Antal Szerb
Das Halsband der Königin
Aus dem Ungarischen von Alexander Lenard
Überarbeitet von Ernö und Renate Zeltner
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte, überarbeitete Neuausgabe 2005
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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eBook ISBN 978-3-423-40116-6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13365-4
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Vorwort
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Das Kollier
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Die Gräfin
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Der Grandseigneur
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Der Zauberer
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Das Venusboskett
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Geister im Wasserkrug
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Die Königin
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Die Geschichte
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Intermezzo – Figaro und der Graf von Haga
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Das Kollier explodiert
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Die Bastille, das Parlament und der König
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Das Urteil
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Epilog
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Ich möchte meine Erzählung »eine wahre Geschichte« nennen; denn ohne romanhafte Ausschmückung und ohne Zusätze berichte ich von einer bemerkenswerten Episode aus der Zeit Ludwigs XVI., deren Einzelheiten die Geschichtswissenschaft inzwischen vollständig aufgedeckt hat. Das Ereignis selbst ist so dargestellt, daß es symbolisch für ein ganzes Zeitalter gelten kann; denn wie ein ideales Drama enthält es in konzentrierter Form all das, was in einer tausendfältigen Fülle von Ereignissen das Wesentliche und besonders Charakteristische ist. Aber darüber hinaus kann ich es als eine Art Aussichtspunkt betrachten, von dem sich ein freier Blick auf die gesamte Epoche bietet; kann es betrachten wie einen der Springbrunnen im Park von Versailles, der Ausgangspunkt von Alleen in alle Richtungen ist –, und ich bemühe mich, auf ebendiesen Alleen zu wandeln.
Das Rohmaterial, die Geschichte des Prozesses um das Kollier, wurde mir sozusagen frei Haus geliefert, und zwar mit dem ausgezeichneten Buch Frantz Funck-Brentanos »Das Kollier der Königin« (Albert Langen, München 1905), das auf der Basis von umfassendem Dokumentenmaterial geschrieben ist. Es kann nicht mein Ziel sein, ein neues Bild dieses Prozesses zu vermitteln, ich betrachte ihn vielmehr, wie schon gesagt, als einen Aussichtspunkt, von dem aus man sich über die nahende Revolution orientieren kann. Deswegen habe ich mich auch nicht streng an die Geschichte vom Diamantkollier gehalten, sondern war bemüht, möglichst viele »kleine, bezeichnende Episoden« in meine Erzählung einzuflechten und damit dem unerreichbaren Großmeister zu folgen, zu dem wir, reifer geworden, zurückkehren: Hippolyte Taine. Ich habe die Geschehnisse erklärt, soweit ich es für notwendig halte und vermag; und ich tat das in der Erkenntnis, daß die Geschichte im Grunde genommen unerklärlich ist.
In den Jahrzehnten vor der Großen Revolution lebten in Paris zwei deutsche Goldschmiede: Charles August Boehmer, den die Franzosen Boëmer aussprachen, und Paul Bassenge, dessen Name auf seine französische Abstammung hinweist. Seine Ahnen waren ausgewanderte Hugenotten. Sie hatten in Leipzig gelebt, bis dieser Paul Bassenge wieder nach Paris zog, um dort als Geschäftspartner mit dem älteren Boehmer zusammenzuarbeiten. Boehmer muß ein ganz hervorragender Goldschmied gewesen sein, denn er erwarb sich schon unter der Regierung Ludwigs XV. den Titel Joaillier de la couronne et de la reine, Juwelier der Krone und der Königin.
Die beiden Goldschmiede, mindestens aber Boehmer, der mehr als Bassenge im Vordergrund dieser Geschichte steht, können keine durchschnittlichen Zeitgenossen gewesen sein. Auch in ihnen mag ein Traum, eine Leidenschaft gelebt haben, und auf ihre Weise, als Meister der Goldschmiedekunst, strebten sie nach Ruhm und Unsterblichkeit. Im Laufe der Jahre erwarben sie die schönsten Diamanten, die in Europa zum Kauf angeboten wurden. Sie faßten die Steine nicht nach Pariser Geschmack, verkauften sie auch nicht, um ein Vermögen damit zu verdienen, vielmehr schlossen sie die Diamanten ein, und erst als sehr viele beisammen waren, gingen sie an ihr großes Werk. Von diesem unermeßlichen Schatz, dem damals teuersten Schmuckstück der Welt, eben jenem verhängnisvollen Kollier, handelt unsere Geschichte.
