Buch
Eigentlich ist Charlie Asher ein recht liebenswerter Mensch: ein wenig neurotisch, vielleicht auch ein kleiner Hypochonder, aber alles in allem eher durchschnittlich. Er besitzt ein Haus in San Francisco sowie einen gut gehenden Secondhand-Laden, den er mit Hilfe von zwei überaus loyalen, aber leicht exzentrischen Mitarbeitern führt. Er ist mit der hübschen Rachel verheiratet, die ihn gerade wegen seiner Normalität liebt. Und Rachel und Charlie erwarten ihr erstes Kind. Alles könnte ewig so weitergehen, stünde nicht der Tag der Geburt bevor. Denn an diesem Tag verändert sich Charlies Leben schlagartig: Rachel stirbt kurz nach der Geburt ihrer Tochter Sophie, und Charlie glaubt, darüber verrückt zu werden. Denn er ist sich ziemlich sicher, dass in dem Moment von Rachels Tod neben ihrem Bett ein außergewöhnlich großer, schwarzer Mann in einem mintgrünen Anzug auftauchte – allerdings auch auf ebenso unerklärliche Weise plötzlich wieder verschwand. Da die Sicherheitskameras nur Aufnahmen von Charlie am Totenbett seiner Frau zeigen, schickt man ihn mit einigen Medikamenten versehen nach Hause. Doch kaum dort angekommen, häufen sich die merkwürdigen Ereignisse. Die Dinge in seinem Laden fangen an zu leuchten, mannshohe Raben nisten sich auf seinem Dach ein, und wildfremde Menschen fallen mausetot vor Charlie um. Und dann taucht auch noch der Mann im grünen Anzug wieder auf, der ihn endlich aufklärt: Auf Befehl von ganz oben ist Charlie ein neuer Job übertragen worden. Er soll die Seelen der Sterbenden einfangen, bevor die Mächte des Dunklen sie entführen können. Keine angenehme Arbeit, aber irgendjemand muss sie ja schließlich machen. Charlie sieht nur nicht ein, warum ausgerechnet er dazu auserkoren sein soll, und fordert den Tod heraus...
Autor
Der ehemalige Journalist Christopher Moore arbeitete als Dachdecker, Kellner, Fotograf und Versicherungsvertreter, bevor er anfing, Romane zu schreiben. Er wird von der Kritik zu Recht immer wieder mit Douglas Adams und Terry Pratchett verglichen. Der Autor lebt auf Hawaii und freut sich unter www.chrismoore.com auf einen virtuellen Besuch.
Christopher Moore
Ein todsicherer Job
Roman
Deutsch
von Jörn Ingwersen
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006
unter dem Titel »A Dirty Job« bei William Morrow,
a division of HarperCollins Publishers Inc., New York
Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2006
Copyright © 2006 by Christopher Moore
Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher
Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
Redaktion: Ilse Wagner
Datenkonvertierung eBook: Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg
ISBN 978-3-641-01256-4
V003
www.goldmann-verlag.de
Was du suchst, wirst du nicht finden,
Denn als die Götter den Menschen erschufen, Behielten sie die Unsterblichkeit für sich.
Iss Gutes.
Sei tagtäglich guten Mutes,
Lass deine Tage voller Freude sein.
Lieb’ das Kind an deiner Hand.
Schenk deiner Frau das Glück in deinen Armen. Darum allein soll sich die Menschheit sorgen.
Gilgamesch-Epos
Charlie Asher wandelte auf Erden wie eine Ameise übers Wasser – als müsste er bei dem geringsten Fehltritt untergehen. Mit der Einbildungskraft eines Betamännchens blinzelte er sein Leben lang in die Zukunft, um herauszufinden, ob sich die Welt verschworen hatte, ihn umzubringen – ihn, seine Frau Rachel und die kleine Sophie, die eben erst zur Welt gekommen war. Doch trotz seiner Vorsicht, seiner Paranoia, seiner unablässigen Sorge, seit Rachel einen blauen Streifen auf ihren Schwangerschaftstest gepinkelt hatte, bis zu dem Moment, als man sie in die Aufwachstation des St. Francis Memorial gerollt hatte, schlich der Tod heran.
»Sie atmet nicht«, sagte Charlie.
»Sie atmet genau richtig«, sagte Rachel und klopfte dem Baby auf den Rücken. »Möchtest du sie halten?«
Charlie hatte die kleine Sophie schon vor einer Weile auf dem Arm gehabt, sie dann aber hastig an eine Krankenschwester weitergereicht und darauf bestanden, jemand, der qualifizierter sei als er, solle Finger und Zehen durchzählen. Er hatte es schon zweimal getan und kam jedes Mal auf einundzwanzig.
