Über das Buch

Ein Gesellschaftsroman, der das Panorama einer Stadt im zwanzigsten Jahrhundert zeichnet, ein Entwicklungsroman und ein Stück deutsche Zeitgeschichte.

»Man musste etwas mitbringen, um hier leben zu können, es hier auszuhalten, hier zu sterben, ohne vorher verrückt geworden zu sein.«.

Eine Industriestadt am Fuß eines Gebirges voller Erze, Mitte der siebziger Jahre: Die kleine Ulrike zieht nach der Trennung ihrer Eltern zu ihrem Vater nach Kaßbergen, einem Stadtviertel über den Schloten der Stadt, wo die Luft besser ist und die Menschen einander hinter verschlossenen Türen Geschichten von einer glorreichen Vergangenheit erzählen. Ulrike beginnt schon bald, aus der Enge auszubrechen und trifft Gonzo, einen Punk, der sie in die Welt der Künstler und Schriftsteller, der Unangepassten einführt. Als er von der Stasi verhaftet wird, ist Ulrike auf sich allein gestellt …

Ein Gesellschaftsroman, der das Panorama einer Stadt im zwanzigsten Jahrhundert zeichnet, ein Entwicklungsroman und ein Stück deutsche Zeitgeschichte.

Über Patricia Holland

Patricia Holland Moritz wurde in Karl-Marx-Stadt – dem heutigen Chemnitz – geboren. Sie arbeitete in Leipzig als Buchhändlerin, verließ dann die DDR und heuerte in Paris als Speditionskauffrau an. Sie studierte später in Berlin Nordamerikanistik und wurde Bookerin für verschiedene Bands und arbeitet heute für ein großes Berliner Verlagshaus.

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Patricia Holland Moritz

Kaßbergen

Roman

Inhaltsübersicht

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Der Berg

Der Siedler

Der Großvater, 1

Der Kriegsheimkehrer

Der Nachtwächter

Die Höhle

Der Großvater, 2

Der Bürgermeister, 1

Die Großmutter

Familie Kupferberg

Helmut

Der Bürgermeister, 2

Rudolf

Stefan

Der Turm

Der Sammler

Der Bau

Der Geselle

Der Panzer

Danksagung

Verwendete Zitate

Impressum

Im Roman werden wahre, zeitgeschichtlich relevante Ereignisse erwähnt, sowie auch Orte und Personen der Zeitgeschichte. Die Handlung und handelnde Personen des Romans hingegen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig und von der Autorin unbeabsichtigt.

Meiner Heimatstadt Chemnitz gewidmet,
damals Karl-Marx-Stadt, und ihren Menschen.

Man hat schon wirklich kräftig daneben gegriffen auf der Sitzbrille des Lebens, ganz schön in die Röhre hat man, das kann man wohl sagen.

Werner Bräunig, Rummelplatz

Durch Kaßbergen liefen allerlei wunderliche Leute.

Wunderliche Leute waren alte Menschen. Vor allem bei Frauen war zu sehen, wie wunderlich sie waren, und alle fragten sich, und doch war es allen egal, warum sie so waren. Die wunderlichen Frauen von Kaßbergen waren das Pieps-Rosl, die Rückwärts-Elli und die Schwungrad-Lene.

Pieps-Rosl hieß so, weil sie einen Pieps hatte.

Rückwärts-Elli hieß so, weil sie immer rückwärts lief. Meistens, ohne sich umzuschauen. Was natürlich an Straßenkreuzungen eine große Gefahr war.

Schwungrad-Lene hatte einen ausufernden Schritt. Trotz ihrer kurzen Beine und ihrer Gebrechlichkeit glitt sie mit rudernden Armbewegungen übers Pflaster wie ein Dampfer auf dem Mississippi.

Vielleicht trugen all die wunderlichen Alten von Kaßbergen etwas in sich seit jener Nacht, in der ihre Stadt in Schutt und Asche gelegt worden war. Vielleicht waren sie einfach so wunderlich, weil sie anderes erlebt hatten als wir. Etwas, wovon wir Nachgeborenen nichts ahnten. Oder sie waren nur in unseren Augen wunderlich, weil sie alt waren. Es wurde nicht gefragt, man ließ sie einfach laufen, die wunderlichen Alten. Weißes Haar zu haben schien zu bedeuten, dass man seltsam wurde. Dass man Abschied nahm von dieser Welt, um in seiner eigenen zu leben.

Die Alten waren in eine maschinenbetriebene Stadt hineingeboren worden, als das Land noch ein anderes war. Ihre Kinder waren in Kellern zur Welt gekommen, während draußen Bomben fielen. Und wir, die bisher Letzten, nannten eine zusammengezimmerte Stadt »Heimat«, von der jeder Auswärtige sagte, er sei schon mal durchgefahren und sie habe eine schöne Umgebung.

Der Häuptling Emil Uhlig war mein Opa. Er ging den ganzen Tag spazieren, anders als die alten Menschen von Kaßbergen. Die gingen kaum aus ihrem Viertel heraus, aber der Häuptling schaffte es schon mal bis nach Gablenz, mit der Straßenbahn aus Holz, die die Kaßbergauffahrt hinauf- und hinunterquietschte und von und nach dort längs über die Weststraße, die den Berg durchschnitt. Die Straßenbahn war des Häuptlings Verbindung zur Welt, was bei uns »in die Stadt gehen« hieß.

Kam er nach Hause, dann war er zu hören, bevor man ihn sah. Sein Schlüsselbund flog auf die Flurkommode, rutschte von da auf den Boden, wo es liegen blieb, bis der Häuptling es aufhob, um wieder rauszugehen.

Meine Großmutter hieß Elli, war aber nicht die Rückwärts-Elli, sondern »der Minister«.

Meine Mutter Rosemarie hingegen hieß nur »deine Mutter«.

Einmal sagte der Minister: »Frag mal deine Mutter, ob sie Huckleberry Finn kennt.«

Mir den Namen bis nach Hause zu merken fiel mir schwer. Den Sinn der Frage meiner Oma zu verstehen versuchte ich gar nicht erst. Was die Großen sagten, hatte ich nicht zu kommentieren. Und das durchwachsene Lächeln meiner Mutter danach sprach Bände, in denen ich nicht lesen wollte.

Der Minister sagte noch andere komische Sachen.

»Rauche nie im Bett, denn die Asche, die herunterfällt, könnte deine eigene sein« und »Im Leben einer Frau gibt es immer zwei Männer. Den, den sie geheiratet hat, und den, den sie nicht geheiratet hat.«

Im Leben einer jeden Familie schien es auch zwei Wahrheiten zu geben: die, die man sich erzählte, und die, die man sich nicht erzählte. Irgendetwas verbargen sie alle. Meine Familie war eine einzige Verschwörung, in die ich nicht eingeweiht war.

