»Glück ist der Zustand, den man nicht spürt, sagt der Weise.« Doch wenn Kurt Tucholsky in der Phantasie seiner Leserinnen und Leser sprachgewaltig einen Walzer zum Erklingen bringt und dazu ein verliebtes junges Paar ausgelassen einen Abhang hinunterwirbeln läßt, wenn er augenzwinkernd beschreibt, wie einer auf Reisen »Frankreich von innen« erkundet und erschöpft, völlig ramponiert und hutlos aus einer Feengrotte kriecht, oder wenn er in seinen absurden »Rezepten gegen Grippe« empfiehlt, Homöopathen »am besten täglich je dreimal eine Fünf-Pfennig-Marke« lecken zu lassen, dann gelingt es ihm auf unnachahmliche Art und Weise, Glücksmomente spürbar zu machen, Lust am Leben zu evozieren und unbändige Heiterkeit zu erzeugen.

Der feinsinnige Humorist, unermüdliche Weltverbesserer und scharfsichtige Zeitkritiker Kurt Tucholsky, alias Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, wurde am 9. Januar 1890 in Berlin geboren und starb am 21. Dezember 1935 in Göteborg.

Christine M. Kaiser lebt als freie Lektorin und Autorin in Königslutter am Elm.

Lebenslust mit
Kurt Tucholsky

Ausgewählt von Christine M. Kaiser

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2012

Originalausgabe

© Insel Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Quellenverzeichnis am Schluß des Bandes

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-458-73115-3

www.insel-verlag.de

Inhalt

An guten Ratschlägen fehlts nicht

Rezepte gegen Grippe

Das ist eine Lebensweisheit

Peter Panter

Jedes Ich sucht ein Du

Stationen

Frauen sind eitel. Männer? Nie –!

Frauen von Freunden

[...] ich badete in einer tiefen Badewanne von Freundschaft

Moment beim Lesen

Der Dichter muß dichten, und der Leser will lesen

Vorsätze

Die Sprache kobolzt

Deutsch für Amerikaner

Wenn einer eine Reise tut

Der Floh

Denn man kann über alles lächeln

Von morgen ab fängt ein neues Leben an

Editorische Notiz

An guten Ratschlägen
fehlts nicht
*

Leben ist aussuchen. Und man suche sich das aus, was einem erreichbar und adäquat ist, und an allem andern gehe man vorüber.

[WB, 13. 1. 31, 59]

Erwarte nichts. Heute: das ist dein Leben.

[WB, 15. 9. 31, 416]

Du bekommst einen Brief, der dich maßlos erbittert? Beantworte ihn sofort. In der ersten Wut. Und das laß drei Tage liegen. Und dann schreib deine Antwort noch mal.

[WB, 24. 5. 32, 785]

Hab Erbarmen. Das Leben ist schwer genug.

[WB, 6. 8. 29, 204]

Wer auf andre Leute wirken will, der muß erst einmal in ihrer Sprache mit ihnen reden.

[WB, 15. 6. 22, 610]

[...] wenn es wild zugeht, soll man immer erst einmal bis hundert zählen oder einen Kaffee trinken.

[SG, 215]

Man achte immer auf Qualität. Ein Sarg zum Beispiel muß fürs Leben halten.

[WB, 26. 1. 32, 140]

Kopf hoch! Es gibt einen Spruch,

der strahlt über allen Sorgen:

Warte nicht zu lange,

warte nicht zu lang!

Lausch deinem innern Klange,

die Zeit geht ihren Gang.

Jeder hat im Leben

eine Melodie...

Und was du dir nicht selber nimmst,

das erreichst du nie –!

[GW 9, 1931, 326]

Du mußt über einen Menschen nichts Böses sagen. Du kannst es ihm antun – das nimmt er nicht so übel. Aber sage es ihm nicht. Er ist in erster Linie eitel, und dann erst schmerzempfindlich.

[WB, 26. 1. 32, 140]

Vertraue nur auf Gottes Mühlen. Er wird dir was mahlen.