»Die tun gerade so, als sei nichts dabei. Als wäre alles in Ordnung, sobald ein Kind nur mindestens zehn Finger und zehn Zehen hat. Was ist mit Sonderausstattungen? Hm? Extrabonusfinger? Was ist, wenn es ein Schwänzchen hat?« (Charlie war überzeugt davon, dass er auf dem Sechs-Monats-Ultraschallbild einen kleinen Schwanz gesehen hatte. Von wegen Nabelschnur! Das Bild hatte er aufbewahrt.)
»Sie hat kein Schwänzchen, Mr. Asher«, erklärte die Krankenschwester. »Und es sind zehn und zehn. Wir haben genau nachgezählt. Vielleicht sollten Sie nach Hause gehen und sich etwas ausruhen.«
»Ich liebe sie trotzdem, auch wenn sie einen Finger mehr hat.«
»Sie ist absolut normal.«
»Oder einen Zeh.«
»Wir wissen, was wir tun, Mr. Asher. Sie ist ein hübsches, gesundes kleines Mädchen.«
»Oder ein Schwänzchen.«
Die Schwester seufzte. Sie war kurz und breit, mit einer tätowierten Schlange am rechten Unterschenkel, die durch ihre weißen Nylonstrümpfe schimmerte. Vier Stunden täglich verbrachte sie damit, Frühchen zu massieren, wobei sie ihre Hände durch Öffnungen im Brutkasten schob, als hätte sie es mit radioaktivem Material zu tun. Sie sprach mit ihnen, redete ihnen gut zu, dass sie etwas ganz Besonderes seien, und fühlte, wie die kleinen Herzen in Brustkörben flatterten, die kaum größer als ein Paar aufgerollte Tennissocken waren. Sie beweinte jedes einzelne Kind und glaubte fest daran, dass die Tränen und Berührungen etwas von ihrer eigenen Lebenskraft auf die winzigen Körper übertrugen. Sie hatte davon reichlich. Seit zwanzig Jahren war sie Säuglingsschwester, und noch nie hatte sie ihre Stimme gegen einen frischgebackenen Vater erhoben.
»Die Kleine hat aber keinen Schwanz. Sie Vollidiot! Hier!«
Sie riss die Decke zurück und hielt ihm den Babyhintern hin, als wollte sie eine Salve von waffenfähigem Urin auf das arglose Betamännchen abfeuern.
Charlie wich zurück, schlank und wendig mit seinen dreißig Jahren, doch als ihm einfiel, dass das Baby ja gar nicht geladen war, zupfte er mit einer Geste rechtschaffener Entrüstung das Revers an seinem Tweedjackett zurecht. »Er könnte im Kreißsaal entfernt worden sein, ohne dass wir etwas davon wüssten.« Er wusste es tatsächlich nicht. Man hatte ihn gebeten, den Kreißsaal zu verlassen, erst der Arzt, dann sogar Rachel. (»Er oder ich«, hatte sie gesagt. »Einer von uns beiden muss gehen.«)
In Rachels Zimmer sagte Charlie: »Falls man ihren Schwanz entfernt hat, werde ich ihn mir holen. Bestimmt will sie ihn haben, wenn sie älter ist.«
»Sophie, dein Papa ist nicht wirklich geisteskrank. Er hat nur ein paar Tage nicht geschlafen.«
»Sie guckt mich an«, sagte Charlie. »Sie guckt mich an, als hätte ich ihre Ausbildungsversicherung auf der Rennbahn verzockt, und jetzt muss sie fremden Männern gefügig sein, damit sie Ökonomie studieren kann.«
Rachel nahm seine Hand. »Liebling, ich glaube, in diesem Stadium kann sie noch gar nichts erkennen. Außerdem ist sie noch so klein. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass sie fremden Männern gefügig sein muss, um Ökologie zu studieren.«
»Ökonomie«, verbesserte Charlie. »Heutzutage fangen sie früh an. Bis ich den Weg zur Rennbahn gefunden habe, könnte sie alt genug sein. Oh, Gott! Deine Eltern werden mich hassen.«
»Ist das was Neues?«
»Es gibt neue Gründe. Ich habe ihre Enkelin zur Schickse gemacht.«
»Sie ist keine Schickse, Charlie. Darüber haben wir doch schon gesprochen. Sie ist meine Tochter und genauso jüdisch wie ich.«
Charlie sank neben dem Bett auf die Knie und nahm Sophies winzige Hände zwischen seine Finger. »Es tut Daddy leid, dass er dich zur Schickse gemacht hat.« Er ließ den Kopf hängen, vergrub sein Gesicht zwischen Rachel und dem Baby. Rachel strich mit dem Fingernagel an seinem Haaransatz entlang.
