1) Edler Freund = Bedeutung des rumänischen Namens Alvin.
Band 54
Beelzebub
von Simon Borner und Logan Dee
nach einem Exposé von Uwe Voehl
© Zaubermond Verlag 2018
© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: Die eBook-Manufaktur
www.Zaubermond.de
Alle Rechte vorbehalten
Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.
Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Das geheimnisvolle »Café Zamis«, dessen wahrer Ursprung in der Vergangenheit begründet liegt und innerhalb dessen Mauern allein Cocos Magie wirkt, ist zu einem neutralen Ort innerhalb Wiens geworden. Menschen wie Dämonen treffen sich dort – und manchmal auch Kreaturen, die alles andere als erwünscht sind.
Michael Zamis, seine Frau Thekla und Coco reisen nach Rumänien. Dort, auf der Temeschburg, findet die Testamentseröffnung der Fürstin Bredica statt, einer Großtante Michaels. Hier trifft er seine ehemalige Geliebte Florentina wieder – und seine uneheliche Tochter Juna, die er bisher verschwiegen hat. Juna hat eine grausame Vergangenheit hinter sich – die sie auf der Temeschburg einzuholen droht.
Das in Aussicht gestellte Erbe der Fürstin erweist sich als Lockvogel, damit diese ihre Jugend wiedererlangen kann. Michael, Thekla und Coco Zamis sowie Juna und auch Skarabäus Toth entkommen der tödlichen Intrige nur knapp. Der Rückweg nach Wien führt durch den sagenumwobenen, dämonenverseuchten Hoia-Baciu-Wald. Dort werden sie von einem unsichtbaren Gegner attackiert. Jeder Einzelne muss fortan um sein Leben kämpfen: Coco Zamis gelangt in ein Dorf, das von der Außenwelt abgeschnitten scheint. Bei dem verzweifelten Versuch, daraus zu fliehen, wird sie von Schwärmen von Fliegen attackiert. Ihr Vater, Michael Zamis, hat unterdessen in demselben Dorf eine Unterredung mit einem Dämon namens Beelzebub, der über die Ansiedlung herrscht. Der Dämon versucht Michael dazu zu gewinnen, mit ihm gegen Asmodi vorzugehen, doch Michael lehnt ab …
Unterdessen wird klar, dass Skarabäus Toth, der Schiedsrichter der Schwarzen Familie, einmal mehr ein doppeltes Spiel betreibt: Er bereitet für Beelzebub dessen Herrschaft in Wien vor.
Die verbliebenen Zamis-Sprösslinge Adalmar, Lydia und vor allem Georg, der das Erbe seines für tot erklärten Vaters Michael anzutreten anstrebt, halten dagegen …
Beelzebub
von Simon Borner
nach einem Exposé von Uwe Voehl
»Hast du etwa Angst?«
Melina schüttelte den Kopf. Nie im Leben würde sie zugeben, wie mulmig ihr zumute war. »Seh ich etwa so aus?«
Tony, dem die Frage galt, lachte nur. »Darauf willst du keine Antwort hören, glaub’s mir.«
Im selben Moment kam Emma mit ihrem Rad um die Straßenecke. Sie klingelte kurz als Begrüßung, stieg dann ab und verstaute das Rad in den Büschen neben dem Haus. Von der Straße aus würde niemand es bemerken.
»Na, ihr Schisser?«, grüßte sie die beiden Freunde. »Gehen wir rein, oder habt ihr es euch anders überlegt?« Sie grinste hämisch. »Ah, ich sehe schon: Ihr wollt lieber nach Hause und euren geliebten Mamis beim Stricken helfen, hm? Wie zwei artige kleine Kinder.«
»Halt den Mund, Emma.« Tony lachte. »Wir gehen doch rein. Und zwar genau jetzt. Richtig, Lina?« Er sah zu seiner Freundin.
Melina schluckte. Sie wusste, wie absurd ihre Angst war. Das Haus war nur ein Haus, weiter nichts. Leere Zimmer, in denen nichts und niemand mehr lebte. Ein Haus konnte niemandem etwas tun.
Und doch … Irgendetwas in ihrem Inneren sträubte sich dagegen, das dunkel vor ihr liegende Gebäude zu betreten. Schließlich nannte man es ja bestimmt nicht grundlos das »Galgenhaus«.
Sie ballte die Hände zu Fäusten, schluckte einmal und nickte dann. »Klar gehen wir. Na los.«
Emma legte ihr lachend den Arm um die Schultern. Gemeinsam gingen sie auf das Gebäude zu.
Das Haus wirkte, als stünde es seit einer Ewigkeit leer. Verlassen und finster lag es da, und je näher Melina ihm kam, desto stiller schien die Nacht zu werden. Nichts drang mehr an ihre Ohren – kein Autolärm, keinerlei von Menschen erzeugten Geräusche. Nur das vergnügte Lachen ihrer beiden Freunde konnte sie noch hören. Das und das Knirschen des Kieses unter ihren Schuhsohlen.
