DAVID HAIR
Ein Sturm
zieht auf
DIE BRÜCKE DER GEZEITEN 1
Übersetzt von Michael Pfingstl
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Die englische Originalausgabe erschien
unter dem Titel »Mage’s Blood« (Pages 1-319 + Appendix)
bei Jo Fletcher Books, London, an imprint of Quercus.
2. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2012 by David Hair
Originally entitled MAGES’S BLOOD
First published in the UK by Quercus Editions Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Penhaligon Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Sigrun Zühlke
Lektorat: Hannah Jarosch
Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-10977-6
V003
www.penhaligon.de
Dieses Buch ist meiner Frau Kerry gewidmet:
Was habe ich für ein Glück!
Ebenso in Liebe meinen Kindern Brendan und Melissa;
meinen geduldigen Testlesern (ihr wisst, wer gemeint ist)
und Freunden und Familie überall.
Und Hallo zu Jason Isaacs.
Inhalt
Karte: Antiopia
Prolog: Ein Netz aus Seelen
1 Die Plagen Kaiser Constants (Teil 1)
2 Trag dein Amulett
3 Die Standarten von Noros
4 Was kostet die Hand deiner Tochter?
5 Die pflichtbewusste Tochter
6 Worte aus Feuer und Blut
7 Verborgene Gründe
8 Ein Akt des Verrats
9 Reicher Lohn
10 Kämpfer der Fehde
11 Abschluss
12 Kriegsrat
13 Feindkontakt
14 Die Straße nach Norden
15 Magusgambit
16 Ein Stück Bernstein
17 Wüstenstürme
Anhang
Die Geschichte Urtes
Zeitrechnung auf Urte
Die Hauptreligionen in Yuros und Antiopia
Die Gnostischen Künste
Die Studien:
Glossar
Handelnde Personen
Danksagung
Prolog
Ein Netz aus Seelen
Das Schicksal der Toten
Was erwartet uns, wenn die Seele den Körper verlässt? Paradies oder Verdammnis? Wiedergeburt? Einssein mit Gott oder Vergessen? Die Religionen der Menschen vertreten diese und noch viele andere Theorien, aber wir vom Ordo Costruo lehren dies: Nachdem die Seele den Körper verlassen hat, bleibt sie als körperloser Geist noch eine gewisse Zeit hier auf Urte. Ob sie sich schließlich auflöst oder an einen anderen Ort weiterwandert, entzieht sich jeglicher Kenntnis. Was wir jedoch wissen, ist, dass ein Magus mit jenen Geistern kommunizieren und sich so Zugang zu allem verschaffen kann, was sie wahrnehmen. Millionen dieser Geister streifen durch unsere Welt, und so ist es theoretisch möglich, über alles unterrichtet zu sein, was auf Urte geschieht.
Ordo Costruo, Pontus
Nimtaya-Gebirge, Antiopia
Julsept 927
1 Jahr bis zur Mondflut
Von Osten drangen die ersten Sonnenstrahlen über die zerklüfteten Berge, ein dünner Schrei ertönte aus einem Misthaufen an der windabgewandten Seite einer Ansammlung heruntergekommener Lehmhütten. Zitternd hing der Schrei in der Luft, eine Einladung für jedes Raubtier. Schon bald tauchte ein Schakal auf und schnupperte vorsichtig in der Luft. In der Entfernung jaulten und kläfften noch andere, doch dieser, so nahe an seiner Beute, huschte lautlos dahin.
Da: ein zuckendes Stoffbündel zwischen Unrat und Müll. Kleine braune Gliedmaßen, die sich freistrampelten.
Der Schakal beobachtete es, dann kam er vorsichtig näher. Das hilflose Neugeborene rührte sich nicht mehr, als der Schakal sich über es beugte. Es war noch zu klein, um zu verstehen, dass das warme, fürsorgliche Wesen, in dessen Armen es vor Kurzem noch gelegen hatte, nicht wiederkommen würde. Es hatte Durst, und die Kälte begann wehzutun.