Der Balkon der kleinen Altbauwohnung meiner Großeltern zeigte zu einem Hinterhof mit einer Wiese und Klopfstangen. Hier saß der Minister an Sommerabenden an einem kleinen Holztisch auf einem kleinen Holzklappstuhl, umgeben von Blumentöpfen mit Aloe Vera und Alpenveilchen. Bei einer Tasse Bohnenkaffee redete sie mit mir und mit dem Wellensittich Moritz.

Ich saß bei einer Tasse Muckefuck und fütterte Moritz mit Hansa-Keksen. Der Vogel war gelb, und da ich sehen wollte, ob er grün wurde, füllte ich eines Abends blaugefärbtes Trinkwasser in das Röhrchen zwischen zwei Käfigstangen.

Der Minister schaute mir interessiert dabei zu.

»Vom Experimentieren wird man schlau. Frag mal deine Mutter, ob sie einen Humboldt kennt.«

Dieses Mal traute ich mich.

»Immer, wenn ich ihr so einen komischen Gruß von dir mitgebe, guckt Mutti nur, sagt ›Ja‹ und erzählt dann trotzdem nichts.«

Der Minister strich mir über den Kopf.

»Humboldt hat hier im Bergbau Karriere gemacht. Viele hier haben im Berg gearbeitet, er aber hat ihn studiert.«

Sie schaute hinüber zu Moritz, der sich die Flügel putzte. Der Vogel gab ein langgezogenes Moooo-ritz von sich.

»Dieser Humboldt hatte einen Papagei namens Jacob. Nicht viel größer als der hier. Nur konnte Humboldts Vogel richtig reden.«

Nichts Besonderes, dachte ich.

»Da hast du recht, das ist nichts Besonderes«, sagte der Minister. »Erst recht nicht, weil das Federvieh ja nur einen einzigen Satz sagen konnte.«

Dann forderte sie mich auf, den Buben zu holen.

Ich ging in die Küche. Vorsichtig goss ich aus der Kanne den letzten Rest, der noch durch den Filter gesickert war. Mit geschlossenen Augen genoss meine Großmutter den kalten Schluck.

»Dreißig Jahre lebten sie zusammen in einer Wohnung. Jeden Morgen fragte Humboldt den Papagei, wer von beiden wohl zuerst sterben würde.«

»Und dann?«

Ich schaute zu Moritz, der blaues Wasser trank und gelb blieb.

»Dann soll Jacob stets geantwortet haben: ›Viel Zucker, viel Kaffee, Herr Seifert.‹«

»Und wer ist Herr Seifert?«

»Herr Seifert war Humboldts Diener, der ihm jeden Morgen den Kaffee brachte. Jacob überlebte sein Herrchen übrigens um ein Jahr.«

Bei meiner Großmutter lernte ich, dass lustig nicht gleich lustig war. Sie lachte oft, war aber selten lustig. Sie zog eine feine, kaum spürbare Grenze zwischen den Dingen, die sie zum Lachen fand, die aber nicht lustig waren, und jenen Witzen, bei denen sich die Zuhörer auf die Schenkel klopften. Meine Großmutter lebte auf, wenn sie mir lustige Geschichten erzählte. Den weniger lustigen Rest gab sie mir als Frage an meine Mutter mit auf den Weg.

Im Leben meiner Großeltern passierte nicht mehr viel. Sie waren beide in Rente. Schon das Wort klang nach einem trockenen Brotrand, auf dem alte Menschen tagein, tagaus herumkauten.

Hatten meine Großeltern mal Besuch, dann war sogar der Wellensittich aufgeregt und verkündete unablässig und lautstark seinen Namen.

»Den Vogel habe ich auf einem Markt ergattert«, sagte mein Großvater dann. »Als ich an Rommels Seite in Algerien kämpfte. Mir war sofort klar, dass ich zum Preis eines Wellensittichs in Wahrheit einen Papageien erhandelt hatte.«

Der Besuch blickte zuerst lächelnd auf den Häuptling, dann mitleidig auf den Minister und schließlich betreten auf den Kuchenteller.

Mein Großvater war unter Adolf parteitreu gewesen. Mit diesen Worten umriss der Minister die Vergangenheit meines Großvaters. Vergangenheit hieß bei den alten Leuten in Kaßbergen Krieg. Tatsächlich kannte der Häuptling Algerien und den Rest der Welt nur von der Landkarte und aus den vergilbten Kolonialzeitungen, die er mit größerem Interesse als die Freie Presse las. Er hatte die kleine Polizeistube in Kleinolbersdorf erst mit der Heirat verlassen. Die Kleinolbersdorfer Kriminalitätsrate hielt sich, wie auch die Popularität dieser sächsischen Gemeinde, in Grenzen. Zudem war er bei jeder Beförderung übersehen worden; ein Schicksal, das er mit dem Landstrich im Osten der Stadt teilte.

Das betretene Schweigen überspielend, schlug der Häuptling dem Minister auf die Schulter, und meiner Oma fiel die Kuchengabel aus der Hand, die klirrend auf dem bohnerwachspolierten Boden landete.

»Aber schöne Blämbe haben wir heute wieder. Doppelschwerterkaffee. Da scheinen nicht nur die Schwerter von der Unterseite der Tasse durch, sondern auch die von der Untertasse!«

Wie fast jeden Tag brachte mich meine Mutter vom Kindergarten zu meinen Großeltern. Oben in der Weststraße gab sie mir einen Kuss und drückte mir den Blumenstrauß in die Hand, den sie die ganze Zeit schon in der Armbeuge getragen hatte.

»Die gibste dem Minister. Und hochgehen kannste alleine.«

Sie ging auf die andere Straßenseite, dort blieb sie einen Moment stehen und winkte mir zu. Ich schaute zur Wohnung meiner Großeltern. Schon an der Haustür drückte ich auf den Klingelknopf, damit die Wohnungstür auch wirklich offen stand und ich keine kostbare Minute verlor.

Es war der Häuptling, der mich in der Tür erwartete. Der Fußboden um ihn herum glänzte wie frisch geputzt. In der Luft lag der Duft von Bohnerwachs. Auf dem Boden sein hingepfefferter Schlüsselbund.

Mein Großvater nahm mich hoch, wirbelte mich durch die Luft, ich landete auf seinen Füßen, die sich sofort in Bewegung setzten. Wir tanzten Walzer oder das, was der Häuptling dafür hielt.

»Komm, wir tanzen – wie die Wanzen – dadadiediiih – dadadaaah. …«

Der Minister stand über einen Putzeimer gebückt in einer Ecke der Stube, die rechte Hand in die Hüfte gestemmt.

Ich drückte ihr im Vorbeifliegen den Blumenstrauß in die Hand.

»Von Mutti.«

Der Minister wickelte die Blumen aus und schüttelte den Kopf.

