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ÜBER DEN AUTOR

André Aciman wurde 1951 in Alexandria, Ägypten, geboren. 1969 ließ er sich in New York nieder, wo er heute mit seiner Frau und seinen Kindern lebt. Aciman ist Romanautor, Essayist und Dozent für Vergleichende Literaturwissenschaft. Er gehört zu den führenden Proust-Spezialisten. Auf Deutsch liegen seine autobiografischen Bücher Damals in Alexandria und Hauptstädte der Erinnerung vor sowie seine beiden Romane Ruf mich bei deinem Namen (2008) und Acht helle Nächte (2010), die beide bei Kein & Aber erschienen sind. Mein Sommer mit Kalaschnikow ist sein dritter Roman.

ÜBER DAS BUCH

An einem heißen Sommertag begegnet ein junger Harvard-Student in einem Café dem tunesischen Taxifahrer Kalasch. Mit seinem hitzigen Auftreten und seinen salvenartigen Schimpftiraden – vor allem auf dieses falsche Amerika – zieht Kalasch den Studenten sofort in seinen Bann. Die beiden freunden sich an und sinnieren fortan über das Leben, jagen Frauen hinterher und rasen mit dem Taxi durch die Nacht. Bis der Herbst beginnt und alles verändert.

Ein Roman über zwei Menschen auf der Suche nach Freundschaft, Echtheit und einem Ort, den sie als Heimat bezeichnen können.

»Acimans größter Wurf. Ein existenzialistisches Abenteuer, das es mit Kerouac aufnehmen kann.« New York Times Book Review

Für meinen Bruder Allan

PROLOG

»KÖNNEN WIR NICHT EINFACH GEHEN?«

In all den Wochen, in denen wir uns gemeinsam Colleges angeschaut hatten, hatte ich meinen Sohn noch nie etwas Derartiges sagen hören. Drei Universitäten im Mittleren Westen hatten wir abgeklappert und anschließend noch geisteswissenschaftliche Hochschulen in New England, Pennsylvania und New York. Und nun war mein Sohn auf der Zielgeraden unserer sommerlichen Collegerundreise, in jenem Winkel von Massachusetts, den ich einmal so gut gekannt hatte, entweder an die Grenzen seiner Belastbarkeit gestoßen oder hatte schlicht die Geduld verloren.

»Ich will nicht hierbleiben«, murrte er. Als ich ihn wissen ließ, dass Abhauen keine Option sei, gab er zurück: »Natürlich ist es eine Option!« Ich senkte die Stimme, damit mich die ebenfalls in der Aula der Zulassungsstelle versammelten Familien nicht hörten, und erklärte ihm kurz und bündig, wie unhöflich es sei, vor dem offiziellen Grußwort zu gehen. Er wischte dieses Argument mit einem ebenso knappen und entschiedenen »Lass uns einfach die Fliege machen« beiseite. Der holzgetäfelte Raum mit dem dicken Teppichboden füllte sich unterdessen mit immer mehr Besuchern. »Jetzt sofort!«, zischte er, und sein warnender Unterton verriet, dass er auch lauter werden konnte, sollte ich nicht auf ihn eingehen.

»Ich verstehe dich nicht«, flüsterte ich. »Die beste Uni der Welt, und dir fällt nichts Besseres ein als abzuhauen! Ist das dein Ernst?«

Meine Einwände würden nichts bringen, das war offensichtlich. Und irgendwie musste er meinen mangelnden Willen zum Widerstand gespürt haben. Vielleicht war auch ich müde und hatte genug von den geführten Collegetouren. Jedenfalls wartete er meine Zustimmung gar nicht erst ab, sondern stand kurzerhand auf und schnappte sich die umfangreiche Infobroschüre und seine Baseballkappe. Ich war gezwungen ebenfalls aufzustehen, und sei es nur, um nicht vor den übrigen Anwesenden ein peinliches Bild abzugeben. Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, bahnten wir uns schon diskret unseren Weg aus der Aula. Fast unmittelbar wurden unsere Stühle von einem anderen Vater-Sohn-Gespann eingenommen.

