kannte. Ich biss die Zähne zusammen und brachte ein Nicken zustande.

Romvi warf mir einen weiteren vernichtenden Blick zu. »Kaum zu glauben, dass Sie überhaupt Äther in sich haben, Miss Andros. An Sie ist die Essenz der Götter verschwendet. So, wie Sie kämpfen, könnten Sie ebenso gut sterblich sein.«

Hatte ich nicht drei äthergierige Daimonen getötet? War das denn nichts wert?

»Angriffsstellung einnehmen. Achten Sie auf Muskelbewegungen! Sie wissen doch, wie das geht«, befahl er.

Ich wandte mich erneut Jackson Manos zu, dem größten Mädchenschwarm des Covenant und meinem aktuellen Gegner. Mit seiner olivfarbenen Haut und diesen dunklen, sexy Augen konnte er zu einer ziemlichen Ablenkung werden.

Jackson zwinkerte mir zu.

Mit zusammengekniffenen Augen sah ich ihn an. Während des Kampftrainings durften wir nicht miteinander reden. Trainer Romvi war der Meinung, das würde der Glaubwürdigkeit des Kampfs schaden. Aber echt, so toll Jackson auch aussah, er war nicht der Grund, warum ich seine Fersentritte und Spinkicks nicht abwehren konnte.

Der Grund für mein vollkommenes Versagen lehnte an der Wand des Trainingsraums. Welliges dunkles Haar fiel ihm in die Stirn und hing ihm in die metallisch grauen Augen. Mancher hätte gesagt, Aiden St. Delphi solle zum Friseur gehen, aber mir gefiel dieser lässige Look, den er in letzter Zeit bevorzugte.

Einen Moment später trafen sich unsere Blicke. Aiden nahm wieder die Haltung ein, die mir nur allzu vertraut war. Die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, stand er breitbeinig da. Gerade forderte er mich mit einem Blick auf, mich auf Jackson zu konzentrieren und nicht auf ihn.

In meinem Innern schien plötzlich eine Sprungfeder auf und ab zu hüpfen. Daran hatte ich mich inzwischen gewöhnt – dieses Gefühl entstand jedes Mal, wenn ich ihn sah. Und das lag nicht nur an der fast makellosen Rundung seiner Wangenknochen oder seinem Lächeln, das seine Grübchen zeigte. Oder an seinem unglaublich muskulösen Körper

Einen Sekundenbruchteil, bevor es zu spät gewesen wäre, riss ich mich aus meinen Tagtraum. Mit einem brutal geführten Armschlag blockte ich Jacksons Knie und griff seine Kehle an. Jackson konterte mit Leichtigkeit. Wir umkreisten uns, teilten Schläge aus und wichen denen des anderen aus. Er trat zurück und ließ die Arme an den Seiten hängen. Ich sah meine Chance und ergriff sie, warf mich herum und zielte mit dem Knie auf seine Körpermitte. Jackson sprang zur Seite, aber nicht schnell genug. Ich traf ihn genau in der Magengrube.

Verblüffenderweise applaudierte Trainer Romvi. »Gut «

»Oh, Mist!«, stöhnte Caleb Nicolo, mein bester Freund und Partner aller meiner Missetaten, der neben einer Studentengruppe an der Wand lehnte.

Die Vorschrift bei Verteidigungstritten verlangte, dass wir unseren Gegner entweder töten oder uns zurückziehen mussten, sobald wir Kontakt mit ihm hatten. Ich hatte nichts von beidem getan. Jackson krümmte sich über meinem Knie zusammen, ging zu Boden und riss mich mit. Wir fielen auf die Matte, und irgendwie – ich bezweifelte ernsthaft, dass es Zufall war – lag Jackson plötzlich auf mir. Sein Gewicht drückte mir den Kopf nach hinten, und ich bekam Atemnot.

Trainer Romvi schrie und verfiel in eine andere Sprache. Rumänisch vielleicht oder so etwas. Jedenfalls klang es verdächtig nach einem Fluch.