»Du solltest nach Hause fahren und schlafen.«
Charlie murmelte etwas in die Decke. Als er aufblickte, hatte er Tränen in den Augen. »Sie fühlt sich warm an.«
»Sie ist auch warm. Das soll so sein. Es liegt daran, dass sie ein Säugetier ist. Hat mit dem Stillen zu tun. Warum weinst du?«
»Ihr beiden seid so wunderschön.« Er breitete Rachels dunkles Haar auf dem Kissen aus, drapierte eine lange Locke auf Sophies Kopf – wie eine Babyperücke.
»Ist schon okay, wenn ihr keine Haare wachsen. Es gab da mal so eine wütende, irische Sängerin, die keine Haare hatte und trotzdem ansehnlich war. Wenn wir ihr Schwänzchen hätten, könnten wir daraus vielleicht Haare transplantieren.«
»Charlie! Geh nach Hause!«
»Deine Eltern werden mir die Schuld geben. Ihre kahle Enkelin ist eine Schickse, die fremden Männern gefügig ist und Betriebswirtschaft studiert... wahrscheinlich kriege ich die Schuld an allem.«
Rachel nahm den Summer von ihrer Decke und hielt ihn hoch, als wäre er mit einer Bombe verdrahtet. »Charlie, ich schwöre dir: Wenn du nicht auf der Stelle nach Hause gehst und dich ausschläfst, rufe ich nach der Schwester und lass dich rauswerfen.«
Sie klang ernst, lächelte aber. Charlie hatte sie schon immer gern angesehen, wenn sie lächelte. Es fühlte sich an wie Zustimmung, Genehmigung. Die Lizenz, Charlie Asher zu sein.
»Okay, ich werde gehen.« Er fühlte ihre Stirn. »Hast du Fieber? Du siehst müde aus.«
»Ich habe eben ein Kind zur Welt gebracht, du Träumer!«
»Ich mach mir nur Sorgen um dich.« Er war kein Träumer. Sie gab ihm nur die Schuld an Sophies Schwänzchen, und deshalb nannte sie ihn »Träumer« und nicht »Vollidiot« wie alle anderen.
»Liebster, geh! Bitte! Damit ich mich ein bisschen ausruhen kann.«
Charlie schüttelte ihre Kissen auf, sah nach dem Wasserkrug, stopfte die Bettdecke fest, küsste ihre Stirn, küsste das Baby, schüttelte das Baby auf, dann fing er an, die Blumen umzuarrangieren, die seine Mutter geschickt hatte, holte die große, weiße Lilie nach vorn, rückte das Knabenkraut zurecht...
»Charlie! «
»Ja, doch! Ich geh ja schon!« Er sah sich noch mal im Zimmer um, dann schob er sich rückwärts zur Tür.
»Soll ich dir irgendwas von zu Hause mitbringen?«
»Ich bin gut versorgt. In dem Klinikkoffer, den du mir gepackt hast, ist alles drin. Es könnte sogar sein, dass ich den Feuerlöscher gar nicht brauche.«
»Besser, einen zu haben und ihn nicht zu brauchen, als einen zu brauchen und...«
»Geh! Ich ruh mich etwas aus. Der Arzt will sich Sophie noch mal ansehen, dann nehmen wir sie morgen mit nach Hause.« »Das scheint mir doch sehr bald zu sein.«
»Es ist normal.«
»Soll ich dir noch ein bisschen Propangas für den Campingkocher bringen?«
»Wir werden versuchen, ohne auszukommen.«
»Aber...«
Rachel hielt den Summer hoch, als drohte sie mit harschen Konsequenzen, falls man ihren Wünschen nicht entsprechen sollte. »Hab dich lieb«, sagte sie.
»Ich dich auch«, sagte Charlie. »Euch beide.«
»Bye, Daddy.« Wie eine Puppenspielerin winkte Rachel mit Sophies kleiner Hand.
Charlie hatte einen Kloß im Hals. Noch nie hatte jemand »Daddy« zu ihm gesagt, nicht mal eine Puppe. (Einmal hatte er Rachel beim Sex gefragt: »Wer ist dein Daddy?«, woraufhin sie »Saul Goldstein« antwortete. Danach war er eine Woche lang impotent gewesen, denn es warf alle möglichen Themen auf, über die er lieber gar nicht nachdenken wollte.)
Rückwärts ging er aus dem Zimmer und schloss die Tür ganz leise, dann lief er den Flur entlang, am Tresen vorbei, wo ihn die Krankenschwester mit dem Schlangen-Tattoo im Vorübergehen anlächelte.
Charlie fuhr einen sechs Jahre alten Minivan, den er von seinem Vater geerbt hatte, zusammen mit dem Secondhandladen und dem Gebäude, in dessen Erdgeschoss sich dieser befand. Schon immer hatte es im Lieferwagen leicht nach Staub, Mottenkugeln und Körpergeruch gestunken, trotz aller Duftbäumchen, die Charlie auf sämtliche Haken, Knöpfe und Knäufe verteilt hatte. Er öffnete die Fahrertür, und der Duft des Unerwünschten – die Ware eines Trödlers – zog über ihn hinweg.