»Was meint ihr, wie lange hier niemand mehr war?«, fragte Emma. Sie hatte eine Taschenlampe und richtete sie nun auf das Galgenhaus. Der kreisrunde Lichtkegel wanderte über die Außenmauern, doch das Licht ging immer wieder aus. Ein technischer Defekt an der Lampe? »Bestimmt schon ewig.«
»Bestimmt nicht«, betonte Tony. »Die Familie von Karabaczek hat bis vor Kurzem noch hier gelebt.«
Eigentlich hieß er Anton wie sein Vater und sein Großvater, aber er fand den Namen spießig, und Melina sah das ähnlich. Von einem Anton hätte sie sich nie rumkriegen lassen. Hieße ihr Freund Anton, säße sie jetzt bei ihrer strickenden Mutter. Anstatt sich die Nacht mit einem Einbruch um die Ohren zu schlagen.
Mit einem Einbruch … und mit mehr.
»Das merkt man aber nicht«, fand Emma. Wütend schlug sie gegen ihre Lampe, die immer wieder ausging. »Aber sind das nicht die gewesen, die ermordet wurden? Ich glaube, das stand sogar in der Zeitung.«
»Kann sein«, sagte Tony. »Aber tot sind sie auf jeden Fall. Es heißt, man könne sie des Nachts durchs Haus schlurfen hören. Also, als Geister, meine ich.« Er schnappte sich Emmas Lampe und hielt sie sich unters Kinn. Das flackernde Licht ließ seine Miene gespensterhaft wirken. »Wär das nicht was? Wenn wir einem echten Geist begegnen würden? Buuuhuuuuu!«
Melina beschloss, das Thema zu wechseln. »Wo bleiben eigentlich die anderen? Sind wir zu früh?«
»Nee, die sind zu spät.« Emma zückte das Handy aus der Hosentasche und sah aufs Display.
»Wehe, die kommen nicht«, sagte Tony. Er reichte ihr die Lampe wieder. »Moataz sollte doch das Gras mitbringen. Und Clara den Fusel. Wenn die nicht auftauchen, sitzen wir auf dem Trockenen.«
»Und du wärst die ganze Nacht lang allein mit gleich zwei schönen Frauen«, neckte Emma ihn. »Nein, da gebe ich dir recht: was für eine schreckliche Vorstellung.«
»Genau.« Tony grinste breit. »Absolut gruselig.«
Emma runzelte die Stirn. »Sag mal, was ist das hier? Erst die Taschenlampe, und jetzt spinnt auch noch mein Handy? Ich bekomm ums Verrecken kein Signal.«
»Lass gut sein, Em.« Tony winkte ab. »Die sind gleich hier, ohne jeden Zweifel.« Nun war er es, der Melina den Arm um die Schultern legte. Sanft, aber bestimmt zog er sie an sich und roch an ihrem Haar. »Das wird die Nacht unseres Lebens, Leute. Die würde niemand freiwillig verpassen.«
Sie hatten das Haus endgültig erreicht. Als Melina sich umdrehte, konnte sie die Straße fast nicht mehr erkennen, so dunkel war es geworden. Ein fahler Mond stand am Himmel, und Wolken verdeckten den Großteil der Sterne. Dünne Nebelschwaden zogen über das Grundstück, als hätten sie nur darauf gewartet, ein Publikum zu bekommen, das sie beeindrucken konnten.
Ich habe keine Angst, befahl Melina sich innerlich. Nur Babys haben Angst. Und Babys würden sich ja wohl nie und nimmer nachts aus ihrem Elternhaus schleichen, um Party zu machen und … und …
War es das, was sie so nervös machte? Gar nicht die Aussicht auf eine Nacht im angeblichen Spukhaus, sondern die auf eine Nacht – auf die ganz spezielle Nacht – mit Tony? Er wollte schon sehr lange, dass es dazu kam. Und obwohl auch sie es wollte, machte sie der Gedanke daran ziemlich unruhig. Hoffentlich kam Clara wirklich noch. Sie brauchten den Alkohol!
»Hey, hier steht ein Fenster offen.« Staunend deutete Emma auf ein Kellerfenster des Galgenhauses.
»Praktisch«, sagte Tony. Er ging in die Knie und betrachtete das offene Fenster. »Dann brauchen wir gar keins einzuschlagen. Es ist nicht Einbruch, wenn uns das Haus praktisch hereinbittet, oder?« Er drehte sich grinsend um und nickte den beiden Mädchen zu. »Ladies first?«
Ich bin kein Baby mehr, schwor Melina sich. Sie setzte sich in Bewegung. Mit butterweichen Knien stieg sie durch das offene Kellerfenster. Die Nacht der Nächte begann, ob sie es wollte oder nicht. Sie konnte nur noch darauf hoffen, dass die Nacht schön werden würde.
Und dass sie niemandem wehtat.
