Wolfgang Schreyer
Der Traum des Hauptmann Loy
ISBN 978-3-86394-086-7 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1956 beim Verlag Das Neue Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®
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Die Oase schien zu atmen wie ein geschmeidiges junges Tier im Morgenschlaf. Eine schwache Brise wehte aus Nordwest, vom Golf von Gabes her, sie strich über die palmengekrönten Gärten der Menscia, die erfüllt waren vom Schwirren der Vögel. Silberblasse Oliven wiegten ihre gefiederten Blätter in diesem erfrischenden Hauch, die dunkelgrünen Wipfel der Granatapfel- und Orangenbäume regten sich leicht, während Mastixsträucher, hohe harte Kakteen, der Rizinus und die skelettartigen Stämme der indischen Feigen in schweigender Ruhe verharrten. Westwärts, in flimmernder Ferne, dort, wo sich die strahlende Himmelsschale aufs Meer herniedersenkte, dehnte sich, mehr als zwei Wegstunden entfernt, eine weiße Stadt. In schimmernden Glanz getaucht, von Wellen umspült und von Heiterkeit umflossen, schlief sie in verzauberter Erschlaffung: Tripolis – ein riesiger Block zerklüfteten Marmors.
Doris Graves schirmte die Augen mit der gewölbten Hand ab, denn die Luft war durchtränkt von blendendem Licht. Sie stand auf dem quadratischen Turmdach des neuen Hotels der British Overseas Airways Corporation, das sich unweit der libyschen Küste zwischen den Salzgruben und dem Flugplatz von Mellaha aus einem immergrünen Pflanzenlabyrinth erhebt. Trotz der frühen Stunde war es schon warm; kleine Schweißtröpfchen perlten auf ihrer Stirn. Sie lehnte an der steinernen Balustrade, lauschte dem Vogelgekreisch und dem Rauschen der Meeresbrandung, das dumpf-rhythmisch an ihr Ohr drang, und überließ sich der Liebkosung des salzigen Morgenwinds. Er hüllte sie ein mit zarten afrikanischen Düften; sie verspürte plötzlich ein leises Sehnen... Der Geruch der Gärten weckte in ihr ein Gefühl der Freiheit, fast bedauerte sie, dass sie dieses Land in wenigen Stunden verlassen musste. In all den vielen Monaten ihres Dienstes hier hatte sie nie so tief die Schönheit der Oase empfunden – nun war es fast zu spät. Im Spiel der Sonne, des Windes, der Himmelsbläue erschien ihr der Palmenhain an der staubigen Straße nach Suk el Giuma von königlicher Anmut. Das Licht tropfte durch die dichten Fächer seiner Blätter und zeichnete grelle Flecke von erstaunlicher Klarheit in die schwarzlila Schatten der Kronen... "Komm her, Pat", rief sie, "es ist wunderbar!"
Patricia Binchy, ein bemerkenswert schönes Mädchen mit mattrot getöntem, kurz geschnittenem Haar, tauchte im Treppenschacht auf. Sie trug nicht, wie Doris, die Tropenuniform der weiblichen USAF-Angehörigen (USAF = United States Air Force: die amerikanische Luftwaffe. Sie wurde nach dem zweiten Weltkrieg als selbständiger Teil der Streitkräfte geschaffen. Von führenden US-Militärfachleuten wird sie als die entscheidende Kraft in einem kommenden Krieg angesehen. Sie wurde deshalb auf Kosten der Armee ständig verstärkt, woraus sich Spannungen zwischen den Stabsoffizieren der Armee und der Luftwaffe ergaben. Mitte 1957 bestand die USAF aus 137 Geschwadern. Ein schweres oder mittleres Bombergeschwader hatte 30 bis 50 Frontflugzeuge, ein Jagdgeschwader 75, ein Geschwader der taktischen Luftwaffe 45 bis 75. Zur gleichen Zeit betrug die Personalstärke der amerikanischen Luftwaffe 936 000 Mann.), sondern ein leichtes Reisekostüm, dessen Olivgrün lebhaft zu ihrem Haar kontrastierte.
"Schon in Zivil?"
"Ja, für immer."
"Wirklich?"
"Für immer", wiederholte Patricia. "Vorausgesetzt natürlich, sie geben mir nicht eine Rolle, für die ich es tun muss."
"Was – tun?"
"Nun, irgendeine Uniform anziehen. Teerose, du träumst."