Im Vorraum, wo sich weitere Eltern versammelt hatten, verkündete eine Mitarbeiterin der Zulassungsstelle gerade mit einem leichten, zwanglosen Kieksen in der Stimme, das wohl freundlich und beruhigend klingen sollte, dass sie und ihre Kollegen nach einer kurzen Begrüßungsansprache mit uns zu diesem und jenem Ort auf dem Campus aufbrechen würden, uns anschließend folgenden Ort zeigen und zu guter Letzt beim Soundso-Mahnmal eine kurze Pause machen würden, damit wir den atemberaubenden Panoramablick über eine weitere Sehenswürdigkeit der Universität genießen könnten. Ich erkannte den ein wenig selbstgefälligen, singenden Tonfall sofort wieder, mit dem sie die Stationen eines Rundgangs aufzählte, der nicht gründlicher geplant hätte sein können, jedoch suggerieren sollte, dass uns alle im Rahmen eines ansonsten trockenen, routinemäßigen Collegebesuchs ein wenig improvisierter Spaß erwartete.

Als wir den Vorraum verließen, kamen uns immer noch mehr potenzielle Harvard-Bewerber mit ihren Eltern entgegen, steuerten zunächst auf den Infotisch zu und gingen dann in die Aula weiter.

Draußen im Innenhof atmeten wir die frühe Morgenluft ein, und ich erkannte den einsetzenden Dunst als Vorboten eines typisch schwülen Bostoner Sommertags.

Mein Sohn fühlte sich unwohl, das war nicht zu übersehen. Im Innenhof begegnete er einem bekannten Gesicht. Zunächst versuchten beide, sich aus dem Weg zu gehen. Als das nicht mehr möglich war, gab der andere Junge einen grunzenden Laut von sich, der wohl als freundlicher Gruß zwischen Schülern konkurrierender Highschools durchgehen sollte. Wenigstens kannte dieser junge Mann die Benimmregeln, dachte ich. Es lagen Rivalität und Feindseligkeit in der Luft, und die Optionen waren allen, Eltern wie Kindern, bekannt: das Spiel entweder mitspielen oder nach Hause gehen.

Wir verließen das Gebäude und durchquerten den Radcliffe-Komplex, um hinunter zum Fluss zu kommen. Ich hätte meinen Sohn gerne gefragt, was es mit dem plötzlichen Sinneswandel auf sich hatte, dem unvermittelten Wunsch, die Flucht zu ergreifen, beschloss jedoch, das Thema vorerst ruhen zu lassen. Die Anspannung, die unser Schweigen begleitete, war deutlich zu spüren und würde sich nicht so leicht zerstreuen lassen. Nach kurzem Zögern sagte er schließlich wie als nachträgliche Erklärung, die gleichzeitig als Entschuldigung dienen sollte: »Ich hab echt keine Lust auf so was.«

Ich wusste nicht, was er mit so was meinte. Meinte er Collegerundgänge, Collegestädte, Collegezulassungsstellen, Colleges im Allgemeinen? Oder bezog er sich auf Collegebesucher, die ihren Nachwuchs mit einer Mischung aus Ehrfurcht und gedämpftem Stolz in Szene setzten und darum wetteiferten, nicht zu ehrgeizig oder zu zurückhaltend oder zu sommerlich gekleidet zu wirken, um von den Mitarbeitern der Zulassungsstelle ernst genommen zu werden? Oder galt seine Aversion speziell Harvard? Weil er – und dieser Gedanke machte mir plötzlich Angst – gegen meinen Wunsch rebellierte, er möge die Universität ins Herz schließen, die mir einst so viel bedeutet hatte?

Wir waren am Vortag angekommen und hatten bereits viele Ecken und Winkel von Harvard besichtigt: die Radcliffe-Wohnheime und die Studentenwohnheime am Fluss, ich war mit ihm die imposante Treppe der Widener Library hinaufgegangen, und wir hatten uns auf Zehenspitzen in den großen Lesesaal geschlichen. Dort hatte ich einen Moment innegehalten. Ich vermisste die Tage, die ich hier als Doktorand verbracht hatte. »Ein fast leerer Lesesaal an einem schönen Sommertag ist für mich immer noch so etwas wie ein Weltwunder«, flüsterte ich, als wir uns wieder zum Gehen wandten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ein wenig genervt zu seufzen: »Wenn du meinst.«

Ich zeigte ihm, wo ich überall gewohnt hatte: in der Oxford Street, in der Ware Street, im Lowell House. Ob ihn das Lowell House nicht auch an ein Grandhotel an der Riviera um die Jahrhundertwende erinnere?

