Peter Hamm zum Gedächtnis
Einleitung
Das Leben eines Schiffbrüchigen
Jean Améry
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar
Ingeborg Bachmann
»Herr Hinterhand in seiner Leiderei«
Uwe Johnson
Skizze einer Verunglückten
Ulrike Meinhof
Literaturverzeichnis
Sich in einer großen Hoffnung zu täuschen ist keine Schande. Allein die Tatsache, daß es eine solche Hoffnung geben konnte, ist so viel wert, daß sie mit einer Enttäuschung, wie schwer sie auch sei, nicht zu teuer bezahlt wird.
Ivo Andrić
Im Januar 1904 las Franz Kafka an einem Stück die Tagebücher Friedrich Hebbels. Sichtlich bewegt schrieb er an den Freund Oskar Pollak: »Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? […] Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.«
Zu Schriftstellern, die mit ihren Büchern die Leserschaft in solches Unglück zu stürzen vermögen, gehören auch Jean Améry, Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson. Bedenkt man den Essay Hand an sich legen, liest man Malina aus dem Projekt der Todesarten oder betrachtet man die Skizze eines Verunglückten, ist man jeweils mit dem Elend eines Lebens konfrontiert, in dem der Tod zu einem Versprechen werden kann. Man fühlt sich geschlagen und spürt zugleich den Gewinn, der in der existentiellen Zumutung des Gelesenen liegt.
Was diese Autoren und uns von der historischen Situation Kafkas unterscheidet, ist, um mit Hannah Arendt zu sprechen, der »Zivilisationsbruch«, der mit dem Namen »Auschwitz« verknüpft ist. Und doch enthält sein Schreiben schon Strukturen des Schrecklichen, das erst noch kommen sollte. 1944 schreibt Arendt in ihrem Porträt: »Kafkas Welt ist zweifellos eine furchtbare Welt. Daß sie mehr als ein Alptraum ist, daß sie vielmehr strukturell der Wirklichkeit, die wir zu erleben gezwungen wurden, unheimlich adäquat ist, wissen wir heute vermutlich besser als vor zwanzig Jahren. Das Großartige dieser Kunst liegt darin beschlossen, daß sie heute noch so erschütternd wirken kann wie damals, daß der Schrecken der Strafkolonie durch die Realität der Gaskammern nichts an Unmittelbarkeit eingebüßt hat.«
Das Werk der Philosophin stellt seit Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft den Versuch dar, deren Strukturen über politische Systemgrenzen hinaus zu verstehen. Mit Eichmann in Jerusalem folgte eine bis heute umstrittene Deutung der »Banalität des Bösen«, die Arendt in dem Verwaltungsbeamten sah, dessen Beflissenheit für die Vernichtung von Millionen europäischer Juden entscheidend war. Jean Améry, Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson gehörten zu jenen, die von Arendts Untersuchungen bewegt waren und eigene Ansichten der deutschen Katastrophe entwickelten, die in unterschiedlicher Weise auch biographische Spiegelungen forderte und erlaubte.
Der folgende Versuch, ihre intellektuellen Lebensläufe zu skizzieren, orientiert sich auch an Arendt. Ihre Essay-Sammlung Menschen in finsteren Zeiten betrachtet biographische Studien als Schlüssel zum Verständnis der Zeit. So bekundet das Vorwort: »Die Überzeugung, daß wir selbst dann, wenn die Zeiten am dunkelsten sind, das Recht haben, auf etwas Erhellung zu hoffen, und daß solche Erhellung weniger von Theorien und Begriffen als von jenem unsicheren, flackernden und oft schwachen Licht ausgehen könnte, welches einige Männer und Frauen unter beinahe allen Umständen in ihrem Leben und ihren Werken anzünden und über der ihnen auf der Erde gegebenen Lebenszeit leuchten lassen – diese Überzeugung bildet den unausgesprochenen Hintergrund für die hier vorgelegten Persönlichkeitsprofile.«
Als Arendt mit der amerikanischen Ausgabe Men in Dark Times 1968 ihre Nähe zu individuellen Geschichten und ihre Distanz zu weltanschaulichen Konstruktionen bekannte, stand ihr der Anspruch auf kollektive Beglückung im Namen von Karl Marx vor Augen. Dieser wurde in Deutschland in der 68er-Bewegung mit besonders kämpferischer und später gewaltsamer Inbrunst vertreten. Ulrike Meinhof, der als Journalistin und Terroristin das vierte Porträt dieser kleinen Sammlung gewidmet ist, gehörte an führender Stelle in diesen Kreis von Intellektuellen, in dem Arendts Denken hoch umstritten war, trotz ihrer einfühlsamen Essays über Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Rosa Luxemburg. Es spricht für sich, dass die deutsche Fassung Menschen in finsteren Zeiten erst im Jahr 1989 erschien.
Ulrike Meinhof hatte seit 1966 nicht mehr viel übrig für den im Studium entwickelten Blick auf den Einzelnen. Obwohl sie sich vom existenzphilosophischen Bildungserlebnis lossagte, blieb das dialogische Denken in kleinen Kreisen eine Struktur, ohne die ihre Radikalisierung und die Gewalt nicht zu verstehen wäre, die sie sich und anderen im Glauben an die überindividuelle Wahrheit der Revolution zufügen sollte.