Bevor er den Schlüssel überhaupt im Zündschloss hatte, sah er die Sarah-McLaughlin-CD auf dem Beifahrersitz. Rachel würde sie vermissen. Es war ihre Lieblings-CD, und jetzt musste sie ohne sie entspannen. Das wollte er nicht zulassen. Charlie griff sich die CD, schloss den Lieferwagen ab und machte sich auf den Weg zu Rachels Zimmer.
Zu seiner Erleichterung stand die Schwester nicht mehr hinterm Tresen, was ihm einen vorwurfsvollen Blick ersparte. Im Stillen hatte er eine kleine Ansprache darüber vorbereitet, dass ein guter Ehemann und Vater die Bedürfnisse seiner Frau vorauszusehen habe, und dazu gehöre eben auch, ihr Musik zu bringen... na ja, er konnte den kleinen Vortrag auch auf dem Rückweg halten, wenn sie ihn mit ihrem frostigen Blick bedachte.
Langsam schob er die Tür von Rachels Zimmer auf, um sie nicht zu erschrecken, erwartete ihr freundlich tadelndes Lächeln, doch sie schien zu schlafen, und ein sehr großer, schwarzer Mann im mintgrünen Anzug stand neben ihrem Bett.
»Was machen Sie da?«
Erschrocken fuhr der Mann in Mint herum. »Sie können mich sehen?« Er deutete auf seine schokoladenfarbene Krawatte, und eine Sekunde lang fühlte sich Charlie an diese dünnen Pfefferminztaler erinnert, die in besseren Hotels auf den Kopfkissen lagen.
»Natürlich kann ich Sie sehen. Was machen Sie hier?«
Charlie trat an Rachels Bett, drängte sich zwischen den Fremden und seine Familie. Die kleine Sophie schien von dem großen, schwarzen Mann ganz fasziniert zu sein.
»Das ist nicht gut«, sagte der Mintmann.
»Sie sind im falschen Zimmer«, sagte Charlie. »Raus hier!« Charlie langte hinter sich und tätschelte Rachels Hand.
»Das ist wirklich, wirklich nicht gut.«
»Sir, meine Frau versucht zu schlafen, und Sie sind im falschen Zimmer. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden, bevor ich...«
»Sie schläft nicht«, sagte Mintmann. Seine Stimme war sanft, klang nach Südstaaten. »Tut mir leid.«
Charlie drehte sich um und sah Rachel an, erwartete, sie lächeln zu sehen, doch sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Kopf war neben das Kissen gesunken.
»Liebling?« Charlie ließ die CD fallen und schüttelte sie vorsichtig.
Die kleine Sophie fing an zu schreien. Charlie fühlte Rachels Stirn, nahm sie bei den Schultern und rüttelte sie. »Liebling, wach auf! Rachel! « Er hielt sein Ohr an ihr Herz und hörte nichts. »Schwester!«
Charlie hechtete über das Bett, um den Summer zu nehmen, der Rachel aus der Hand gefallen war, und lag quer auf der Decke. »Schwester!« Er drückte den Knopf und drehte sich zu dem Mann in Mint um. »Was ist passiert...?«
Er war weg.
Charlie rannte auf den Flur hinaus, doch da war niemand. »Schwester!«
Zwanzig Sekunden später kam die Schwester mit dem Schlangen-Tattoo, dreißig Sekunden darauf gefolgt vom Wiederbelebungsteam mit einem Rollwagen.
Sie konnten nichts mehr tun.
Frische Trauer besitzt eine besondere Schärfe, die die Nerven kappt und die Wirklichkeit abtrennt... eine scharfe Klinge ist barmherzig. Erst nach einer Weile, wenn die Schneide stumpf wird, setzt der echte Schmerz ein.
Deshalb merkte Charlie auch nichts von seinem Geschrei in Rachels Zimmer, von den Beruhigungsmitteln, die man ihm verabreichte, von dieser elektrisierten Hysterie, die sich wie ein Film über alles legte, was er an jenem ersten Tag tat. Danach war alles nur noch wie die Erinnerung eines Schlafwandlers, gefilmt aus der Augenhöhle eines Zombies, und wie ein Untoter taumelte er durch Vorwürfe, Erklärungen, Vorkehrungen und Formalitäten.
