Chris Paul
Wir leben mit deiner Trauer
Für Angehörige und Freunde
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Rechtehinweis:
Antoine Leiris, Meinen Hass bekommt ihr nicht. »Freitag Abend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens
geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht.« © 2016 Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Doris Heinemann.
Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © Harald Biebel/Fotolia.com
ISBN 978-3-641-19881-7
V001
www.gtvh.de
Inhalt
Einleitung
Sie müssen kein ausgebildeter Trauerbegleiter sein!
Trauern ist die Lösung, nicht das Problem
Die vielen Facetten des Trauerns
Trauerwege im Labyrinth
Die eigene Rolle finden
Unterstützung als »stabile Person« – »Praktische UnterstützerInnen« – Unterstützung durch »mitmenschliche Normalität« – Zerr-Spiegel
Der Weg durch das Kaleidoskop des Trauerns
Das Kaleidoskop des Trauerns
Überleben – Wirklichkeit begreifen – Gefühle – Sich anpassen – Verbunden bleiben – Einordnen
Die ersten Stunden
Krisenmanagement in einer Ausnahmesituation
Trauerfacette Überleben: Krisenmanagement
Unwillkürliche Schutzrektionen – Zusammenbruch? – Zusammenreißen – Das Überleben der anderen
Trauerfacette Wirklichkeit: Ermutigen und Anregen
Plötzliche und gewaltsame Tode als Stolperstein – Spirituelle Wirklichkeit und Rituale – Was die Wirklichkeit verzerrt
Trauerfacette Gefühle: Aushalten und Halt geben
Überleben kann wichtiger sein als Gefühle spüren – Medikamente und Gefühle – Trittstein für die Gefühle der UnterstützerInnen
Trauerfacette Sich anpassen: Unterstützung, Ermutigung und Abgrenzung
Nichts ändern können – Handlungsmöglichkeiten oder Bevormundung – Ohnmacht und Handlungsspielräume
Trauerfacette Verbunden bleiben: Aushalten und Unterstützen
Trauerfacette Einordnen: Aushalten, Angebote machen und sich zurücknehmen
Die ersten Wochen
Wochenlanger Ausnahmezustand
Trauerfacette Überleben:Krisenmanagement, Netzwerke und Selbstfürsorge
Überlebensstrategien – Fachliche Unterstützung
Trauerfacette Wirklichkeit:Klarheit, Unterstützung und eigene Grenzen
Körperliche Wirklichkeit – Der letzte Abschied vom Körper – Spirituelle Wirklichkeit des Todes – Wirklichkeit in Worten
Trauerfacette Gefühle: Aushalten, Dasein, Ermutigen
Viele widersprüchliche Gefühle – Gefühle im Körper – Rituale – Gefühle beruhigen – Übungen – Unterstützen oder einengen
Trauerfacette Sich anpassen: Unterstützen, Anregen
Neue Aufgaben
Trauerfacette Verbunden bleiben: Aushalten, Zuhören
Zeichen und Erinnerungen – Unsichtbare UnterstützerInnen
Trauerfacette Einordnen: Zuhören, Deeskalieren
Ein ganzes Leben zusammenfassen – Wem gehört der Verstorbene? – Krank, trauernd oder verrückt? – Unterstützungsmöglichkeiten
Das erste Trauerjahr
Normalität oder Krise?
Abgrenzung ist erlaubt! – Übung – Ressourcenorientierte Blicke – Die eigene Sehnsucht – Eigene Bedürfnisse – Eigene Kraftquellen – Trauerwege verstehen
Trauerfacette Überleben: Krisenmanagement, Ausdauertest und Netzwerke
Konkrete Unterstützungsideen – Fachliche Unterstützung (auch für die weiteren Trauerjahren) – Gespräche mit einem Trauerbegleiter/einer Trauerberaterin – Trauergruppen für Erwachsene – Trauergruppen für Kinder und Jugendliche – Trauercafé – Wandern, Segeln, Malen, Tanzen – Ärzte – Psychotherapeutinnen, Neurologen, TraumatherapeutInnen – Psychiatrie – Naturheilkunde, Homöopathie
Trauerfacette Wirklichkeit: Gleichgewicht halten
Neue Zeitrechnung – Wirklichkeit und Zeit
Trauerfacette Gefühle: Beobachten, Einladen, Aushalten
Ausdrücken oder Unterdrücken – Gefühle, die sich als Körperschmerzen zeigen – Trauerwut – Trauerhass – Wutventile – Scham – Neid – Erleichterung – Einsamkeit – Angst – Sehnsucht und Liebe – Rituale, die Gefühlen eine Form geben – Trauer oder Depression?