[WB, 3. 11. 25, 699]

Man soll sich seiner Albernheit nicht schämen –

[WB, 3. 5. 32, 683]

Lebst du mit ihr gemeinsam – dann fühlst du dich recht einsam.

Bist du aber alleine – dann frieren dir die Beine.

Lebst du zu zweit? Lebst du allein?

Der Mittelweg wird wohl das richtige sein.

[WB, 15. 3. 32, 415]

Und spart eure Gefühle für die Frauen auf, die euch einmal begegnen, und wenn ihr Glück habt, für einen Freund, und wenn ihr einen Haupttreffer macht: überhaupt nicht für einen Menschen, sondern für eine große und schöne Sache.

[RW, 1913, 57]

[...] es gibt ein Mittel, ein einziges, im Schachspiel unbesiegt zu bleiben. Spiele nicht Schach.

[WB, 14. 1. 30, 112]

Gebt den Leuten mehr Schlaf – und sie werden wacher sein, wenn sie wach sind.

[WB, 21. 1. 30, 150]

[...] der Schriftsteller sei kein lyrisches Mondkalb.

[WB, 20. 8. 29, 285]

Man sollte aber bei jeder Verrichtung denken: Tu sie gut. Gib dich ihr ganz hin. Vielleicht ist es das letztemal.

[WB, 20. 10. 25, 622]

Man darf tippen.

Man darf immer tippen.

Man darf nur dann nicht tippen, wenn es besser ist, mit der Hand zu schreiben.

[GW 9, 1931, 99]

Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte.

[GW 4, 1926, 422]

Wir wollen uns Erinnerungen machen, die Funken sprühen!

[GW 1, 1912, 71]

Man soll nichts tun, was einem nicht gemäß ist.

[WB, 5. 7. 32, 21]

Laß das Alter gewähren, mein Kind. Vielleicht hat sie nicht so hübsche Jugenderinnerungen...

[GW 1, 1912, 69]

Man muß den Ernst des Lebens hochhalten... bei Brille und Bart!

[GW 9, 1931, 136]

Bewahrt den Fluch in euren Herzen und gebt den Hilfeschrei weiter!

[RW, 1928, 344]

[...] man muß den Leuten nie mehr Geld aus der Tasche ziehen wollen, als wirklich drin ist, denn sonst merken sies.

[GW 1, 1914, 235]

Übrigens soll man Fahrtgenossen nicht so scharf ins Auge nehmen.

[GW 5, 1926, 513]

Man sollte mehr Vertrauen zu seinen Instinkten haben, wozu freilich gehört, daß man welche hat.

[WB, 31. 3. 31, 470]

Man sollte die Trägheit des Herzens überwinden.

[WB, 15. 12. 21, 610]

Wenn mans im Leben zu was bringen will, muß mans zu was gebracht haben –!

[WB, 3. 4. 28, 525]

Seid mißtrauisch, wenn sich um einen Künstler weibliche und männliche alte Jungfern scharen!

[WB, 12. 1. 32, 56]

Nicht kindisch: kindlich sollen wir bleiben.

[RW, 1926, 302]

[...] nichts ist gefährlicher, als den Partner zu niedrig einzuschätzen – auf diese Weise sollen schon Kriege verloren gegangen sein.

[GW 9, 1931, 216]

Und man soll die andern Menschen, die um uns herumleben, nun ja nicht für dümmer halten – dergleichen hat sich schon oft bitter gerächt.

[GW 9, 1931, 96]

Ein vernünftiges Wort zur rechten Stunde hilft fast immer, und man kann sich weit mehr mit seinen Gegnern aussprechen, als man gemeinhin denkt. Man tuts nur nicht immer. Wenn Sie jemand verklagen wollen, dann überlegen Sie es sich, überschlafen Sie die Sache noch einmal, und schenken Sie für das Geld, das Verfahren, Anwalt und Urteil kosten, Ihrer Familie etwas Hübsches. Sie haben mehr davon.