"Die Luft ist wunderbar hier oben", sagte Doris leise. "Weshalb sollten sie dir solche Rolle geben?"
"In Hollywood musst du mit allem rechnen."
"Schrecklich, Pfefferkorn", sagte Doris mit sanftem Spott, "aber du wirst deinen Weg schon machen."
"Verlass dich drauf... Was meinst du, wahrscheinlich ist mehr als die Hälfte erlogen von dem, was man sich über Hollywood erzählt."
"Ja, sicherlich. Komm doch hierher, Pat. Was siehst du denn da drüben schon?"
"Na, unsere Maschine! Wo guckst du hin? Dort steht sie doch, da!"
Patricia deutete auf die graugelbe Betonpiste der Startbahn C. Ein schlankes viermotoriges Flugzeug mit dreifachem, eiförmigem Seitenleitwerk ruhte dort, sechzig Tonnen schwer, auf riesigen Reifenpaaren. Silbergrau schimmerte sein Haifischrumpf, ein paar Männer vom Bodenpersonal kletterten, emsigen Käfern gleich, daran herum. Von den prachtvoll geschwungenen, fast hundertsechzig Quadratmeter umspannenden Tragflächen spritzten Sonnenreflexe; der fünfzackige weiße Stern im blauen Feld blinkte auf dem linken Flügel, und rechts stand in meterlangen schwarzen Lettern 'USAF'. Es war eine Achtung gebietende Maschine, und obwohl ihre Ausmaße von hier oben weniger gewaltig wirkten, blieb es doch ein majestätischer Anblick. Unterhalb der Fenster war der Rumpf leuchtendweiß gespritzt.
"Unsere Connie", rief Patricia, "ich kann es einfach nicht erwarten."
"Ich schon."
"Dein Urlaub – freust du dich nicht ein bisschen?"
"Ach, ich weiß nicht..."
"Kopf hoch, Teerose. Wenn ich erst einmal Fuß gefasst habe bei der Metro-Goldwyn-Mayer, interessiere ich einen Manager für dich – das ist klar."
Doris lächelte; dieses Versprechen gab Pat ihr nicht zum ersten Mal. Abgesehen davon, dass sie der Gedanke, zum Film zu gehen, gar nicht lockte, war es ebenso wenig ernst zu nehmen wie das meiste, was Pat neuerdings sagte oder tat. Seit der MGM-Regisseur Shary sie bei Dreharbeiten am Rande der Sahara 'entdeckt' hatte, war sie wie verwandelt und in mancher Beziehung nicht wieder zu erkennen. Ihre Wege würden sich bald für immer trennen, in ein paar Stunden schon. Pat ging nach Hollywood, sie aber blieb Fernschreiberin auf irgendeinem der zahllosen Flugplätze in Nordafrika, Frankreich oder auf den Azoren; sie würde weiter am Tastzahlengeber sitzen, eine neue Art von Vermittlungsgerät, bei dem eine Batterie Druckknöpfe die altmodischen Stöpsel mit Schnüren und Klinken ersetzte... Ihr Lächeln erstarb; sie atmete tief den Salzhauch der kurzen, lauen Windstöße.
"Warum sie bloß einen weißen Bauch hat?", fragte Patricia, die noch immer zum Flugzeug hinüberschaute.
"Es ist eine Kommandeurmaschine", sagte Doris.
"Ach so! Was ganz Extravagantes, meinst du?"
Doris nickte.
Unten rollte ein Jeep vorbei, ein Wirbel feinen Goldstaubs folgte ihm. Er verschwand hinter graugrünen, fleischigen Agavenblättern, brummte munter, kam wieder zum Vorschein. Am Andenkenpavillon gegenüber dem Flugplatztor stoppte das Fahrzeug, ein hochgewachsener Offizier sprang heraus.
"Das ist er", sagte Patricia.
"Wer?"
"Der englische Hauptmann, der gestern versuchte, mit dir zu flirten."
"Oh, ich bin nicht sicher, dass er das wollte."
"Ich finde ihn köstlich. Zurückhaltend, korrekt, tadellos rasiert. Sagte er, dass er verheiratet sei?"
"Nein. Über persönliche Dinge redet er kaum."
"Wie englisch er ist! Glaub mir, Teerose, er könnte zu dir passen... Natürlich habt ihr ausschließlich übers Wetter gesprochen: Very fine weather to-day, is'nt?", ahmte Patricia nach. "Imponiert er dir?"