Jackson hob den Kopf, und durch sein schulterlanges Haar war sein Grinsen für die Klasse nicht zu sehen. »Ein Leben auf dem Rücken, was?«

»Das betrifft ja wohl eher deine Freundin. Runter!« Seit dem Vorfall, bei dem es so ausgesehen hatte, als hätte meine Mom die Eltern seiner Freundin ermordet, verstanden Jackson und ich uns nicht mehr gut. Dank der freundlichen Mithilfe meiner toten Daimonenmutter verstand ich mich auch mit den meisten anderen Studenten nicht mehr. Kein Wunder.

Ich errötete vor Verlegenheit, mühte mich auf die Füße und warf Aiden einen verstohlenen, schnellen Blick zu. Seine Miene mochte ausdruckslos wirken, doch ich wusste, dass er im Kopf schon eine Liste aller meiner Fehler erstellt und abgespeichert hatte. Aber er war nicht meine dringendste Sorge.

Trainer Romvi marschierte quer durch die Halle und blieb vor Jackson und mir stehen. »Das war ein Verstoß gegen alle Regeln! Man zieht sich entweder zurück oder schaltet den Gegner aus.«

Um mir sein Urteil unmissverständlich klarzumachen, stieß sein Arm nach vorn und traf mich gegen die Brust. Ich taumelte ein, zwei Schritte zurück und biss die Zähne zusammen. Jede Zelle meines Körpers schrie danach, mich auf gleiche Weise zu wehren.

»Man wartet nicht. Und Sie!« Romvi fuhr zu Jackson herum. »Haben Sie vor, zum Spaß auf Daimonen herumzuliegen? Lassen Sie mich gelegentlich wissen, wie Sie sich dabei fühlen!«

Jackson wurde rot, gab aber keine Antwort. In Romvis Unterricht war Widerrede nicht erlaubt.

»Und jetzt von den Matten – nicht Sie, Miss Andros!«

Ich blieb stehen und warf Caleb und Olivia einen hoffnungslosen Blick zu. Sie erwiderten ihn und ihre Mienen spiegelten meine Stimmung wider. Schicksalsergeben erwartete ich, was als Nächstes passieren würde, da sich Romvi in jeder Stunde wiederholte. Ich wandte mich zu dem Trainer um und rechnete damit, gnadenlos heruntergeputzt zu werden.

»Viele von Ihnen sind noch nicht bereit für den Abschluss.« Romvi schlenderte am Rand der Matte auf und ab. »Viele von Ihnen werden in der ersten Woche im Beruf sterben. Aber Sie, Miss Andros? Sie sind eine Peinlichkeit für den Covenant.«

Und Romvi war eine Peinlichkeit für das männliche Geschlecht, aber er hörte mein lautloses Zetern nicht.

Langsam umkreiste er mich. »Es schockiert mich, dass Sie Daimonen gegenübergetreten sind und trotzdem noch vor mir stehen. Einige finden vielleicht, dass Sie Potenzial besitzen, Miss Andros. Davon habe ich allerdings noch nichts gemerkt.«

Aus den Augenwinkeln nahm ich Aiden wahr. Er erstarrte und beobachtete uns mit gerunzelter Stirn. Auch er wusste, was nun kam, und hätte beim besten Willen nichts dagegen unternehmen können.

»Beweisen Sie mir, dass Sie hierhergehören«, sagte Romvi gerade. »Beweisen Sie mir, dass Sie sich den Wiedereintritt in den Covenant durch Leistung und nicht durch familiäre Verbindungen verdient haben.«

Trainer Romvi war ein noch schlimmerer Finger als die meisten anderen Trainer. Er gehörte zu den Reinblütern, die Wächter werden wollten, statt sich mit ererbtem Geld ein bequemes Dasein zu leisten. Reinblüter wie Aiden, die dieses Leben wählten, waren eine Seltenheit, aber da endeten schon die Gemeinsamkeiten der beiden. Romvi hatte mich vom ersten Unterrichtstag an gehasst, und ich schmeichelte mir, dass Aiden wohl ziemlich genau das Gegenteil für mich empfand.

Romvi griff an.

Für jemanden, der so alt war, bewegte Romvi sich jedenfalls schnell. Ich wich über die Matten zurück und versuchte mich an alles zu erinnern, was Aiden mir im Lauf des Sommers beigebracht hatte. Ruckartig fuhr Romvi herum, und sein Stiefelabsatz raste auf meine Magengrube zu. Ich schlug sein Bein weg und holte zu einem Boxhieb aus, der mir wirklich, wirklich ernst war, den er aber blockte. Immer weiter machten wir, tauschten Hiebe aus und steckten Hiebe ein. Er setzte mir allerdings stärker zu und drängte mich dabei ununterbrochen auf den Rand der Matte zu.