Das Innere des Galgenhauses war kalt. Das merkte Melina sofort. Die Luft im Keller wirkte wie die aus einer Eiskammer oder alten Gruft. Außerdem war es totenstill. Melina trat zur Seite und ließ Tony und Emma ebenfalls einsteigen. Emmas Lampe erhellte den Raum, der sich als kleine Abstellkammer erwies. Es gab deckenhohe Regale voller Einmachgläser und Konserven, Putzmittel und ähnlichem Zeug. Eine Tür führte weiter und in den Rest des Hauses.
»Hat hier noch niemand ausgeräumt?«, staunte Tony. Er sprach noch leiser als vorhin, fast schon ehrfurchtsvoll.
»Die von Karabaczeks sind noch nicht lange tot«, sagte Emma. »Vielleicht war einfach noch kein Verwandter hier, um sich um ihre Habseligkeiten zu kümmern.«
»Vielleicht hatten sie auch keine Verwandten«, spekulierte Melina.
»Na, irgendwem wird der Kasten schon gehören«, meinte Tony. »Irgendeinem Erben, meine ich.«
»Heute Nacht gehört er jedenfalls uns«, sagte Emma. Sie trat vor und auf die Tür zu. Dann drehte sie sich zu ihren Begleitern um. »Kommt ihr?« Sie streckte die Hand nach der Klinke aus, zuckte aber sofort zusammen. »Iih!«
»Was ist?«, erschrak Melina.
Emma wich zwei Schritte zurück. Sie wedelte mit der Hand durch die Luft und richtete den flackernden Strahl ihrer Lampe auf die Tür. »Da war etwas. Da … Bäh!«
Nun sahen sie es alle. Die Klinke der Kellertür war nahezu pechschwarz vor Fliegen! Die dicken Insekten wimmelten nur so auf dem kalten Metall. Emmas Berührung hatte sie merklich aufgebracht, und nun summten einige auch um die Klinke herum.
»Na, geputzt hat hier auch länger niemand mehr«, scherzte Tony. »So viel ist sicher.«
Mit dem Fuß stieß er die Tür, die bereits einen Spalt offen stand, weiter auf. Dann gingen sie tiefer ins Innere des Galgenhauses.
Sie hatten sich schnell orientiert. Über die Treppe gelangten sie in den Salon, ein besseres Wohnzimmer. Just als sie dort eintrafen, sahen sie durch die deckenhohen Fenster auch schon ihre Freunde ums Haus herumschleichen. Moataz, Clara und der Rest der Wiener Chaosgang waren soeben eingetroffen. Sie trugen schwer aussehende Taschen und lachten fröhlich. Tony öffnete die Terrassentür und ließ sie eintreten.
»Willkommen in der Nacht der Nächte«, verkündete er.
Clara reichte ihm eine Dose Rum mit Cola aus ihrer Tragetasche. »Das ist also das berühmte Galgenhaus.« Beeindruckt sah sie sich um. »Sieht gar nicht so übel aus. Also, wenn man erst einmal drin ist.«
»Das sagst du.« Moataz deutete auf den Teppich. »Guck mal genauer hin.«
Auch Melina wagte einen Blick. Dort auf dem Wohnzimmerteppich prangte ein dunkler Fleck, den sie jetzt erst bemerkte. »Ist das …«
»Mhm.« Moataz nickte. »Darauf kannst du wetten. Feinstes Blut, direkt vom Erzeuger, ähm, Mordopfer.«
»Die von Karabaczeks«, hauchte Clara. Sie klang jetzt sogar noch mehr beeindruckt als vorhin. Mit zitternden Fingern strich sie sich das schulterlange rote Haar zurück. »Wow … Das ist echt oberkrass, Leute. Hier sind sie gestorben. Genau hier!«
»Ein Hoch auf unsere Gastgeber!« Tony reckte seine Dose in die Höhe, als gäbe er gerade den pathetischsten Trinkspruch aller Zeiten zum Besten. »Echt nett von ihnen, dass wir hier sein dürfen.«
»Hast du sie etwa gefragt?« Emma lachte.
»Unterbrich mich nicht, Em«, tadelte er sie streng. »Hast du etwa keinen Respekt vor den Toten?«
Moataz nahm Clara die übrigen Taschen ab und ließ sie mit lautem Plumpsen auf den Boden sinken, wo er sie prompt öffnete und Alkohol verteilte. »Laber nicht, mach lieber Musik an. Irgendwo hier wird’s doch Boxen geben, an die du dein Handy anschließen kannst, oder? Und dann …« Er lächelte schelmisch, öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und zog einen Plastikbeutel aus der Innentasche. »Dann geht die Party los.«
Er schüttete den Inhalt des Beutels auf den Wohnzimmertisch. Melina sah einen wahren Berg an Gras, aber auch einige Tabletten und kleine quadratische Plättchen mit Smiley-Gesichtern drauf.