Selbst von den Personen der Handlung bekamen nur sehr wenige das Kollier zu Gesicht –, warum, das werden wir später erfahren. Niemand hat es je getragen, und so konnte es seiner Trägerin auch nicht, wie eine Art maleficium, Unglück bringen –, dem verfluchten Nibelungenhort auf dem Grund des Rheines ähnlich, wurde es allein dadurch zum Verhängnis, daß es für kurze Zeit existiert hat. Doch die fleißigen Forscher der Nachwelt fanden unter den Papieren der Boehmerschen Werkstatt die Entwurfszeichnung, und so wissen wir immerhin, wie es ausgesehen hat. Aufgrund der Zeichnung müssen wir leider davon ausgehen, daß es nicht besonders schön war:ein unglaublich großes, barbarisches, an die »Schätze« der Völkerwanderungszeit gemahnendes Prachtstück, das eher erschrecktes Staunen als Bewunderung geweckt haben dürfte. Das Kollier bestand aus drei Diamantketten, deren dritte und längste dreireihig war; von den Ketten hingen Medaillons herab, die in brillantenbesetzten Quasten endeten.
Die Boehmers, wie die Juweliere genannt wurden, hatten sich wohl vorgestellt, Ludwig XV. würde das Kollier kaufen. Aber Ludwig XV. starb plötzlich an den Pocken, und die zurückgelassene Dubarry ging nach Louvenciennes ins Exil. Im großen sic transit mußten Boehmer und sein Kompagnon sich nach einer neuen gloria mundi umsehen. Sie boten das Schmuckstück dem spanischen Hofe an, wo man aber über den Preis schockiert war.
Im Laufe der Zeit mußten sie feststellen, daß es nur eine einzige Person auf der Welt gab, die offensichtlich vom Schicksal dazu ausersehen war, den Schatz in Besitz zu nehmen: Marie Antoinette, die junge Königin von Frankreich. Die Geschichte lehrt, daß die meisten Herrscher und Herrscherinnen Juwelen schätzten –, Marie Antoinette aber liebte sie mit leidenschaftlichem, unwiderstehlichem Verlangen. Sie besaß auch mehr Schmuck als die meisten anderen Königinnen. Schon aus ihrer Heimat, aus Wien, hatte sie in ihrer Aussteuer eine ungewöhnliche Anzahl von Brillantschmuck mitgebracht, dann schenkte ihr der Großvater ihres Mannes, Ludwig XV., die Diamanten seiner verstorbenen Schwiegertochter Maria Josepha und darüber hinaus noch Perlen, unter anderem ein Perlenkollier, dessen kleinste Perle so groß war wie eine aveline, eine dicke Haselnuß. Dieses Kollier hatte einst Anna von Österreich, die Frau Ludwigs XIII., getragen und den französischen Königen als Erbgut hinterlassen. Nicht ausgeschlossen, daß es sich dabei um jenes andere berühmte Kollier handelte, das wir aus den »Drei Musketieren« Dumas’ des Älteren kennen.
Die Königin konnte also weder Ludwig XV. noch Ludwig XVI. der Knausrigkeit zeihen, aber die ihr zugefallenen Schmuckstücke befriedigten ihre Leidenschaft nicht; sie kaufte insgeheim weiteren Schmuck, weswegen ihr Maria Theresia, ihre kluge Mutter, schwere Vorwürfe machte und betonte, Anmut sei ihr schönster Schmuck. Boehmer aber muß von der Leidenschaft der Königin gewußt haben: Im Jahre 1774 hatte sie von ihm um 360 000 Livres ein Ohrgehänge mit sechs Brillanten gekauft, das ursprünglich der Gräfin Dubarry zugedacht war. Boehmer hatte es um 400 000 Livres angeboten, aber die Königin ließ zwei Steine herausnehmen und durch eigene ersetzen, damit es billiger käme, und sie zahlte in Raten.
Boehmer konnte also begründete Hoffnungen hegen, daß Marie Antoinette auch sein Glanzstück kaufen würde, doch diesmal wurde er enttäuscht. Der König wäre sogar zum Kauf geneigt gewesen, aber die Königin selbst hielt den Preis für zu hoch:
1 600 000 Livres sind auch für eine Königin eine große Summe, besonders wenn es ihr pekuniär nicht besonders gut geht. Marie Antoinette dachte an den großen Krieg, den Frankreich gegen England um die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten führte, und meinte: »Ein Schiff brauchen wir nötiger als ein Schmuckstück.«
Aber der Schmuck war da, und wie ein herumliegendes, schlecht verpacktes Stück Radium strahlte er unsichtbar und unmerklich Verhängnis aus.