»Wie sie da wohl wieder dazu gekommen ist. Sag schön Danke von mir.«

Der Häuptling vollführte wilde Drehungen. In immer kürzer werdenden Abständen konnte ich das Gesicht meiner Großmutter sehen. Wie bei einer Fahrt auf dem Kettenkarussell rückte alles für Sekunden in meinen Blickwinkel – der braune Bücherschrank, die goldgeprägten Buchrücken, das Bild vom Mann mit dem Goldhelm, ein Stück Himmel hinter der offenen Balkontür, der Minister in blauer Kittelschürze und mit weißen Astern in der Hand, die dunkle Holztür zum Flur. Mein Blick erhaschte das Lächeln des Ministers, nahm eine Mischung wahr aus Freude darüber, mich zu sehen, und der Anstrengung, auf arthritischen Beinen zu stehen.

Wir lebten in der Stadt des Eiskunstlaufs, der Olympiasieger und Weltmeister. Der Häuptling warf mich in die Höhe und schrie: »Die Eiskunstlaufhoffnungen der Republik!«

»Anett Pötzsch und Jan Hoffmann!«, schrie ich genauso laut.

Ich stieß mit den Füßen an den Putzeimer. Es folgte ein Scheppern, schmutziges Wasser lief über den Boden. In diesem See stand der Minister in Kamelhaarlatschen.

»Komm, wir tanzen wie die Wanzen …«

Der Häuptling setzte mich ab, sein Gesang brach ab, während ich auf Socken noch ein paar Pirouetten drehte. Er kam zurück, zog seinen Mantel über, holte wie ein Zauberer mit einem Augenzwinkern ein Päckchen Bohnenkaffee aus der Manteltasche, legte es vor meinen Augen unter ein Sofakissen. Dann hob er sein Schlüsselbund auf und ließ die Wohnungstür mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss fallen.

»Muss Opa wieder zur Polizei?«

»Da muss er schon lange nicht mehr hin.«

Meine Großmutter sah älter aus als der Zeisigwald, hätte mein Vater Dieter jetzt gesagt.

»Der hat doch nur noch damit zu tun, seinen Kaffee zu verstecken, weil er denkt, dass ich ihn beklaue.« Sie ließ sich in einen Sessel fallen und redete weiter, aber nicht mehr mit mir, sondern mit sich selbst. »Aber das Geld für die Zeisigwaldschänke nimmt er aus meinem Heft mit den Konsummarken.«

Ich griff wortlos zum Lappen, um das Wasser aufzuwischen.

»Ach lass nur«, sagte meine Großmutter willenlos.

Ich wrang den Scheuerhader aus, hängte ihn auf die Wäscheleine auf dem Balkon und trug den Eimer in die Küche.

Als ich zurück in die Stube kam, saß meine Großmutter noch immer bewegungslos im Sessel.

»Mama ist bestimmt zu Hause«, flüsterte ich.

Ich griff nach meiner Brottasche. Wollte nur noch weg. Der Minister sah so erschöpft aus, dass ich glaubte, ich sei schuld.

Leise machte ich die Wohnungstür zu und rannte los.

Der Berg

Die Stadt lag am Nordhang des Gebirges in einem Talkessel, darin ein Fluss von Süd nach Nord, der an Seitenläufen mitnahm, was er kriegen konnte. Höhenrücken zwischen den Wasserläufen trennten die Täler voneinander, und auf einem dieser Rücken lag Kaßbergen. Pfade entlang des Wasserlaufs waren zu Wegen getrampelt, führten versprengt in die Vorhöhen des Gebirges. Alles mündete schließlich in eine Straße, die über den Scheitel von Kaßbergen hinauf zum Gebirgskamm und hinunter ins Böhmische verlief.

Eine Siebenhügelstadt wie Rom, am Fuße eines Höhenzugs mit Erzen und dem Kaßberg als höchstem Gipfel. Vierspännige und sechsspännige Pferdekutschen schotterten hinauf zu den schwarzen Gruben, bevor die Eisenbahn auch hier ihre Anbindung fand.

Abtragungsschutt aus Millionen Jahren trug undurchdringlich Rotliegendes. In den Ritzen luftiger Löß, flatterhaft und schwer zu fassen, wie er sich am tonigen Sandstein rieb, durch den nichts drang. Nicht zu vergessen die versteinerten Hölzer, den Schiefertonen ähnlich. Oben ein Kloster, denn auch hier hatte die Welt mit dem Glauben der Mönche begonnen. Sie glaubten an bessere Zeiten und daran, mit hochgärigem Bier und Bleichprivileg sei für alle gesorgt. Vorerst fielen die Blicke auf unfruchtbares Land mit störrischem Gras und unverwüstlichen Sträuchern und Bäumen. Lediglich der Wind hielt hier oben inne. Und auch das nur, wenn ihm der Atem ausging, was selten geschah.

Der Fluss befeuchtete den Hang im Osten. In steinige Wände waren Tunnel getrieben. Kleine mannshohe Gänge mündeten in Höhlen, in denen Mönche das Bier in Fässern lagerten für alle Fälle und alle Feste.

Der Abt las sich die Augen feucht, schrieb sich die Finger wund, dem Gipfel einen Namen zu geben. Schreiende Katzen hatten ihren Anteil am früheren Katzberg. Ebenso die unwirtliche Gegend, auf deren Rotliegendem nur Kafs gedieh, die nutzlose Spreu ohne Weizen.

Zuletzt versuchte sich ein Bürgermeister in der Namensforschung. Er brachte Jungfrauen ins Spiel, die als Cascas den Berg bewohnten und mit denen er wohl die Nonnen meinte.

Jahrhunderte später machte ein Stadtschreiber die prüde Erklärung zunichte. Vielmehr sei es das ledige Volk gewesen, das sich dort verlustiert hätte. Kaßbergen – ein Ort der Entjungferungen.

Von allen Namensgebern waren dem Berg nur die Katzen geblieben. Ein besiedelter Hügel, auf dem Jungfrauen dünn gesät und auf dessen unfruchtbarem Boden erst Villen, dann Mietskasernen mit Vorgärten und Hinterhöfen gewachsen waren.

Man musste etwas mitbringen, um hier leben zu können, es hier auszuhalten, ohne verrückt zu werden. Es brauchte ein eigenes, ein ganz besonderes Gen.

In Kaßbergen war man sich irgendwie einig.

Wenn sich der Abend auf Kaßbergen legte, dann wie ein Tuch, das den Berg umschloss und seine Bewohner zur Ruhe bettete. Hier und da sang einer oder diskutierte noch was zu Ende und leerte dabei sein Bierglas. Aber auch das schon ohne die Energie des Tages, der hinter ihm lag.

Die Bewohner eilten in ihre Häuser, die gebohnerten Stufen hinauf in ihre Wohnungen. Alte hielten sich beim Aufstieg an den gedrechselten Geländersprossen fest, während Junge an ihnen vorbeihasteten. Manch einer von den Jungen hielt dann doch inne, kehrte um, nahm einem Alten den Einkaufsbeutel aus der Hand, stellte ihn vor die Tür, achtete noch darauf, dass er nicht umfiel und keine Äpfel die Treppe hinunterrollen und platzen konnten und all die Mühe umsonst gewesen wäre.