"Vermutlich ist er langweilig", sagte Doris gleichgültig. Das Geschwätz ihrer Freundin ärgerte sie. Sicherlich würde Pfefferkorn gleich wieder von Hollywood zu reden beginnen, und sie hatte es satt, noch etwas zu hören. Sie hätte allein hinaufsteigen sollen, um von den Gärten der Menscia Abschied zu nehmen... Nun spürte sie, wie die schwermutsvolle, zärtliche Stimmung, die sie vorhin überkommen, zerflatterte.
Das Meer rauschte, Patricia sprach, die Palmen neigten ihre metallisch schimmernden Blätter, und darüber, am kobaltblauen Himmel, erschien schrill klirrend eine Rotte Hawker-Hunter-Düsenjäger. Sie waren, wie Doris wusste, kurz zuvor von den Rollfeldern in Castel Benito gestartet; nach Beendigung der großen Mittelmeermanöver strebten sie nun, die Zwirnsfäden weißer Kondensstreifen nachziehend, ihren Heimathäfen zu. Ihr Heulen zerschnitt die schon glühende Luft; eines der Hotelfenster klirrte sekundenlang mit.
Als Doris wieder zum Flugplatztor hinabschaute, war der Hauptmann verschwunden. An seinem Jeep vorbei, auf der Straße nach Suk el Giuma, zog ein Trupp fantastisch gekleideter, zimtfarbener Soldaten: Teil der Tausend-Mann-Armee des im fernen Bengasi residierenden Königs El Sayed Mohammed Idris el Senussi. Die arabischen Krieger bliesen auf einer Art Dudelsack, sie trugen die grünschwarzrote Fahne Libyens, des jüngsten Königreiches der Welt, stolz vor sich her. Sie marschierten im Gleichschritt, man sah auch die prallen Backen, doch ihre Musik vernahm man nicht; die Stimme der britischen Düsenjäger erwies sich als kräftiger.
Hauptmann Richard Loy sah unschlüssig zum Andenkenpavillon hinüber. Sollte er versuchen, ein kleines Geschenk für Joan zu erstehen? Er gehörte zum Stab des NATO-Generals Sir Herbert Marsergh, Commander-in-Chief-north, dessen Sitz sich in Oslo befand; er hatte als Verbindungsoffizier an den Mittelmeermanövern teilgenommen und würde Afrika nicht so bald wieder sehen; die Maschine, die ihn nach Oslo zurückbrachte, startete in zwei Stunden. Es wäre nur anständig, Joan etwas mitzubringen – jedoch besaß er jetzt, gegen Ende des Monats, nur noch ein knappes Fünftel seines Solds; dreizehn oder vierzehn Pfund Sterling. Der gestrige Abschiedsabend im BOAC-Hotel hatte viel verschlungen. Es war sehr unterhaltsam gewesen, aber er hatte sich zu Ausgaben verleiten lassen, die seine Verhältnisse einfach überstiegen. Nun bedrückte ihn ein leises Schuldgefühl. Zweifellos sah Joan es lieber, wenn er ihr vom Rest seines Geldes etwas überwies; die Dachrinne des Hauses musste, wie sie schrieb, endlich erneuert werden, und Andrew wuchs aus all seinen Sachen heraus. Dennoch, er hielt es für seine Pflicht, ihr einen originellen Gegenstand mitzubringen, wenn er aus fremden Ländern zurückkehrte. Das hatte er immer so getan.
Der Fahrer spielte mit dem Gaspedal. "Etwas windig heute", sagte er, "aber gutes Flugwetter, Sir."