Die drei anderen »Verunglückten« schrieben als liberale Individualisten im Sinne Arendts. So blieb Jean Améry, der sich intellektuell Jean-Paul Sartres Existentialismus verdankte und Martin Heidegger schätzte, immer ein Stachel im Fleisch der deutschen Linken. Aber ebenso ging er auf Abstand zu Hannah Arendt, deren provokativen Aussagen über die jüdische Kollaboration vor und während der Vernichtung ihn provozierten. Dagegen hatte Ingeborg Bachmann, die über Martin Heidegger promoviert hatte und gegen den Kollektivismus der 68er-Bewegung immun war, gerade über Eichmann in Jerusalem einen persönlichen Bezug zu Arendt gewonnen. Emphatisch schrieb die junge Dichterin 1962 nach ihrer Begegnung im New Yorker Goethe-Institut: »Ich habe nie gezweifelt, daß es so jemanden geben müsse, der ist wie Sie, aber nun gibt es Sie wirklich, und meine außerordentliche Freude darüber wird immer anhalten.« Drei Jahre später war es Uwe Johnson, der – ebenfalls zu Gast in New York – nicht nur die Bekanntschaft von Hannah Arendt machte, sondern diese später bis zu ihrem Tod 1975 zur Freundin und Mentorin gewann. »Ich bekam Seminare in Philosophiegeschichte, zeitgenössischer Politik, Zeitgeschichte, je nach Wunsch.«
Der entscheidende Grund für das massenhafte Aufbegehren gegen die Elterngeneration lag 1968 in deren sturem und langem Schweigen über die Zeit des Nationalsozialismus. Es wurde in Deutschland erst gebrochen, als der Eichmann-Prozess in Jerusalem international Aufsehen erregt hatte und der couragierte Staatsanwalt Fritz Bauer – der den Israelis entscheidende Informationen zum Aufenthaltsort Eichmanns geliefert hatte – bald darauf den Frankfurter Auschwitz-Prozess folgen ließ. Schon am Ende der restaurativen Jahre des Wirtschaftswunders hatte Arendt 1959, als man ihr den Lessing-Preis der Hansestadt Hamburg verlieh, in ihrer Rede »Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten« – ausdrücklich als deutsche Jüdin – höflich auf das öffentliche Schweigen hingewiesen: »Hinter der neuerlich in Deutschland vielfach diskutierten und leider nur zu verbreiteten Neigung, so zu tun, als habe es die Jahre von 1933 bis 1945 gar nicht gegeben, als könne man getrost dieses Stück der deutschen und der europäischen und damit der Weltgeschichte aus den Lehrbüchern streichen, als käme alles darauf an, das ›Negative‹ zu vergessen […]; hinter den grotesken Zuständen, daß man deutschen Jugendlichen verheimlicht, was in einer Entfernung von wenigen Kilometern jedes Schulkind weiß – hinter all dem steckt natürlich eine echte Ratlosigkeit.«
Hannah Arendt empfahl ihren Hamburger Hörern mit dem Dramatiker Lessing eine Form des kathartischen Erzählens, das Autoren und Historiker erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand leisten könnten. Jean Améry gehörte mit dem Essayband Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten zu den Ersten, die nach den spektakulären Prozessen im kritischen Publikum ihre Lagererfahrungen bekannt gemacht hatten. Während die Auschwitz-Nummer auf seinem Unterarm später bei öffentlichen Auftritten seine Erfahrung als »Opfer« bezeugte, nahmen Bachmann und Johnson das Thema als Nachgeborene auf. Ingeborg Bachmann lag 1964 in ihrer Büchner-Preis-Rede Ein Ort für Zufälle aus familiären Gründen sehr daran, die ehemalige Hauptstadt als topographische Signatur im Land der »Täter« kenntlich zu machen. Während ihr Vater schon vor 1933 in Klagenfurt Mitglied der NSDAP gewesen war, hatten Johnsons Eltern aus Angst vor sozialen Folgen zugestimmt, den zehnjährigen Sohn 1944 in Mecklenburg auf eine NAPOLA, eine politische Kaderschule, zu geben; eine Erfahrung, die den Autor der Jahrestage auch vor jeder Form der kollektiven »Erkenntnistherapie« zurückschrecken ließ. Ulrike Meinhof war in einer Familie aufgewachsen, in der mit dem unpolitischen Protestantismus des Vaters eine opportunistische Parteizugehörigkeit verbunden war. Schon als Studentin zeigte sie ein ausgeprägtes Misstrauen gegen nationalsozialistische Residuen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Als Einzige der vier Porträtierten zog Ulrike Meinhof auch äußerlich radikale Konsequenzen.
Allen gemeinsam ist ein Leiden an der ungerechten Welt, die im »Jahrhundert der Extreme« nach dem Ersten Weltkrieg nochmals in eine weltumspannende Katastrophe stürzte, die alles bisherige Unglück weit übertraf. Sie sind »Intellektuelle« in einem geistesgeschichtlich deutschen Sinn. Max Weber hatte als Diagnostiker der Moderne um 1900 den Begriff aufgegriffen, der in der französischen Dreyfus-Affäre geprägt worden war. Seine Bestimmung geht über den luziden Gebrauch der Vernunft hinaus, der hilft, rationale Widersprüche zu erkennen und zu beheben. Zusätzlich sei der Intellektuelle jemand, der eine »innere Nötigung« empfinde, »die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können«. Dies sagte Weber gerade aufgrund seiner soziologischen Skepsis gegenüber politischen Philosophien der Geschichte, die bald verheerende Wirkungen zeitigen sollten.