»Es ist ein Studentenwohnheim.«

Während ich ihn in der Stadt herumführte, fragte ich mich, wie es sich wohl für ihn anfühlte, mit seinem Vater hier herumzulaufen, der ständig an Orten stehen blieb, die ihm selbst nicht das Geringste bedeuteten. Er hörte sich Anekdoten aus meinem Studentenleben an, die sich lange vor dem Kennenlernen seiner Eltern ereignet hatten, und sah sich nicht in der Lage oder war nicht gewillt, diese Anekdoten nachzuempfinden. Vermutlich quälten ihn leichte Gewissensbisse, weil er das Interesse, das ich in ihm zu wecken versuchte, nicht überzeugend genug simulierte. Alles, was er in Cambridge sah, war in das staubige Licht der Nostalgie getaucht. Die Vergangenheit verströmt bei all ihrer verklärenden Heiterkeit auch immer den abstoßenden, moderigen Geruch nach altem Pfeifenrauch und schimmelnden, seit Jahren nicht mehr gelüfteten Räumen. Ich wollte ihm von der Concord Avenue und der Prescott Street erzählen, wo ich ebenfalls zeitweise gewohnt hatte, aber das wäre genauso gewesen, als hätte ich ihn gebeten, sich mit mir bei meinem Lieblingsfriseur in der Dunster Street einen neuen Haarschnitt verpassen zu lassen. Er wäre nur mitgegangen, um mich bei Laune zu halten, bedeutet hätte es ihm nichts. Auf meinen Vorschlag hin hätte er gesagt: »Ich brauche keinen neuen Haarschnitt.«

Ich erzählte ihm, dass ich wisse, wo man gute Burger bekomme.

»Bist du sicher, dass es den Laden noch gibt?«

Wieder dieser spöttische Unterton in seiner Stimme, wieder dieser Schuss Ironie. Gerade noch hatte ich zu ihm gesagt, dass sich so vieles verändert habe nach dreißig Jahren, nicht die Straßen oder die Standorte der Geschäfte, sondern die Ladenlokale an sich, ihre Markisen und Vordächer. Die ganze Atmosphäre der Stadt hatte sich verändert, Harvard Square schien geschrumpft zu sein, wirkte eng und gedrängt. Neue Gebäude waren aufgetaucht, und dem Harvard Square Theatre war wie so vielen alten Lichtspielhäusern auf der ganzen Welt übel mitgespielt worden. Selbst das scheinbar unveränderliche Genossenschaftskaufhaus Coop – was in diesem Fall für Harvard Cooperative Society stand – war nicht länger dasselbe: In einem Großteil der Ladenräume konnten Touristen nun Harvard-Abzeichen und andere Souvenirs kaufen. Ich wusste meine Mitgliedsnummer immer noch auswendig und verriet sie meinem Sohn. »Ja, ich weiß, ich weiß«, fügte ich hastig hinzu, um weiteren Sticheleien zuvorzukommen, »es ist nur ein Warenhaus.«

Wie viele Eltern, die hier studiert hatten, wünschte ich mir sehnlich, dass er ebenfalls Gefallen an Harvard fand. Ich hütete mich jedoch davor, ihn zu drängen, aus Angst, er würde dann die Universität erst recht ablehnen. Ein Teil von mir war erpicht darauf, dass er in meine Fußstapfen trat; ein Gedanke, der ihm bestimmt ganz und gar nicht behagte. Vielleicht wollte ich nur selbst erneut die alten Wege beschreiten, und zwar durch ihn, was ihm natürlich noch viel weniger gefallen hätte. Für Daddy in die Vergangenheit reisen und dessen Fehler wiedergutmachen! Ich konnte mir seine Reaktion lebhaft vorstellen: Dann lieber gar nicht studieren.