»Alter!« Tony schrie fast vor Begeisterung. Er griff nach den Plättchen. »Wo hast du das Zeug denn her? Das muss doch ein Vermögen gekostet haben.«
Moataz zuckte nur mit den Schultern. »Ist das nun die Nacht der Nächte oder nicht?«
Melina und Emma wechselten einen Blick. Marihuana war eine Sache, selbst Melina hatte hin und wieder schon an einem Joint gezogen. Aber das da?
»Du und dein Kopf, Lina«, sagte Emma und lächelte. »Wie oft hab ich dir das schon gesagt? Dein Kopf steht dir im Weg, Mädchen. Ständig bremst er dich aus. Ey, du bist fünfzehn, keine fünfzig! Jetzt leb doch mal!« Sie griff nach einem der Plättchen, legte es sich auf die Zunge und schluckte es mit breitem Grinsen herunter.
Moataz und Tony jubelten. Nur Melina bemerkte die zwei dicken Fliegen, die so selbstverständlich zwischen Moataz’ Schätzen umherkrabbelten, als wären sie die wahren Herren des Galgenhauses.
»Verflucht, was ist denn jetzt schon wieder?«
Tony klang wütend. Seine Geduld war endgültig am Ende, das sah Melina ihm an – so deutlich wie die stattliche Erektion in seinen Boxershorts.
»Ich …« Seufzend setzte sie sich auf. Die Kissen des breiten Doppelbetts drückten gegen ihren nackten Rücken. Ihr war kalt, und so ungern sie es sich eingestand: Sie schämte sich. Es war die Nacht der Nächte, doch was tat sie? Sie lief schon hochrot an, wenn sie in Höschen und BH vor ihrem Freund lag. Sie kämpfte schon mit den Tränen, bevor es überhaupt richtig losging. »Ich … weiß es nicht. Ich …«
Sie hatten sich vom Rest der Chaosgang getrennt und im Obergeschoss des Galgenhauses das große Schlafzimmer gefunden. Das Bett war noch immer bezogen, und Tony hatte sie darauf platziert. Minutenlang hatten sie die Sektflasche zwischen sich kreisen lassen, dann hatte er angefangen, Melina zu küssen, zu streicheln … und schließlich auszuziehen.
Es war alles seinen Gang gegangen. Es war alles ganz normal. Nur …
»Ich kann das einfach nicht«, gestand Melina. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie sich ihr Versagen eingestand.
»Schwachsinn.« Tony rutschte wieder näher. Der Stoff seiner Shorts war das reinste Zirkuszelt. »Natürlich kannst du. Jede kann das. Leg dich einfach hin, dann wird das schon.« Er nahm ihre Schultern und drückte sie mit sanfter Bestimmtheit zurück in eine liegende Position. »Jede kann das«, wiederholte er fast schon beschwörend. »Echt jede.«
»Ich aber nicht!« Melina wusste nicht, woher sie den Mut nahm, doch sie entwand sich seinem Griff. Mit einem einzigen Satz war sie vom Bett gesprungen. Nackt bis auf die Unterwäsche stand sie im kalten Schlafzimmer. »Es … Es tut mir leid, Tony. Ich … Es geht nicht, verstehst du? Ich wünschte, es wäre anders, aber …«
Er war auf die Matratze gefallen. Nun drehte er sich um. Seine Laune war im Keller, und man sah es ihm an. »Einen Dreck verstehe ich, Lina. Ich dachte, du wärst ein feines Mädel. Eine, die weiß, was sich gehört. Aber was machst du? Mich heiß, nur um mich dann sitzen zu lassen?« Er deutete an sich hinab. »Hier, ey! Das warst du! Jetzt mach gefälligst was damit!«
Melina begann zu weinen. Er hatte ja recht. Er war ein Mann, und Männer hatten Bedürfnisse. Das hatte er ihr lang und breit erklärt, als sie einander nähergekommen waren. Er wollte diese Nacht nicht nur, er brauchte sie – denn Melina hielt ihn schon viel zu lange hin, bestimmt schon drei Wochen!
Und jetzt verweigerte sie sich.
»Du … Du hast eine Bessere verdient«, schluchzte sie schuldbewusst. Dann drehte sie sich um, griff sich ihre Klamotten und rannte aus dem Schlafzimmer. Tony kam ihr nicht nach.
Der Korridor war leer. Melina zog schniefend die Nase hoch und stieg in ihre Jeans. Sie konnte die Musik aus dem Wohnzimmer hören und den Mond vor dem Flurfenster sehen. Es war da draußen noch nebliger geworden. Und zwei Fliegen krochen über die Fensterscheibe.
Weinend ging Melina zur Treppe. Sie wollte nur noch nach Hause. Aber Tony hatte sie auf seinem Motorrad mitgenommen. Ohne ihn kam sie hier nicht weg. Oder? Wie spät war es? Fuhr hier irgendwo vielleicht noch ein Nachtbus?