Trauerfacette Sich anpassen: Konkrete Angebote, Hilfe zur Selbsthilfe und Abgrenzung
Rollen klären – Beispiele für die Unterstützung als »stabile Person« – Beispiele für praktische Unterstützung – Beispiele für »mitmenschliche Normalität« – Umgang mit den Dingen – Umgang mit den Rollen
Trauerfacette Verbunden bleiben: Aushalten, zuhören, Eifersucht vermeiden
Eifersucht? – Die Verstorbenen dabei sein lassen – Erinnerungen – Die Angst vor dem Schmerz der Erinnerung – Dramatische Erinnerungen – Gegenstände – Orte – Symbole, die wir selber wählen – »Zeichen« – Präsenzerlebnisse – Spiritualität und Glauben – Bleibendes – Vorwürfe und Hass
Trauerfacette Einordnen: Zuhören, Aushalten, Ideen einbringen
Wie passt dein Tod zu deinem Leben? – Wie passt dein Tod zu meinem Leben? – Wie passen dein Tod und meine Trauer zu meiner Zukunft?
Todestage
Entscheidungen respektieren, Da sein
Der erste Todestag: Ausprobieren, Stützen
Trauerfacette Überleben: Anregen, Aushalten, Netzwerken
Entscheidungen akzeptieren – Unklares Sterbedatum – Eine ganze Serie von schweren Tagen
Trauerfacette Wirklichkeit: Blick auf das, was man geschafft hat
Belastende Erinnerungen
Trauerfacette Gefühle: Aushalten, Rahmen geben
Trauerfacette Sich anpassen: Aufmerksam sein
Trauerfacette Verbunden bleiben: Erinnerungen teilen, da sein und bleiben
Trauerfacette Einordnen: Wertschätzung geben, genau hinsehen
Beispiele für die Gestaltung von Jahrestagen
Die weiteren Trauerjahre
Verstehen hilft unterstützen!
Spätes Ankommen in der Unterstützungs-Rolle – Die Trauer der Unterstützenden
Trauerfacette Überleben: Kraft sammeln, Wohlfühlen, Halt geben
Überleben und die anderen Trauerfacetten – Fachliche Unterstützung
Trauerfacette Wirklichkeit: Aushalten
Redeverbote innerhalb der Familie
Trauerfacette Gefühle: Aushalten, Ermutigen, Abgrenzen
Verlust von Vertrauen in sich selbst – Sorge und Angst
Trauerfacette Sich anpassen: Hilfe zur Selbsthilfe
Neue Schwerpunkte – Beziehungen verändern sich – Sich neu verlieben – Ein neuer Platz für die alte Liebe – Die Eifersucht der »Neuen« auf die Verstorbenen – Wieder schwanger werden
Trauerfacette Verbunden bleiben: Annehmen, Fördern, Interesse entwickeln
Mit dem Verstorbenen weiterleben – Vermächtnis
Trauerfacette Einordnen: Zuhören, Gestalten, Dableiben
Danksagung
Literaturhinweise
Sie müssen kein ausgebildeter Trauerbegleiter sein!
Wenn jemand, den man sehr gern hat, einen Verlust durchlebt, beeinflusst das auch das eigene Leben. Rund 800.000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland – jeder davon verändert mit seinem Tod das Leben von durchschnittlich vier bis sechs Menschen, die dann »Hinterbliebene« oder »Trauernde« genannt werden. Diese Trauernden leben aber nicht in einem luftleeren Raum, sie haben jeweils wieder Angehörige und Freunde: Es kann sein, dass die Frau Ihres Bruders gestorben ist oder das Kind Ihrer besten Freundin. Vielleicht ist Ihr neuer Partner verwitwet oder Sie stehen ratlos vor dem Verlustschmerz Ihrer Mutter.
Mindestens achtzig Prozent aller Trauernden kommen ohne fachliche Unterstützung aus. Aber nicht ohne andere Menschen! Alle Trauernden brauchen auf ihrem Trauerweg Mitgefühl und Ermutigung durch die Menschen, mit denen sie zusammenleben. Familienmitglieder, Partner und Freunde können vieles tun und sein, was Fachleuten nicht zur Verfügung steht: schon lange befreundet sein, eine gemeinsame Zukunft haben, das ganze Leben teilen. TrauerbegleiterInnen sind nicht diejenigen, bei denen jemand übernachtet, wenn er es allein zuhause nicht mehr aushält. TherapeutInnen haben mit den Trauernden, die sie beraten, keine gemeinsamen Erinnerungen an den Verstorbenen. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass unterstützende Fachleute auch in fünf Jahren noch da sind, um »Weißt du noch« sagen zu können.
Als Partnerin, Freund oder Angehöriger wissen Sie vieles über den Menschen, der trauert. Aber Sie werden ihn oder sie in den kommenden Wochen, vielleicht sogar Jahren auch von neuen Seiten kennen lernen. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass nicht alles wird wie früher. Es wird anders, vielleicht nur ein bisschen anders, und es kann sogar besser werden als früher! Ich möchte Ihnen Mut machen, diesen Weg mitzugehen und besser zu verstehen, was auf diesem Weg passiert.
Trauern ist die Lösung, nicht das Problem
Ich glaube: Trauern ist die Lösung, nicht das Problem! Menschen wissen beim Tod eines sehr vertrauten Menschen nicht, wie es weitergehen soll. Doch die menschliche Seele hat eine Art Programm entwickelt, um das eigene Weiterleben zu ermöglichen – das ist der Trauerprozess. Er führt durch die Zeiten von einem Leben mit diesem Menschen, der gestorben ist, hin zu einem aushaltbaren Leben ohne ihn. Auch wenn Trauernde keine Ahnung haben, wie sie den Schmerz und die Unsicherheiten nach einem Tod überstehen sollen – in ihnen liegt die Fähigkeit, es zu tun.