»Man spricht von zerebraler Thromboembolie«, hatte der Arzt gesagt. »Während der Wehen bildet sich in den Beinen oder in der Hüfte ein kleiner Blutklumpen, der dann zum Gehirn wandert und die Blutzufuhr unterbricht. Sehr selten, aber es kommt vor. Wir konnten nichts machen. Selbst wenn es dem Notfallteam gelungen wäre, sie wiederzubeleben, hätte ihr Hirn schweren Schaden genommen. Sie hatte keine Schmerzen. Vermutlich wurde sie nur müde und ist dann eingeschlafen.«
Charlie flüsterte, um nicht schreien zu müssen. »Dieser Mann in Mintgrün! Er hat irgendwas mit ihr angestellt. Er hat ihr etwas injiziert. Er war da, und er wusste, dass sie im Sterben lag. Ich habe ihn gesehen, als ich ihr die CD bringen wollte.«
Sie zeigten ihm das Überwachungsvideo. Die Schwester, der Arzt, die Krankenhausleitung und die Anwälte – sie alle sahen sich die schwarzweißen Bilder an, wie er aus Rachels Zimmer kam, dann den leeren Flur und schließlich, wie er wieder in ihr Zimmer ging. Kein großer, schwarzer Mann in Mint. Sie fanden nicht mal die CD, von der er sprach.
Schlafentzug, sagten sie. Halluzinationen, hervorgerufen durch Erschöpfung. Trauma. Man gab ihm Medikamente zum Schlafen, Medikamente gegen Angst, Medikamente gegen Depressionen, und dann schickten sie ihn mit seiner kleinen Tochter nach Hause.
Charlies ältere Schwester Jane hielt die kleine Sophie im Arm, als sie Rachel zwei Tage später begruben. Er konnte sich nicht erinnern, einen Sarg ausgesucht oder sonstige Arrangements getroffen zu haben. Es war wieder dieser somnambule Traum: Die angeheirateten Verwandten rannten hin und her, wie taumelnde Gespenster, und gaben unangemessene Kondolenzklischees von sich: »Es tut uns so leid. Sie war so jung. Eine Tragödie. Wenn wir irgendetwas tun können...«
Rachels Vater und Mutter umarmten ihn, so dass sie die Köpfe wie ein dreibeiniges Stativ zusammensteckten. Tränen tropften auf die Schieferplatten im Foyer des Beerdigungsinstitutes. Jedes Mal, wenn Charlie spürte, dass die Schultern des alten Mannes bebten, brach sein Herz von neuem. Saul nahm Charlies Gesicht in die Hände und sagte: »Du kannst es dir nicht vorstellen, denn ich kann es mir nicht vorstellen.« Doch Charlie konnte es sich vorstellen, denn er war ein Betamännchen. Vorstellungskraft war sein Fluch, und er konnte es sich sehr wohl vorstellen, denn er hatte Rachel verloren und jetzt eine Tochter, diese winzig kleine Unbekannte, die dort in den Armen seiner Schwester lag. Er konnte sich gut vorstellen, wie der Mann in Mint sie ihm genommen hatte.
Charlie blickte vom tränenfeuchten Boden auf und sagte: »Deshalb sind Beerdigungsinstitute mit Teppichen ausgelegt. Man könnte ausrutschen.«
»Armer Junge«, sagte Rachels Mutter. »Selbstverständlich sitzen wir shiva mit dir.«
Charlie bahnte sich einen Weg quer durch den Raum zu seiner Schwester Jane im dunkelgrauen Zweireiher aus Nadelstreifen-Gabardine, in dem sie – mit ihrer gegelten Eighties-PopstarFrisur und dem Baby in pinkfarbener Decke auf dem Arm – nicht so sehr androgyn, als eher etwas ratlos aussah. Ihr stand der Anzug besser als ihm, aber trotzdem fand Charlie, sie hätte ihn um Erlaubnis bitten sollen.
»Ich kann das nicht«, sagte er. Er beugte sich vor, bis seine Halbinsel aus dunklem Haar ihren platinblonden Flock-of-Seagulls-Flip berührte. Das schien die beste Haltung für gemeinsame Trauer zu sein, und es kam ihm vor, als stünde er betrunken an einem Pinkelbecken und lehnte sich mit dem Kopf an die Wand. Verzweiflung.
»Du hältst dich wacker«, sagte Jane. »Niemand kann so was gut.«
»Was ist denn eigentlich Shiva?«
»Ich glaube, diese Hindu-Göttin mit den vielen Armen.« »Das kann nicht stimmen. Die Goldsteins wollen mit mir darauf sitzen.«
»Hat Rachel dir denn nichts über jüdische Bräuche beigebracht?«
»Hab nicht aufgepasst. Ich dachte, wir hätten noch Zeit.«
Jane schob sich die kleine Sophie auf die Schulter und strich Charlie mit der freien Hand über den Rücken. »Wird schon werden, Kleiner.«
»Sieben«, sagte Mrs. Goldstein. »Shiva bedeutet ›Sieben‹. Früher haben wir sieben Tage beisammen gesessen, gebetet und die Toten betrauert. Das ist orthodox. Heutzutage sitzen die meisten nur drei Tage.«
Sie saßen shiva in Charlies und Rachels Apartment mit Blick auf die Cable Cars an der Ecke Mason und Vallejo Street. Das Gebäude war ein vierstöckiger, edwardianischer Backsteinbau (architektonisch nicht ganz der pompöse Kurtisanenstil der Viktorianer, aber doch so nuttig, dass sich manch ein Seemann in der Seitenstraße darauf einen runterholen mochte), erbaut nach dem Erdbeben und dem Brand von 1906, dem das ganze Viertel dessen, was heute North Beach, Russian Hill und China Town ist, zum Opfer fiel. Charlie und Jane hatten das Haus und den Laden im Erdgeschoss geerbt, als ihr Vater vor vier Jahren starb. Charlie bekam das Geschäft, die große Doppelwohnung, in der sie aufgewachsen waren, und dazu die Instandhaltungskosten des alten Gebäudes aufs Auge gedrückt, während Jane die Hälfte der Mieteinnahmen und das oberste Apartment mit Blick auf die Bay Bridge erbte.