Sie hatte die Treppe fast erreicht, als sie ihren Namen hörte. Überrascht blieb sie stehen und sah sich um. »Tony?«
Stille. Im Schein des Mondes sah sie, dass direkt neben der Treppe eine Zimmertür aufstand. Eigenartig. Vorhin, als sie hier hinaufgekommen war, hatte die Tür nicht aufgestanden. Oder doch?
Du siehst Gespenster, tadelte sie sich. Türen gehen nicht von selbst auf. Na sicher war die vorhin schon offen. Du hattest nur andere Dinge im Kopf.
Wieder hörte sie ihren Namen. Ganz leise, wie aus weiter Ferne. Doch die Stimme kam ganz eindeutig aus diesem Zimmer!
»Das ist nicht witzig, Tony«, schimpfte sie leise. Dann musste sie stutzen. Das konnte unmöglich Tony sein. Der war doch im Schlafzimmer, hinten am anderen Ende des Flurs. »Tony?« Vorsichtig machte sie einen Schritt auf die Tür zu, dann noch einen. »Bist … Bist du das?« Sie wagte es nicht, die Tür zu berühren. Mit einem Mal pochte ihr Herz wieder schneller.
»Lllllliiiiinaaaaaahhhhh.«
Es war wie ein Flüstern, wie ein Hauch. Leise und doch unverkennbar. Jemand rief nach ihr. Melina wusste nicht, wie ihr geschah, als sie plötzlich die Hand ausstreckte und die Tür weiter öffnete.
Dann sah sie den dunklen Schemen.
Und sie schrie.
Der Mann sah aus wie ein Penner, der sich ins Galgenhaus geschlichen hatte, um Schutz vor dem Nebel und der Kälte zu finden. Er trug abgewetzte, schmutzige Kleidung, hatte einen zottelig ungepflegten Vollbart – und er stank.
Aber das war längst nicht das Schlimmste.
Zahllose Fliegen bedeckten seinen Körper. Sie krochen über seine Arme, nisteten in seinem Haar, flatterten ihm aus dem offen stehenden Mund! Überall wuselten und krabbelten sie an ihm umher, und er schien es nicht einmal zu merken. Seine Aufmerksamkeit galt ganz allein ihr!
»Liiiiinaaaaaaaahhhh!«, ächzte er. Die Arme weit vor sich gestreckt, kam er auf das Mädchen zugerannt. In seinen Augen schienen Höllenfeuer zu lodern. »Liiiinaaaaahh!«
Melina schrie. Panisch wirbelte sie herum und rannte die Treppe ins Erdgeschoss hinab. Fast stolperte sie über die Stufen. Sie hörte den Unheimlichen hinter sich, keine zwei Schritte entfernt. Und sie hörte die Fliegen!
Sie erreichte die unterste Stufe. Tränen der Angst liefen ihr übers Gesicht. Ihr Herz schlug wie wild, und ihr war eisig kalt. Ein schneller Schulterblick zeigte ihr, dass ihr Verfolger immer noch an ihr klebte. Eine dunkle Wolke aus Fliegen umkreiste seinen Leib wie schwarzer Nebel, und die Fliegen zogen nun auch zu Melina hinüber.
Sie schrie wieder und rannte noch schneller.
Im Nu fand sie das Wohnzimmer wieder, aus dem die Partymusik kam. Erst jetzt merkte sie, dass sie – abgesehen von der Musik – keinen einzigen Laut mehr aus dem Wohnzimmer gehört hatte, seit sie mit Tony nach oben verschwunden war. Kein Lachen, kein Geklirr von umstürzenden Bierflaschen, nichts.
Keinen. Einzigen. Laut.
Schauer der Vorahnung zogen ihr über den Rücken, als sie – vorsichtig, zögerlich – um die Ecke und ins Wohnzimmer bog. »Em? Clara?«
Sie waren alle da, die komplette Chaosgang. Doch sie rührten sich nicht mehr. Clara lag auf dem Sofa, komplett oben ohne. Moataz lag neben ihr, eingefroren in der Bewegung. Em und Lydia standen eng umschlungen auf der provisorischen Tanzfläche, regten aber keinen Muskel. Leo hockte am Boden, einen brennenden Joint zwischen den Fingern. Konstantin hatte sich hinter einer Topfpflanze übergeben und kauerte noch immer über der grüngelben Pfütze.
Sie waren wie eingefroren. Wie Schaufensterpuppen. Und über alle – über jeden einzelnen von ihnen – zogen die Fliegen. Sie krochen über Claras Bauch, durch Moataz’ Haare, in Konstantins Pfütze. Überall.
Melina schrie nicht länger, sie kreischte. »Em!! Em!!« Sie rannte auf die Freundin zu, rüttelte an ihr. Doch das änderte nichts. Auch Lydia reagierte nicht, als Melina sie anstieß. Weinend rannte Melina zu Clara und Moataz, zu Leo, zu Konstantin. Niemand reagierte auf sie. Es war, als wären ihre Freunde nicht länger da. Nicht geistig. Nicht wirklich.