Vieles macht man automatisch »richtig«, wenn man auf sich selbst hört und wenn man nicht behindert wird. Vertrauen ist ein guter Ratgeber, wenn es um trauernde Menschen geht! In diesem Buch erläutere ich die vielen Facetten eines Trauerprozesses und das, was Sie tun können, um das Trauern zu unterstützen. Dabei sind SIE mir auch wichtig – niemand hat etwas davon, wenn Sie sich aufreiben!
Die vielen Facetten des Trauerns
Der Trauerprozess beinhaltet deutlich mehr als Vergessen und Weitermachen. Trauern, so wie ich es erfahren habe, ist auch deutlich mehr als das Gefühl »Traurigkeit«. Trauerprozesse enthalten viele starke Gefühle und gleichzeitig viele wirre Gedanken. Sie bringen die mühsame Gewöhnung an ein verändertes Leben mit sich und die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen. Vor allem bestehen Trauerprozesse aus Erinnerungen. Das menschliche Überlebensprogramm nach dem Tod von anderen Menschen ruft die vielen Erinnerungen an den Verstorbenen ins Gedächtnis und sortiert sie nach ihrer bleibenden Bedeutung. Es ist wie eine sehr große Kiste voller Fotos und Videos, die angesehen werden. Irgendwann ist klar, welches die wichtigsten und stimmigsten Bilder sind. Zu diesen Bildern gibt es Geschichten, die auf den Punkt bringen, wer dieser Mensch war und was er im Guten hinterlassen hat. Trauerprozesse enden nicht mit Vergessen, sie münden irgendwann in »leichtes Gepäck«. Keiner weiß im Voraus, wann das so weit sein wird. Es dauert aber auf jeden Fall länger als sechs Wochen. Für viele dauert es länger als das berühmte »erste Trauerjahr«.
In diesem Buch habe ich die einzelnen Facetten des Trauerns mit feststehenden Begriffen benannt, die Sie immer wieder finden werden. Mitten in einem Trauerprozess fühlt es sich chaotisch und unübersichtlich an. Das löst Gefühle von Hilflosigkeit aus, die lähmend und entmutigend wirken können. Deshalb stelle ich Ihnen diese Struktur zur Verfügung, damit Sie ab und zu einen Blick auf die Situation werfen können und ein bisschen Orientierung finden.
Die sechs Facetten des Trauerprozesses sind von Anfang an alle zugleich präsent. Sie formen ein Kaleidoskop verschiedener Formen und Farben, die sich immer neu mischen. Anders als in einem Programm, das von Schritt Eins bis Schritt Sechs nacheinander abgearbeitet wird, beschäftigt sich Ihr trauernder Freund oder Angehöriger meistens mit mehreren Facetten gleichzeitig.
Trauerwege im Labyrinth
Wenn Sie bisher dachten, der Trauerweg sei wie ein schnurgerader Hürdenlauf, bei dem man vom einen Startpunkt aus in gerader Strecke auf ein Ziel losläuft, dann verabschieden Sie dieses Bild bitte. Der Trauerprozess ist kein geradeaus laufender Weg. Er ähnelt mehr einer Spirale (man läuft größer werdende Runden auf einem Sportplatz) oder einem Labyrinth (man läuft einen Marathon durch eine Stadt und wird in vielen Schleifen und Windungen immer durch dieselben Gebiete geleitet).
Jeder trauernde Mensch läuft seinen eigenen Weg im eigenen Tempo, Trauerprozesse sind kein Massenlauf mit der gleichen abgesteckten Wegstrecke für alle. Jeder Trauerweg ist individuell, verschieden von anderen Trauerwegen und doch unterwegs auf denselben Themenfeldern.
Trauern muss nicht »vorbei« gehen, also gibt es keine Ziellinie wie bei einem Marathon. Es ist eher, als würden die Kreise immer weiter und dabei kämen immer mehr Facetten hinzu: Facetten des Lebens, in denen der Verlust keine Rolle spielt. Und die Gangart ändert sich, wird weniger angestrengt, kann zunehmend wieder ins Schlendern oder auch mal Hüpfen übergehen. In diesen weiter werdenden Kreisen betreten Menschen in unterschiedlich großen Zeitabständen immer wieder auch eine oder mehrere Facetten des Trauerns. Die wiederkehrende Beschäftigung mit den verschiedenen Facetten des Trauerprozesses führt dazu, dass die meisten Menschen erleben, wie die Wucht des Seelenschmerzes und der Ratlosigkeit mit der Zeit nachlässt. Sie finden einen inneren Frieden mit dem, was geschehen ist und sie haben hauptsächlich Erinnerungen, die sie genießen können. Das geschieht bei den meisten Trauernden fast von allein – die Unterstützung ihrer Freunde und Angehörigen reicht als Wegbegleitung. Nur zehn bis zwanzig Prozent der Menschen, die trauern, brauchen zusätzlich fachliche Unterstützung.