Ein Jahrhundert vor ihm hatte Hegel im deutschen Idealismus die Grundlagen für diesen Typus des Intellektuellen geschaffen, der sich – so seine Phänomenologie des Geistes – durch ein »unglückliches Bewusstsein« auszeichne. Dessen historischen Unterbau bezeichnen seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Dort spricht Hegel von der »Geschichte als Schlachtbank« und führt seinen Hörern aus, was dem Menschen an Schrecklichkeit bewusst werden könne und müsse: »Wenn wir dieses Schauspiel der Leidenschaften betrachten und die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, […] wenn wir daraus das Übel, das Böse, den Untergang der blühendsten Reiche, die der Menschengeist hervorgebracht hat, sehen, so können wir nur mit Trauer über diese Vergänglichkeit überhaupt erfüllt werden und, indem dieses Untergehen nicht nur ein Werk der Natur, sondern des Willens der Menschen ist, mit einer moralischen Betrübnis, mit einer Empörung des guten Geistes, wenn ein solcher in uns ist, über solches Schauspiel enden.« Hegel drängte es, die »schöpferische Vernunft« als eine zu betrachten, der eine ungeheure Aufgabe gestellt ist: »daß das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden sollte«. Denn: »In der Tat liegt nirgends eine größere Aufforderung zu solcher versöhnenden Erkenntnis als in der Weltgeschichte.«
Diese Philosophie der Geschichte prägte die deutschen Intellektuellen erneut seit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs über Generationsgrenzen hinweg. Vor und neben Arendt sind Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Siegfried Kracauer, Herbert Marcuse und Georg Lukács zu nennen. Dabei verwandelten die unterschiedlichen Interpretationen Hegels Vorstellung, in der Idee des »objektiven Geistes« das auf dem Bewusstsein lastende Geheimnis der furchtbaren Geschichte lösen zu können, in einer Vielzahl von Entwürfen ästhetischer, philosophischer und politischer Art. Arendt unterscheidet in Menschen in finsteren Zeiten sehr fein die theoretischen Versuche, die Wirklichkeit versöhnend auf den Begriff zu bringen, von der praktischen Ambition, sie revolutionär umzugestalten, um endlich das Übel zu beseitigen. Hegel selbst schwärmte teilweise von einem »welthistorischen Individuum« und der notwendigen Rücksichtslosigkeit seines Vorgehens: »Aber solche große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf dem Weg.« Arendt zufolge habe sich Hegel jedoch – nachdem ihm die jugendliche Begeisterung für die geschichtliche Praxis angesichts der desaströsen Folgen der Französischen Revolution vergangen sei – in die Vorstellung einer rein theoretischen, auch Kunst und Literatur umfassenden Versöhnung zurückgezogen: »Weltgeschichte, Weltgeist und Menschheit haben, trotz der starken politischen Impulse des jungen Hegel, kaum irgendwelche politische Bedeutung in Hegels Werk. […] Nur bei Marx gewann der Hegelsche Geschichtsbegriff politische Relevanz, und dies nur, weil Marx Hegel ›vom Kopf auf die Füße stellte‹, das heißt das Interpretieren von Geschichte in ein Geschichte-›machen‹ umwandelte.«
An der intellektuellen Biographie von Georg Lukács lässt sich der Weg von der Theorie in die Praxis veranschaulichen, den in der 68er-Bewegung so viele suchten und den Ulrike Meinhof in seltener Radikalität ging. Denn erst angesichts der Russischen Revolution fasst Lukács 1917/18 den Mut, mit Marx seinen Hegel objektiv zu lesen und die Zweifel der bürgerlichen Subjektivität hinter sich zu lassen, die er zuvor im Heidelberger Zirkel um Max Weber – auch im kontroversen Gespräch mit Karl Jaspers – kultiviert hatte. Lukács war ein Idealtypus des modernen Intellektuellen, der eine »innere Nötigung« verspürte, die Geschichte sich sinnvoll schließen zu lassen, und der bei Hegel die begrifflichen Instrumentarien fand, diesem Bewusstsein Ausdruck zu verleihen. In der Folge wurde er zum intellektuellen Kopf des Klassenkampfes, der sich durch alle »Säuberungen« in der Sowjetunion retten konnte, auch wenn die Realität der Verhältnisse Lukács nach der Ungarischen Revolution 1956 schier überrollte und ihn zur nur mehr geduldeten Randfigur im System werden ließ.
Ulrike Meinhof begann ihre intellektuelle Biographie ebenfalls unter dem Einfluss eines Lehrers, der mit Jaspers und Weber eine an Kierkegaard, einem Widersacher Hegels, orientierte Philosophie der gehaltvollen Subjektivität vertrat. Dass sie vom existentiellen Denken abkam und zuletzt den Weg in die politische Radikalität wählte, lag nicht zuletzt an dem charismatischen Rudi Dutschke, der angesichts des revolutionären Erfolgs Fidel Castros sowie der dynamischen Kulturrevolution Maos einen neuen Glauben formuliert hatte, der bar einer strengen Systematik durch den rhetorischen Glanz der revolutionären Emphase zu überzeugen wusste. Diese Einflüsse und Gedankengänge befreiten Meinhof endgültig von der verlogenen Bürgerlichkeit und wiesen die Bahn, auf der sie meinte, das geschichtliche Unglück mit wenden zu können. Nach der Gründung der RAF schlug sich ihre gewaltbereite Gewissheit in Das Konzept Stadtguerilla nieder.
Der Graben, der Ulrike Meinhof als spätere Terroristin von den drei Schriftstellern trennt, scheint kaum überbrückbar. Jedoch verstand es ein prominenter Vertreter des deutschen literarischen Lebens, der sowohl mit Ulrike Meinhof als auch mit Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson vertraut war, Revolution und Literatur wortgewandt zu verbinden. Es ist der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der in der 1968er-Bewegung die sprachlich suggestive Verbindung zwischen dem politischen und ästhetischen Engagement bildete. In seinen späten Erinnerungen Tumult weist er ausdrücklich auf die »Traditionen des deutschen Idealismus« hin, die zu kennen zum Verständnis der Zeit nötig sei.