Der Schakal sah kein Kind, er sah Nahrung. Seine Kiefer öffneten sich.
Einen Wimpernschlag später wurde er durch die Luft gewirbelt, seine Hinterläufe schlugen gegen einen Fels. Er wand sich vor Schmerz und versuchte zu fliehen, schlitterte den Abhang hinunter, den er zuvor so lautlos und grazil heraufgekommen war. Sein Blick schoss hin und her auf der Suche nach der unsichtbaren Gefahr. Ein Hinterbein war gebrochen; er kam nicht weit.
Eine unförmige in Stofffetzen gehüllte Gestalt erhob sich und glitt auf das Tier zu. Der Schakal knurrte und schnappte nach der Hand mit dem großen Stein, die sich über ihm hob. Ein gedämpftes Knacken, Blut spritzte. Ein Gesicht schälte sich aus den Lumpen. Ledrige Haut, drahtiges, stumpfes Haar. Eine alte Frau. Sie beugte sich herab, bis sie die Schnauze des Schakals beinahe mit den Lippen berührte.
Dann atmete sie ein.
Später am selben Tag saß die alte Frau im Schneidersitz in einer Höhle hoch über einem ausgetrockneten Tal. Die Landschaft unterhalb war rau und karg, ein Wechselspiel aus Licht und Schatten zwischen kantigen Felsvorsprüngen. Sie lebte allein, niemand rümpfte die Nase über den Gestank ihres ungewaschenen Körpers oder wandte die Augen von ihrem verschrumpelten Gesicht ab. Ihre Haut war dunkel und spröde, das verfilzte Haar grau, ihre Bewegungen jedoch, als sie Feuer machte, waren elegant. Der Rauch stieg in eine Felsspalte und zog von dort nach draußen – einer ihrer zahllosen Großneffen hatte den Kamin für sie in den Fels geschlagen. Und auch wenn die Frau sich an seinen Namen nicht erinnern konnte, hatte sie doch ein Gesicht vor Augen.
Mit einem Löffel träufelte sie Wasser in den geschürzten Mund des Neugeborenen. Es war eines von Dutzenden, die die Dörfler jedes Jahr aussetzten, unerwünscht und zum Tode verdammt vom ersten Atemzug an. Alles, was sie von ihr wollten, war, dass sie die Babys auf ihrer Reise ins Paradies begleitete. Die Dörfler verehrten sie als eine Heilige und ersuchten sie oft um Hilfe. Die Schriftgelehrten tolerierten sie – oder sahen weg –, denn auch sie waren auf ihre Dienste angewiesen, hatten ihre eigenen Toten, die versorgt werden mussten. Von Zeit zu Zeit versuchte irgendein Fanatiker, die Jadugara – die Hexe – zu vertreiben, aber die hielten selten lange durch. Die Jadugara war schwer loszuwerden. Und wenn man sie mit vielen Leuten suchte, konnte sie sehr schwer zu finden sein.
Die Dörfler brauchten sie als Vermittlerin, um Kontakt mit ihren Vorfahren zu halten. Sie sagte ihnen, was sie wissen wollten, und im Gegenzug bekam sie zu essen und zu trinken, Kleidung und Brennholz – und die unerwünschten Kinder. Sie fragten nie, was aus den Kindern wurde. Das Leben hier war hart, der Tod kam schnell. Es war nie genug für alle da.
Das Kind auf ihrem Schoß schrie. Seine Lippen zuckten, suchten nach Nahrung, während die alte Frau mitleidlos auf das Baby hinabblickte. Auch sie war ein Schakal, wenn auch von anderer Art, und Urgroßmutter ihres eigenen Rudels. Als sie jünger gewesen war, hatte sie Liebhaber gehabt und selbst ein Kind bekommen. Ein Mädchen, das zu einer Frau herangewachsen war und viele weitere Kinder in die Welt gesetzt hatte. Die Jadugara wachte über ihre Nachfahren, Figuren in ihrem unsichtbaren Spiel. Sie lebte schon länger hier, als irgendjemand ahnte, tat so, als würde sie altern und sterben und eine andere an ihre Stelle treten – seit Jahrhunderten. Die Grabhöhle, in der angeblich ihre Vorgängerinnen ruhten, war leer. Stattdessen hatte sie die Gebeine Fremder dort begraben. Von Zeit zu Zeit machte sie sich auf und streifte in zahllosen Verkleidungen und unter ebenso vielen Namen durch die Welt, wandelte mal als junge Frau, mal als altes Kräuterweib oder irgendetwas dazwischen durch die Lande wie eine Jahreszeitengöttin des Sollan-Glaubens.