Dann hörte sie den Grund dafür.
»Liiiinaaaaahhhh.«
Es war die Stimme des Penners. Nur kam sie jetzt aus den Boxen! Sie war ein Teil der Musik geworden, die den Raum erfüllte. Und sie klang absolut verlockend. Melina spürte, wie sie ihr ins Hirn drang, ihr die Gegenwehr raubte, den eigenen Willen.
»Liiiiinaaaaahhh …«
Nicht mehr lange. Sie begriff, dass sie gerade restlos die Kontrolle verlor. Genau wie ihre Freunde vor ihr. Was immer hier passierte, es hatte sie alle überrascht. Es hatte sie paralysiert. Ausgeschaltet. Mitten im Leben.
Und bald … schaltete es auch sie aus.
NEIN, schrie sie in Gedanken. Sie schrie gegen die Stimme an, schrie gegen den Schrecken und die Dunkelheit, schrie gegen die sich ausbreitende Lähmung in ihren Gliedern. Nicht so. Nicht hier. NICHT ICH!
Dann sah sie den Penner. Er stand auf der Schwelle des Wohnzimmers, über und über mit Fliegen bedeckt. Er sah zu ihr, und er streckte die Arme nach ihr aus. Gierig. Fordernd. Gnadenlos.
Das genügte. Melina riss sich aus ihrer Starre. Panisch und mit dem Mut äußerster Verzweiflung lief sie los, weg von ihren hilflosen Freunden, raus aus dem Zimmer.
Die Tür zur Terrasse stand noch immer offen. Melina floh ins Freie. Weinend und zitternd hechtete sie über den ungemähten Rasen und auf die Büsche zu. Irgendwo dort hinten musste die Straße sein, oder? Irgendwo dort begann die Realität und endete der Albtraum.
Sie hatte es fast geschafft. Schon konnte sie die ersten Straßenlaternen sehen. Sie sehnte sich nach ihren Eltern, ihrem Zuhause. Ihre nackten Füße stolperten über Steine und Wurzeln, doch sie lief weiter durch das Dunkel und den Nebel. Weiter. Nur fort von hier. Nur …
»Hey, Schönheit.«
Fast hätte sie geschrien. Fassungslos blieb sie stehen, traute ihren Ohren nicht. Sie sah nach rechts.
Tony stand zwischen den Büschen. Er war inzwischen vollkommen nackt, und er lächelte. »Hey«, sagte er wieder. »Du gehst doch nicht schon?«
Sie wollte schreien. Sie wollte weinen. Sie wollte zu Boden sinken und einfach nur sterben. Doch es ging nicht. Auch das ging nicht. Wie überhaupt gar nichts mehr ging. Nie wieder.
Tony kam näher. Melina sah das Feuer in seinen Augen und wusste, dass es nichts mit Lust zu tun hatte, sondern nur noch mit Gier. Dass es nicht länger menschlich war. Genauso wenig wie er.
Tony stand nun dicht vor ihr. Er sah ihr in die Augen. Wieder hörte sie die lockende Stimme aus den Boxen, die durch die offene Terrassentür herüberwehte. Sie glaubte die Fliegen auf dem Wohnzimmertisch zu sehen, Claras Schultern, Moataz’ Haar. Sie glaubte, dass die Stimme sie alle befleckt hatte. Die Stimme … und das elende Galgenhaus. Das Haus, über das die Legenden nicht gelogen hatten. Das Haus, das schlimmer war als der Tod.
»Ts, ts, ts.« Tony schnalzte tadelnd. »Aber, aber. Sag so was nicht.«
Als hätte er meine Gedanken gelesen!
»Guck lieber mal, was ich hier für dich habe. Guck … und dann mach gefälligst was damit!«
Sie wollte es nicht, aber sie sah ihn an.
Einen Atemzug später platzte Tonys nackter Körper entzwei wie ein übervoller Luftballon. Aus seinem Inneren quollen die Fliegen, als wollten sie nichts und niemanden übrig lassen.
»Ich gehe hier gleich die Wände hoch!«
Georg Zamis hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Nun ließ er sie wieder sinken und blickte auf. »Was meinst du?«, fragte er.
Seine älteste – und inzwischen einzige – Schwester Lydia stand am Fenster und sah ins Freie. Sie trug ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen, das sie ausgesprochen streng und ernst wirken ließ und die Konturen ihrer jugendlichen Figur verbarg. Optisch wirkte Lydia nämlich wie Ende zwanzig, auch wenn dieser Eindruck gewaltig trog.
»Was ich meine?« Lydia schnaubte. »Wie kannst du das nur fragen, Bruderherz?« Das letzte Wort klang wie ein Fluch.