Auf Mrs. Goldsteins Anweisung hin waren sämtliche Spiegel im Haus mit schwarzem Stoff verhängt, und auf dem Kaffeetisch mitten im Wohnzimmer stand eine große Kerze. Man sollte auf niedrigen Bänken oder Kissen sitzen, was Charlie beides nicht im Haus hatte, und so ging er zum ersten Mal seit Rachels Tod hinunter in den Laden, um nachzusehen, ob er was Brauchbares finden konnte. Die Hintertreppe führte von einer Speisekammer neben der Küche direkt ins Lager, wo Charlie sein Büro hatte, zwischen Kisten voller Waren, die sortiert, ausgezeichnet und eingeräumt werden mussten.
Der Laden war dunkel – bis auf das Licht, das von den Laternen draußen auf der Mason Street durchs Schaufenster fiel. Charlie stand am Fuß der Treppe, mit einer Hand am Lichtschalter, und starrte ins Dunkel. Überall auf den Regalen voller Bücher und Krimskrams, zwischen alten Radios und Kleiderständern leuchtete es rot, pulsierte fast wie pochende Herzen. Ein Sweater auf dem Ständer, ein Porzellanfrosch in der Grabbelkiste, vorn beim Schaufenster ein altes Coca-Cola-Tablett, ein Paar Schuhe. Alles rot.
Charlie drückte den Schalter, dass die Neonröhren an der Decke flackerten und es hell im Laden wurde. Das rote Leuchten war verschwunden. »Okaaaaay«, sagte er zu sich selbst, ganz ruhig, als wäre jetzt alles in Ordnung. Dann knipste er das Licht wieder aus. Rotes Leuchten. Auf dem Tresen, nicht weit von ihm, stand ein Visitenkartenhalter aus Messing in Form eines schreienden Kranichs und leuchtete matt. Er nahm sich den Moment, ihn näher zu betrachten, um sicherzugehen, dass nicht von irgendwo draußen rotes Licht hereinschien. Er betrat den dunklen Laden, sah sich den Kranich von allen Seiten an. Nein, das Messing pulsierte. Definitiv. Er machte kehrt und hastete – so schnell er konnte – die Treppe hinauf.
Fast rannte er Jane über den Haufen, die Sophie sanft in ihren Armen wiegte und leise mit ihr sprach.
»Was?«, sagte Jane. »Ich weiß genau, dass da unten irgendwo große Kissen sein müssen.«
»Ich kann nicht«, sagte Charlie. »Ich steh unter Drogen.« Er baute sich vor dem Kühlschrank auf, als wollte er sich daran festketten.
»Ich geh ja schon. Hier, nimm das Baby.«
»Ich kann nicht. Ich bin auf Droge. Ich habe Halluzinationen.«
Jane hielt das Baby in der rechten Armbeuge und nahm ihren Bruder in den Arm. »Charlie, du hast Antidepressiva und Beruhigungsmittel genommen, kein Acid. Sieh dich um. Du wirst in dieser Wohnung niemanden finden, der nicht in irgendeiner Form zugedröhnt ist. « Die Durchreiche ermöglichte einen Blick ins Wohnzimmer: Frauen in Schwarz, die meisten um die Fünfzig oder älter, schüttelten die Köpfe, die Männer wirkten ungerührt, standen im Wohnzimmer herum, alle mit einem Glas voll Alkohol. Sie starrten ins Nichts.
»Siehst du? Die sind doch alle breit.«
»Was ist mit Mom?« Charlie nickte zu seiner Mutter hinüber, die aus dem Pulk der grauhaarigen Frauen in Schwarz herausstach, weil sie mit Navajo-Schmuck behängt und so braungebrannt war, dass sie sich in ihrem »Old Fashioned«-Cocktail aufzulösen schien, wenn sie davon trank.