Die eigene Rolle finden
Ihre Rolle als Angehörige, Partner oder Freundin liegt im geduldigen, konkreten Unterstützen und In-Kontakt-Bleiben über einen langen Zeitraum. Zunehmend ist Ihre Aufgabe auch das Anbieten von Normalität. Wie bei einem Marathon stehen Sie am Rand, bieten Stärkung und emotionale Wärme an, laufen vielleicht ein kleines Stück mit, aber niemals können Sie sich den Trauernden auf den Rücken laden, um ihm die Anstrengung zu ersparen. Dieses »nur Dabeisein« kann für Sie selbst anstrengend oder frustrierend sein, deshalb geht es in diesem Buch auch darum, wie Sie unterstützend bleiben können, ohne von Ihrem eigenen Weg abzukommen.
Beziehungen verändern sich, wenn einer von beiden eine schwere Zeit durchleben muss. Vielleicht ist es das erste Mal, dass in Ihrer Beziehung Kummer, Schwere und Verzweiflung so viel Raum einnehmen wie jetzt gerade. Vielleicht kennen Sie diese Situation aber schon und können sich daran erinnern, wie Sie beide das bisher gemeistert haben. Vielleicht haben Sie selbst auch schon Krisen durchlebt und dabei den Trost und Halt eben dieses Menschen erfahren, der jetzt Sie braucht. Es kann auch sein, dass Sie angestrengt auf das reagieren, was durch den Tod einer dritten Person in Ihrer Beziehung geschieht. Reaktionen wie die folgenden sind verständlich, machen aber Ihnen selbst und auch dem Trauernden das Leben schwer:
Man kann sich alleingelassen fühlen, weil die andere so intensiv vom eigenen Trauerweg und vom Verstorbenen absorbiert wird.
Man kann Angst bekommen, dass der Trauerweg des anderen von der Beziehung/Freundschaft wegführt.
Man kann Druck ausüben, um selbst noch etwas vom Trauernden zu bekommen.
Man kann sich die Trauer des anderen zur Lebensaufgabe machen und alle Kraft darauf verwenden, dass es ihm schnell bessergeht.
Man kann sich zurückziehen und den trauernden Menschen sich selbst bzw. anderen überlassen.
Ich schlage Ihnen vor, anders mit der Krise des anderen umzugehen. Ich skizziere drei unterstützende Rollen, zwischen denen Sie in den kommenden Monaten und vielleicht sogar Jahren hin- und herpendeln können, ohne sich selbst zu verlieren. Das sind:
Unterstützung als »stabile Person«
Die »stabile Person« ist für eine begrenzte Zeit ein »Fels in der Brandung«: jemand, der für Minuten oder Stunden gelassen bleibt, egal wie hoch die Wogen der Emotionen um ihn/sie herum werden. Eine »stabile Person« kann die eigenen Gefühle und Gedanken ruhig halten und als Ruhepol und stützender Arm einfach da sein. Die »stabile Person« kann den Überblick behalten. Auf dem Trauerweg tauchen zu bestimmten Zeitpunkten berufliche HelferInnen als »stabile Personen« auf, vom Notfallseelsorger über die Bestatterin bis zum Trauerbegleiter. Auch als Freund und Verwandte können Sie diese Rolle immer wieder für eine kurze Zeit einnehmen, das ist eine wichtige Hilfe. Aber – auf Dauer kann das niemand durchhalten. Bitte zwingen Sie sich nicht dazu, denn es presst Sie in einen Zustand, aus dem Sie irgendwann voller Zorn ausbrechen werden. Auch Ihre Beziehung nimmt großen Schaden, wenn auf Dauer ein ungleiches Kräfteverhältnis entsteht. Wenn Sie immerzu eine »stabile Person« sind und keine eigenen Bedürfnisse haben, dann bleibt für den anderen auf lange Sicht nur eine sehr demütigende Rolle übrig: immerzu schwach und bedürftig zu sein.
»Praktische UnterstützerInnen«
»Praktische UnterstützerInnen« brauchen Tatkraft, verfügbare Zeit und ein Talent für Alltagsbewältigung. So eine konkrete Unterstützung kann z. B. sein: jemanden anrufen, etwas zu trinken besorgen, jemanden fahren, Informationen einholen und weitergeben, für ein Gespräch zur Verfügung stehen, im Haushalt und Garten helfen, anwesende Kinder beschäftigen und versorgen usw. Praktische Unterstützungsleistungen sind zeitlich begrenzt und beziehen sich auf konkrete Aspekte der veränderten Lebenssituation. Sie sollten zuverlässig und ohne Erwartung an großen Dank erfolgen. Als UnterstützerIn stellen Sie Ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle für einen begrenzten Zeitraum (!) in den Hintergrund, Sie tun aber nichts, was Sie auf Dauer auslaugt oder von Ihrem eigenen Lebensweg wegführt. Unterschiedliche Unterstützungsleistungen werden im Lauf des Trauerweges an verschiedenen Stellen gebraucht, manche davon können Sie geben, andere nicht!