Enzensberger begründete 1965 mit dem Kursbuch im Suhrkamp Verlag das literarisch führende Periodikum der revolutionären Begeisterung. So hieß es 1968 in seinen Berliner Gemeinplätzen in provokativer Anspielung auf Marx und sein Kommunistisches Manifest: »Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst der Revolution.« Die im Kursbuch abgedruckten Essays, Erzählungen, Studien und Gedichte wollten auch die beschämende Lehre der jüngsten Geschichte nutzen, um es besser als die Väter zu machen. Seine Verse, so etwa das Gedicht »an einen mann in der trambahn«, waren gegen das kollektive Vergessen gerichtet: »und ich sehe narben, / die du nicht siehst […] und ich sehe den mord in deinem aug, in der trambahn, mir gegenüber«. Der Vietnam-Krieg und die grausame Rolle der Amerikaner, die sich vom Befreier zum Unterdrücker gewandelt hatten, taten ein Übriges, um den Zorn Enzensbergers zu entfachen. Zuletzt war er auch am Kampf um gerechte Verhältnisse beteiligt, der 1968 die revolutionären Impulse bis in den eigenen Verlag trug. Als Siegfried Unseld in Frankfurt den »Aufstand der Lektoren« geschickt ausbremste, wechselte das Kursbuch zu Klaus Wagenbach nach West-Berlin, dem Zentrum der APO. Enzensberger war dort über seine geschiedene Ehefrau Dagrun und seinen Bruder Ulrich persönlich mit der legendären Kommune 1 verbunden und nahm an einer ihrer spektakulären Aktionen auf dem Kürfürstendamm teil.
In Tumult stellte sich Enzensberger selbstironisch der peinlichen Frage: »Und bei diesem Theater hast du mitgespielt?« Mit Witz versucht sein innerer Dialog Distanz zu den »ärgsten Blamagen« der revolutionären Jahre zu demonstrieren, zu denen auch der mehrmonatige Aufenthalt auf Kuba gehörte, der 1968 der medienwirksamen Aufkündigung eines großzügigen Stipendiums einer amerikanischen Universität folgte. In den Jahrestagen verewigte Uwe Johnson die zugehörige Notiz der New York Times: »Der deutsche Dichter Hans Magnus Enzensberger hat ein Stipendium an der Universität Wesleyan aufgegeben mit einem Trompetenstoß gegen die auswärtige Politik der Vereinigten Staaten und mit einem Heil für Cuba, wo er nach seinen Worten leben will.« Anerkennend kommentiert der späte Enzensberger: »Johnson war boshaft, aber nicht in allen Punkten hat er unrecht behalten. Das muß ich ihm lassen.«
Aber bei aller Nähe, die Hans Magnus Enzensberger vor allem in verbalen Aktionen zum revolutionären Aufbruch zeigte, gelang es ihm, als die Bewegungen der APO wieder verebbten, lebensklug in die Reserve zu gehen. Aus dieser Position beobachtete er teilnahmsvoll die Ursprungsszene der Roten Armee Fraktion. Tumult erscheint hierin als literarische Chronik des Unglücks, das die revolutionäre Emphase über Ulrike Meinhof brachte. In schillernden Wendungen gesteht Enzensberger, direkt nach der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders die Flüchtenden kurz beherbergt, aber die Einladung, am Sturz des »Systems« aktiv mitzuwirken, später unter konspirativen Umständen ausgeschlagen zu haben. Er schließt diese Passage: »Bis zu ihrem Selbstmord habe ich nie wieder von der bedauernswerten Ulrike Meinhof gehört.«
Der Historiker Wolfgang Kraushaar hat der 68er-Generation luzide das »Vexierbild« Enzensberger erschlossen und unterstrichen, dass Jürgen Habermas Enzensberger vor allem in der Rolle des »Harlekin« sah. Die »artistische Leichtigkeit«, mit der sich der Schriftsteller auf den verschiedenen Bühnen bewegte, ist ein Phänomen für sich. Tumult enthält das schwache Bekenntnis: »[E]inen Rest von Komplizentum konnte und kann ich nicht abstreifen. Jeder, der in das Durcheinander verwickelt war, haftet mehr oder weniger mit.«
Auch wenn Jean Améry, Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson den kollektiven Kampf um die gesellschaftliche Umwälzung der Verhältnisse aus wesentlich größerer Entfernung nicht ohne innere Leidenschaft und Teilnahme beobachteten, entwickelten sie nie solch »konkrete Utopien«. Ihre Nähe zu Ernst Bloch und seinem Prinzip Hoffnung bestand vielmehr darin, dass sie im Unglück der Zeit als Schriftsteller vor allem individuell-literarische Gestalten der Erlösung suchten. Jean Améry strebte mit seinen zeitkritischen Essays die Versöhnung zwischen jüdischen Opfern und deutschen Tätern an, selbst ahnend, dass sein prophetischer Versuch, der traumatischen Geschichte nachträglich Sinn zu verleihen, sich als vergeblich erweisen könnte. Ingeborg Bachmann zelebrierte, angeregt durch die Lektüre Robert Musils, literarisch schon früh den »anderen Zustand«, der jedoch als »mystisches« und »ekstatisches« Erlebnis keine unmittelbaren politischen Folgen hatte. Einzig in der Begegnung mit Paul Celan und seiner Dichtung schien ihr eine Form der persönlichen und gedanklichen Erlösung angesichts des Holocaust für Momente möglich zu sein. Später suchte Bachmann als Gegenpol zu ihrer Rationalität nicht nur im Projekt der Todesarten ästhetische Zuflucht. Immer öfter strebte sie jenseits der Worte ekstatische Zustände durch erotische Erlebnisse und lebenszerstörende Drogen an. Uwe Johnson war ein exzessiver Alkoholiker, der besorgte Stimmen mit der Auskunft beruhigte, er wisse zu viel. Gleichwohl blieb ihm die Literatur ein Medium, der politischen Sehnsucht nach einer gerechteren Welt Ausdruck zu geben. Nachdem der Prager Frühling, seine dezente Utopie, erstickt worden war, setzte Johnson dem »Manifest der Zweitausend Worte« im Epos der Jahrestage ein literarisches Denkmal und schloss mit den Worten: »Wenn ihr wissen wollt, was an Sozialismus möglich ist zu unseren Zeiten, lernt Tschechisch, Leute!«