»Die Situation ist nun einmal, wie sie ist«, meldete sich Adalmar zu Wort. Der älteste der Zamis-Söhne saß in einem schweren Ohrensessel. Er hatte die Augen geschlossen und sich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr geäußert. Georg hatte schon vermutet, er sei eingeschlafen. »Dein Zorn wird nichts an ihr ändern, Lydia.«
»Fängst du jetzt auch noch damit an?«, fauchte sie. Sie drehte sich zu ihren Brüdern um. Die Wut, die in ihrem Blick lag, schien lodernd genug, um den kompletten Salon der Villa Zamis zu beheizen. »Wie könnt ihr zwei einfach so dasitzen? Ihr rührt keinen Muskel, obwohl hier alles – und ich meine wirklich, wirklich alles – den Bach runtergeht! Meint ihr, unsere Eltern hätten das so gewollt? Dass wir kampflos untergehen?«
»Wir gehen keineswegs unter«, tadelte Georg. »Tu nicht so theatralisch, Schwesterherz.«
»Ach nein?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und trat näher. »Wie würdest du das denn nennen, Georg. Hm? Hm?« Sie nickte in Richtung der uralten Standuhr, die an ihrem angestammten Platz an der Zimmerwand die Zeit vorhersagte. »Tick, tock, Georg. Tick, tock. Unsere Stunde ist gekommen. Die Zeit läuft ab.«
Adalmar seufzte. »Wirklich, Lydia. Deine übertriebene Dramatik hilft niemandem. Im Gegenteil: Ich empfinde sie als recht anstrengend.«
»Anstren…« Lydia schnaubte. Jede Silbe troff nun vor Hohn und unverhohlener Wut. »Na, da bitte ich aber um Entschuldigung! Was fällt mir auch ein, dich in deiner Ruhe zu stören?«
Georg stand auf und hob die Hände. Er hatte nicht nur genug gehört – er hatte genug. »Es reicht, verstanden? Ich möchte derartige Dinge nicht hören. Nicht jetzt und nicht hier. Wir helfen niemandem, wenn wir uns gegenseitig zerfleischen. Vor allem helfen wir unserer Sache nicht.«
Trotzig verschränkte Lydia die Arme vor der Brust. Ihr schienen tausend Erwiderungen auf der Zunge zu liegen, eine schärfer als die andere, doch sie verkniff sie sich. Stattdessen ging sie wieder zum Fenster und sah schweigend nach draußen. Die Nacht hatte begonnen, und Wien lag einmal mehr in den Schatten.
Es war Adalmar, der nach einer kleinen Weile das Wort ergriff. »Und welche Sache soll das sein, Bruder?«, fragte er sanft, aber auch reserviert.
Georg hatte sich wieder hingesetzt. Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Die Aufgabe, die Toth uns gestellt hat, natürlich«, antwortete er. »Unsere große Chance.«
Abermals schnaubte Lydia spöttisch, doch sie sagte nichts.
Adalmar hob eine Braue. »Du hältst das tatsächlich für machbar?«
»Was denn sonst?«, blaffte Georg zurück. Die Zweifel – ach was: die innere Kapitulation! – seiner beiden Geschwister nagten allmählich an seinem Geduldsfaden. »Wir haben schon ganz anderes geschafft, oder hast du das vergessen? Wir sind Zamis!«
»Unser Vater hat anderes geschafft«, betonte Lydia. »Wir waren Zamis. Weil er es war. Und jetzt … ist er es nicht mehr.«
Georg musste schlucken. Seit er den Todesimpuls seiner Eltern und seiner Schwester Coco verspürt hatte, war nichts mehr wie zuvor. Ohne die drei – ohne die beiden Familienoberhäupter und die, nun ja, unkonventionelle kleine Schwester – sah die Zukunft plötzlich ausgesprochen anders aus. Ausgesprochen schlecht. Georg staunte selbst, wie sehr der Verlust ihn belastete. Eigentlich hätte er aufstehen und weitermachen müssen, niemand hinderte ihn daran. Doch irgendwie lag ein Schatten auf ihm, der ihn belastete und ausbremste. So sehr er auch dagegen ankämpfte, wurde er ihn nicht los.
»Unser Vater«, begann er, »hat mich als Erben ausgewählt. Das habt ihr alle gehört. Es ändert sich also nichts. Hört ihr auch das?« Fordernd sah er von Adalmar zu Lydia. »Die Familie Zamis hat ein Oberhaupt. Sie hatte gestern eins, und sie hat auch morgen noch eins. Nichts ändert sich, Lydia. Nicht nach außen … und wenn wir es nicht zulassen, dann ändert sich auch nichts innerlich.«
»Erzähl das mal den anderen.« Lydia schüttelte traurig den Kopf. »Du weißt doch so gut wie ich, wie emsig die Geier da draußen schon kreisen. Diesen Aasfressern der anderen Sippen läuft das Wasser doch längst im Mund zusammen! Sie warten nur darauf, unseren Verlust für ihre Zwecke auszunutzen.«
»Wir werden nicht zulassen, dass sie unsere Macht mindern«, sagte Georg.