Ich wollte sämtliche unvergesslichen Momente von damals mit ihm teilen und sie dadurch zurückholen: Wie ich einmal durch den Schnee über die Brücke gestapft war, während meine Freunde den Weg über den zugefrorenen Charles genommen hatten – so unbekümmert, hatte ich gedacht; wie ich zum ersten Mal meine geliebte Houghton Library betreten und darauf gewartet hatte, dass mir die Bibliothekarin meine allererste literarische Rarität brachte, einen Band von Mademoiselle de Gournay, Montaignes »Wahltochter«; das alternde Gesicht des inzwischen längst verstorbenen Robert Fitzgerald, der mich mit so wenigen Worten so viel gelehrt hatte; meinen letzten Drink im Harvest; sogar das übermächtige Widerstreben, an kalten Novembernachmittagen zur Vorlesung zu gehen, wo ich mich doch viel lieber irgendwo mit einem Buch verkrochen hätte, um meine Gedanken schweifen zu lassen. Ich wollte mit meinem Sohn die gepflasterten Gassen zum Fluss hinunterbummeln, wollte gebannt stehen bleiben und die Schönheit dieser behüteten Welt auf mich wirken lassen, dieser Welt, die mir so viel verheißen und letztlich noch viel mehr geschenkt hatte. Die Gebäude, die frühherbstliche Stimmung, das Stimmengewirr der Studenten, die jeden Morgen zu ihren Lehrveranstaltungen strömten – ich konnte es kaum erwarten, dass auch mein Sohn diesem Lockruf folgte.

Endlich brachte ich den Mut auf, ihn zu fragen, ob ihm gefiel, was er sah.

»Es gefällt mir ganz gut hier.«

Dann drehte er unerwartet den Spieß um und stellte mir die gleiche Frage. Hatte es mir hier gefallen?

»Ja«, antwortete ich. »Sehr sogar.«

Aber mir war klar, dass ich es erst rückblickend so empfand.

»Ich wusste Harvard erst danach richtig zu schätzen, nicht währenddessen.«

»Das musst du mir erklären.«

»Es war nicht immer leicht hier«, gab ich zu. »Nicht etwa, weil ich so viel lernen musste – das musste ich, die Anforderungen waren hoch. Nein, am schwersten fiel mir, das Leben anzunehmen, das Harvard mir bot, und mich gleichzeitig gegen den Gedanken zu wehren, dass es nur eine Illusion war. Ich hatte ständig Geldsorgen. Es gab Tage, an denen die Grenze zwischen Arm und Reich nicht wie eine in den Sand gemalte Linie wirkte, sondern wie eine tiefe Kluft. Man konnte die Party sehen, konnte sie sogar hören, aber teilnehmen konnte man nicht.« Dabei war ich als Harvard-Student längst dazu eingeladen gewesen, nur hatte ich mich unendlich schwer damit getan, diese Tatsache nicht zu vergessen. Im Prinzip war es das, was ich ihm zu erklären versuchte.

Ich war der Außenseiter gewesen, der junge, orientierungslose Ägypter aus Alexandria, begierig darauf, in dieser fremden Neuen Welt dazuzugehören.

An den Rest wollte ich im Moment lieber nicht zurückdenken, und noch viel weniger darüber sprechen. Zumal die »Währenddessen«-Erinnerungen an meine Jahre in Harvard irgendwo tief in mir vergraben waren, nicht direkt vergessen, aber auf Eis gelegt für einen Tag in ferner Zukunft, an dem ich die Kraft und Muße finden würde, sie aufzuarbeiten. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Im Moment wollte ich die Dinge lieber im magischen Rückspiegel betrachten, wollte mich an die liebevollen »Danach«-Erinnerungen halten, die mich all die Jahre hindurch begleitet hatten und mich in Zeiten zurückbeförderten, die ich schrecklich vermisste, obwohl ich doch genau wusste, dass ich sie für nichts in der Welt erneut hätte erleben wollen. Vielleicht war es diese verklärte »Danach«-Liebe, die mich dazu gebracht hatte, mit meinem Sohn zu einer Collegeodyssee aufzubrechen – weil ich mich insgeheim danach gesehnt hatte, nach Cambridge zurückzukehren, mit ihm als Schutzschild, als Deckung, als Beistand.