Worin damals intellektuell der Unterschied zwischen diesen drei Schriftstellern und Hans Magnus Enzensberger lag, der wesentlich stärker das Anliegen von Ulrike Meinhof teilte, lässt sich gut an seiner Begegnung mit Hannah Arendt veranschaulichen. Sie hatte Enzensberger schätzen gelernt, als er seine fulminante Kritik an der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihrer Berichterstattung zum Eichmann-Prozess formuliert hatte. Er wiederum hatte als junger Mann begeistert Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gelesen, das ihn davor bewahrt habe, dem naiven Glauben an die östliche Sache zu verfallen. Aber nachdem sie sich 1965 in New York in Arendts Wohnung in der Upper West Side Manhattans persönlich begegnet waren, blieb es bei diesem einen höflichen Treffen. Arendt konnte sich später für eine Besprechung im Merkur »nicht Enzensberger oder einen der eingeschworenen Marxisten« vorstellen, wie sie deutlich an dessen Herausgeber schrieb. Dass sein Gespräch mit Hannah Arendt gescheitert war, rückte Enzensberger auf Nachfrage ihres Biographen Thomas Wild in ein mildes Licht; es komme nicht darauf an, »in Arendts Wohnung zu sitzen«: »Was Hannah Arendt mir zu sagen und zu geben hatte, stand in ihren Büchern.«
Dagegen war Hannah Arendt begeistert von Ingeborg Bachmann, die sie sich nach dem Treffen im New Yorker Goethe-Haus als deutsche Übersetzerin von Eichmann in Jerusalem wünschte: »Wir denken in vielen Dingen ähnlich und sie wird nicht so schockiert sein wie vielleicht mancher andere.« Auch Uwe Johnson folgte nicht dem Zeitgeist des emphatischen Theoretisierens, das die deutschen Intellektuellen zu Arendts Bestürzung so mochten. Im Mai 1965 schrieb sie ihrem Lehrer Karl Jaspers: »A propos deutsche Schriftsteller: Sind augenblicklich alle hier, Grass und Johnson habe ich kennengelernt, darüber mündlich. Und Enzensberger ist im Anzug. Der Mangel an gesundem Menschenverstand ist oft zum Verzweifeln.« Durch den Kreis der New York Intellectuals war Arendt einen angelsächsischen Liberalismus und Pragmatismus gewohnt, dem seit Stalins Moskauer Prozessen jedes Liebäugeln mit dem Marxismus als politischer Utopie naiv erschien.
Allerdings hatte Arendt 1968 einige Sympathie für die rauschhafte Begeisterung im Pariser Mai, die Daniel Cohn-Bendit, ein Sohn guter Freunde, mit ausgelöst hatte. Sie mochte die subversive Infragestellung erstarrter Strukturen im Geiste einer offenen Räterepublik. Selbst Elias Canetti schilderte die beeindruckende Bewegung, die ihm gerade an der Sorbonne begegnet war: »Die Fenster oben von jungen Menschen besetzt, ein rotes Halstuch um das steinerne Standbild Victor Hugos. Junge Anarchisten rufen ihre Zeitung aus. Atmosphäre von Freiheit, in der jeder zur Rede kommt, niemand mundtot gemacht wird, jede angehört wird.« In Über die Revolution hatte Hannah Arendt einige Jahre vor den revolutionären Aufbrüchen der Studenten die Leistungen der amerikanischen Gründerväter in Erinnerung gerufen. Diese hatten in ihrer demokratischen Verfassung um 1776 dezentrale Strukturen vorgesehen, um unabhängige Meinungsbildungen innerhalb eines pluralen Gemeinwesens zu ermöglichen und so die relative Ordnung des freiheitlichen Individualismus zu sichern. Zu Zeiten des Vietnam-Krieges demonstrierte gerade die studentische Protestbewegung für Arendt erneut die vitale Stärke des revolutionären Erbes der Väter. Im Mai 1966 schrieb sie Jaspers aus Chicago: »Die Studentenunruhen […] waren eigentlich sehr erfreulich. […] Man hat nicht die Polizei gerufen und den Studenten nicht gedroht. Nach drei Tagen sind sie freiwillig wieder abgezogen, haben die ganze Zeit hindurch diskutiert und sich streng an alle parlamentarischen Spielregeln gehalten. Jeder kam zu Wort, jeder wurde gehört, niemand wurde ausgepfiffen, alle Anträge wurden ordnungsgemäß gestellt – kurz, es war in keinem Augenblick ein Mob.«