Unterstützung durch »mitmenschliche Normalität«
Hier geht es um die mitmenschliche Beziehungsebene, die Sie und der andere aufgebaut haben mit allen Gewohnheiten und Schwierigkeiten, so wie Sie eben »normal« miteinander umgegangen sind. Als Mitmensch nehmen Sie wahr, dass der Trauernde in vielen Lebensbereichen vor großen Veränderungen steht, aber das bestimmt nicht Ihr gesamtes Handeln. Sie sind mehr für die unveränderten Lebensanteile da, für die Normalität des Alltags und der alltäglichen oder auch lebenslangen Beziehungen. Als Mitmensch gehen Sie mit kleinen Zeichen des Mitgefühls auf die Trauer des anderen ein, aber alles in allem benehmen Sie sich weiter »normal«, spüren Ihre eigenen Bedürfnisse und kümmern sich in erster Linie um sich selbst.
In allen drei Unterstützungsrollen geben Sie dem Trauernden Kraft und Halt. Damit legen Sie ihm »Trittsteine«, wo der Trauerweg unsicher ist oder von »Stolpersteinen« behindert wird. Mit Ihrer Unterstützung sind Sie gleichzeitig eine Art »Spiegel« für den andern. In Ihren Blicken und Worten sieht der andere, was Sie von ihm halten. Er spürt, dass er immer noch liebenswert ist in all seiner inneren Zerbrochenheit; er fühlt, dass ihm noch etwas zugetraut wird. Der Blick von Unterstützern auf den Trauernden ist sehr wichtig, damit er sich auf dem Trauerweg selbst »mit annehmenden Augen« sehen kann.
Zerr-Spiegel
Wenn Sie jedoch dem Trauernden nur mit Angst und Sorge begegnen, dann werden Sie wie zu einem »Zerr-Spiegel« wie in einem alten Spiegelkabinett. Dort sieht man sich ganz verzerrt – und jede dieser Verzerrungen ist hässlich.
Trauernde nehmen sich auf den besonders anstrengenden Strecken ihres Trauerweges manchmal selbst verzerrt wahr und können sich dann für minderwertig, belastend und unfähig halten. Der Blick aus den Augen der UnterstützerInnen kann dann Balsam und Proviant für den weiteren Weg sein – wenn dieser Blick liebevoll, aufmunternd, mitfühlend und vertrauensvoll zugleich ist.
Alle drei Unterstützungsrollen (»stabile Person«, Praktische Unterstützung, »Mitmenschliche Normalität«) sind wichtig für den Trauernden. Wenn Sie nicht immer wieder auch in die Rolle des Mitmenschen zurückschlüpfen können, besteht die Gefahr, dass es nur selten wieder eine Normalität in Ihrer Beziehung zueinander geben wird. Das würde Sie auf Dauer unzufrieden machen, und auch Trauernde möchten nicht auf ihren anstrengenden Trauerweg reduziert werden.
Da niemand perfekt ist, werden Sie wahrscheinlich erleben, dass Sie mit sehr gut gemeinten Aktionen und Worten unbeabsichtigt zum Zerrspiegel werden. Auch der Trauernde selbst kann zum Zerrspiegel für Sie und Ihre Beziehung werden. Denn Trauernde sind nicht perfekt, im Gegenteil, sie erleben Schwäche, überwältigende Gefühle und Hilflosigkeit angesichts großer Lebensveränderungen. Das kann dazu führen, dass Trauernde manchmal abweisend oder sogar verletzend reagieren. Es ist nicht immer leicht, Trauernde auf ihrem Weg durch alle Aspekte ihres Trauerprozesses zu begleiten. Es hilft, sich selbst unterstützen zu lassen, und ich hoffe, dass dieses Buch eine von vielen Unterstützungsquellen für Sie wird!
Manche UnterstützerInnen sind gleichzeitig auch selbst Trauernde. Wenn z. B. Ihre Mutter gestorben ist und Sie sich als UnterstützerIn Ihres Vaters fühlen. Dann werden Sie beim Lesen öfter zwischen zwei Rollen hin- und herspringen. Sie werden den Menschen, den Sie unterstützen möchten, besser verstehen lernen, aber Sie werden auch Ihrem eigenen Trauerprozess ein bisschen näherkommen. Wenn Sie merken, dass Ihr eigener Trauerprozess mehr Aufmerksamkeit braucht, können Sie auch das Buch »Ich lebe mit meiner Trauer« lesen, es spricht mehr über Ihre eigene Trauer und das, was Sie für sich selbst tun können!
Der Weg durch das Kaleidoskop des Trauerns
Ich habe bereits von den sechs Facetten des Trauerweges gesprochen. Diese sechs Facetten repräsentieren Themen, die Hinterbliebene auf ihrem Trauerweg immer wieder durchqueren. Wie in einem Kaleidoskop verschieben sich diese Facetten jeden Tag neu gegeneinander und bilden ständig neue Muster. Mal steht eine bestimmte Facette im Vordergrund und verhindert, dass die anderen zu sehen sind. Mal bilden alle miteinander ein stimmiges Bild aus hellen und dunklen Farben, weichen Formen und harten Schnittkanten.