Sie fütterte das Kind nicht, denn das wäre reine Verschwendung gewesen. Nichts durfte verschwendet werden, nicht hier, und am allerwenigsten von ihr, die sich ihre Lebenskraft so teuer erkaufte. Sie warf eine Prise Pulver in die Flammen und beobachtete, wie das Feuer sich von einem blassen Orange zu einem tiefen Smaragdgrün verfärbte. Innerhalb von Sekunden wurde es kälter in der Höhle, obwohl die Flammen immer höher loderten. Dicker Rauch stieg auf, und die Nacht horchte wachsam auf.
Es war Zeit. Aus einem Haufen Tand und Trödel neben ihrem Schoß zog die Frau ein Messer und presste es auf die weiche Brust des Babys. Einen Moment lang fing sie den Blick des Neugeborenen auf, doch sie hielt nicht inne, bereute nichts. Diese Gefühle hatte sie schon in ihrer Jugend verloren. Mehr als tausend Male hatte sie dies hier im Lauf ihres langen Lebens bereits getan, in zahllosen Ländern und auf zwei verschiedenen Kontinenten. Es war genauso unvermeidlich wie essen und trinken.
Sie stieß zu, und der kurze Schrei des Babys verstummte. Als der kleine Mund sich öffnete, legte die Hexe ihre Lippen darauf. Sie atmete ein und spürte, wie sie Kraft schöpfte, mehr als zuvor bei dem Schakal. Wäre das Kind ein wenig älter gewesen, hätte sie noch mehr bekommen, aber sie nahm, was immer sie kriegen konnte.
Die Frau legte das tote Baby auf den Boden. Fleisch für die Schakale draußen. Sie hatte, was sie brauchte, und wartete, bis sich die Energie, die sie eingesogen hatte, in ihrem Innern setzte. Sie spendete ihr Lebenskraft, wie nur die Seele eines Menschen es vermochte. Ihr Blick wurde schärfer, die Lebensgeister kehrten zurück. Erfrischt konzentrierte sie sich auf die Geisterwelt. Es dauerte eine Weile, denn die Geister kannten sie. Aus freien Stücken kamen sie nicht, nur unter Zwang. Doch ein paar von ihnen hatte sie an sich binden können, und aus diesen wählte sie nun ihren Liebling aus. »Jahanasthami«, sang sie seinen Namen und streckte die klebrigen Geistfühler nach ihm aus. Sie stocherte im Feuer herum, fachte die Glut zu neuen Flammen an und streute noch etwas Pulver hinein, damit der Rauch dicker wurde. »Jahanasthami, komm!«
Die Zeit verstrich langsam, bis sich schließlich das Gesicht ihres Geisterführers im Rauch abzeichnete, leer wie eine unbemalte lantrische Karnevalsmaske. Die Augen waren leer, der Mund ein schwarzes Loch. »Sabele«, flüsterte er. »Ich habe gespürt, wie das Kind gestorben ist … Ich wusste, dass du nach mir rufen würdest.«
Sie und Jahanasthami wurden eins. Bilder aus dem Bewusstsein des Geistes strömten in das ihre: Orte und Gesichter, Erinnerungen, Fragen und Antworten. Und wenn der Geist ihr keine Antwort geben konnte, beriet er sich mit den anderen und gab dann an sie weiter, was er erfahren hatte. Sie waren wie ein Netz, aus Myriaden von Seelen gewoben und alle miteinander verbunden, ein Wissensschatz von so gewaltigem Umfang, dass ein einzelnes Gehirn unweigerlich bersten würde bei dem Versuch, alles in sich aufzunehmen. Doch Sabele versuchte, sich durch die endlosen Belanglosigkeiten von Millionen von Leben hindurchzuarbeiten auf der Suche nach dem einen Juwel, das ihr die Zukunft enthüllen würde. Ihr Körper bebte vor Anstrengung.