Jean Améry gehörte mit Arendt zu den liberalen Autoren des Merkur, deren Essays kritische Einsprachen gegenüber der revolutionären Studentenschaft boten. Der österreichische Jude hatte am eigenen Leibe die Qualen erlebt, die eine ideologische Revolution ganz anderer Art in Deutschland über ihn gebracht hatte. Sein Votum entsprach dem, was Jürgen Habermas in der frühen Hochphase der Studentenbewegung als »Linksfaschismus« bezeichnet hatte. Enzensberger gibt in Tumult Einblick in die oft naive bis blindgläubige Parteigängerschaft, der er früher diplomatisch einigen Tribut gezollt hatte, etwa wenn er ein Gespräch mit seiner norwegischen Frau Dagrun erinnert: »Das Bedürfnis nach Religion kann aller Zweifel Herr werden. Mit steinernem Gesicht erklärte dieses zarte Geschöpf mir, die Moskauer Prozesse seien ein Muster der Volksjustiz gewesen, ganz zu schweigen von Trotzki – diesem Verräter sei ganz recht geschehen. Nur die bürgerliche Propaganda verleumde den Kameraden Stalin. Die russischen Kommunisten, die im Gulag zugrunde gegangen sind, seien Volksfeinde gewesen, Revisionisten, Spione. Gewiß hätten übereifrige Funktionäre einzelne Fehler gemacht, aber davon habe Stalin nichts gewußt. Der diabolus ex machina trug in dieser Version den Namen Chruschtschow. Erst mit ihm habe die Agonie der Oktoberrevolution begonnen.«
Dass Hans Magnus Enzensberger sich in jenen Jahren nicht entscheiden konnte, seine Sympathien für revolutionäre Formen der Beglückung gänzlich aufzugeben, ist ihm im Rückblick peinlich. Tatsächlich entwickelte er in seiner »zweideutigen Haltung«, dem »Doppelleben«, wie es in Tumult heißt, nie die persönliche Haftbarkeit des Denkens, die Hannah Arendt bei Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson schätzte und die auch Jean Améry mit ihnen verband. Aber Enzensbergers Kunst, sich dem existentiellen Ernst zu entziehen, sobald er zu tief ins eigene Leben einschnitt, bewahrte ihn auch davor, die Radikalisierung in der Tat mitzuvollziehen, die er im Wort so leidenschaftlich gepriesen hatte. Ein Dokument seiner schillernden Ambivalenz ist der Brief, den er Ulrike Meinhof schickte, bevor diese endgültig den Weg des gewaltsamen Kampfes wählte. Enzensberger gibt sich noch den opaken Anschein des Revolutionärs und deutet doch an, wie fern er inwendig dem Tumult schon gerückt war: »Heute, am dritten Adventstag 1969, ist es hier so: die Frankfurter Marxisten-Leninisten haben sich in ML-1, ML-2 und ML-3 aufgespalten. Das Geld wirbelt auf den Straßen herum, und in den Kaufhäusern brüllen die Leute, mit Weihnachtspaketen behangen. Die Befreiung der Menschheit macht große Fortschritte: Pornographie und Mao, alles auf eine Wand geklebt. Niemand weiß mehr, was wahr und was gelogen ist, es geht durcheinander wie ein Haschisch-Bild. […] Ich bin jetzt uralt, aber springe herum wie ein Heupferd. Jeden Tag kommen neue Bücher. Ich habe fast aufgehört, sie zu lesen. […] Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wir uns nicht umbringen lassen sollten. Meistens weigere ich mich sogar, mich zu ärgern.« Im milden Blick zurück gesteht der altersweise Enzensberger zu, dass schon damals sein revolutionäres Kostüm fadenscheinig geworden war: »Natürlich ahnten die intelligenteren Häuptlinge unter den politischen Köpfen, daß auf einen Schriftsteller, auch wenn er den Mund voll nimmt mit politischen Phrasen, im Grunde kein Verlaß ist.«
Die Figur des Harlekins, die Enzensberger für Jürgen Habermas im Schauspiel der Revolution dargeboten hatte, gilt ikonographisch als Gestalt einer hintergründigen Nachdenklichkeit. Im Maskenspiel spricht der Harlekin der Zeit das Urteil, scheinbar ohne letzten Ernst. Die Passionsfigur dagegen bedeutet kunstgeschichtlich eine altmeisterlich frühere und vertrautere Gestalt, deren Melancholie sich am eigenen und fremden Leid entzündet. Ikonographisch gründet sie in der religiösen Tradition; die Leidensgeschichte Christi wurde in der Neuzeit zunehmend sublimer mit der realistischen Anschauung von Landschaft und Leben der Menschen verknüpft, so dass später das Leiden in ferneren symbolischen und allegorischen Bildern seinen Ausdruck erlangte, bis hin zu gänzlich säkularen Gestalten. Gleichwohl blieb die ikonographische Strahlkraft der klassischen Passion bestehen, für die Moderne wohl am stärksten ersichtlich in der Wirkung, die Matthias Grünewalds Isenheimer Altar nach dem Ersten Weltkrieg auf Künstler aller Genres ausgeübt hatte. Exemplarisch schrieb Elias Canetti über seinen Besuch in Colmar: »Wovon man sich in der Wirklichkeit mit Grauen abgewandt hätte, das war im Bilde noch aufzufassen, eine Erinnerung an das Entsetzen, das die Menschen einander bereiten. […] Alles Entsetzliche, das bevorsteht, ist hier vorweggenommen.«
Um 1968 wurde Che Guevara in vielfacher Überblendung mit dem leidenden Christus, der ebenfalls für die Armen und Rechtlosen gestorben war, zur führenden Ikone der Revolution, die weltweit gleichsam als Monstranz der guten Sache diente. Der Kunsthistoriker David Kunzle hat jüngst entlang eines ganzen Kaleidoskops an vergleichenden Bildern diesen Chesucristo. Die Fusion von Che Guevara und Jesus Christus beschrieben. In Tumult finden sich solche Bilder des heroischen Guerilla-Führers öfter, die Che auch zum beliebten Idol der Sprayer in New York werden ließ. Die Geschichte eines jungen Bauern, der in Italien begeistert das Konterfei des Guerilla-Führers trägt und sich in Kuba das Leben nimmt, erzählt Enzensberger dazu en passant.