Die Fenster am Treppenabsatz zeigten in Hinterhöfe und aus schwindelerregender Höhe auf Garagen und Gärten. Niedrige Fensterbretter und dann der Himmel so nah. Das brachte manch einen fast um den Verstand, weil alles plötzlich so einfach schien. Ein kleiner Schritt. Ein Stolpern. Und es wäre vorbei.

In den Höfen Geschrei von Katzen und in den Sommermonaten durch geöffnete Fenster das Stöhnen von Paaren, das den einen wütend machte und den anderen verlegen und viele an das eigene Leben und daran erinnerte, was ihnen fehlte.

Der letzte Stock unter dem Dachboden glich einem Tanzboden. Gewienertes Holz. Nach links und nach rechts führten je eine Tür in je eine der großen Wohnungen mit je zwei Balkonen. Eine Holztreppe ging hinauf zu Verschlägen mit Lattentüren und Vorhängeschlössern. Durch Dachluken fiel Tageslicht auf ausrangierte Möbel, Kissen, Schaukelpferde und eingewecktes Obst. Im Sommer stand manche Luke offen, gestützt von einem verbogenen Stück Metall, das dem Wind, der in dieser Höhe spielte, nicht standhielt. Zerbrochenes Glas und der dumpfe Geruch getrockneter Nässe waren die Folge. Durch die Dachluken zwängte sich mancher, den ersten Maitag mit dem Blick über die Stadt zu verbringen und einem sauren Wein aus der Flasche. Während andere unten, weit vor dem Flussgraben am Osthang, am Nischl von Karl Marx entlangmarschierten.

Der Siedler

Johann Friedrich Stahlknecht war der erste Siedler Kaßbergens gewesen. Obwohl sein Name auf ein Geschlecht hitzegegerbter Gießer schließen ließ, war er der Kantor der Schlosskirche. Zwischen zwei Kantaten und fünf Gesängen und seiner Suche nach dem hohen C und dem A zwischen Dur und Moll machte sich Stahlknecht seine Gedanken. Unter anderem darüber, wohin er sollte mit seiner Familie, auf dass es denen, die schon geboren waren und jenen, die es noch zu zeugen galt, gut gehen würde in einer Zukunft, von der er noch einen guten Teil erleben wollte.

Sein sehnsuchtsvoller Blick wanderte hinauf auf den Hügel, nach Kaßbergen. Die Leute schüttelten den Kopf. Sie spotteten sogar. Ob es vielleicht in seinem Oberstübchen an dem nötigen Licht mangle. Dort hinauf, wo der Stahlknecht sein Haus setzen wollte, gab es nicht mal Laternen auf dem Weg, geschweige denn eine richtige Auffahrt. Die Treppen waren glatt im Winter. Und dann der ständige Luftzug, kein Wasseranschluss und keine Nachtwächter, die aufpassen würden auf sein einsames Leben auf dem Berg.

Aber der Stahlknecht war aus dem Stein dieser Gegend gehauen. Sein Vorhaben schien aussichtslos, also packte er es an.

Im Mai 1854 kaufte er auf dem Berg ein Feld, begann im Juni das Grundgraben und setzte im August des folgenden Jahres ein Dach auf das Haus, in das er im Oktober mit seiner Frau und den Kindern einzog. Nicht ohne zuvor noch ein Banner an der Brüstung mit dem Spruch des Humanisten von Hutten: »Ich hab’s gewagt!« zu hissen, das fortan von der Hohen Straße bis Furth, Rottluff, Bernsdorf und zum Sonnenberg zu sehen war.

Der Bann war gebrochen. Fabrikanten zog es zum Berg. Eisenbahnbauer und auch einen Erfinder. Unter Tagelöhnern und zünftigen Gesellen auf der Walz sprach sich herum, was hier mit Bauarbeit zu holen war. Millionenjahrealte Gesteinsschichten wurden angebohrt, gewässert, verkabelt und wieder verschlossen. Unten in der Stadt wuchsen die Schornsteine. Während sich die enggewundene Auffahrt nach Kaßbergen hinauf Fuhren mit stämmigen Pferden und schwerbeladenen Hängern mühten, blühten in den beiden großen Nachbarstädten ein Königssitz und ein Handelszentrum. Auf die Stadt um Kaßbergen herum fiel das Los der Arbeit, die nur mit körperlicher Kraft zu verrichten war. Und man munkelte schon, hier würde das Geld verdient, mit dem in der Messestadt gehandelt und das dann in der Königsstadt verprasst wurde.

Talentierte Gesellen aus allen Landstrichen und Gewerben kamen nach Kaßbergen. Zogen ein in geschachtelte Mietshäuser mit anmutigen Pforten, die im Schatten der Villen ihrer Meister und Herren lagen.

Noch lange erzählten sich die Menschen Geschichten von sagenhaft schönen Häusern. War im Zuhörer das Interesse so weit geweckt, einer Geschichte in einem dieser Häuser nachspüren zu wollen, dann hieß es meist, das existiere nicht mehr.

An einem Abend, der fortan nur »im März fünfundvierzig« hieß, heulten Sirenen wie an zahllosen zuvor. An diesem Abend verlor die Stadt ihr Gesicht. In nur einunddreißig Minuten. Eine halbe Stunde lang Sterben, ausgelöschte Menschenleben unter Trümmern, auf schwelendem Asphalt.

Am nächsten Tag sprachen die Zeitungen von der »Toten Stadt«.

Die beiden Nachbarstädte waren ebenso getroffen. Die Kunstwelt beklagte die eine. Die Handelswelt die andere. Nur für die Stadt der Schlote fand sich keine trauernde Welt.

Der Großvater, 1

Emil Uhlig sollte zeitlebens eine aristokratische Art an sich haben, dabei war das Gemeindegut nur ein kleiner Bauernhof mit einer Scheune und einem Hofplatz mit Wäschestangen. Hier wuchs er auf als Sohn eines Fabrikarbeiters. Nicht einmal der Walnussbaum auf dem Hof gehörte ihnen, aber sie durften die herabgefallenen Nüsse essen.

Emil war der Erstgeborene, und nach ihm kam jedes Jahr ein Kind zur Welt, als wollte sein Vater dem neuen Jahrhundert besonders viel von sich mitgeben. Zwei Mädchen und ein Junge starben bald nach der Geburt, und bei der Geburt des nächsten Jungen starben Mutter und Kind.

Der Vater war pragmatisch. In diesem Haus wurde nicht groß getrauert, sondern von einem Auto geträumt.

»Nun kann ich mir das Puppchen leisten.«

Die Wanderer-Werke unten in der Stadt hatten einen zierlichen Wagen gezimmert mit ganzen zwölf Pferdestärken, mit zwei Sitzen hintereinander und mit zwei Türen auf der linken Seite.