[GW 6, 1928, 258]

Nimm nicht jedes Wort gleich tragisch – wir reden alle mehr daher, als wir unter Eid verantworten können.

[WB, 6. 8. 29, 203]

Bei Tante Friedeberg in Stettin stand auf dem Schreibtisch die Sonne meiner Kindheit: eine kleine Glaskugel mit einem Weihnachtsmann drin. Wenn man die Kugel auf den Kopf stellte, so daß ihre Marmorplatte, auf der sie saß, zu oberst kam, dann fing es an, in der Kugel zu schneien. Es war eine einzige Herrlichkeit. Stellte man die Kugel wieder auf den Tisch, so fuhr es fort, zu schneegestöbern. Langsam, ganz langsam setzten sich die Schneeflocken dem Weihnachtsmann auf die Mütze, auf seinen Ruprechtssack und auf den Boden der Kugel... sachte, sachte. Erst wenn sie sich alle gesetzt hatten, sah man wieder klar. Erbarmungslos klar: der Weihnachtsmann war eine kleine Murks-Puppe, und die Schneeflocken Schnipselchen aus irgendeiner Masse. Abwarten ist immer gut.

[WB, 24. 12. 29, 945]

RATSCHLÄGE FÜR EINEN GUTEN REDNER

Hauptsätze, Hauptsätze. Hauptsätze.

Klare Disposition im Kopf – möglichst wenig auf dem Papier.

Tatsachen, oder Appell an das Gefühl. Schleuder oder Harfe. Ein Redner sei kein Lexikon. Das haben die Leute zu Hause.

Der Ton einer einzelnen Sprechstimme ermüdet; sprich nie länger als vierzig Minuten. Suche keine Effekte zu erzielen, die nicht in deinem Wesen liegen. Ein Podium ist eine unbarmherzige Sache – da steht der Mensch nackter als im Sonnenbad.

Merk Otto Brahms Spruch: Wat jestrichen is, kann nich durchfalln.

[GW 8, 1930, 292]

* GW 5, 1927, 83

Rezepte gegen Grippe

Beim ersten Herannahen der Grippe, erkennbar an leichtem Kribbeln in der Nase, Ziehen in den Füßen, Hüsteln, Geldmangel und der Abneigung, morgens ins Geschäft zu gehen, gurgele man mit etwas gestoßenem Koks sowie einem halben Tropfen Jod. Darauf pflegt dann die Grippe einzusetzen.

Die Grippe – auch ›spanische Grippe‹, Influenza, Erkältung (lateinisch: Schnuppen) genannt – wird durch nervöse Bakterien verbreitet, die ihrerseits erkältet sind: die sogenannten Infusionstierchen. Die Grippe ist manchmal von Fieber begleitet, das mit 128˚ Fahrenheit einsetzt; an festen Börsentagen ist es etwas schwächer, an schwachen fester – also meist fester. Man steckt sich am vorteilhaftesten an, indem man als männlicher Grippekranker eine Frau, als weibliche Grippekranke einen Mann küßt – über das Geschlecht befrage man seinen Hausarzt. Die Ansteckung kann auch erfolgen, indem man sich in ein Hustenhaus (sog. ›Theater‹) begibt; man vermeide es aber, sich beim Husten die Hand vor den Mund zu halten, weil dies nicht gesund für die Bazillen ist. Die Grippe steckt nicht an, sondern ist eine Infektionskrankheit.

Sehr gut haben meinem Mann ja immer die kalten Packungen getan; wir machen das so, daß wir einen heißen Grießbrei kochen, diesen in ein Leinentuch packen, ihn aufessen und dem Kranken dann etwas Kognak geben – innerhalb zwei Stunden ist der Kranke hellblau, nach einer weiteren Stunde dunkelblau. Statt Kognak kann auch Möbelspiritus verabreicht werden.