In Deutschland wurde Rudi Dutschke mit seiner großen Nähe zum politisch engagierten Protestantismus zu einer vergleichbaren Gestalt. Denn nach dem Attentat auf ihn zu Ostern 1968 betrachtete man auch ihn wie Che als leidensbereiten Kämpfer für die gute Sache. Auch der Freitod Ulrike Meinhofs im Mai 1976 im Gefängnis Stammheim lässt sich im Horizont dieser politischen Ikonographie deuten. Dabei hatte sich die Studentin – angeregt durch das Interesse an den Alten Meistern und der barocken Lyrik, die der Vater als traditionsbewusster Kunsthistoriker und frommer Christ früh in Meinhof geweckt hatte – schon in ihren kunst- und literaturhistorischen Studien lange mit der Passionsgeschichte beschäftigt.
In ganz anderer Deutlichkeit entfaltet der katholisch erzogene Jean Améry zwei Jahre nach Meinhofs Tod in dem Essay Mein Judentum säkularisierte Gedanken einer jüdisch-christlichen Passionsfigur: »Der Jude war das Opfertier. Er hatte den Kelch zu trinken – bis zum allerbittersten Ende. Ich trank. Und dies wurde mein Judesein. Das Judentum war eine andere Sache. Mit ihm hatte ich nichts zu tun.« Die Erfahrung des Holocaust wird ihn im Herbst 1978 einholen. Jean Améry nimmt sich in Salzburg das Leben und wird zur modernen Passionsfigur wider Willen.
Auch Uwe Johnson exponiert in seinen Jahrestagen das Passionsmotiv. Gesine Cresspahl leuchtet dessen religiöse Erklärung im protestantischen Konfirmationsunterricht nicht ein. Johnsons Heldin lehnt Tod und Sühne als dogmatisches Modell ab, das helfen soll, mit der Geschichte fertig zu werden. Dagegen hält Gesine es strikt mit der aufklärerischen Notwendigkeit, »mit Kenntnis zu leben«. Ihre übergewissenhafte Mutter dagegen, die schon zwei Selbstmordversuche hinter sich hat, wählt in der Nacht vom 9. November 1938 in einer Scheune den Verbrennungstod, nachdem ein jüdisches Mädchen erschlagen worden war. Johnson lässt es offen, ob ihr Tod Ausdruck eines irregeleiteten Gewissens oder vielmehr, wie der Pastor es will, als politisch bewegtes Selbstopfer zu sehen ist, das zugleich eine aktive Sühne im Sinne Jesu bedeute. Vor Abschluss der Jahrestage ließ Johnson in der autobiographischen Skizze eines Verunglückten sein Alter Ego den Selbstmord vergeblich suchen. Nur ein »Ableben« war dem Protagonisten möglich, das vor allem der quälenden Erinnerung an das persönliche Unglück geschuldet war, in das ihn das Eheleben nach Jahren vermeintlichen Glücks gestürzt hatte. Johnson selbst starb drei Jahre später, als das große Epos endlich beendet war, an den Folgen des jahrelangen Alkoholexzesses, dem er sich in der Einsamkeit der englischen Jahre hingegeben hatte. Das suizidale Denken, das im Werk in vielfachen Nuancierungen anklang, holte Johnson in dieser protrahierten Form der Selbstzerstörung endgültig ein.
Auch bei Ingeborg Bachmann ist im schriftstellerischen Bewusstsein der Holocaust präsent. In ihrem Hauptwerk Malina quälen das »Ich« schreckliche Träume vom Tod in den Gaskammern. Bachmann imaginiert das Schicksal des Verbrennungstods in dem Roman sowie in einer anderen Erzählung. Tatsächlich erlag die Dichterin im Oktober 1973 den Verbrennungen, die sie sich in einem narkotischen Zustand nach Tablettenmissbrauch zugezogen hatte. Seit einem frühen Essay über Simone Weil war die Figur des Heiligen, der dem Unglück der Wirklichkeit mit der Konsequenz seines tödlichen Martyriums begegnet, in ihrem Werk präsent, auch wenn Bachmann selbst das Lebensglück durchaus zu genießen wußte. Die Freundschaft zu Hans Magnus Enzensberger blieb bis zuletzt ungebrochen, gerade weil Bachmann unter anderem darauf verzichtete, von den »vielen Liebhaber[n]« zu berichten, »die sie ertrug«, so der Autor in seiner späten »Vignette«. Dabei habe sie »von ihren Fluchten, ihren Depressionen und von den langen Monaten, die sie in Kliniken und Sanatorien zugebracht hatte, […] hie und da etwas durchblicken« lassen.