»Das sagst du«, spottete sie. »Aber stimmt das auch? Du bist nicht er, Georg. Genauso wenig, wie ich Thekla bin. Oder, bei allen Unheiligen, Coco! Haben wir wirklich eine Chance?«
»Es gibt immer eine Chance.« Georg sah zu ihr. »Wir haben Zeit bis zum nächsten Vollmond, die anderen Sippen darüber zu informieren, dass ich der neue Herr im Haus Zamis bin und sich nichts an den hiesigen Verhältnissen ändert. Dass wir allein die Vorherrschaft in Wien haben, damals wie heute. So hat Skarabäus Toth es uns zur Bedingung gemacht. Und ich beabsichtige, diese Bedingung zu erfüllen.«
»Weil du keine andere Wahl hast«, kommentierte Adalmar trocken.
»Nein, weil ich es will!«, schoss Georg zurück. »Ich will das neue Oberhaupt nicht nur unserer Familie, sondern aller Wiener Sippen sein!«, Er begriff nicht, wie seine Geschwister sich so aufgeben konnten. Und sein Geduldsfaden riss. »Ihr erklärt die Schlacht für verloren, bevor sie begonnen hat! Ihr suhlt euch in Selbstmitleid, anstatt zum Angriff überzugehen. Kein Wunder, dass ihr die anderen Sippen fürchtet. So wie ihr euch aktuell verhaltet, seid ihr nämlich ein leichtes Spiel für sie!«
Adalmar schwieg wieder. Nachdenklich blickte er ins Leere. Auch Lydia sagte nichts. Einzig das Ticken der Standuhr drang noch an Georgs Ohren. Nur mit Mühe gelang es ihm, ebenfalls zu schweigen. Der Zorn, der in ihm loderte, machte es ihm nicht leicht.
»Na, ich werde jedenfalls nicht hierbleiben, falls du das meinst«, sagte Adalmar schließlich. Sein Blick wanderte durch den Salon der Villa Zamis. »Dieses Haus … Es wirkt zu leer, zu antiquiert auf mich. Es gehört zur Vergangenheit, nicht zur Zukunft.«
»Auch meine Koffer sind bereits gepackt«, verkündete Lydia zu Georgs großer Überraschung. »Ich bin nur noch hier, um mich von euch zu verabschieden. Dann …«
»Nein!« Georg stand wieder. Er straffte die Schultern und hob den Blick. »Ihr werdet nicht gehen. Nicht jetzt und nicht so.«
»Ach ja?«, blaffte Lydia. »Weshalb das, hm?«
»Weil …« Es gab so viel, was er sagen wollte. Wenig davon war freundlicher Natur. Doch Georg spürte, dass mehr zum Posten des Familienoberhaupts gehörte, als offen und ehrlich seinen Willen zu äußern. Ein erfolgreicher Patriarch musste diplomatisch vorgehen. Nur dann konnte er sich halten – und das musste er. Schon zum Wohle seiner Familie. »Weil ich euch darum bitte.« Es fiel ihm sichtlich schwer, dieses Wort überhaupt auszusprechen. Zu viel hatte sich in ihm verändert, seitdem das Schwarze Testament seines Vaters ihn zum Erben der Villa und damit zum Familienoberhaupt erklärt hatte. Man hatte ihm die Macht in die Hände gelegt – sie war zu verlockend, um davon wieder zu lassen. Im Gegenteil, er lechzte jetzt schon nach mehr.
Wieder hob Adalmar eine Braue.
»Bitte bleibt«, fuhr Georg fort. Diesmal gelang es ihm schon leichter, sich zu verstellen. Sein Tonfall war wieder sanfter. »Wenigstens bis zum Vollmond. Wenigstens bis ich mit den anderen Sippen sprechen und die … die Dinge regeln konnte. Es schadet sicher nicht, wenn wir nach außen hin Einigkeit kommunizieren. Wenn man sieht, dass wir noch immer eine Familie sind.«
»Da hat er recht«, sagte Adalmar zu Lydia.
Die schnaubte wieder, widersprach allerdings auch nicht.
Adalmar stand aus seinem Sessel auf und klatschte in die Hände. »Also gut, Brüderchen. Du hast unsere Unterstützung. Bau deine Zukunft. Bau ein neues Haus Zamis. Wenn … Falls es dir gelingt, wäre es zu unser aller Vorteil.«
»Und falls nicht«, murmelte Lydia trotzig, »können wir ja immer noch abreisen.«
Georg schluckte. Er hatte den Streit gewonnen, das wusste er. Doch irgendwie fühlte er sich, als seien die Herausforderungen, denen er sich alsbald stellen musste, dadurch nicht gerade kleiner geworden. Das Brüderchen allerdings würde er seinem älteren Bruder noch abgewöhnen müssen, schwor er sich.