Wir wollen einen Augenblick innehalten und im Zusammenhang mit Boehmers Unternehmen hier eine kleine wirtschaftshistorische Erörterung wagen. Denn die Herstellung des Schmucks – das ist das Bemerkenswerte – war ein unternehmerischer Akt. Boehmer arbeitete nicht auf Bestellung, wie seine Vorgänger, die Goldschmiede und Künstler vorausgegangener Jahrhunderte, z. B. Benvenuto Cellini, gearbeitet hatten – sondern für den Markt. Er fertigte seinen Schmuck nicht, um Nachfrage zu befriedigen, sondern damit das Angebot die Nachfrage bewirke. Überdies schuf er seine Pretiosen für einen sehr heiklen Markt, weil ja nur ganz wenige Menschen als Käufer in Frage kamen.
Der andere überraschende Aspekt ist der Rekord, der Traum von Größe. Die Größe war durch viele Jahrhunderte ein Vorrecht der beiden ersten Stände, des Adels und des Klerus. Der Ritter konnte in Erwägung ziehen, der Welt durch eine beispiellose Heldentat Bewunderung abzunötigen; der Heilige, mit einer nie dagewesenen und erstaunlichen Form der Selbstverleugnung das schlummernde Gewissen seiner Mitmenschen wachzurütteln –, aber der Bürger, der Kaufmann, der Handwerker? Auch wenn er ein Vermögen machte, so erwarb er sein Geld damals nicht mit dem Ziel, einen Rekord aufzustellen, nicht um mehr zu haben als die anderen.
Boehmer jedoch wollte nicht nur ein Meisterstück schaffen, auch keinen handwerklichen Rekord aufstellen, dafür aber hatte er im Sinn, eine kaufmännische Glanzleistung abzuliefern: indem er ein Schmuckstück anfertigte, das nicht schöner, sondern teurer war als alle anderen. Auf seine Art war er ein Wegbereiter, und so traf ihn das Schicksal aller Pioniere.
Wir wissen natürlich, dass der Kapitalismus nicht mit Boehmer beginnt, aber das Verhalten Boehmers entspricht schon einer späteren Form des Kapitalismus, es zeigt bereits jene englisch-amerikanische Ausprägung, die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Herrschaft kommen sollte und zur Zeit Boehmers sicher noch die Ausnahme war.
In diesem Sinne liefert Boehmer eine Bestätigung der These, daß das ancien régime, das Zeitalter Ludwigs XV. und Ludwigs XVI., keineswegs durch eine Kluft von der Zeit nach der Revolution getrennt ist. »Die Franzosen«, sagt Tocqueville, dieser große politische Denker des frühen 19. Jahrhunderts, »machten 1789 die größte jemals von einer Nation versuchte Anstrengung, ihre Geschichte zweizuteilen und zwischen dem Gewesenen und dem Kommenden eine tiefe Kluft aufzureißen.« Tocqueville selbst aber sah die Dinge so – und die meisten Gelehrten der letzten fünfzig Jahre stimmen darin mit ihm überein –, daß die Revolution keineswegs aus dem Nichts eine neue Welt erschaffen hat, sondern plötzlich und wie durch ein Wunder alles zur Reife brachte, was schon vorher keimte und heranwuchs und vielleicht auch ohne Revolution Früchte getragen hätte, nur eben langsamer.
Aus diesem Grund ist das Unternehmen Boehmers ein ausgezeichnetes Beispiel: Wir sehen, daß die Großkapitalistenmentalität, der Geist der Überproduktion und des wirtschaftlichen Rekords, bereits im 18. Jahrhundert vorhanden war und schon damals Welten zu erschüttern und zu zerstören vermochte. Diese Geisteshaltung entsprang also nicht den Institutionen, die die Französische Revolution hervorbrachte, wie es die Feinde der Revolution lehren.