Mit jeder Drehung und jedem Tritt wurden Romvis Schläge brutaler. Mir kam es wirklich so vor, als würde ich gegen einen Daimon kämpfen, denn Romvi schien mich ernsthaft verletzen zu wollen. Ich hielt mich gut, bis ich am Rand der Matte mit dem Turnschuh abrutschte. Das war mein taktischer Fehler.

Ich ließ mich ablenken.

Romvi ergriff die Gelegenheit. Er packte mich am Pferdeschwanz und riss mich nach vorn. »Sie sollten sich weniger Gedanken um Ihre Eitelkeit machen«, erklärte er und stieß mich herum, bis ich der Tür den Rücken zukehrte. »Und schneiden Sie sich die Haare!«

Ich trat zu und traf Romvi in die Magengrube, aber das störte ihn gar nicht. Mit meinem eigenen Schwung – und seinem Griff an meinen Haaren – knallte er mich auf die Matte. Ich rollte mich im Fallen ab und war fast dankbar dafür, dass es vorbei war. Es machte mir sogar kaum etwas aus, dass er mich vor der ganzen Klasse verprügelt hatte. So lange, wie

Romvi packte meinen Arm, zog ihn über meinen Kopf hoch und riss mich auf die Knie. »Hört mir zu, Halbblüter! Der Tod im Kampf ist nicht mehr euer schlimmster Albtraum.«

Ich riss die Augen auf. O nein. Nein, nein, nein. Er würde es doch nicht wagen

Er schob den Ärmel meines Shirts so weit hoch, dass die Haut bis zum Ellbogen zu sehen war. »Das wird euch passieren. Seht euch gut und lange an, was passiert, wenn ihr versagt. Sie werden euch in Ungeheuer verwandeln.«

Meine Wangen glühten, und mein Kopf war irgendwie leer. Sonst gab ich mir wirklich allergrößte Mühe, die Narben vor meinen Klassenkameraden zu verstecken. Während er weitermachte und der Welt meine Bissmale zeigte, konzentrierte ich mich auf alles andere als die Gesichter der Studenten. Dabei fiel mein Blick auf seine raue, faltige Hand und glitt an seinem Arm voller Kampfnarben hinauf. Sein Hemdärmel war hochgerutscht und enthüllte eine Tätowierung, die eine nach unten weisende Fackel zeigte.

Ich hatte gar nicht gedacht, dass Trainer Romvi der Typ für Tattoos wäre.

Romvi ließ meinen Arm fallen und ich konnte den Ärmel wieder hinunterziehen. Hoffentlich wurde der Kerl bald von hungrigen Daimonen gefressen! Vielleicht sah ich wirklich aus wie eine narbenbedeckte Missgeburt, aber ich hatte verdammt noch mal nicht versagt, kein einziges Mal. Ich hatte den Daimon getötet, der letztlich für meinen Zustand verantwortlich war – meine Mutter.

»Keiner von euch ist so weit, Wächter zu werden und einem Halbblut-Daimon gegenüberzutreten, der genauso ausgebildet ist wie ihr.« Romvis Stimme erfüllte den ganzen Raum. »Ich rechne kaum damit, dass ich bei den meisten von euch morgen eine Verbesserung erkenne. Der Unterricht ist beendet.«

Ich kämpfte gegen die Versuchung an, Romvi wie ein Affe von hinten anzuspringen und ihm das Genick zu brechen. Damit hätte ich mir keine Fans gemacht, aber die abartige Befriedigung, die mir das bereitet hätte, schien es fast wert zu sein.