Wie erklärte man das einem Siebzehnjährigen, ohne das schillernde Bilderkarussell zu zerstören, das man ihm von Kind an errichtet hatte? Cambridge an stillen Sonntagabenden; Cambridge an verregneten Nachmittagen mit Freunden; Cambridge im Winter, wenn trotz Schneestürmen alles seinen gewohnten Gang nahm und die Tage kürzer wurden und irgendwie feierlich und unwirklich schienen; der wuselnde Square an Freitagabenden; Harvard während der Projektwoche Mitte Januar – Kaffee, noch mehr Kaffee und überall das unaufhörliche Geklapper von Schreibmaschinen; oder Lowell House in den letzten Tagen der Projektwoche im Frühling, wenn die Studenten stundenlang auf dem Rasen herumlungerten und sich leise unterhielten, während das Vogelgezwitscher ihre Stimmen überlagerte.

»Ich fand es toll hier«, sagte ich schließlich. »Das tue ich immer noch.«

Inzwischen hatten wir das Coop betreten.

»Frag bitte nicht, ob deine Mitgliedsnummer noch gelistet ist«, flehte mein Sohn, der mich gut genug kannte und sich die Peinlichkeit ersparen wollte, dass ich in Anwesenheit eines gleichgültigen Verkäufers sentimental wurde.

Ich versprach, kein Wort zu sagen. Aber dann kaufte ich zwei T-Shirts, eins für ihn und eins für mich, und konnte nicht widerstehen. »346-408-8«, sagte ich.

Ich erzählte dem Verkäufer, dass ich die Nummer noch auswendig könne, weil ich sie bei jedem Zigarettenkauf im Coop laut aufgesagt hätte. Und damals hätte ich eine Schachtel pro Tag gekauft, manchmal sogar zwei.

Der Verkäufer sah im Computer nach und erklärte, ich sei nicht im System.

Genauso wie meine alte Telefonnummer nicht mehr unter meinem Namen gemeldet war, mutmaßte ich.

So war es mit allem. Man kam nach Cambridge, verbrachte einige Jahre hier und verließ den Ort – und irgendwann auch den Planeten –, ohne Spuren zu hinterlassen.

Nicht mehr im System, nannte man das. Ich bezweifelte, dass ich jemals Teil des Systems gewesen war.

Ich hatte einmal an diesen Ort gehört, aber war er jemals mein Zuhause gewesen? Oder war ich hier zu Hause gewesen, ohne wirklich behaupten zu können, hierherzugehören? Nicht im System deckte beide Möglichkeiten ab.

Mein Sohn drängte mich, es dabei bewenden zu lassen, doch ich weigerte mich zu akzeptieren, dass ich nicht im System war, es nie gewesen war. Also bat ich den Verkäufer, noch einmal nachzusehen, und wiederholte meine Mitgliedsnummer.

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, erklärte der junge Mann hastig. »Ihre Nummer ist doch unter Ihrem Namen gelistet, muss aber erst wieder aktiviert werden.«

Ich war also im System, ruhte jedoch, wie ein Maulwurf oder ein Spion, war eine Randexistenz der Gesellschaft. Das traf es ziemlich genau. Ein solches Schicksal wünschte ich meinem Sohn ganz sicher nicht.

Wir verließen das Coop und näherten uns der Brattle Street, wo mir auffiel, wie sehr und gleichzeitig wie wenig sich der Häuserblock verändert hatte. Das Brattle Theatre war immer noch am selben Fleck, besaß jedoch einen neuen Eingang im Untergeschoss. Die Casablanca Bar war ebenfalls noch da, auch wenn man sie entkernt und verkleinert hatte. Und schließlich folgte das Café Algiers, das vom Untergeschoss ins Erdgeschoss gezogen war. Sein grünes Logo hatte sich hingegen nicht verändert. Ich stand wieder vor dem alten Café, in dem ich über Jahre lesend gesessen hatte und in dem ich, eines Sommers vor langer Zeit, jemandem begegnet war, der den Verlauf meines Lebens um ein Haar vollkommen verändert hätte; so sehr, dass ich heute vielleicht nicht einmal der Vater meines Sohnes gewesen wäre.