Wir können noch weitere Schlüsse ziehen: In einem Land, dessen Wirtschaft unter depressiver Stimmung leidet, wird wahrscheinlich kein Juwelier auf die Idee kommen, ein Schmuckstück herzustellen, wie es die Welt noch nie gesehen hat; diese Absicht zeugt vom Selbstbewußtsein einer Generation oder einer ganzen Nation. Das Unterfangen der Boehmerschen Werkstatt ist der Beweis dafür, daß das ancien régime Zeuge eines gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwungs war. Dies hatte als erster schon Tocqueville behauptet, aber bewiesen wurde es erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch nicht-französische Gelehrte, nämlich – unabhängig voneinander – den Russen Andrassew und den Deutschen Adalbert Wahl.
Der Aufschwung hat schon unter Ludwig XV. begonnen. Der Siebenjährige Krieg gebietet ihm für kurze Zeit Einhalt, dann beschleunigt sich sein Tempo unter Ludwig XVI. Die Zahl der Eisenbergwerke und Schmelzöfen steigt. Bis dahin hat Frankreich sein Eisen aus Deutschland und England bezogen. Jetzt aber entstehen die Eisengießereien in Elsaß-Lothringen, in Nantes und vor allem in Amboise. Einen gewaltigen Aufschwung nimmt die Textilindustrie, vor allem die Spinnereien erleben geradezu einen Boom. Sèvres liefert sein Porzellan in alle Welt, die Mitte des 17. Jahrhunderts gegründete Pariser Gobelinmanufaktur Wandteppiche, Saint-Gobain Glas, Baccarat Kristall, Rouen und Nevers Fayencen. Die Maschine setzt zu ihrem Triumphzug an. Marseille wird einer der größten Häfen der Welt. Nach dem Frieden von Versailles 1783 kommt ein Handelsvertrag mit England zustande, der zwar für die französische Landwirtschaft vorteilhaft ist, Handel und Gewerbe jedoch Nachteile bringt. Trotzdem ist Frankreich nach England das wohlhabendste Land der Erde. Ein Hinweis auf den beschleunigten Wirtschaftskreislauf ist auch die Tatsache, daß unter der Regierung Ludwigs XVI. das Börsenspiel immer attraktiver wurde, so hielt es Mirabeau schon 1787 für geboten, dagegen zu wettern.
Und die zerrütteten Finanzverhältnisse des Königreiches, das berüchtigte Defizit, das die Revolution hervorgerufen hat? Tatsache! Doch diese Finanzkrise war die Schwäche der königlichen Finanzgebarung, nicht der Staats-, der Volksfinanzen. Das Problem war, daß der König, das heißt die Staatsschatulle, mehr ausgab, als hereinkam. Auf Reichtum oder Armut des Landes läßt diese Tatsache keineswegs schließen.
Der Aufschwung während der Regierung Ludwigs XVI. ist nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet spürbar, sondern auch in der Außenpolitik. Nach den vielen sinnlosen und zum Teil gar nicht glorreichen Feldzügen der beiden vorausgegangenen Ludwige betreibt Frankreich jetzt unter Leitung eines friedliebenden Königs und seines ausgezeichneten Außenministers, des Grafen Vergennes, eine weise Friedenspolitik. Es nimmt nur an einem einzigen Krieg teil, dem Befreiungskrieg Amerikas gegen England.
Vor allem aber auf geistigem Gebiet spürt man die mächtige Aufwärtsentwicklung. Um 1780, sagt Tocqueville, verlieren die Franzosen das Gefühl, daß es mit ihrem Land bergab geht. Damals beginnen sie, an den Fortschritt zu glauben; und auch daran, daß der Mensch und seine Welt im Laufe der Zeiten immer besser werden. Luftballons steigen in die Höhe. Montgolfier fliegt mit warmer Luft, Charles mit Wasserstoff, manche stürzen ab oder ertrinken im Ärmelkanal, wie Pilâtre de Rosier, andere, etwa Blanchard, fliegen bis nach England hinüber. Man erfindet Maschinen und Heilmittel, und vor den Augen Buffons ersteht die Urgeschichte der Erde. Die Schönheit der antiken Welt erfährt eine neue Renaissance; seit den Ausgrabungen in Pompeji bekommt man eine Ahnung vom antiken Lebensgefühl, vom Kult der Schönheit.
Nein, man darf keineswegs behaupten, das späte 18. Jahrhundert sei ein Zeitalter der Dekadenz gewesen. Der letzte Herbst des ancien régime ist von wunderbarer Schönheit. Jeder hat schon einmal den Ausspruch Talleyrands gehört: »Wer nicht unter dem ancien régime gelebt hat, kennt die Süße des Lebens nicht.« Offenbar aber lernen damals die ganze Süße des Lebens nur diejenigen kennen, die unter einem glücklichen Stern geboren werden, und das sind nicht sehr viele; immerhin, zur Zeit Ludwigs XVI. kann Frankreich auch für die übrigen Menschen nicht nur die Hölle gewesen sein.