Emil war sechs Jahre alt, hatte seinen Vater für sich und konnte den ganzen Tag barfuß laufen. Keiner achtete auf das wilde Kind, das überall und zu jeder Jahreszeit ohne Schuhe auftauchte. Die Dorfleute tuschelten nur hin und wieder hinter vorgehaltener Hand. Das Kind eines Strumpfwirkers und dann nichts an den Füßen. Und sogleich sprach man vom Schreiner, in dessen eigenem Haus auch kein Schrank gerade stand. Und beschloss, dass in dieses Haus wieder eine Frau gehörte.

Den Arbeitsweg von neun Kilometern hin und neun wieder zurück ging der Vater jeden Tag zu Fuß. Von Montag bis Sonnabend arbeitete er seine zehn Stunden ab und war froh, als Emil endlich zur Schule kam. Schon bald hing das erste Klassenfoto gerahmt in der Küche auf dem grauen Putz.

Eines Abends kam Emil vom Spielen herein und sah, wie eine fremde Frau ihre Finger über das Foto gleiten ließ. Sein Vater war nirgends zu sehen. Das musste die Frau vom Kinderheim sein, die die bösen Kinder zu sich holte.

Die Frau hatte rote Haare zu einem Dutt gedreht. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid aus glänzendem Stoff, unter dessen Saum hochhackige Schuhe hervorschauten. Sie kam aus der Stadt. Und in der Stadt war das Kinderheim.

Sie war eine Fremde und lächelte Emil an, als wollte sie mit ihm befreundet sein.

»Welcher auf dem Bild bist du?«

Emil bekam vor Angst kein Wort heraus. Er hörte Schritte und drehte sich um.

Hinter ihm stand sein Vater, und auch er schaute freundlich. Dann waren sie sich also schon handelseinig geworden, dachte Emil und dass er nun mitmusste.

Die Augen des Vaters leuchteten. Und die der Frau ebenso.

»Das ist Frau Clara. Du kannst sie bestimmt auch einfach Clara nennen.«

Die Frau wollte nicht Emil. Die Frau wollte seinen Vater.

Emil war beruhigt.

»Ich bin der ganz oben neben dem Schuldirektor.«

Ganz vorn auf dem Foto die drei Racker der Schule, mit trotzigem Blick und verschränkten Armen auf dem Boden sitzend. Dahinter eine Reihe Mädchen. Dann wieder Jungs. Dann wieder Mädchen. Dann Emil und seine Kameraden. Neben ihm der wuchtige Schuldirektor mit Anzug, Weste und einem breitkrempigen Hut. Davor der beleibte Klassenlehrer, etwas weniger furchteinflößend mit einem verschmitzten Lächeln in seinem fussligen grauen Bart.

Clara blieb.

Und fortan trug Emil Schuhe und auch Strümpfe. Und sie kochte wunderbar mit Grieß, Maggi, Petersilie und getrockneten Pilzen.

Mein Vater hatte am Abend zuvor die Fernsehantenne auf dem Dach zurechtgebogen, so konnten der Minister und ich im Westfernsehen Die Onedin-Linie anschauen.

Aram Chatschaturians Musik erklang in der Stube, und toupierte Männerköpfe erschienen auf dem kleinen flackernden Bildschirm. Meine Oma blinzelte. Hin und wieder fielen ihr die Augen zu.

Die Serie handelte von James Onedin, der sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts seine eigene Schifffahrtslinie aufbaute. In England ratterten die Webstühle im Takt und produzierten Waren, deren Empfänger auf der anderen Seite des Ozeans warteten. Die Arbeiter an Bord und an Land waren arm, und an einer Stelle des Filmes machte sich der Smutje über den soeben verstorbenen Karl Marx lustig.

»Was ist denn anarschistisch, Oma, OMA?«, brüllte ich, denn der Minister war bereits bei Aram Chatschaturjans Titelmusik eingeschlafen.

Sie schreckte hoch.

»Was willste wissen?«

»Die sagen, die Bücher von Karl Marx sind anarschistisch.«

»Sind wir noch auf dem richtigen Sender?«

Der Minister rieb sich die Augen und setzte ihre Brille wieder auf, die ihr in den Schoß gefallen war.

Wir waren noch auf dem richtigen Sender, denn Segelschiffkapitän Onedin und Isabel Frazer, die meiner Kindergärtnerin Frau Richter ähnelte, schauten sich gerade tief in die Augen.

»Das Wort anarchistisch brauchste nicht.«

»Aber die haben es doch auch gesagt.«

»Im Fernsehen wird viel gesagt, brauchste alles nicht.«

So schnell gab ich nicht auf.

»Hat anarschistisch irgendwas mit …«, ich zeigte mit dem Finger auf meinen Hintern, auf dem ich saß, »dem Allerwertesten zu tun?«

»Gar nicht so dumm, siehste? Manches erklärt sich von ganz alleine. Anarchistisch ist, wenn dir das, was die da oben sagen, am Allerwertesten vorbeigeht.«

»Der Nischl ist also ein Anarschistenmonument.«

»Nein, der Nischl ist das Karl-Marx-Monument. Und der steht da, weil wir eine Arbeiterstadt sind wie Manchester.«

»Von wo die Manschesterhosen und die Manschestersoße kommen?«

»Das sind Kordhosen und Worcestersoße.«

»Aber wenn Karl Marx aus Manschester kommt, wieso heißen wir dann so?«

»Wir heißen nicht so, sondern die Stadt heißt so. Und er kommt nicht aus Manchester, sondern aus Trier.«

»Wo liegt denn Trier?«

»Im Westen.«

»Wir machen die Maidemonstration vor dem Denkmal von einem aus dem Westen?«

»Genau. Und gegenüber ist der Intershop. Drum guckt Karl Marx auch so grimmig. Dort passt er mit seinem großen Nischl nämlich nicht rein. Darfste aber nicht laut …«

»… auf der Straße sagen, ich weiß.«

Der Abspann mit Aram Chatschaturjans Musik setzte ein, und meine Großmutter und ich hatten die ganze Zeit über wieder Herricht und Preil gespielt, wobei ich Herricht war und meine Großmutter Preil, den die Fragen seines Gegenübers regelmäßig aus der Fassung brachten.

Irgendetwas ging vor in unserer Wohnung.

»Du kommst ja nächstes Jahr in die Schule«, begann meine Mutter das Gespräch.

Da ich diesen Satz in der letzten Zeit recht häufig hörte, rasselte ich auch jetzt die Worte herunter, die mir bei anderen Leuten entweder ein Fünfmarkstück, eine Tüte Süßigkeiten, eine Packung Buntstifte oder zumindest eine warme Hand auf meinem Kopf einbrachten.