Auf dem Weg nach draußen stieß ich mit Jackson zusammen. »Dein Arm sieht aus wie ein Schachbrett. Das ist echt heiß.«

»Ja, dasselbe hat auch deine Freundin über deinen «

Trainer Romvis Hand schoss auf mich zu und legte sich um mein Kinn. »Ihr Mundwerk, Miss Andros, könnte ebenfalls eine Verbesserung vertragen.«

»Aber Jackson «

»Das ist mir egal.« Er ließ die Hand sinken und starrte wütend auf mich herunter. »Ich dulde in meinem Unterricht keine unanständigen Worte. Das ist meine letzte Warnung. Beim nächsten Mal finden Sie sich im Büro des Dekans wieder.«

Nicht möglich. Ich sah Romvi nach, bis er aus dem Raum marschiert war.

Caleb reichte Olivia ihre Sporttasche und kam auf mich zu. Seine Augen, die so blau waren wie ein klarer Himmel, leuchteten vor Mitgefühl. »Er ist ein Mistkerl, Alex.«

Verächtlich wedelte ich mit der Hand. Ich war mir nicht sicher, ob er von Romvi oder von Jackson redete. Für mich waren beide Mistkerle.

»Irgendwann demnächst wirst du durchdrehen und ihn umbringen.« Luke fuhr sich mit den Fingern durch die bronzefarbenen Locken.

»Welchen von beiden?«, fragte ich.

»Beide.« Grinsend klopfte Luke mir auf den Arm. »Ich hoffe bloß, dass ich hier bin und es erleben kann.«

»Da kann ich mich nur anschließen.« Olivia fasste Caleb am Arm. Sie taten so, als sei ihre Geste nichts Besonderes, aber ich wusste es besser. Immer wenn Olivia Caleb berührte – und das kam oft vor –, vergaß er seine Umgebung vollkommen und kriegte dieses blöde Grinsen.

Andererseits bekamen in ihrer Gesellschaft viele männliche Halbblüter diesen Gesichtsausdruck. Olivia war umwerfend. Die meisten Halbblüter beneideten sie um ihre karamellfarbene Haut. Und um ihre Garderobe. Ich hätte getötet, um ihre Klamotten in die Finger zu bekommen.

Ein Schatten fiel über unsere kleine Gruppe, und sie zerstreute sich rasch. Ich brauchte nicht aufzublicken, um zu wissen, dass es Aiden war. Nur er hatte eine so starke Ausstrahlung, dass fast jeder in die entgegengesetzte Richtung davonlief. Dahinter steckte Respekt, aber auch Angst.

»Man sieht sich!«, rief Caleb.

Ich nickte unbestimmt und starrte auf Aidens Schuhe. Es fiel mir schwer, ihn anzusehen, weil ich mich wegen Romvis kleiner Zurschaustellung schämte. Ich arbeitete hart, um mir Aidens Anerkennung zu verdienen und zu beweisen, dass ich das Potenzial besaß, an das er und Leon geglaubt hatten. An jenem Tag, als Marcus mich aus dem Covenant hatte werfen wollen.

Schon komisch, wie eine einzige Person dies innerhalb von Sekunden ruinieren konnte.

»Sieh mich an, Alex!«

Gegen meinen Willen gehorchte ich. Wenn er diesen Ton anschlug, konnte ich nicht anders. Als er vor mir stand, wirkte sein hochgewachsener, schlanker Körper angespannt. Momentan taten wir so, als hätte ich nicht versucht, meine Jungfräulichkeit an ihn zu verlieren. In jener Nacht, als ich herausgefunden hatte, dass ich ein zweiter Apollyon werden würde. Aiden schien damit bestens zurechtzukommen. Ich dagegen konnte nicht aufhören, wie besessen darüber nachzugrübeln.

»Du hast nicht versagt.«

Ich hob die Schultern. »Sieht aber so aus, oder?«

»Die Trainer sind bei dir strenger, weil du so viel Zeit verpasst hast und weil der Dekan dein Onkel ist. Was immer du tust, wird beobachtet. Man behält dich im Auge.«

»Und mein Stiefvater ist der Ratsminister. Ich kapier’s ja, Aiden. Komm, bringen wir es hinter uns.« Meine Stimme klang schärfer, als ich es wollte. Aber Aiden hatte schließlich gesehen, wie demütigend die Stunde für mich geendet hatte. Darüber brauchte ich mit ihm nicht zu diskutieren.