»Mom ganz besonders«, sagte Jane. »Ich such was, worauf man shiva sitzen kann. Obwohl ich nicht verstehe, wieso man nicht auf dem Sofa sitzen darf. Jetzt nimm endlich deine Tochter.«
»Ich kann nicht. Mir ist nicht zu trauen.«
»Nimm sie, Schwachkopf!«, bellte Jane ins Charlies Ohr, so etwas wie ein Flüsterbellen. Die beiden hatten schon lange geklärt, wer hier das Alphamännchen war, und Charlie war es nicht. Sie reichte ihm das Baby und steuerte die Treppe an.
»Jane!«, rief ihr Charlie nach. »Sieh dich um, bevor du Licht machst. Guck nach, ob dir was komisch vorkommt, okay?«
»Aha. Komisch also.«
Sie ließ ihn in der Küche stehen, wo er seine Tochter betrachtete und dachte, dass ihr Kopf zwar etwas eckig wirkte, sie ansonsten aber Rachel ähnlich sah. »Deine Mama mochte Tante Jane«, sagte er. »Die beiden haben sich bei Risiko immer gegen mich verbündet – und bei Monopoly – und bei Diskussionen – und beim Kochen...« Er rutschte an der Kühlschranktür herab und saß mit gespreizten Beinen auf dem Boden, vergrub sein Gesicht in Sophies Decke.
Im Dunkeln stieß Jane mit dem Schienbein gegen eine Holzkiste mit alten Telefonen. »Also, das ist doch bescheuert«, sagte sie und machte Licht. Da war nichts komisch. Und dann – weil Charlie alles Mögliche war, nur nicht verrückt – machte sie das Licht wieder aus, um sicherzugehen, dass ihr nichts entgangen war. »Na klar. Sehr komisch.«
Das einzig Komische im Laden war, dass sie dort im Dunkeln stand und ihr Schienbein rieb. Doch dann, kurz bevor sie das Licht wieder anmachte, sah sie jemanden, der durchs Schaufenster hereinschaute. Er schirmte seine Augen ab, um im Licht der Straßenlaternen etwas zu erkennen. Ein Obdachloser oder ein betrunkener Tourist, dachte sie. Sie schob sich durch den dunklen Laden, zwischen Türmen von Comicheften hindurch, die sich am Boden stapelten, bis dorthin, wo sie hinter einem Jackenständer einen Blick auf das Schaufenster werfen konnte, das mit billigen Kameras, Vasen, Gürtelschnallen und allem möglichen vollgestopft war, was Charlies Ansicht nach von Interesse, aber natürlich keinen Einbruch wert war.
Der Mann sah groß aus, mitnichten obdachlos, gut gekleidet, wenn auch einfarbig. Es sah gelblich aus, aber im Licht der Laternen war das schwer zu sagen. Konnte auch hellgrün sein.
»Wir haben geschlossen«, sagte Jane laut genug, dass man sie durch die Scheibe hören konnte.
Der Mann da draußen sah sich im Laden um, konnte sie aber nicht finden. Er trat von der Scheibe zurück, und da sah sie erst, wie groß er wirklich war. Sehr groß. Licht von der Laterne fiel auf seine Wange, als er sich umwandte. Er war ausgesprochen dünn und ausgesprochen schwarz.
»Ich suche den Besitzer«, sagte der große Mann. »Ich muss ihm etwas zeigen.«
»Es gab einen Todesfall in der Familie«, sagte Jane. »Wir haben diese Woche geschlossen. Könnten Sie nächste Woche wiederkommen?«
Der große Mann nickte, sah sich auf der Straße um. Er wippte auf einem Fuß, als wollte er gleich losrennen, musste sich aber bremsen wie ein Sprinter vor dem Start. Jane rührte sich nicht. Es waren immer Leute draußen auf der Straße, und es war ja noch nicht spät, aber dieser Typ war zu nervös für diese Situation. »Hören Sie, wenn Sie etwas schätzen lassen wollen...«
»Nein.« Er fiel ihr ins Wort. »Nein. Sagen Sie ihm einfach, sie ist... nein. Sagen Sie ihm, er soll auf ein Päckchen achten, das mit der Post kommt. Ich weiß nicht genau, wann.«
Jane lächelte in sich hinein. Der Typ hatte irgendetwas – eine Brosche, eine Münze, ein Buch –, von dem er glaubte, dass es vielleicht etwas wert sein mochte. Wahrscheinlich hatte er es in der Kommode seiner Großmutter gefunden. Dutzende Male hatte sie es schon erlebt. Sie taten, als hätten sie die untergegangene Stadt Eldorado entdeckt, trugen es unter ihren Mänteln oder eingewickelt in tausend Lagen Taschentuch und Klebeband. (Je mehr Klebeband, desto wertloser war der Gegenstand normalerweise – da ließ sich bestimmt eine Gleichung aufstellen.) In neunzig Prozent der Fälle war es Schrott. Sie hatte erlebt, wie ihr Vater alles tat, um das Ego der Besitzer zu schonen, sie langsam auf die Enttäuschung vorzubereiten und davon zu überzeugen, dass der Erinnerungswert manche Dinge unbezahlbar machte, und er – bescheidener Gebrauchtwarenhändler, der er war – sich nicht erdreisten wollte, einen Preis dafür zu nennen. Charlie dagegen erklärte ihnen nur, er verstünde nichts von Broschen oder Münzen oder was sie sonst noch bei sich haben mochten, und überließ es anderen, die schlechte Nachricht zu überbringen.
