Roppongi, dem »Requiem für einen Vater«, läßt Winkler ein Requiem für die Mutter folgen.
Dessen erster Teil, Da flog das Wort auf, beginnt im indischen Ellora, wo der Erzähler durch die buddhistischen, aus dem Fels gehauenen Tempel geht. In den Ruhepausen schlägt er Ilse Aichingers »Kleist, Moos, Fasane« auf. Als durch einen bestimmten Satz Aichingers sein Wort auffliegt, sieht er sich in einen Tag des Jahres 1943 versetzt, an dem der Großvater einen Brief ausgehändigt bekommt, worin steht, daß nun auch Adam, sein dritter Sohn, im Krieg gestorben ist. Seine Tochter, die spätere Mutter des Erzählers, wird über den Tod des Bruders von ihrer Großmutter mit den bizarren Worten »Der Adam kommt auch heim, aber anders …« in Kenntnis gesetzt. Nach dem Tod der drei Söhne verstummte die Familie, der Krieg hatte ihre Sprache erdrosselt. Ihr Leben lang war die Mutter, die kürzlich gestorben ist, eine Schweigende.
Mutter und der Bleistift, der zweite Teil, beginnt in Südfrankreich, wo der Erzähler, ebenfalls in einer Pause, in der Église Lagrasse Peter Handkes »Gestern unterwegs« aufschlägt – »Schreiber, Steinmetz des Atems«. Als er eine Frau beobachtet, die in der Muschel des Weihwasserbeckens, in dem sich kein Tropfen Weihwasser befindet, die Kalkreste berührt und ein Kreuzzeichen macht, erinnert er sich an eine Zeit, als das Weihwassertrinken noch geholfen hat, an seine Mutter an der Singer-Nähmaschine, die zu ihm, dem Erzministranten, sagte: »Bring mir eine Flasche Weihwasser aus der Kirche, sie ist schon wieder leer!« Gleichzeitig forderte sie ihren am Küchentisch kritzelnden Sohn und Linkshänder auf, den Bleistift in die rechte Hand zu nehmen. Monatelang rief sie: »Wirst du wohl den Bleistift in die schöne Hand nehmen?!« Zur Beerdigung legt ein Gehilfe im Auftrag des Sohnes, aus dem ein Schriftsteller geworden ist, der verstorbenen Mutter als letzte Gabe eine Glasflasche voll Weihwasser in den Sarg.
Josef Winkler
Mutter und der Bleistift
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Da flog das Wort auf
Mutter und der Bleistift
»Wenn wir nur das Reich Gottes suchen, soll uns
alles andere nachgeworfen werden.
Das trifft am Kopf und in den Rücken.«
Ilse Aichinger