Zu Ende des 18. Jahrhunderts ist Frankreich »in Form«. Spengler verwendet diesen sportlichen Ausruck, wenn er von Nationen spricht, die imstande sind, ihre und ihrer Welt Geschichte zu gestalten. Frankreich ist in Form und bereitet sich mit gespannten Muskeln auf das große rationale Wunder vor, von dem es noch nichts ahnt: die Revolution. In die geheimnisvollen Winkel dieser unbewußten Vorbereitung möchte unsere Geschichte hineinleuchten.
Nachdem wir den Gegenstand, den »Gegenstand« im buchstäblichen Sinn des Wortes, den verhängnisvollen Nibelungenhort, vorgestellt haben, präsentieren wir nun die Hauptakteure.
Unsere Heldin, oder zumindest eine unserer Heldinnen, die Gräfin de La Motte, begann ihre Laufbahn ganz unten. Als sie auf der Bühne erschien, war sie acht Jahre alt und bettelte. Vorher hatte sie Gänse gehütet, aber gar nicht gern.
Die Marquise de Boulainvilliers fuhr mit ihrem Gatten im Wagen auf ihr Gut in Passy, denn Passy war damals kein Villenviertel von Paris, sondern ein selbständiges Dorf außerhalb der Stadt, das die Pariser zur Erholung aufsuchten. Die Kutsche rollte langsam dahin. Ein kleines Mädchen mit einem noch kleineren auf dem Arm lief an den Wagen heran und bettelte, dabei sprach es die folgenden erstaunlichen Worte:
»Ich bitte Sie im heiligen Namen Gottes, geben Sie zwei kleinen Waisenkindern mit dem königlichen Blut der Valois ein paar Sous!« Anscheinend lag etwas im Blick des bettelnden Kindes, das seinen Worten Glaubwürdigkeit und Nachdruck verlieh. Trotz der Einwände ihres Gatten ließ die Marquise halten. Sofort begann die Kleine mit ihrer sonderbaren Geschichte. Die Marquise hörte sich alles an und erklärte, wenn ihre Worte wahr seien, würde sie sie an Kindes Statt annehmen und sie wie eine leibliche Mutter aufziehen.
Dann ging sie der Sache nach; sie erkundigte sich bei den Leuten der Umgebung, in erster Linie bei dem Priester, zu dessen Gemeinde die bettelnden Kinder gehörten. An der Affäre um das Kollier, sagt Stefan Zweig, sei das Sonderbarste, daß sich die unwahrscheinlichsten Dinge als wahr erwiesen hätten. Der Geistliche bestätigte anhand von zweifellos authentischen Dokumenten, daß die Kleine die Wahrheit sprach. In den Adern der Kinder floß das königliche Blut der Valois.
Sie stammten in direkter väterlicher Linie von Heinrich II., Sohn des großen Franz I., ab, der 1547 – 1559 regierte. Ihr Urgroßvater, Henri de Saint-Rémy, war dem Verhältnis Heinrichs II. mit Nicole de Savigny entsprossen. Der König hatte ihn als Sohn anerkannt und legitimiert. Die Kinder standen, dem Geblüt nach, der Krone Ludwigs des Heiligen näher als die regierende Dynastie der Bourbonen. Ihr Wappen zeigte zwei Rutenbündel auf silbernem Grund, darüber drei Lilien, die berühmten Lilien der Valois. »Das bettelnde Kind kannte das Wappen, vielleicht war es das einzige, was es in seiner furchtbaren Verlassensein wußte«, sagt Funck-Brentano. »Und als sie mit erschreckender Genauigkeit darüber oder über ihren Ahnherrn, den illegitimen Königssproß der Nicole de Savigny, berichtete, streckte sich ihr vom Elend gebeugter Körper, aufbegehrend und stolz.«
Sie hatte allen Grund dazu. Das Blut der Valois in den Adern, welch fatales Erbe! Eine der interessantesten Diskussionen unseres Jahrhunderts geht bekanntlich darum, ob Charakter und Schicksal des Individuums vor oder nach der Geburt entschieden werden. Vererbung oder Umwelteinflüsse?