»Okay, ich sag es ihm«, rief Jane aus ihrer Deckung hinter den Mänteln hervor.
Daraufhin verschwand der Mann, stakste wie eine Gottesanbeterin mit Riesenschritten die Straße hinauf und war nicht mehr zu sehen. Jane zuckte mit den Schultern, ging zurück und machte Licht, dann suchte sie zwischen den Stapeln nach Kissen.
Der Laden war groß, nahm fast das gesamte Erdgeschoss in Anspruch, und war nicht besonders gut sortiert, da alle Ordnungssysteme, die Charlie ausprobierte, schon nach wenigen Wochen unter ihrem eigenen Gewicht zu kollabieren schienen, was nicht so sehr ein organisatorisches Flickwerk mit sich brachte, sondern einen Garten kunterbunter Stapel. Lily, das rothaarige Gruftimädchen, das drei Nachmittage die Woche bei Charlie arbeitete, sagte, der Umstand, dass sie nie etwas fand, sei der Beweis, dass hier die Chaostheorie praktische Anwendung fand, nur um sich dann murmelnd davonzumachen, in der Gasse hinter dem Haus Nelkenzigaretten zu rauchen und in die Hölle zu starren. (Wobei Charlie aufgefallen war, dass die Hölle einem Müllcontainer verdächtig ähnlich sah.)
Zehn Minuten brauchte Jane, um die Inseln zu umschiffen und drei Kissen aufzutreiben, die breit und dick genug zu sein schienen, dass man darauf shiva sitzen konnte, und als sie wieder in Charlies Wohnung kam, fand sie ihren Bruder eingerollt auf dem Küchenfußboden, in Embryonalstellung, mit der kleinen Sophie vor dem Bauch, eingeschlafen. Die anderen Trauergäste hatten ihn total vergessen.
»Hey, Schwachkopf.« Sie stieß mit dem Zeh an seine Schulter, und er rollte auf den Rücken, hielt das Baby im Arm. »Sind die Kissen okay?«
»Hast du gesehen, dass es leuchtet?«
Jane ließ den Kissenstapel fallen. »Was?«
»Das rote Leuchten! Hast du im Laden was Leuchtendes gesehen? Was Rotes, Pulsierendes?«
»Nein. Du?«
»Glaub schon.«
»Lass sie weg.«
»Wen?«
»Die Medikamente. Gib sie zurück. Offenbar sind sie viel besser, als du zugibst.«
»Aber du hast doch gesagt, sie sind nur gegen Angstzustände.«
»Lass die Finger von den Drogen. Ich pass auf die Kleine auf, solange du shiva sitzt.«
»Du darfst nicht auf meine Tochter aufpassen, wenn du unter Drogen stehst.«
»Auch gut. Gib mir die kleine Sabberschnute und setz dich hin.«
Charlie reichte Jane das Baby. »Außerdem musst du Mom ruhig stellen.«
»O nein. Nicht ohne Drogen.«
»Die sind im Medizinschrank im Badezimmer. Unterstes Fach.«
Inzwischen hockte er am Boden, rieb sich die Stirn, als wollte er die Haut straffen. Sie stieß mit dem Knie an seine Schulter.
»Hey, Kleiner. Es tut mir ehrlich leid. Das weißt du, hm? Muss ich nicht erst sagen, oder?«
»Nein.« Ein schwaches Lächeln.
Sie hob das Baby hoch, betrachtete es liebevoll, spielte die Mutter Jesu. »Was meinst du? Sollte ich mir auch so was besorgen?«
»Du kannst meines jederzeit leihen, wenn du möchtest.« »Nein, nein. Ich sollte mir selbst eines klauen.«
»Jane!«
»Kleiner Scherz! Meine Güte. Manchmal bist du so ein Weichei. Geh und sitz shiva. Geh. Geh. Geh.«
Charlie sammelte die Kissen ein und ging ins Wohnzimmer, um mit seinen Verwandten zu trauern, etwas nervös, denn das einzige Gedicht, das er kannte, war »Müde bin ich, geh zur Ruh«, und er hatte so eine Ahnung, dass es ihn nicht drei Tage über Wasser halten würde.
Jane vergaß völlig, den großen Mann draußen vor dem Schaufenster zu erwähnen.