»Ja. Und ich kann gleich mit der zweiten Klasse anfangen, weil ich schon das ABC und bis hundert zählen kann.«

Seit ein Arzt zu meiner Oma gesagt hatte, dass sie kein Rheuma hat, sondern sich zu wenig bewegt, ging sie immer die gleiche Runde mit mir spazieren. Sie führte uns an der Andréschule vorbei. Jedes Mal schaute ich zum Portal hinauf mit den in Stein gehauenen Mädchen mit Puppenwagen, Ball und Büchern, wenige Schritte weiter über dem Knabeneingang zu den Jungs mit Ritterburg und Schaukelpferd. Der Minister erzählte mir, sie und der Häuptling wären noch in getrennte Schulklassen gegangen. Vielleicht war das der Grund, warum ich meine Großelten so selten miteinander reden sah. Vielleicht hatten sie als Kinder zu selten miteinander gespielt.

Bei meinen Eltern sah das schon ganz anders aus, auch wenn sie in der letzten Zeit meistens stritten.

»Genau«, sagte meine Mutter. »Und weil du das alles schon kannst, brauchst du auch einen ordentlichen Arbeitsplatz. Mit einem eigenen Zimmer drumrum.«

Die Amsel im Hof, die Klopfstange zum Klettern und meinen Maulwurfhügel sollte ich aufgeben?

»Ziehen wir um?«

Ich wollte nicht aus Kaßbergen weg. Wollte nirgendwo sonst leben als in dieser Welt aus seltsamen alten Menschen, strengen Erzieherinnen, unwegsamen Gehwegplatten, einer quietschenden Straßenbahn und einer Schule mit gleich zwei prunkvollen Portalen.

»Von hier zieht keiner weg. Du sollst dein eigenes Zimmer bekommen. Das Schlafzimmer. Dein Vater richtet es am Wochenende vor.«

Im Schlafzimmer hatte mir bisher eine kleine Ecke gehört, in der meine Puppenmöbel auf dem Boden standen. Ich bekam vor Aufregung feuchte Hände. Nur der Höflichkeit halber erkundigte ich mich.

»Und wo schlafen Papa und du?«

Meine Mutter trug wieder eins ihrer schönen Kleider und zog gerade ihre Lippen nach.

»Wir sind sowieso nur noch abwechselnd hier. Also teilen wir uns die Couch im Wohnzimmer.«

Das stimmte. Mein Vater war oft zum Pfuschen und als junger, muskulöser Gießereifacharbeiter bei älteren Damen um die dreißig der Hit. In seiner engen Badehose strich und tapezierte er ihre Wohnzimmer und engen Vorsäle. Das alles abends nach der Schicht und für Geld, das er und meine Mutter für moderne Leitermöbel im Wohnzimmer oder – gegen Westgeld getauscht – für Fototapete aus dem Intershop ausgaben.

Meine Eltern taten sich komische Sachen an. Hatte meine Mutter mal etwas früher Büroschluss, traf sie sich zuerst mit ihren geschiedenen Freundinnen, statt mit meinem Vater spazierenzugehen oder mit ihm zu Hause vor dem Fernseher zu sitzen. Verließ mein Vater seinen Ofen mal etwas früher, dann fuhr er bis nach Gablenz und setzte sich zu seinen zahnlosen Baustellenfreunden ins Versorgungszentrum »Hans Beimler«, statt sich mit meiner Mutter eine Flasche Dessertwein zu gönnen, den sie so liebte und der sie so lustig machte.

Das Versorgungszentrum hatte eine Komplexannahmestelle, wohin mein Vater jedes Mal vor seinem Kneipenbesuch Dinge brachte, die er selbst nicht reparieren konnte: die Feinstrumpfhosen meiner Mutter, den Toaster oder auch mal meine Brottasche mit kaputtem Schloss. Das hatte den Vorteil, dass er beim Abholen dann auch wieder einen in der angeschlossenen Gaststätte heben konnte.

»Nur seine Ehe kann er da nicht zum Reparieren hinbringen«, hatte der Minister kürzlich geraunt, als sie mich mit meinem Turnbeutel und nicht mit meiner Brottasche aus dem Kindergarten kommen sah. »Und die Komplexe deiner Mutter wird er bei dieser Komplexannahmestelle auch nicht abgeben können.«

Es störte mich nicht, dass ich nichts von dem verstand, was meine Großmutter sagte. Ich mochte es, wie sie sich mit mir beschäftigte und mir immer neue Worte mit auf den Weg gab. So lernte ich, dass Menschen mit Komplexen Menschen waren, die sich für zu dick, für zu dünn, für zu hässlich oder für etwas Besseres hielten und nicht für das, was ihnen das Leben bot. Meine Mutter aber hatte alles, was sie wollte und ganz bestimmt keine Komplexe.

Manchmal nahm mich mein Vater mit in die Gaststätte im Beimlergebiet, in der er für sein erpfuschtes Geld eine Runde Schnapsbier nach der anderen zahnlosen Mäulern spendierte. Hans Beimler, dem Genossen und Kämpfer, hätte das Verhalten meines Vaters wahrscheinlich gut gefallen.

Und nun gaben meine Eltern das Schlafzimmer dafür her, damit ich eine gute Schülerin würde.

Mein Großvater wurde wunderlich, als ich noch in den Kindergarten ging.

Meine Mutter ging mit ihren geschiedenen Freundinnen gern einen heben, und wenn dann auch noch mein Vater nach der Arbeit schwarz arbeitete, was er Pfuschen nannte, bat meine Mutter den Häuptling, mich abzuholen. Sie hatte dann meistens einen komischen Ton in der Stimme. Mein Großvater aber freute sich und machte den ganzen Tag über alle verrückt. War es dann so weit, vergaß er die Zeit, von der er so viel hatte.

Der kleine Zeiger stand auf der 6, und der große Zeiger hatte die 12 schon weit hinter sich gelassen. Ich saß allein in der Spielecke vor einer Puppenstube mit echten Kabeln und Lichtschaltern und Gardinen und schaltete im Schlafzimmer schon mal das Licht aus. Die Babypuppe lag gewickelt im Gitterbett. Die Elternpuppen hatte ich nebenan zur Ruhe gelegt.

18 Uhr war für den Häuptling die Zeit, in Gablenz die Pferde vor der Pferdeschlächterei zu füttern. Mit Würfelzucker, den er immer in seiner Manteltasche hatte. Auf seinem täglichen Fußmarsch Richtung Gablenz, die Augustusburger Straße hinauf und hinunter, fütterte er die Pferde vor den Kutschen am Straßenrand. Neben Omnibussen und Straßenbahnen wirkten sie wie Exponate aus dem Schloss Augustusburg. Vor der Pferdeschlächterei Franklin Hofmann, gleich neben dem Schnapsladen von Georg Bliedung und einem Papiergeschäft, warteten die Pferde geduldig, während der Kutscher in der Gaststätte saß und Pferdebouletten verdrückte, von denen es hieß, sie seien allererste Kajüte.