In der Entwicklung des menschlichen Charakters kann die Vererbung ebenso eine Rolle spielen wie die Eindrücke, die man als Kind empfängt. Aber die Persönlichkeit ist viel zu komplex, um sich mit einem oder beiden Faktoren restlos klären zu lassen. Wir glauben daher nicht, daß Jeanne, das bettelnde Mädchen, allzuviel von den Valois mitbekommen hatte. Im Laufe mehrerer Generationen war durch Verehelichung sehr viel keineswegs blaues Blut in ihre Adern geraten. Wie wir sehen werden, erklären ihre Kindheit und ihre gesellschaftliche Stellung, die dem Bewußtsein entsprang, eine Valois zu sein, ihren Charakter zur Genüge – und so hat ihre Abstammung entscheidend auf ihr Schicksal eingewirkt –, aber nicht auf den geheimnisvollen Wegen der Vererbung, sondern durch ebendieses Bewußtsein.
Immerhin: Bei der Vererbung kommt es, wie man sagt, zu sonderbaren Atavismen … Das Haus Valois regierte in Frankreich von 1328 bis 1589, in den großen und wilden Zeiten des Hundertjährigen Krieges und der Renaissance. Es gab unter ihnen Irrsinnige wie Karl VI., blutige Tyrannen wie Ludwig XI., einen leichtlebigen Grandseigneur wie Franz I. Es war eine großartige und zugleich schreckliche Familie, und unter jedem ihrer Schritte dröhnte Geschichte. Sind der Hochmut der Jeanne, das Weiche und das Ungezähmte, der wildkatzenhafte Trotz und die scharfen Zähne nicht Hinweise auf die spukende Seele der Ahnen? Und würgen in der Geschichte, die jetzt folgen wird, im Kampf der beiden Frauen nicht die beiden Familien einander, die dereinst aus Europa zwei feindliche Heerlager schaffen würden: Habsburger und Valois?
Die Saint-Rémys hatten Generationen hindurch auf ihrem Landgut in Fontette bei Bar-sur-Aube in Nordostfrankreich gelebt. Sie lebten königlich, auch wenn sie gerade nicht regierten: wirtschafteten und jagten, fallweise auch mit den Wilderern zusammen, und es kam vor, daß sie insgeheim sogar ein absolut königliches Gewerbe ausübten und Münzen schlugen. Sie taten es sicher nur in besonderer Notlage, doch offensichtlich hat es ihnen wenig geholfen. Jeannes Vater, Jacques de Saint-Rémy, Baron von Luz und Valois, kam vollkommen herunter. Er wohnte nicht mehr im Schloß, dessen Dach eingestürzt war und das zusehends verfiel, sondern in der Meierei; er verkehrte nur noch mit den Bauern und heiratete schließlich seine bäuerliche Geliebte, Jeannes Mutter. Diese Frau richtete ihn gänzlich zugrunde, und als er krank wurde, warf sie ihn hinaus. Monsieur Jacques de Saint-Rémy beschloß sein jämmerliches Leben im Hôtel-Dieu, dem Armenspital in Paris. Seine Frau lebte damals mit einem Soldaten, und das Geschick der kleinen Jeanne, die 1756 geboren war, wurde jetzt erst richtig bitter. Sie mußte betteln, ihre Mutter und der Stiefvater ließen die ganze Wut über ihr unerträgliches Leben an ihr aus.
Im Jahre 1763 geschah es dann, daß die Marquise de Boulainvilliers Jeanne und ihre kleine Schwester, die einige Zeit danach an den Pocken starb, zu sich nahm. Jeanne blieb bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr in einer Mädchenerziehungsanstalt, dann schickte ihre Wohltäterin sie zu einer Pariser Schneidermeisterin.
Im Jahrhundert des Rokoko war ein Pariser Modesalon genauso wie in unseren Tagen ein Platz von europäischer Bedeutung, vielleicht sogar noch wichtiger als heute. Zu den Charakteristika von Paris gehörten die vielen Schneidereien und Modesalons. Louis-Sébastien Mercier, den wir noch öfter zitieren werden, nahm 1781 in seinem »Tableau de Paris« ein Inventar der damaligen Stadt auf und begründete damit die literarische Gattung der Städte-Monographien, die noch heute blüht. In seinem Buch widmet er den Modistinnen ein langes Kapitel.