Aiden ergriff meinen Arm und zog den Ärmel meines Shirts hoch. Das hatte auf mich eine ganz andere Wirkung als bei Romvi. Etwas flatterte in meiner Brust, und ein warmer Schauer überlief meinen Körper. Reinblüter waren für uns Halbblüter tabu. Somit war das, was zwischen uns passiert war, genauso unmöglich, als hätte man dem Papst ans Knie gefasst oder Gandhi ein Roastbeef-Sandwich angeboten.

»Du solltest dich niemals für diese Narben schämen, Alex. Niemals.« Aiden ließ meinen Arm los und winkte mich in die Mitte des Raums. »Fangen wir an, damit du dich bald ausruhen kannst.«

Ich trabte hinter ihm her. »Und wann ruhst du dich aus? Hattest du nicht heute Nacht Patrouille?« Aiden arbeitete doppelt – er trainierte mich und erfüllte seine Pflichten als Wächter.

Aiden war etwas Besonderes. Er hatte sich entschieden, Wächter zu werden. Und er hatte beschlossen, mit mir zu arbeiten, damit ich meinen Rückstand den anderen Studenten gegenüber aufholen konnte. Beides hätte er nicht tun müssen. Er war Wächter geworden, weil er ein starkes Gerechtigkeitsbedürfnis besaß. Genau wie ich. Aber warum wollte er mir helfen? Ich schmeichelte mir gern mit der Vorstellung, dass er sich unwiderstehlich zu mir hingezogen fühlte. Mir ging es mit ihm jedenfalls so.

Er umkreiste mich und blieb stehen, um meine Arme auf mittlerer Höhe in Stellung zu bringen. »Du hältst die Arme falsch. Deswegen sind Jacksons Schläge ständig durchgekommen.«

»Wann ruhst du aus?«, beharrte ich.

»Mach dir um mich keine Gedanken!« Er ging in Angriffsposition und winkte mich mit einer Hand vorwärts. »Mach dir lieber Sorgen um dich selbst, Alex. Dieses Jahr wird hart für dich, und du trainierst das dreifache Pensum.«

»Ich hätte mehr Freizeit, wenn ich nicht mit Seth üben müsste.«

Aiden holte so schnell aus, dass ich den Schlag nur mit knapper Not blockierte. »Das haben wir doch schon durch, Alex.«

»Ich weiß.« Ich hielt seinen Hieb ab. Aiden und Seth trainierten abwechselnd mit mir und zusätzlich an jedem zweiten Wochenende. Es war, als teilten sie sich das Sorgerecht für mich. Allerdings hatte ich meine andere Hälfte heute noch nicht gesehen. Merkwürdig – sonst lungerte er immer in der Nähe herum.

»Alex.« Aiden gab die Angriffshaltung auf und betrachtete mich aufmerksam.

»Was?« Ich ließ die Arme sinken.

Er öffnete den Mund, schien seine Worte aber noch einmal zu bedenken. »In letzter Zeit siehst du müde aus. Bekommst du genug Schlaf?«

Ich spürte, wie meine Wangen rot anliefen. »Götter, sehe ich derart schlimm aus?«

Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Ein weicher Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Du siehst überhaupt nicht schlimm aus, Alex. Es ist nur … du hast viel durchgemacht und wirkst müde.«

»Ich bin okay.«

Aiden legte mir eine Hand auf die Schulter. »Alex?«

Mein Herz reagierte auf seine Berührung und pochte wie wild. »Mir geht’s prima.«

»Das sagst du ständig.« Sein Blick huschte über mein Gesicht. »Immer sagst du das.«

»Ich sage es, weil mit mir alles in Ordnung ist!« Ich schlug nach seiner Hand, aber er legte mir auch die andere auf die Schulter und hielt mich fest. »Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte ich noch einmal, aber viel leiser. »Ich bin okay. Alles bestens und hundertprozentig.«

Aiden öffnete den Mund, wahrscheinlich um etwas lächerlich Aufbauendes zu sagen, aber dann schwieg er doch. Er sah mich nur an und umfasste meine Schultern noch fester. Er wusste, dass ich log.

Es war nicht alles in Ordnung.