Die Zuckerstückchen meines Großvaters waren das Letzte, was die Pferde am Straßenrand zu sehen und zu fressen bekamen, bevor sie nach hinten in den Hof geführt und eins nach dem anderen geschlachtet wurden. Der Häuptling trank seinen Kaffee schwarz und ohne Zucker, ließ sich aber immer in jeder Kneipe, in die er ging, viele dieser Würfel geben. Er wickelte sie aus und ließ sie in der Manteltasche verschwinden. Die weißen Würfel wurden braun von den Krümeln in der Manteltasche eines alten Mannes. Seit er nicht mehr zur Arbeit ins Polizeipräsidium musste, vernachlässigte er die Sorgfalt. Die Zuckerstücke meines Großvaters waren die Süße meiner Kindheit.

Manchmal tauchte er mittags im Kindergarten auf. Wenn wir gerade draußen spielten, kam er an den Zaun und reichte mir ein Stückchen durch die Zaunlatten. Es machte ihn glücklich, wenn er ein Pferd oder mich genüsslich daran lutschen sah.

An den Abenden, an denen mich der Häuptling aus dem Kindergarten abholen sollte, nahm mich die Kindergärtnerin mit zu sich nach Hause. Sie hieß Frau Richter und war sehr streng. Ihr blondes Haar war aufgetürmt, und aus dem Turm fiel links und rechts je eine gekringelte Strähne lockig über ihre Ohren. Der Dutt hielt den ganzen Tag und schwankte bei jeder ihrer energischen Bewegungen, als sei er aus Zuckerwatte. Frau Richter sah aus wie die schöne Jessica aus der Onedin-Linie.

Frau Richter trug den ganzen Tag über eine Kittelschürze, mit der sie sehr viel strenger aussah als ohne. Abends hängte sie die Schürze mit spitzen Fingern in den Spind, als hätte sie den ganzen Tag über nichts getan als geputzt und versucht, ihre Kleidung vor unserem Dreck zu schützen. Frau Richter achtete sehr auf Sauberkeit und darauf, dass wir unsere Schuhe selbstständig zu binden lernten. Ich mühte mich redlich und legte die Schnürsenkel nur in oberflächliche Schlaufen, wenn mir das Binden nicht gelang. Draußen im Hof fiel ich dann gleich auf die Nase, was Frau Richters bestimmenden Blick ohne Worte nach sich zog und mich einen neuen Versuch starten ließ, bis ich es endlich schaffte, mit festem Knoten und Schleife.

Draußen wurde es dunkel, um mich herum immer stiller, und ich bemerkte gar nicht, dass alle Kinder bereits abgeholt waren.

Frau Richter saß noch ein Weilchen am Schreibtisch in unserem Beschäftigungszimmer. Als sie auch dort nichts mehr zu tun hatte, schaute sie immer wieder auf die Uhr, dann aus dem Fenster, zog schließlich ihre Kittelschürze aus, stellte sich hinter mich und räusperte sich.

Ich horchte auf, schaute mich um und wusste, es war wieder so weit.

»Das ist ein sehr schönes Kleid, Frau Richter.«

»Danke.«

Noch einmal blickte sie aus dem Fenster und schaute mich dann ratlos an.

»Kommste halt erst mal wieder mit zu mir.«

Sie nahm meinen Anorak vom Haken. Ich zog ihn an, band meine Schuhe, hängte mir meine Brottasche um und winkte den Puppen.

Wortlos liefen wir nebeneinander zur Straßenbahn, und ich wünschte mir, dass sie meine Hand nehmen würde. Dann hätten wir wenigstens ausgesehen wie Mutter und Kind.

Im Wohnzimmer von Frau Richter gab es eine Schrankwand. Krüge und dazu passende Becher aus Kupfer waren über zwei Fächer verteilt, in allen Fächern standen Bücher. Hinter Glasscheiben das Geschirr, das nicht einstauben durfte. Sammeltassen, jede anders, und Reihen von geschliffenen Gläsern, viele mit Goldrand.

An der Wand hing der Mann mit dem Goldhelm. Von dem schien es viele Bilder zu geben. Zwischen den rustikalen Krügen und Bechern waren kleine Figuren aus Porzellan zu Grüppchen angeordnet, und an der Rückwand lehnten gerahmte Fotos. Auf manchen erkannte ich Frau Richter und einen Mann mit einer schönen Frisur. Auf manchen nur Frau Richter, auf manchen nur den Mann. So schön, wie sie war, war das bestimmt ihr Ehemann, dachte ich und wartete gespannt, was nun passieren würde.

Frau Richter klappte ein Fach der Schrankwand auf. Darin war alles verspiegelt, und eine Neonröhre sprang an. Sie nahm ein Kristallglas heraus und schenkte sich einen dunklen Likör ein.

»Meine Mutter trinkt so was auch immer«, sagte ich fröhlich, denn nun fühlte ich mich so richtig wie zu Hause.

Frau Richter schaute mich nur mitleidig an und dann auf ihre Armbanduhr: ein feingliedriges Band aus Gold, das ihr schmales Handgelenk umspielte.

»Ich rufe deine Mutter gleich mal an.«

»Die ist nicht da. Die geht heute mit den Mädels einen heben.«

»Dann rufe ich bei den Nachbarn von deinen Großeltern an.«

»Ja. Beim Schladoht. Der kann ja dem Minister sagen, dass der Häuptling nicht gekommen ist.«

Frau Richter schaute von einem Zettel auf, von dem sie gerade die Telefonnummer der Schladohts ablesen wollte.

»Schladoht heißen die? Die hießen doch letztes Mal noch Brückner. Und das ist auch die einzige Nummer, die ich als Notnummer von deiner Mutter bekommen habe.«

Ich überlegte kurz.

»Ich glaube, der heißt nur so, weil er seine Frau immer haut.«

Frau Richter drehte mit dem rotlackierten Nagel ihres Zeigefingers die Wählscheibe.

Beim letzten Mal hatte mich mein Vater bei Frau Richter abgeholt. Er war so schnell und noch in Malerklamotten hier gewesen, dass ich beim Betrachten ihres Wohnzimmers nur bis zur Hälfte gekommen war. Während ich nun auf den Minister wartete, nahm ich mir die andere Hälfte vor und begann bei den Büchern in der Schrankwand, die so wohlgeordnet und gleich ausgerichtet da standen wie bei uns zu Hause. Buchrücken aus Leinen, goldgeprägt und nach der Größe sortiert. Nie hätte ich es gewagt, ein Buch aus dieser Ordnung herauszulösen, unter Frau Richters strengem Blick schon gar nicht. Weder meine Eltern noch meine Großeltern, noch meine Erzieherin hatte ich je dabei beobachtet, dass sie Bücher herausnahmen und darin lasen. Bücher wurden geschrieben und gebunden, damit wir Menschen uns in unseren Wohnungen geborgen fühlten, umgeben vom Wissen der Welt und nur eine Armlänge davon entfernt.