Die folgenden Persönlichkeitsprofile geben in allen Fällen suizidale Züge zu erkennen, die erlauben, von säkularisierten Passionsgeschichten zu sprechen. Mit dem deutsch-jüdischen Literaturhistoriker Erich Auerbach, einem Freund Walter Benjamins, lässt sich der untergründige Zusammenhang zwischen der Religionshistorie und der modernen Literatur genauer verstehen. Nicht zufällig erinnerte sich der Romanist, den man 1936 von seinem Marburger Lehrstuhl vertrieben hatte, im türkischen Exil an die alttestamentlichen Wurzeln des Passionsgedankens, den er in seinem Buch Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur über dessen christliche Überformung bis in die moderne Gestalt bei Virginia Woolf verfolgt hatte. Dass diese Sicht sich dem Geist der Hegel-Zeit verdankt, in der die große Wende von der christlichen zur säkularen Deutung der Wirklichkeit statthatte, dessen ist sich Auerbach bewusst. Zugleich geht mit seiner Genealogie die Einsicht in die jüdischen Wurzeln des Rätsels des Lebensopfers einher: die Opferung des Isaak. Die menschliche Vernunft kann diesen Gedanken nicht fassen; jedem Opfer wohnt bei aller Konsequenz etwas Absurdes inne, als ob der Tod wirklich der Ursprung der Versöhnung sein könnte, wie es das Christentum propagiert.
Auerbach löst das Geheimnis keineswegs, aber seine Erinnerung an die jüdisch-christlichen Wurzeln der Passion in ihren vielfältigen Aporien erlaubt, die Schreibmotive der modernen Autoren in ihren suizidalen Gedanken und Handlungen besser nachzuvollziehen. Wo die Autorität der Religion schwindet, müssen menschliche Visionen versuchen, das Leiden als eine Kategorie des Lebens in dessen »Grenzsituationen« zu verstehen, um mit Karl Jaspers zu sprechen. Insofern kommen in den vier Fallstudien auch psychopathologische und kulturphilosophische Einsichten zum Tragen, um Werk und Leben der Autoren im biographischen und historischen Bedingungsgefüge genauer erhellen zu können.
Was jenseits aller Details sichtbar werden kann, sind jeweils eigentümliche Strukturen, in denen das eigene und allgemeine Unglück erlebt wird. In allen Fällen fehlt der befreiende Ausgang ins Leben, den Hans Magnus Enzensberger bis heute virtuos beherrscht. Mit einem Zitat aus Ingeborg Bachmanns Gedicht »Die gestundete Zeit« verteidigt er »Überlebenskünstler«, die mit Leichtigkeit und Wendigkeit begnadet sind: »Sind Anpassung, glückliche Zufälle, Kompromisse und mehrdeutige Entscheidungen von vorgestern? Kann man nichts von ihnen lernen? ›Es kommen härtere Tage‹«. Enzensberger ist eine solch glücklichere Natur, die sich aber auch ein feines Gespür für jene »Spätfolgen der Traumata« bewahrt hat, welche etwa Jean Améry, Paul Celan und Primo Levi in den Freitod getrieben haben. Die hier behandelten Werke und Lebensgeschichten zeugen auch von dem vergeblichen Bemühen Bachmanns, Johnsons und Meinhofs, der inneren Verzweiflung angesichts der historischen Katastrophe zu entkommen.
In allen Skizzen wird man, um an Franz Kafka zu erinnern, mit dem Unglück des Lebens vertraut, das zwar ästhetisch zu lindern, aber nicht zu überwinden ist. Gleichwohl bleibt auch die andere Seite des leidenschaftlichen Interesses an den Schriftstellern und ihren Lebensläufen wahr, die Uwe Johnson einmal wunderbar formulierte: »Er fand es regelmäßig lehrreich, eine Person anzusehen auf ihre Entstehung, hinter der Person ihr Leben zu finden. Es machte Spaß, einer bewußten Vergangenheit die tatsächliche zu finden, die Erinnerung einer Person mitzunehmen zurück ins Vergessene, auch sie überrascht zu sehen vor sich selbst.«
»Der Essayist Jean Améry wurde […] in Salzburg tot aufgefunden. Aus den Phiolen seiner Medikamente fehlten etwa fünfzig Tabletten.« So eröffnete die Wiener Presse am 19. Oktober 1978 ihren Nachruf. Wolfgang Kraus, ein Améry wohlgesinnter Literaturkritiker, schließt erschüttert mit einer Passage aus Hand an sich legen: »Ich schlage, immer noch fassungslos, die letzte Seite seines Buches über den Freitod auf und lese: ›Es steht nicht gut um den Suizidär; stand nicht zum besten für den Suizidanten. Wir sollten ihnen Respekt vor ihrem Tun und Lassen, sollten ihnen Anteilnahme nicht versagen, zumal wir selber keine glänzende Figur machen. Beklagenswert nehmen wir uns aus, das kann ein jeder sehen. So wollen wir gedämpft und in ordentlicher Haltung, gesenkten Kopfes den beklagen, der uns in Freiheit verließ.‹«
Diese Haltung zeigte auch Primo Levi, der Améry aus der gemeinsamen Lagerzeit in Auschwitz kannte. Der italienische Schriftsteller und Chemiker, der sich selbst ein knappes Jahrzehnt später im Zuge einer Depression das Leben nehmen sollte, sprach vom »harten Kern der Unbegreiflichkeit«, der über jedem Selbstmord liege. Zugleich gestand Levi angesichts von Hand an sich legen zu, dass der »Freitod des streitbaren, einsamen Philosophen« eine erschütternde Folgerichtigkeit besitze: »Man liest diese Seiten mit einem nahezu physischen Schmerz, sie sind das Zeugnis eines Schiffbruchs, der sich über Jahrzehnte hinzieht, bis zu seinem stoischen Abschluß.«
Betreten hatte Jean Améry die intellektuelle Bühne in Deutschland im Jahr 1965, als er mit dem Essay »Die Tortur« für die Zeitschrift Merkur