»Sie sitzen im Laden, in einer Reihe nebeneinander, man kann sie durch die Scheibe sehen. Sie nähen Pompons und Schleifen an, galante Zeichen, die die Mode hervorbringt und ständig variiert. Sie lassen sich ungeniert betrachten und können ebenso ungeniert hinausschauen. Diese an den Arbeitstisch gefesselten Mädchen blicken, die Nadel in der Hand, unausgesetzt auf die Gasse. Kein Spaziergänger entgeht ihrem Blick. Es herrscht ein wahrer Kampf um den Platz, der dem Fenster am nächsten ist; denn die Scharen der eroberungslustigen Männer werfen ihre Blicke immer zuerst dorthin. So wird diese an einen Platz gebundene Beschäftigung erträglich, und die Freuden des Sehens und des Gesehenwerdens kommen zusammen. Eigentlich müßte man vorschreiben, daß immer die Hübscheste vorne sitzen soll.
Von den Mädchen gehen morgens viele, die Pompons in ihren Körben, zu den Kundinnen. Sie müssen die Stirnen ihrer Konkurrentinnen, der großen Damen, schmücken und damit der geheimen Eifersucht ihres Geschlechtes Schweigen gebieten; denn es ist ihr Beruf, die zu verschönern, die sie verächtlich behandeln. Manchmal ist das Mädchen so hübsch, dass die stolze Dame neben ihr verblaßt. Der Verehrer der Dame wird plötzlich untreu, er sieht in der Ecke des Spiegels auf einmal nichts anderes als den frischen Mund und die Purpurwange der Kleinen, obwohl diese weder Lakaien noch Ahnen hat. Es gibt Mädchen, die mit einem Satz aus der Nähstube in die Karosse eines Engländers hüpfen. Es gibt Läden, in denen der Umgangston streng ist und die Mädchen alle anständig sind. Darüber wundert sich die Besitzerin selbst am meisten und erzählt es allen wie ein Weltwunder. Als ob sie eine Wette abgeschlossen hätte, um endlich sagen zu können: Es gibt in Paris einen Modesalon, in dem alle Mädchen Jungfrauen sind, und das ist allein meiner Tugend und meiner Wachsamkeit zu verdanken.«
Wir können demnach nicht fehlgehen in der Annahme, daß Jeanne im Modesalon wesentlich mehr lernte als bis zum vierzehnten Lebensjahr in der Erziehungsanstalt.
Gelernt hat sie also allerlei, doch glücklich ist sie nicht. Sie hat eine Natur, die nie zufrieden sein kann, eine brennende, ätzende Unruhe lebt in ihr, sie findet nirgends ihren Platz. Wahrscheinlich wäre sie in jeder Lage unzufrieden – das Bewußtsein ihrer königlichen Abstammung aber steigert diese im Charakter verankerte Unzufriedenheit noch! Die Marquise nimmt sie manchmal zu sich, um sie zu trösten, aber Jeanne fühlt sich im herrschaftlichen Haus wie ein Dienstbote, und das quälende Gefühl der Erniedrigung wird nur schlimmer. Ihrer Gönnerin schmeichelt sie so lange, bis diese ihre Abstammung von den Valois offiziell bestätigen läßt und 1776 ein Gnadengehalt von 800 Livres jährlich für sie erwirkt. Die Marquise nimmt auch das Schwesterchen Jeannes, Marie-Anne, zu sich und findet für beide einen Platz im Kloster von Longchamp, wo nur vornehme Fräulein als Novizinnen aufgenommen werden.
Jeanne ist einundzwanzig, und ihre Unruhe nimmt ständig zu. Was auch immer ihr bevorstehen mag, nichts kann ihre Kindheitserinnerungen tilgen: Stets bleibt sie die, die unter Berufung auf ihre Valois-Ahnen im Staube der Landstraße bettelte, eine déclassée, eine aus ihrer Gesellschaftsschicht Gefallene, eine Feindin der ganzen Gesellschaft.
»Ich habe von der Natur einen unbändigen Stolz mitbekommen, und die Güte der Mme. de Boulainvilliers ließ mich nur noch reizbarer werden«, schreibt sie selbst. »Ach, warum entstamme ich dem Geschlecht der Valois? Unseliger Name, du hast meine Seele dem wilden Stolze geöffnet! Deinetwegen rinnen meine Tränen, deinetwegen bin ich so unglücklich!«
Diesem Menschentyp eignet eine gewisse suggestive Beredsamkeit, besonders wenn es gilt, die eigenen Leiden vorzutragen.