Es klingelte an Frau Richters Tür. Ich hörte die Stimme meiner Großmutter und lief hin.

Ihre verkrümmten Finger umklammerten die Gehstöcke. An einem baumelte wie immer ein Faltbeutel. Darin wusste ich ihr dunkelbraunes Portemonnaie aus Rindsleder, das an den abgegriffenen Stellen glänzte, ihre leicht fettige Brille, der ein Bügel fehlte und die in einer mit Samt ausgeschlagenen Hülle lag, und einen bestickten Taschentuchbehälter mit einem frischen Stofftaschentuch darin. Das benutzte sie meist nur zum Tupfen. Aus der Nase meiner Großmutter tröpfelte es eigentlich immer. Sie hatte eine Nase jener Form, die man gemeinhin einen Zinken nannte. Wenn meine Großmutter nieste, dann zuckte alles Lebende im Umkreis von hundert Metern zusammen. Nieste sie in ihrer Stube und die Balkontür stand auf, hallte es vielstimmig im Hof ›Gesundheit!‹ und manchmal ›Schnauze!‹. Und auch dann tupfte meine Großmutter lediglich ein paar Tröpfchen von ihrem Zinken. Ihn zu putzen, wagte sie wohl nicht.

Auf dem Heimweg war der Minister schweigsam. Ihre Wut auf den Häuptling, der sich zu Hause bei Radiomusik wahrscheinlich gerade ein Spiegelei briet und sich fragte, wo der Minister blieb – diese Wut tief in ihr war greifbar in der kalten Luft dieses Abends.

Wir stiegen in die Straßenbahn. Ich starrte auf die Holzplanken. In der Kurve der Kaßbergauffahrt das vertraute ohrenbetäubende Quietschen. Vorne drehte der Fahrer wie ein Schiffskapitän an einem riesigen Steuerrad aus Holz. Noch zwei Haltestellen. Dann wären wir da, und ein Schweigen würde das nächste ablösen.

Um diese Zeit war die Straßenbahn fast leer. Nur Herr Tischendorf fuhr noch mit. Den kannte ich schon von den Fahrten mit meiner Mutter. Als er uns erblickte, schwenkte er wie immer freudig seinen Schweber. Dann brüllte er durch die Straßenbahn meinen Namen. Und fragte, ob denn meine Mutter »wieder frei« wäre.

»Aber Mutti war doch gar nicht im Gefängnis!«, raunte ich meiner Großmutter zu.

Der Minister thronte auf der Holzbank gegenüber.

»Das meint er auch nicht. Ob sie wieder zu haben ist, will er wissen.«

»Aber wie kommt er denn darauf?«

»Weil der nicht mehr ganz dicht ist.«

»Ist das die gleiche Krankheit wie beim Häuptling?«

»Genau.«

Wie ein dichtes Netz lag der Urwald über der Stadt, auf Kaßbergen und ringsum im Tal.

»Auch in Kleinolbersdorf?«

Mein Großvater erinnerte sich nicht, ob er gefrühstückt hatte, aber aus der Zeit vor tausend Jahren wusste er viel zu erzählen.

»Auch in Kleinolbersdorf.«

In dem dichten, schwer durchdringlichen Wald rauschten plötzlich Flüsse, und Felder formten sich aus dickem, saftigem Moos. Sie waren Brutstätten für Mythen und Sagen, aus denen manche Grausamkeit des Menschen wie auch seine Kriege erwuchsen. Tiere folgten den Flüssen, Menschen den Pfaden der Tiere. Salzpfade flussaufwärts waren bald von Burgen gesäumt. Die Burgen boten Anreiz für Raub und für Mord. Zweihundert Pfade waren zweihundert Versprechen, endlich anzukommen, zu siedeln, zu leben, bis der Tod einen holte und die Nächstgeborenen übernahmen und weiterzogen, immer weiter.

»Bis nach Kaßbergen?«

»Bis nach Kaßbergen.«

Die Pfade flankiert von gegrabenen Gängen in den Fuß des Berges, dort, wo er am wenigsten verletzlich war. Ein ganzes ungarisches Heer verschlang dieser Wald. Die Ungarn zu Pferd, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, und dann im Gänsemarsch verloren gegangen auf den wild bewachsenen Wegen des Waldes. Was nützten dem Ungarn, hoch zu Ross, der Pfeil und der Bogen, wo der flinke Sachse aus den Kriechgängen schnellte und nur ein Messer brauchte, um dem Gegner den Garaus zu machen.

»Die Sachsen haben die Ungarn hier in diesem Wald einfach verschwinden lassen. Keiner hat jemals wieder von ihrem Heer gehört.«

In der einen Hand hielt ich die Hand meines Großvaters, mit der anderen berührte ich die versteinerte Rinde eines Baumstamms. Fragte mich, wie viele Ungarn wohl hier drin waren.

»Ein Weltwunder hast du da in der Hand. Was ich dir alles biete.«

Es hatte Hunderte von Millionen Jahren gebraucht. Von vulkanischem Aschenschlamm ins Gedächtnis der Erde eingebrannt, war es von einem Edelsteininspektor vor nur einhundert Jahren freigelegt worden. Was dann in der Königsstadt zu Schmuck veredelt wurde, war in der Arbeiterstadt noch in seiner Ursprünglichkeit zu betrachten: der Versteinerte Wald.

Mein Großvater lachte und drückte meine Hand.

»Und ich hab auch ein echtes Wunder mit dir.«

Ich sah die Züge meines Vaters in seinem Gesicht, dabei war der Häuptling der Vater meiner Mutter.

Die Menschen dieses Landstrichs sahen sich ähnlich. Mittlerweile hatte sogar ich einen Blick dafür, wer von hier kam und wer hergezogen war. Wobei es Letztere kaum gab, denn angeblich zog keiner freiwillig in unsere Stadt.

Redeten die Leute über Kaßbergen, dann nicht von zwitschernden Amseln auf den Hinterhöfen, dem Glockengeläut am Sonntagmorgen; sie redeten nicht von den ausladenden Linden an der Rudolf-Harlaß-Straße und ihrem klebrigsüßen Duft, nicht von den Katzen auf den Schieferdächern und schon gar nicht von den sorglos polternden Feiern in der Eckkneipe. Immer ging es um das Wochenende, das endlich kommen sollte und leider nur von Sonnabendmittag bis Sonntagabend dauerte. Und um alles, was es nicht zu kaufen gab. Und um die Jugendweihe oder die Hochzeit, für die man nichts anzuziehen hatte. Und um den Scheißstaat, und dann sollte ich immer weghören.

Als ob man weghören konnte. Die Erwachsenen redeten in der gleichen Lautstärke weiter, aber ich musste weghören. Nur weil es das Wort zuhören gab, gab es nicht auch automatisch das Wort weghören. Wegzuhören war schon rein technisch nicht möglich. Weghören war wie wegschauen im Wald mit lauter Bäumen.