Wenn ein naher Mensch gestorben ist, dauert der Weg durch die verschiedenen Facetten eines Trauerprozesses oft mehrere Jahre. Als Freundin, Partner oder Familienmitglied gehen Sie diesen Weg mit. Aber keine Angst – das »normale Leben« ist Teil des Trauerprozesses – und der Trauerprozess ist Teil des normalen Lebens!
Dieses Buch steht Ihnen mit Erklärungen und konkreten Tipps zur Seite durch alle Zeiten des Trauerns – von den Sterbestunden durch das ganze erste Trauerjahr bis zu den weiteren Trauerjahren. Die Facetten des Trauerns mischen sich auf diesem Weg immer neu. Deshalb beschreibe ich die einzelnen Trauerfacetten ausführlich in jedem Zeitabschnitt. Ich zeige Ihnen, wie vielfältig jede einzelne Trauerfacette ausgestaltet werden kann. Hinweise auf die Stolpersteine, die den Trauerweg erschweren können, ergänze ich um viele verschiedene Trittsteine. Manche davon können Sie selbst zur Verfügung stellen, für andere müssen Sie auf ein größeres Netzwerk vertrauen.
Dieses Buch ist für Sie geschrieben, für Ihren gemeinsamen Lebensweg mit jemandem, der trauert. Wenn Sie dem trauernden Menschen selbst das Kaleidoskop des Trauerns nahebringen möchten, können Sie das Buch »Ich lebe mit meiner Trauer« empfehlen und vielleicht sogar darüber ins Gespräch kommen.
Überleben
Dieser Facette habe ich die Farbe Orange zugeordnet. Leuchtend und schrill wie eine Warnweste. Denn Überleben ist etwas anderes, als es sich gut gehen lassen. Überleben ist eine rohe, simple Angelegenheit. Man atmet weiter und übersteht den Tag und die Nacht und den nächsten Tag. Jeder von uns macht das anders. Hier eine unvollständige Liste der Möglichkeiten, die wir nutzen, um etwas Erschreckendes zu überstehen:
Ablenken, laute Musik, Fernsehen, Alkohol. Sich in Arbeit stürzen. Alles so machen wie zuvor. Reden wir ein Wasserfall. Verstummen. Nähe suchen. Sich zurückziehen. Einschlafen. Innerlich abschalten. Ganz viel Sport. Raus in die Natur. An Schönes denken. Aggressiv werden. Beten oder Meditieren. Pflichtbewusst sein. Für andere da sein. Weglaufen. In der Vergangenheit leben. Die Vergangenheit abstreiten.
Überleben hat Vorrang, und Überleben ist immer wieder dran zum Kraftschöpfen und zum Ausruhen von den Anstrengungen der anderen Trauerfacetten.
Vieles, was Ihnen am Verhalten des Trauernden seltsam und unvernünftig erscheint, ist eine Überlebensstrategie. Diese Erkenntnis kann Sie geduldiger und ruhiger machen. Denken Sie daran, dass auch Sie als UnterstützerIn Überlebensstrategien haben und brauchen!
Wirklichkeit begreifen
Dieser Facette habe ich die Farbe Dunkelgrau zugeordnet, weil es sich so unerträglich dunkel und bedrückend anfühlen kann, wenn man begreift, dass ein geliebter Mensch »wirklich« tot ist. Es fällt schwer zu verstehen, dass jemand gestorben ist und was das eigentlich bedeutet. Die Möglichkeit, den Sterbenden und dann den Verstorbenen sehen und berühren zu können, hilft dabei. Dieses buchstäbliche »Be-greifen« am Sterbebett, bei einer Totenwache oder beim Abschiednehmen unterstützt die Realisierung des Todes. Darüber zu sprechen hilft auch dabei, die Wirklichkeit eines Sterbens zu verstehen. Jedes Mal, wenn klar benannt wird, dass jemand gestorben ist (nicht »gegangen« oder »eingeschlafen«), wird der Tod ein Stück wirklicher. Die Geschichte des Abschieds erzählen zu können, von anderen etwas dazu zu hören, sich auszutauschen und zu bestätigen, macht den Abschied wirklicher. Hilfreich beim Realisieren ist auch der Zugang zu den Informationen darüber, woran und wie jemand gestorben ist, so entsteht eine zusammenhängende begreifbare Geschichte.
Sterben ist wirklich etwas anderes als Verreisen oder den Kontakt abbrechen. Es ist end-gültig, nicht zurückzunehmen und für immer. Diese Wirklichkeit des Todes lernt man nur mit jedem Tag, der vergeht.
Sterben ist auch deshalb anders als Verreisen, weil es Fragen nach dem »Danach« aufwirft. Seelenwanderung? Auferstehung? Schwarzes Loch? Wiedergeburt? Das sind Glaubensinhalte und Überzeugungen, aber sie fühlen sich ganz wirklich und wahrhaftig an, und Menschen brauchen diese Vorstellungen für ihr »Begreifen der Wirklichkeit eines Todes«.
Sie als UntertützerIn verstehen die Wirklichkeit eines Todes wahrscheinlich einfacher als der Trauernde selbst. Sie brauchen Geduld und Einfühlungsvermögen, wenn diese Facette des Trauerwegs immer wieder auftaucht, auch wenn aus Ihrer Sicht längst »alles klar« ist.
