Scheiße.
Ich kann mich nicht bewegen, bin erstarrt. Das darf nicht sein, ich muss träumen. Vermutlich ist dieses Treffen mit Femke ein einziger langer Albtraum. So muss es sein! Denn solche Sachen, schlimme Unfälle, Tragödien, passieren nur den anderen, nicht mir.
Wenn das wirklich wahr ist, ist es eine verdammte Katastrophe!
Doch ich wache nicht auf. Das Geländer bleibt verschwunden, es gibt keinen Rewind-Knopf, der alles rückgängig macht.
Hätte ich sie bloß nicht geschubst. Scheiß auf Genugtuung, das ist sie nicht wert. Nicht für ein Menschenleben.
Aber ich habe es getan. Ich habe Femke von mir gestoßen und ich habe Genugtuung empfunden. Das Geländer ist weg, Femke ist gestürzt.
Kein Albtraum.
Eine Katastrophe.
Nach dem Bruch unserer Freundschaft laufen Femke und ich uns in der Schule beinahe jeden Tag über den Weg. Das lässt sich nicht vermeiden, immerhin sind wir im selben Jahrgang. Aber es ist eine ganz bestimmte Begegnung weit in der Vergangenheit, die mir nun in den Sinn kommt.
Ich stand an meinem Spind, kämpfte gegen Hefte und Schulbücher, die sich meinem Willen nicht beugen und aus dem Schrank verabschieden wollten, und fluchte leise vor mich hin. Amy und Robin lehnten an der Schrankreihe und sahen mir ungeduldig zu.
Ich bemerkte Femke aus dem Augenwinkel, die wenige Türen neben meinem an ihren Spind trat, und schenkte ihr keine Beachtung. Stattdessen drehte ich ihr den Rücken zu, wie ich es immer tat, wenn wir uns zufällig trafen.
»Wird’s bald, Anouk?«, motzte Amy ungeduldig und verdrehte die Augen. Robin und ich tauschten irritierte Blicke.
»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, regte Robin sich auf.
Amy kam nicht dazu, Robins Frage zu beantworten. Ein Knall ließ uns zusammenzucken. Natasha Muller hatte mit ihrer flachen Hand auf die geschlossene Tür neben Femkes Spind geschlagen und funkelte sie zornig an. Tasha war ausgesprochen hübsch, doch als Spielerin des Basketballteams der Mädchen besaß sie eine Körpergröße, mit der sie nicht nur die meisten Jungs überragte, sondern auch ein wenig angsteinflößend wirkte.
»Du Schlampe!«, fuhr sie Femke an und drängte sie mit ihrem Körper an die Schränke. Femke reagierte nicht, ließ Tashas Wutanfall über sich ergehen, als würde sie ihn nicht bemerken.
Ich konnte nicht anders, ich musste hinsehen. Wie bei einem Autounfall, nur viel persönlicher.
»Du hast mit meinem Freund geschlafen!« Tasha wurde lauter, Femkes Schweigen machte sie noch wütender. »Sag was, du Miststück!«, forderte sie und gab Femke einen Stoß gegen die Schulter.
Soso, Femke war also mit Tashas Freund im Bett gewesen. Das wunderte mich nicht.
Femke schien durch den Schubser wie aus ihrem Dornröschenschlaf der Gleichgültigkeit erwacht. »Lass mich in Ruhe.« Sie blickte zu Tasha auf, die entrüstet nach Luft schnappte. Femke zeigte keine Angst, eine unerklärliche Arroganz ging von ihr aus, die bis zu mir hinüberschwappte und mich ebenfalls erzürnte.
»Dann gibst du es zu?«, beharrte Tasha weiter, und wieder gab sie Femke einen Hieb gegen die Schulter.
Femke wandte sich ab, klemmte sich ein paar Bücher unter ihren Arm und knallte den Spind zu. »Du scheinst es doch schon längst zu wissen. Was willst du noch von mir?« Ihr Blick streifte meinen und ich sah ein Schmunzeln, das über ihre Lippen huschte. Sie zeigte es nicht offen, nur mir, wie sehr sie sich über Tashas Anschuldigungen amüsierte. Da war keine Reue, kein schlechtes Gewissen, nur Erheiterung. Tashas zorniger Auftritt war bloß dazu da, um sie zu unterhalten.
Ich sah zuerst weg. Bei ihrem Anblick wurde mir schlecht. Für sie war das ein Spiel, die Gefühle anderer interessierten sie einen Scheißdreck.