»Was meinst du mit ›nicht mein Vater‹?«, fragte mein Sohn, der so etwas zum ersten Mal von mir hörte und reichlich pikiert wirkte.

Am liebsten hätte ich mich vor der Antwort gedrückt, zum einen, weil ich nicht sicher war, sie zu kennen, aber auch, weil ich meinem Sohn die Erkenntnis ersparen wollte, dass sein Zustandekommen derart abhängig gewesen war von Zufallsbegegnungen, von diversen Launen des Schicksals.

»Es gab Tage, an denen ich nicht wusste, ob ich überhaupt noch hierbleiben wollte – an denen ich am liebsten ›die Fliege gemacht hätte‹.« Er sollte merken, dass ich seine Worte verwendete. »Und ich meine nicht nur aus Harvard, sondern generell aus den Vereinigten Staaten.«

»Und?«

»Ich war damals noch gar kein amerikanischer Staatsbürger, und ein Teil von mir, nur ein kleiner Teil, sehnte sich zurück ans Mittelmeer. Dieser Kerl, dem ich hier begegnet bin, stammte auch vom Mittelmeer und hatte genauso viel Heimweh wie ich. Wir waren Freunde.«

Ich starrte immer noch auf das Logo des Café Algiers und beschwor mühelos das Klappern der Backgammonsteine herauf, das mich zurück in eine längst vergangene Zeit versetzte. Damals hatte ich mich oft stundenlang in diesem Café herumgedrückt, um noch nicht nach Hause zu müssen, um meine Abende mit Licht und Geselligkeit zu füllen, wenn ich sonst nirgendwo Licht und Geselligkeit erwarten konnte.

»Warum wolltest du weg?«

»Aus vielen Gründen. Ich hatte meine Abschlussprüfungen nicht bestanden, und mein Professor sagte, ich hätte noch einen zweiten Versuch, aber keinen dritten. Ich wollte abhauen, um der Kopfwäsche zu entgehen, falls ich ein zweites Mal durchrasselte.«

Mehr sagte ich nicht. Ich war mir nicht sicher, ob meinem Sohn, der ohnehin nicht wusste, was er von Harvard halten sollte, die ganze Wahrheit zuzumuten war.

»Dazu kam es zum Glück nicht. Beim zweiten Versuch habe ich bestanden«, sagte ich schließlich. »Harvard war sehr großzügig mir gegenüber, großmütig, könnte man sogar sagen.«

Aber ich konnte die vielen Tage und Abende im Café Algiers nicht vergessen. Dieses kleine Souterrain-Café war der einzige Ort diesseits des Atlantiks gewesen, den ich ansatzweise als Zuhause betrachtet hatte. Der Duft nach Mokka, die französischen Chansons, die hier gespielt wurden, die verbalen Geschosse eines Tunesiers mit Spitznamen Monsieur Kalaschnikow, das Geschnatter der Männer und Frauen, die sich um ihn versammelten, wenn er Hof hielt, das klebrig-feuchte Holz des winzigen quadratischen Tischs, an dem ich immer saß und neben dem jemand ein Poster von einem menschenleeren Strand an einem Küstenort namens Tipasa an die Wand gepinnt hatte, dessen türkisblaues, kristallklares Meer auf ewig vergeblich lockte – alles an diesem kleinen Café hatte mich an den Nahen Osten erinnert, einen Nahen Osten, den ich verloren und vergessen geglaubt hatte. Damals hatte mich die plötzliche Erkenntnis getroffen, dass ich nicht bereit war, ihn loszulassen. Jedenfalls noch nicht. Nicht für Harvard, nicht für Amerika, für niemanden, nicht einmal für die Kinder, denen ich eines Tages ein guter Vater sein wollte. Ich war nicht wie die anderen in Cambridge, ich war keiner von ihnen, war nicht im System, war es nie gewesen. Dieser Ort war nicht mein richtiges Zuhause, würde es vielleicht nie werden. Und die Leute hier waren nicht meine Leute, würden es nie sein. Das hier war nicht mein Leben, nicht mein Geburtsort, das war nicht ich, konnte nicht ich sein. Es war der Sommer 1977.