Jeanne bleibt nicht lange im Kloster. Sie fühlt keine wie immer geartete Berufung, Nonne zu werden, und eines schönen Tages reißt sie mit ihrer Schwester aus. In Bar-sur-Aube heißt es dann, in der ärmsten Herberge der Stadt seien zwei Prinzessinnen abgestiegen; sie kämen, um das Gut ihrer Ahnen zurückzuerwerben. Die Erste Dame von Bar, die Frau des Gerichtspräsidenten Surmont, hält es für ihre Pflicht, die beiden jungen Damen in Not, die vielleicht von heimlichen Feinden verfolgt werden, bei sich aufzunehmen. Da es mit der Garderobe der jungen Damen schlecht bestellt ist, leiht sie jeder ein Kleid, was die Jugend des Ortes besonders amüsiert, da die Frau Gerichtspräsidentin recht beleibt ist. Aber am Tag darauf haben sich die jungen Damen die Kleider so umgeändert, daß sie tadellos passen. Die Frau Gerichtspräsidentin ist ein wenig verwundert, aber sie gewöhnt sich allmählich daran, daß Jeanne nun die Herrin im Hause ist. Die jungen Damen sind für eine Woche gekommen, bleiben aber ein Jahr –, und dieses Jahr, sagt später die Frau Gerichtspräsidentin, sei die elendste Zeit ihres Lebens gewesen.
Hier lernt Jeanne einen jungen Aristokraten kennen, Marc Antoine Nicolas de La Motte, Offizier bei dem im nahe gelegenen Lunéville stationierten Gendarmeriebataillon, bei dem auch sein Vater, Ritter des Saint-Louis-Ordens, gedient hat. Die adelige Gesellschaft in Bar liebt das Dilettantentheater wie damals jedermann auf der ganzen weiten Welt. La Motte gilt als vielversprechendes Bühnentalent, und Jeanne ist zweifellos ebenfalls eines. Sie treten oft zusammen auf. »Sie deklamierten so lange miteinander« – sagt Funck-Brentano –, »bis sie eiligst in den heiligen Stand der Ehe treten mußten.« Das geschieht am 6. Juni 1780.
Die Frau Gerichtspräsidentin ergreift die Gelegenheit und wirft Jeanne endlich hinaus. Die jungen Leute landen nach einigen Irrfahrten in Lunéville. Jeanne bringt Zwillinge zur Welt, die aber sofort sterben, und zieht für einige Zeit, offenbar um zu sparen, in ein Kloster. Im übrigen lebt das Ehepaar vom Schuldenmachen und den verdächtigen Geschäften La Mottes. Damals legt La Motte sich auch den Grafentitel zu.
Über La Motte ist nichts Besonderes zu berichten, es erübrigt sich daher, ihn eigens vorzustellen. Er ist ein wohlerzogener, außerordentlich widerwärtiger, frecher und feiger französischer Zuhälter, wie sie jeder, der in Frankreich gelebt hat, dutzendweise kennt. Er verabscheut die Arbeit, liebt die Frauen, ist ausnehmend häßlich, hält sich aber für so schön, daß ihm das zeitweise sogar die Frauen glauben.
Im September 1781 erfahren die jungen Eheleute, daß Jeannes Beschützerin, die Marquise de Boulainvilliers, als Gast des Kardinals Rohan im Schloß von Saverne weilt. In Jeanne meldet sich jene geheimnisvolle Stimme, die die Talente leitet – sie packen die Koffer und fahren nach Saverne.
Jeanne ist damals fünfundzwanzig Jahre alt. Ihre Haare sind kastanienbraun und wellig, ihre Augen blau und ausdrucksvoll, ihr Mund ein wenig zu groß geraten, aber ebenfalls ausdrucksvoll, ihr Lächeln ist berückend, »spricht zum Herzen«, sagt Beugnot, der darin Erfahrung hat. Zeitgenossen finden ihren Busen zu wenig entwickelt. Ein besonderer Reiz liegt offenbar in ihrer Stimme, ihrer Art zu sprechen. »Die Natur hatte ihr die gefährliche Gabe der Überredungskunst geschenkt«, wird später eine Persönlichkeit aus dem Prozeß um das Kollier sagen und hinzufügen:»Was die Gesetze der Moral und des Staates betrifft, so hatte Mme. de La Motte, ohne die geringste böse Absicht und mit großer Selbstverständlichkeit, nicht die mindeste Ahnung von ihrer Existenz.«