Fleisch, Gemüse, Suppe, Butter, Brot, Obst, Kompott und Nachspeise sind während der Grippe tunlichst zu vermeiden – Homöopathen lecken am besten täglich je dreimal eine Fünf-Pfennig-Marke, bei hohem Fieber eine Zehn-Pfennig-Marke.

Bei Grippe muß unter allen Umständen das Bett gehütet werden – es braucht nicht das eigene zu sein. Während der Schüttelfröste trage man wollene Strümpfe, diese am besten um den Hals; damit die Beine unterdessen nicht unbedeckt bleiben, bekleide man sie mit je einem Stehumlegekragen. Die Hauptsache bei der Behandlung ist Wärme: also ein römisches Konkordats-Bad. Bei der Rückfahrt stelle man sich auf eine Omnibus-Plattform, schließe aber allen Mitfahrenden den Mund, damit es nicht zieht.

Die Schulmedizin versagt vor der Grippe gänzlich. Es ist also sehr gut, sich ein siderisches Pendel über den Bauch zu hängen: schwingt es von rechts nach links, handelt es sich um Influenza; schwingt es aber von links nach rechts, so ist eine Erkältung im Anzuge. Darauf ziehe man den Anzug aus und begebe sich in die Behandlung Weißenbergs. Der von ihm verordnete weiße Käse muß unmittelbar auf die Grippe geschmiert werden; ihn unter das Bett zu kleben, zeugt von medizinischer Unkenntnis sowie von Herzensroheit.

Keinesfalls vertraue man dieses geheimnisvolle Leiden einem sogenannten ›Arzt‹ an; man frage vielmehr im Grippefall Frau Meyer. Frau Meyer weiß immer etwas gegen diese Krankheit. Bricht in einem Bekanntenkreis die Grippe aus, so genügt es, wenn sich ein Mitglied des Kreises in Behandlung begibt – die andern machen dann alles mit, was der Arzt verordnet. An hauptsächlichen Mitteln kommen in Betracht:

Kamillentee. Fliedertee. Magnolientee. Gummibaumtee. Kakteentee.

Diese Mittel stammen noch aus Großmutters Tagen und helfen in keiner Weise glänzend. Unsere moderne Zeit hat andere Mittel, der chemischen Industrie aufzuhelfen. An Grippemitteln seien genannt:

Aspirol. Pyramidin. Bysopeptan. Ohrolax. Primadonna. Bellapholisiin. Aethyl-Phenil-Lekaryl-Parapherinan-Dynamit-Acethylen-Koollomban-Piporol. Bei letzterem Mittel genügt es schon, den Namen mehrere Male schnell hintereinander auszusprechen. Man nehme alle diese Mittel sofort, wenn sie aufkommen – solange sie noch helfen, und zwar in alphabetischer Reihenfolge, ch ist ein Buchstabe. Doppelkohlensaures Natron ist auch gesund.

Besonders bewährt haben sich nach der Behandlung die sogenannten prophylaktischen Spritzen (lac, griechisch; so viel wie ›Milch‹ oder ›See‹). Diese Spritzen heilen am besten Grippen, die bereits vorbei sind – diese aber immer.

Amerikaner pflegen sich bei Grippe Umschläge mit heißem Schwedenpunsch zu machen; Italiener halten den rechten Arm längere Zeit in gestreckter Richtung in die Höhe; Franzosen ignorieren die Grippe so, wie sie den Winter ignorieren, und die Wiener machen ein Feuilleton aus dem jeweiligen Krankheitsfall. Wir Deutsche aber behandeln die Sache methodisch:

Wir legen uns erst ins Bett, bekommen dann die Grippe und stehen nur auf, wenn wir wirklich hohes Fieber haben: dann müssen wir dringend in die Stadt, um etwas zu erledigen. Ein Telefon am Bett von weiblichen Patienten zieht den Krankheitsverlauf in die Länge.

Die Grippe wurde im Jahre 1725 von dem englischen Pfarrer Jonathan Grips erfunden; wissenschaftlich heilbar ist sie seit dem Jahre 1724.