"Es sieht so aus", sagte der Hauptmann, kletterte aus dem Wagen und schlenderte auf den Antiquitätenstand zu. Was dort, sinnlos umrahmt von Neonröhren, in flachen Glasvitrinen oder auf glatten hölzernen Hockern feilgeboten wurde, war fast dasselbe wie in Port Said, Basra, Aden oder anderswo im Orient; doch überraschte ihn die Reichhaltigkeit des Warenlagers. Neben wertlosem Trödelkram, Happy-Christmas- und New-Year-Karten, albernen Bildchen und abgeschmacktem Zeug in afrikanischer Aufmachung gab es echte ägyptische Bronzeglocken, gestickte Satteldecken und Majoliken aus Sahsuma, antike Vasen, kleine Bokharateppiche, vergoldete Filigranarbeiten und Gläser aus Murano; ferner Drogen, die nach Moschus rochen; dünngewetzte Armbänder und Ringe für die Fußknöchel; alte Ketten, die aus Münzen bestanden; Miniaturen, Schmucknadeln, kunstvolle Halsgeschmeide; Silberfläschchen für Henna an Korallenanhängern; ziselierte Gürtel, Amulette, Straußenfedern, Nargilehs, bunte Seidenstoffe und mit Halbedelsteinen besetzte Knöpfe; schließlich einen Haufen alter Waffen, Jatagane und breite Säbel, birnenförmige Pulvertaschen mit Intarsien aus Messing oder Bronze; endlich die Erzeugnisse südlicher Oasen: Kissen aus Lederstreifen, mit Metallfäden durchwoben; Elfenbeinarbeiten, meist Halbmonde, Dromedare, Fische oder Fatmehände; wunderwirkende Schminken, Tränke für heimlichen Liebeszauber und Blütenstaub von Palmen, der die Frauen fruchtbar machen soll.
Richard Loy wählte eine reichverzierte silberne Schale, die auf drei grünen Steinen ruhte. Der Händler, offenkundig einer der wenigen Italiener, die nach Kriegsende bleiben und die libysche Staatsangehörigkeit erwerben durften, nannte den Preis: neununddreißig Dollar.
"Sagten Sie neununddreißig?", fragte Loy, dessen ganze Barschaft gerade soviel betrug; "das ist etwas mehr, als ich dafür ausgeben möchte."
"Diese Schale ist ein Kunstwerk, eine Kostbarkeit, sie ist mehr als zweihundert Jahre alt", versicherte der Antiquitätenhändler und verdrehte die Augen. "Sie stammt aus den berühmten Silberwerkstätten der Kufra-Oasen, ging durch die Hände räuberischer Beduinenfürsten, gehörte zum Schatz des Senussiordens in Giarabub, geriet an den Pascha von Tripolis, der sie einem armenischen Kaufmann für eine zwölfjährige Negersklavin überließ; der Kaufmann starb... Nur durch einen glücklichen Zufall, Signore, kam ich zu diesem Besitz, biete ihn weit unter dem eigentlichen Wert an, so ist es! Sogar ein Echtheitszeugnis werde ich Ihnen ausstellen, das tu' ich!" Er fuhr sich aufgeregt durch das fettige, blauschwarze Haar und hob beschwörend die Hände.
"Ich könnte Ihnen acht Dollar dafür geben."
"Niemals! Oh, Sie beleidigen mich, Signore Capitano, Sie wollen mich kränken... Nun gut, ich mache eine Ausnahme: dreiunddreißig Dollar."
"Was ich meine, ist folgendes", sagte der Hauptmann. "Die Schale gefällt mir, aber sie ist weder zweihundert Jahre alt noch dreiunddreißig Dollar wert. Der Pascha von Tripolis war gut beraten, als er sie gegen eine Negersklavin vertauschte. Ich vermute, Sie werden sie mir für zehn Dollar überlassen, wenn ich mich eine Stunde lang mit Ihnen unterhalten habe."
"Unmöglich...!"
"Ja, denn meine Maschine startet inzwischen, aus unserem Geschäft wird nichts werden."
Er wandte sich um, als wollte er gehen.
"Neunundzwanzig Dollar, nur Ihnen zuliebe, weil Sie es so eilig haben", rief der Italiener, hob seine Schultern und warf ruckartig die Hände in die Luft. "Sie machen mich arm, Capitano..."
Sie feilschten noch eine Weile, schließlich erwarb Loy die Silberschale für neunzehn Dollar sechzig – sieben Pfund – die Hälfte seines Geldes. Was würde Joan sagen, falls sie je den Preis erfuhr? Sie war ja vernarrt in schöne alte Gegenstände, sammelte sie voll Eifer, mit erstaunlicher Sachkenntnis, bewahrte sie liebevoll auf. Sie würde sehr froh sein. Und, anders als sonst, brachte er heute einfach nicht genügend Beharrlichkeit auf, um sich noch länger mit dem Händler zu zanken, der nach Knoblauch roch und unentwegt beteuerte, nun sei er ruiniert. Sein Kopf war leer und dröhnte wie eine große Trommel. Er schob das kalte Metall seitlich in die Uniformbluse und kehrte zum Jeep zurück.