»Ich will, dass du es zugibst. Hast du mit meinem Freund geschlafen?« Anfänglich schien Tasha verwirrt von Femkes Mangel an Reue, doch das hatte sich gelegt. Nun wollte sie Femke bloßstellen, und ich konnte es verstehen. Sonst nervten mich diese klischeebehafteten Schuldramen mit ihren komplizierten Sozialgeflechten, aber in diesem Fall war ich ausnahmsweise sensationslustig.
Femke stemmte sich ihre freie Hand in die Hüfte und sah Tasha herausfordernd an. »Woher soll ich wissen, wer dein Freund ist?«, fragte sie herablassend.
Ich hörte Robin neben mir nach Luft schnappen, aber ich konnte mich nicht zu ihr umsehen, konnte meinen Blick nicht von Femkes unverschämtem Schauspiel nehmen.
Tasha glotzte sie fassungslos an. »Willst du mich verarschen?« Ihre Stimme hatte einen Tonfall angenommen, der meinen Puls vor Spannung in die Höhe trieb.
Anscheinend bemerkte auch Femke die Veränderung. Während die Stimmung eben angespannt gewesen war, knisterte nun die Luft gefährlich. Vorbeigehende Schüler blieben stehen und beobachteten neugierig, was als Nächstes geschah – genau wie ich.
»Lass mich in Ruhe«, sagte Femke genervt, doch als sie an Tasha vorbeiwollte, stieß diese sie erneut an der Schulter zurück, sodass Femke gegen die Spinde knallte.
»Sag es!«, forderte Tasha mit drohender Stimme.
Femke richtete sich auf und sortierte die Bücher unter ihrem Arm neu, während sie überheblich die Augen verdrehte.
»Von mir aus«, begann sie gelassen, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, mit der sie Tasha gerade bis zur Schulter reichte, und stöhnte theatralisch. »Ja, dein feiner Freund David hatte Sex mit mir. Zufrieden? Und jetzt lass mich vorbei!« Abermals versuchte Femke zu gehen, und wieder donnerte Tasha sie gegen die Schränke, diesmal noch grober. Immer mehr Schüler versammelten sich und ich hoffte, niemand würde eingreifen und für Femke Partei ergreifen. Was sich gerade vor unseren Augen abspielte, war längst überfällig.
»Du verdammte Hure!«, stieß Tasha aus und es war offensichtlich, dass sie mit sich rang. Sie wollte Femke schlagen, sie ihre Wut und ihre verletzten Gefühle physisch spüren lassen, aber noch beherrschte sie sich.
Nichts davon schüchterte Femke ein. Sie stellte sich dem großen Mädchen entgegen, die Nase erhoben, eine offensichtliche Provokation.
In Femkes Gesicht stand Verachtung. »Du kannst mich nennen, wie du willst, das ändert rein gar nichts. Statt mich mit deinem Beziehungsdrama zu belästigen, solltest du darüber nachdenken, warum du mich eine Hure nennst, und nicht deinen Freund. Du denkst, du bist das Opfer, weil er dich mit mir beschissen hat? Dann fang gefälligst bei ihm an.«
Tasha trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Du bist so billig! Du hast David in einem Moment der Schwäche ausgenutzt, das weiß ich. Er hat mir alles erzählt, weil er es nämlich bereut, auf dich hereingefallen zu sein.«
Femke lachte auf. »Wenn dein Freund es nötig hat, sich von einer Schlampe wie mir verführen zu lassen, obwohl er dich hat, ist das nicht meine verdammte Schuld. Anscheinend bringst du es einfach nicht.«
Ohne Vorwarnung knallte Tasha ihre flache Hand Femke ins Gesicht. Deren Kopf flog zur Seite, einige der Schüler quietschten überrascht auf und ich hielt die Luft an.
Femke strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht, zeigte jedoch keinerlei Emotionen. »Geht es dir jetzt besser?«, fragte sie sarkastisch. »Dann hör mir gut zu: Du kannst mich schlagen, mich Schlampe und Hure nennen, das ist mir egal. Aber ich lasse mich von dir nicht zur Schuldigen machen. Hast du das verstanden? Und jetzt geh mir aus dem Weg!« Nun war Femke es, die Tasha einen groben Schubs gab, dann bahnte sie sich ihren Weg durch die Mitschüler und marschierte davon. Ich sah ihr sprachlos hinterher und war mir nicht sicher, was ich gerade beobachtet hatte.
Das war Femke. Das war in den letzten Jahren aus ihr geworden, und ich fühlte mich ihr so wenig verbunden, dass ich kaum glauben konnte, wie nahe wir uns einst gestanden hatten.