Gefühle
Dieser Facette habe ich ein kräftiges Rosa zugeordnet, weil die vielen unterschiedlichen Gefühle so intensiv und stark sind, aber auch eine Verbindung zu Zartheit und Zärtlichkeit besteht.
Trauerprozesse enthalten eine Vielzahl von Gefühlen: Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Schmerz, Erleichterung, Angst, Neid, Dankbarkeit, Sehnsucht, Liebe und viele mehr. Alle diese verwirrenden überwältigenden Gefühle sind wichtig. Auch wenn sie anstrengend sind, die Konzentration für den Alltag rauben und einem selbst peinlich sind – sie helfen, den Verlust zu bewältigen. Jedes Gefühl braucht dafür auch einen Ausdruck, hier einige Beispiele:
Traurigkeit, Verzweiflung und auch Sehnsucht können sich in Tränen einen Weg bahnen oder in Rückzug. Wut, Hilflosigkeit und Abwehr äußern sich in Geschrei und Streit oder in Schweigen und Abwendung. Sehnsucht findet z. B. in Grabbesuchen, Trauertagebüchern, dem Gestalten von Erinnerungskisten oder Fotobüchern ihren Ausdruck. Liebe und Dankbarkeit können sich in Erzählungen und Ritualen ausdrücken.
Der Seelenschmerz drückt sich oft auch körperlich aus. Manchmal verwandelt sich der Seelenschmerz direkt in Körperschmerz – z. B. in Magenkrämpfe und Kopfschmerzen. Nicht nur das metaphorische Herz, sondern auch das physische Herz fühlt sich dann schwer an und stolpert. Der Seelenschmerz kann sich in Atemnot, Beklemmungen und starkem Frieren ausdrücken. Die inneren Kreisläufe sind oft so durcheinander wie die eigenen Gedanken und Gefühle – Schlafen und Essen finden dann nur mit Mühe in einen vertrauten Rhythmus zurück.
Der Körperschmerz braucht den Ausdruck des Seelenschmerzes, um langfristig wieder in den Hintergrund zu treten!
Die starken Gefühle eines trauernden Menschen lösen mitunter auch in denen, die ihnen nah sind, starke Gefühle aus. Man erlebt ein intensives Mit-Leiden, ist voller Liebe und Hochachtung. Aber es können daneben Ungeduld, Überforderung, Wut und Hilflosigkeit entstehen. Auch UnterstützerInnen brauchen Wege, wie sie ihre Gefühle ausdrücken können!
Sich anpassen
Dieser Facette habe ich die Farbe Grün zugeordnet, weil es um uns herum immer etwas Grünes gibt, und hier geht es um alles, was außerhalb der eigenen Gedanken stattfindet.
Nach dem Tod eines nahen Menschen ändert sich das eigene Leben – manchmal bleibt keine Minute des Alltags, wie sie vorher war. An diese Veränderungen müssen Trauernde sich anpassen. Sie sind gezwungen, neue Wege zu finden, mit sich selbst und dem Leben umzugehen. Es kostet Kraft, sich im veränderten Leben zurechtzufinden und neue Rollen und Verhaltensweisen auszuprobieren.
Diese Veränderungen betreffen das Zuhause und den Alltagsablauf. Sie betreffen dabei die Rollen und Aufgaben, die man in einer Familie oder Partnerschaft übernimmt.
Veränderungen, an die Trauernde sich anpassen müssen, betreffen auch die Reaktionen aller Menschen, denen man begegnet, z. B. in der Nachbarschaft, im Arbeitskollegium, in der Lerngruppe oder im Fitnessstudio. Man muss damit umgehen, dass die einen nicht mehr grüßen und die anderen mit ungebetenen Ratschlägen reagieren können.
Als UnterstützerIn sind Sie sehr nah mit dem oder der Trauernden verbunden und meistens sogar Teil eines gemeinsamen Alltags. Ihre Bereitschaft zur Geduld und konkreten Unterstützung kann Trauernden das Betreten dieser Facette erleichtern. Gleichzeitig werden Sie sich selbst sich an Veränderungen gewöhnen und anpassen müssen.
Verbunden bleiben
Dieser Facette habe ich ein leuchtendes Gelb zugeordnet, weil die Verbundenheit mit dem Verstorbenen für viele Trauernde wie ein Sonnenstrahl in ihre Verzweiflung hineinleuchtet.
Menschliche Beziehungen zwischen Lebenden bestehen aus dem Bewusstsein innerer Verbundenheit, aber auch aus Blicken, Berührungen und gemeinsamen Aktivitäten. Nach dem Tod eines Menschen muss man auf alle körpergebundenen Gemeinsamkeiten verzichten und sich mit gedachten und geahnten Bindungsfaktoren begnügen.
Erinnerungen und Anekdoten ermöglichen ein Gefühl von Verbundenheit. Träume vom Verstorbenen und die Wahrnehmung von »Zeichen« schaffen ein Gefühl von innerer Verbindung.
Manchmal ist es, als sei der Verstorbene auf eine nicht zu erklärende Weise immer präsent im eigenen Leben, unterstützend und freundlich. Manche erleben die Verstorbenen wie gute Geister oder Schutzengel, die in entscheidenden Momenten spürbar werden und Rat geben.