Der Fahrer hatte den in der Sonne schmorenden Wagen verlassen, er stand trinkend im Schatten einer zitronengelben Bude – es gab dort libysches Mandelwasser, tiefgekühlten Tomatensaft, italienische Fruchtlimonaden und Coca-Cola. Loy winkte ihn heran; sie passierten das Tor, das Zollhäuschen, die Dolmetscherbude und umrundeten den grellfarbigen Flugwegweiser, der seine glänzend lackierten Arme nach allen Himmelsrichtungen reckte und etwas großsprecherisch einlud:
Reisen Sie mit der BEA, BOAC, MAL, Saide (BEA = British European Airways, BOAC = British Overseas Airways Corporation, MAL = Malta Air Ltd.: britische Luftfahrtgesellschaften. Saïde: ägyptische Fluggesellschaft) bequem und sicher bei größtem Flugkomfort nach
London: 4 Stunden 50 Minuten
Rom: 2 Stunden 05 Minuten
Nizza: 2 Stunden 45 Minuten
Brazzaville: 11 Stunden 25 Minuten
Glasgow: 6 Stunden 30 Minuten
Kairo: 4 Stunden 40 Minuten
Montreal: 22 Stunden 10 Minuten
Tunis: 1 Stunde 20 Minuten
New York: 19 Stunden 55 Minuten
Johannisburg: 34 Stunden 05 Minuten
Kurze Böen sprangen über das Rollfeld, jenseits der betonierten Bahnen tanzten ockerfarbene Wirbel. Der rotweiße Windsack der Flugwetterwarte pendelte um Südost, das Schalenkreuzanemometer steigerte jeden Augenblick ruckartig seine Drehzahl. Seitab, dort, wo der militärische Sektor begann, schwenkte die Rundsuchanlage ihre Parabolantenne, und auch Precision Approach Radar arbeitete, denn gerade fiel eine Transportmaschine der 'Alitalia' auf Landestraße E ein. Das Donnern ihrer gedrosselten Motoren schwang in der schon unerträglich heißen Luft. Der Jeep rollte an den Autogaragen, Gepäckhallen und Kontrollräumen der Luftfahrtgesellschaften vorbei; eine Staubfahne leckte hinterdrein. Vor einem Operationsbüro ließ Loy halten und sprang vom Wagen. An seinen Achseln zeichneten sich dunkle Schweißflecke ab.
Der Raum sah aus wie die meisten Operationsbüros, die er während seiner dreizehn Dienstjahre kennen gelernt hatte. Sie ähnelten sich alle, ganz gleich, ob sie auf Island, Jamaika oder Hongkong lagen. Die siegreiche westliche Zivilisation hatte es fertig gebracht, genormte Dinge jeglicher Art und Größenordnung über den ganzen Erdball zu verteilen. Es gab einen waagerecht kreiselnden Ventilator unterhalb der Decke, hastig tickende Fernschreiber und eine Bank aus Leichtmetall, auf die sich nie ein Mensch setzte, die aber als Kleiderablage und Aufbewahrungsort für Bordbücher, Oktanten oder Aktentaschen diente. Es gab auch eine Karte des Mittelmeerraumes, in die wichtige Militärflugplätze eingezeichnet waren: rechts oben Adana an der türkischen Küste, Shaibah im Irak, Mezzé in Syrien, Dharan in Saudi-Arabien, Kahldee im Libanon, Lydda in Israel – und am anderen Ende die fünf neuen Luftbasen der Amerikaner in Marokko.
Neben der Karte hing eine schwarze Tafel, auf der die An- und Abflugzeiten standen. Loy sah den Namen 'Phil A. Rodney' hinter der Nummer 860, dem Kennzeichen des Flugzeugs, das ihn zurück nach Norwegen bringen sollte; es folgten die Buchstaben TMA – 00 (Tripolis/Mellaha nach Oslo) und die Startzeit, zwölf Uhr... also noch knapp zwei Stunden. Er fragte sich, ob er Eddie Sharp wohl hier antreffen würde und ob es Eddie wirklich gelungen wäre, den beiden Mädchen Plätze in der Acht-sechs-Null zu sichern. Sie hatten letzte Nacht an der Hotelbar ein kleines Komplott geschmiedet – ihm lag daran, dass etwas daraus wurde. Aus dem Zimmer des Meteorologen drang leiser Wortwechsel; er beschloss, nachzusehen, ob Eddie sich dort etwa aufhielt.