Albträume von diesen entsetzlichen Stunden in Gatlinburg ließen mich nachts nicht zur Ruhe kommen. Fast alle an der Schule hassten mich und waren überzeugt, dass ich der Grund für den Daimonenangriff in Lake Lure im Sommer gewesen war. Seths ständige Nachstellungen förderten dieses Misstrauen nur noch. Von allen Halbblütern wusste nur Caleb, dass ich vom Schicksal dazu bestimmt war, ein zweiter Apollyon zu werden – und dazu bestimmt, Seth als quasi übernatürliche Ladestation zu vervollständigen. Durch seine ständige Aufmerksamkeit machte ich mir keine Fans unter den weiblichen Halbblütern. Alle Mädchen wollten Seth, aber ich wollte ihn nur loswerden.

Aber wenn Aiden mich so ansah wie jetzt, vergaß ich die Welt. Aidens Miene verriet mir nicht viel, aber seine Augen … seine Augen sagten mir, dass es ihm mit dieser ganzen Farce von wegen Wir tun so, als wären wir nicht fast zusammengekommen auch nicht gut ging. Aiden dachte immer noch daran. Zum Teufel, er dachte auch in diesem Moment daran! Vielleicht stellte er sich vor, was passiert wäre, wenn Leon uns nicht unterbrochen hätte – vielleicht sogar so intensiv wie ich. Möglich, dass er wach lag und sich daran erinnerte, wie unsere Körper sich zusammen angefühlt hatten.

Ich weiß, dass es mir so ging.

Die Spannung stieg noch um einige Grade, und mein Körper wurde auf köstliche Art warm. Für solche Augenblicke lebte ich. Ich fragte mich, wie er wohl reagieren würde, wenn ich nach vorn träte und wir uns ganz nahe wären. Viel fehlte nicht mehr. Würde er glauben, dass ich nur Trost suchte? Denn trösten würde er mich – so war er nämlich. Aber würde er mich auch küssen, wenn ich den Kopf zurücklegte? Denn er sah aus, als wünsche er sich beides. Mich zu umarmen, mich zu küssen und alle möglichen wunderbaren, verbotenen Dinge zu tun.

Ich tat einen Schritt nach vorn.

Seine Hände, die auf meinen Schultern lagen, zuckten zurück, und seine Miene zeigte Unentschlossenheit. Ich glaube, eine Sekunde lang – eine einzige Sekunde – dachte er ernsthaft darüber nach. Dann streckte er die Hände flach aus wie eine Schranke, die mich zurückhalten sollte.

Hinter uns öffnete sich die Tür, und Aiden ließ die Hände sinken. Ich fuhr herum und hätte den Störer am liebsten ins Gesicht geschlagen. Fast hätte ich bekommen, was ich wollte.

Leons massige Gestalt in der typischen schwarzen Wächteruniform füllte den Türrahmen aus. »Tut mir leid für die Unterbrechung, aber es ist dringend.«

Leon hatte Aiden immer etwas Wichtiges mitzuteilen. Beim letzten Mal hatte er uns unterbrochen, kurz nachdem ich Aiden grünes Licht gegeben hatte.

Leon hatte das mieseste Timing der Welt.

Natürlich hatte seine letzte Unterbrechung einen ziemlich ernsten Grund gehabt. Man hatte Kain lebendig wiedergefunden. Kain war einmal ein halbblütiger Wächter gewesen und hatte Aiden bei meinem Training unterstützt. Ein Wochenendausflug ins nahe gelegene Lake Lure war für alle Beteiligten tödlich ausgegangen. Er hatte den Daimonenangriff überlebt. Als er an den Covenant zurückgekehrt war, da hatte er sich jedoch so verändert, wie wir es nicht für möglich gehalten hatten: Er war ein halbblütiger Daimon geworden.

Inzwischen war Kain tot, und ich war dabei gewesen, als er starb. Ich hatte Kain gemocht, und er fehlte mir, obwohl er einen Haufen Reinblüter getötet und mich quer durchs Zimmer geprügelt hatte. Denn das war nicht der Kain gewesen, den ich gekannt hatte. Genau wie Mom hatte er sich in eine grauenhafte Ausgabe jenes Menschen verwandelt, der er wirklich gewesen war.

Leon schob seine hünenhafte Gestalt voran und sah aus, als wolle er Werbung für Anabolika machen. »Es hat einen Daimonenangriff gegeben.«

Aiden erstarrte. »Wo?«

»Hier am Covenant.«