Früher war Femke ein Leuchten, sie war Glitzer, Gold und Pink. Sie war die Welt für mich, und sie hat nur für mich gestrahlt. Jetzt glitzert sie für jeden. Sie ist gleichgültig und egoistisch. Ein verzweifelter Auftritt und ein Schlabber-Outfit ändern daran nichts. Was ihre Verzweiflung auch hervorgerufen haben mag, vermutlich hat sie es sich selbst zuzuschreiben.
Aber solche Dinge spricht niemand laut aus. Jeder denkt es, keiner sagt es.
Das hier aber, das habe ich nicht gewollt, und das hat sie auch nicht verdient.
Scheiße!
»Femke!«, schreie ich. Ich springe nach vorn, um sie zu halten, am Sweatshirt, irgendwo, aber ich bin zu langsam, meine Arme zu kurz, meine Reaktionszeit durch den Schreck verzögert. Sie ist längst weg, nach hinten gestürzt, es ist nur mein Verstand, der das in den unendlichen Momenten der Starre nicht begriffen hat.
Jetzt begreift er.
Ich schreie, brülle ihren Namen und erreiche die Stelle, an der das Geländer weggebrochen ist. Ich sehe ihren Fall, sehe Femkes erschrockenen Blick, die aufgerissenen Augen, weil ihr bewusst wird, dass sie nicht bloß fliegt.
Als sie mit dem Rücken auf dem weichen Waldboden aufschlägt, sehe ich ihr Gesicht nicht mehr. Ich höre ihr Ächzen, schon rollt sie weiter. Der Abhang ist steil, Bäume verlangsamen ihren Fall. Immer wieder schlägt sie irgendwo an, mit dem Kopf, dem Rücken, den Beinen. Ihre Arme wedeln hilflos umher, sie versuchen, Halt zu finden, sich festzuhalten, doch es geht zu schnell, ist zu steil, zu überraschend. Der Sturm trägt ein Platschen zu mir hinauf, und bevor mein Verstand begreift, was das bedeutet, registriere ich, dass ich Femke nicht mehr sehe. Sie ist verschwunden, verschluckt von dem reißenden Fluss.
Scheiße.
Ich blicke mich Hilfe suchend um, aber es ist niemand in der Nähe. Niemand, der uns gesehen oder gehört hat. Panik überkommt mich. Was soll ich tun? Ohne nachzudenken, steige ich zu Femke in den Abgrund.
Meine Füße rutschen über den steilen Erdboden, während ich ihrer Fallspur folge. Ich schlittere mehr als dass ich laufe, und wiederholt muss ich mich an einem der Bäume festhalten, damit ich nicht stürze. Es ist schwierig, die Kontrolle über das Tempo zu behalten, und ich zwinge mich zur Vorsicht. Mein rasendes Herz treibt mich weiter, eine Stimme in meinem Kopf, unterschwellig, aber unnachgiebig, brüllt mich an, ich solle mich beeilen, bevor Femke von der Strömung mitgerissen wird. Vielleicht ist es ihr gelungen, sich irgendwo festzuhalten und sie ist noch da, wenn ich das Flussufer erreiche.
Einer meiner Füße verfängt sich und ich falle mit dem Kopf voran den Abhang hinunter, schreie erschrocken und lande auf meinem Bauch. Luft wird aus meiner Lunge gepresst, aber ich habe schnell die Kontrolle über meinen Körper zurück. Hastig rapple ich mich auf, mir ist schwindelig, aber Schmerz spüre ich keinen. Er hätte mich ohnehin nicht aufgehalten.
Ich nehme die Verfolgung wieder auf, vorbei an Bäumen und Sträuchern. Es ist nicht mehr weit, zum Glück, denn die Sonne ist bald verschwunden, die Finsternis wird mich umschließen, wie es die Angst bereits tut.
Endlich erreiche ich das Wasser. Ich muss abbremsen, um nicht hineinzustürzen. Am Horizont, da wo der breite Fluss den Himmel berührt, leuchtet ein warmes orangenes Licht, als stünde die Welt in Flammen. Ich japse nach Luft, bin es nicht gewohnt, derart schnell zu laufen, und sehe mich hektisch um.
Mit aller Kraft rufe ich Femkes Namen, genau einmal, aber sie ist nicht da.
Mit einem Mal bin ich ganz ruhig, als mir etwas klar wird.
Femke ist tot, von Bäumen erschlagen, vom Fluss mitgerissen und ertränkt. Doch das ist bloß die halbe Wahrheit.
Die ganze Wahrheit ist viel entsetzlicher.
Femke ist tot, und ich habe sie in den Abgrund gestoßen.