Verstorbene waren normale Menschen, die Licht- und Schattenseiten hatten. Auf der Suche nach innerer Verbundenheit über den Tod hinaus werden beide Seiten und auch alle Widersprüche einer Beziehung näher erinnert. Denn bedrückende und beängstigende Erfahrungen können ebenso innere Bindungen schaffen wie Beglückendes. In dieser Trauerfacette geht es um das Suchen nach dem, was bleiben soll und dem, was in den Hintergrund treten kann.
Früher dachte man, Trauernde müssten sich komplett von den Verstorbenen lösen, um sich den Lebenden zuwenden zu können. Das gilt als überholt. Trauernde, die sich mit ihren Verstorbenen in positiver und stärkender Weise verbunden fühlen, sind offen für das Leben und die Menschen darin. Das kann Ihnen als UnterstützerIn helfen, keine Eifersucht zu entwickeln.
Einordnen
Dieser Facette habe ich die Farbe Blau zugeordnet. Blau wie der weite Himmel über uns, der so selbstverständlich da ist, dass wir ihn oft gar nicht mehr bemerken. Genauso achten wir im Alltag auch nicht darauf, welche Gedanken wir denken, und darum geht es hier.
Trauerprozesse bringen nicht nur intensive Gefühle mit sich, sondern sie bewirken auch in unserem Gehirn Höchstleistungen! Jede »Warum?«-Frage ist eine Denkaufgabe. Trauernde versuchen einzuordnen und zu bewerten, was ihnen zugestoßen ist. Manchmal bestätigt ein Sterben frühere Erfahrungen und tiefe Ängste. Manchmal widerspricht es dem Optimismus, der bisher stets getragen hat.
Der Tod eines nahen Menschen und die eigene Reaktion darauf stellen alle bisherigen Grundüberzeugungen in Frage: Stimmt das so noch? Oder muss das jetzt alles noch mal neu interpretiert und geordnet werden? Bin ich das Glückskind, die starke Frau, der gute Mensch, für den ich mich immer gehalten habe? Ist die Welt wirklich gerecht? Habe ich mein Schicksal in der Hand, wie ich immer dachte?
Die Neubewertung der Vergangenheit färbt den Blick auf die Gegenwart und hat dann auch Auswirkungen auf die Zukunft. Je düsterer und hoffnungsloser die Interpretation des eigenen Lebens in der Vergangenheit ausfällt, desto weniger Freude und Zufriedenheit sind für die Zukunft denkbar. Umgekehrt sind Vergangenheitsdeutungen, die Freude und Leid nebeneinanderstehen lassen können, ein guter Ausgangspunkt für wachsende Lebensfreude.
Glaubenssätze und Überzeugungen sind etwas sehr Persönliches. Man muss in einer Freundschaft oder in einer Familie nicht die Bewertungen und Einordnungen der anderen hundertprozentig teilen. Die lange Suche nach Antworten und neuem Lebenssinn braucht von UnterstützerInnen Geduld und manchmal Fantasie, aber keine vorgefertigten Meinungen.
Krisenmanagement in einer Ausnahmesituation
Mit dem Moment des Sterbens bzw. mit dem Eintreffen einer Todesnachricht beginnt der Trauerweg. Trauernde wissen noch gar nicht, was auf sie zukommt, es zählt zunächst nur dieser besondere Moment. Vielleicht beginnt auch für Sie als UnterstützerIn ein eigener Trauerweg, weil Sie selbst den Verstorbenen gekannt haben. Dann haben Sie die schwierige Aufgabe auf sich genommen, jemand anderes auf seinem Trauerweg zu unterstützen, während Sie selbst Ihren eigenen Marathon durch die Trauerfacetten gehen. Ich werde immer wieder auf diese besondere Konstellation eingehen.
In diesem Buch geht es in erster Linie um Ihre Rolle als UnterstützerIn und den Trauerweg eines Menschen, den Sie unterstützen. Sie haben sich vorgenommen, ein Trittstein auf dem Weg eines anderen zu sein. Damit wird auch Ihr eigener Lebensweg sich verändern. Irgendwann kann es sich so anfühlen, als sei die Trauerkrise des anderen zum Stolperstein auf Ihrem eigenen Lebensweg geworden. Damit das möglichst selten passiert, erkläre ich Ihnen so viel wie möglich und ermutige Sie, sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Wahrscheinlich lesen Sie dieses Kapitel erst einige Wochen, nachdem die Todesnachricht Sie erreicht hat. Dann werden Sie sich in manchem wiedererkennen und vielleicht einiges besser verstehen. Die Reaktionen auf das Sterben eines Menschen können sehr unterschiedlich sein, und sie werden von vielen verschiedenen Dingen beeinflusst.
Zu Beginn des langen Trauerweges sind bereits alle Bereiche des Trauerns präsent: unterschiedlichste Gefühle, die Suche nach Verbundenheit, die Notwendigkeit von Anpassung und sogar das Einordnen in Geschichten. Aber es stehen zwei Facetten im Vordergrund, das sind die Facetten »Überleben« und »Wirklichkeit«.