Stunden vergingen, doch für die Jadugara waren es ganze Zeitalter. Galaxien von Wissen wurden geboren, erblühten und verloschen wieder. Sie trieb in Ozeanen aus Bildern und Geräuschen, wurde verschlungen vom unendlichen Strudel des Lebens, sah Könige ihre Diener um Rat fragen, Priester feilschen und Kaufleute beten. Sie sah Geburten und Tode, Liebe und Mord, bis sie schließlich durch die Geisteraugen eines toten Lakh-Mädchens, das den dörflichen Brunnen heimsuchte, das Gesicht entdeckte, nach dem sie gesucht hatte. Nur einen winzigen Moment lang erblickte sie es, als der Geist durch einen Spalt in einem Vorhang spähte, dann wurde er von den Wächtern vertrieben. Doch dieser winzige Augenblick war genug, und Sabele arbeitete sich näher heran, sprang auf der Jagd von Geist zu Geist. Sie konnte ihre Beute spüren wie eine Spinne am Beben der Fäden in ihrem Netz, und schließlich war sie ganz sicher: Antonin Meiros war endlich zur Tat geschritten. Hatte seine Zuflucht in Hebusal verlassen und war nach Süden gegangen, um nach einem Weg zu suchen, den drohenden Krieg abzuwenden – oder ihn wenigstens zu überleben. Wie alt er geworden war. Sabele erinnerte sich daran, wie er in seiner Jugend ausgesehen hatte, an ein Gesicht, das nur so gebrannt hatte vor Tatkraft und Entschlossenheit. Damals war sie ihm gerade noch entwischt, als er und sein Orden sie und die Ihren – Liebhaber ebenso wie Familie – beinahe ausgelöscht hatte. Besser, du hältst mich nach wie vor für tot, Magus.
Sie verscheuchte Jahanasthami mit einer nervösen Handbewegung. Also hat der große Antonin Meiros endlich beschlossen zu handeln. Sie hatte lange genug die sich ständig wandelnden Möglichkeiten der Zukunft erforscht, um zu wissen, wonach er suchte. Sie war lediglich überrascht, dass er so lange gewartet hatte. Es blieb nur noch ein Jahr bis zur Mondflut und zu dem Gemetzel, das sie mit sich bringen würde. Das Spiel war schon weit fortgeschritten, und Meiros’ andere Optionen waren gescheitert.
Sie waren beide Weissager, hatten beide die möglichen Zukünfte gesehen. Seit Jahrhunderten hatten sie sich in der Geisterwelt bekämpft, um die Zukunft gerungen. Sie hatte seine Fragen gehört und die Antworten darauf gespürt. Manche davon hatte sie ihm selbst geschickt: Lügen, aus Vermutungen gesponnen, Köder an hauchdünnen Fäden.
Ja, Antonin, komm nach Süden. Empfange das Geschenk, das ich für dich bereitet habe! Schmecke neues Leben. Schmecke den Tod.
Sie versuchte zu lachen und weinte stattdessen – vor Wut und Zorn über all das, was sie verloren hatte, vielleicht auch aufgrund irgendeines anderen Gefühls, von dem sie gar nicht mehr wusste, dass sie es empfinden konnte. Sie ging dem nicht nach, kostete nur davon und genoss die willkommene, kurzzeitige Veränderung.
Die Sonne war inzwischen so hoch gestiegen, dass ihr Licht in die Höhle drang. Noch immer kauerte Sabele dort, eine alte Spinne, verstrickt in einem noch älteren Netz. Neben ihr lag, still und kalt, das tote Baby.