"Oberleutnant Rodney", sagte Rodney. "Bin Pilot der Achtsechs-Null, hätte gern ein bisschen übers Wetter gehört."
Der Meteorologe, ein ausgedörrter britischer Major von tiefbrauner, doch ungesund ins Grünliche spielender Gesichtsfarbe, kniff kaum merklich die Nasenflügel ein. Zu einem leichten Widerwillen Amerikanern gegenüber kam bei ihm die Abneigung gegen das fliegende Personal überhaupt. "Sie wollen nach Oslo, nicht wahr?"
"Nicht, wenn Sie mir abraten, Sir", scherzte Rodney.
"Es sieht weniger günstig aus, als Sie wahrscheinlich annehmen. Laut Prognosenkarte erstreckt sich das Azorenhoch zwar bis Südwestdeutschland. Aber dann ändert sich das Bild." Er deutete mit dem Zeigefinger auf ein Gewirr von Isobaren, Windfähnchen und eine große schraffierte Fläche; heimliche Genugtuung schwang in seiner Stimme. "Über dem Kattegatt herrscht orkanartiger Sturm."
"Na schön. Aber ich wette, wenn wir hinkommen, wird er nicht mehr so schlimm blasen."
"Wenn Sie das so genau wissen, weshalb machten Sie sich dann die Mühe, die Wetterstation aufzusuchen?"
"Weil es Vorschrift ist, Sir", sagte Rodney lächelnd.
Der Major wandte sich schweigend ab. Er beschloss, den amerikanischen Piloten einfach zu ignorieren. Er saß lange genug hier im Vorzimmer der Sahara, um genau zu wissen, dass die geringste Aufregung den Blutdruck jäh hochtrieb und einen Schweißausbruch zur Folge hatte – Dinge, die er sich gesundheitlich kaum leisten konnte. Er war ein erfahrener Fachmann und kannte den Klimacharakter dieses gottverlassenen Winkels wie kein zweiter. Vom Oktober bis zum April wirkten sich die barometrischen Tiefdruckgebiete des Atlantiks aus, sie riefen ein unbeständiges Wetter mit gewissen Niederschlägen hervor. Im Sommer dagegen war unter dem Einfluss einer dauerhaften Antizyklone der Barometerstand hoch, und die Hitze wurde nur in küstennahen Gebieten durch eine leichte Meeresbrise gemildert. Jetzt, im September, machte sich die Nachbarschaft der riesigen Wüstenflächen noch unangenehm bemerkbar, der Wind drehte oft auf Süd – dann strömte der gefürchtete Ghibli vom Djebel herab und ließ das Thermometer bis auf fünfzig Grad im Schatten klettern. Der Meteorologe sah dies auch für den heutigen Tag voraus und nahm sich daher in Acht. "Nichts für ungut, Sir", lenkte Rodney ein. "Ich glaubte, Sie verstünden 'nen Spaß."
Der Major sah ihn starr an. Er argwöhnte, der andere mache sich über ihn lustig. Dieser ganze unerquickliche Wortwechsel verstärkte den Widerwillen, den er Yankees gegenüber empfand; wenn er auch billigerweise zugeben musste, dass sie sich keineswegs alle so unverschämt benahmen wie dieser Flugzeugführer... Manchmal fragte er sich, was sie hier taten. Immerhin hatten englische Soldaten das Land erobert, die Italiener verjagt und Rommel hinausgeworfen – ihr Blut hatte die Erde der Cyrenaika und Tripolitaniens getränkt, damals, vor mehr als elf Jahren. Großbritannien verwaltete das Territorium im Auftrage der Vereinten Nationen, gab viel Geld dafür aus... Nun, in gewisser Beziehung verstand er gut, welche Erwägungen die Amerikaner veranlassten, ihre Nase in die libysche Streusandbüchse zu stecken. Die jüngsten NATO-Manöver hatten das jedem, der es bis dahin nicht sah, deutlich vor Augen geführt. In genau zwei Stunden vermochte ein B-47-Düsenbomber, der von Bengasi, Wheelus Field oder Castel Benito aufstieg, die ukrainische Grenze erreichen; in zwei Stunden vierzig Minuten das Donezbecken. Übrigens waren die nordafrikanischen Luftbasen auf dem Landwege für die Russen schlechterdings unangreifbar, die Barriere des Mittelmeeres schützte sie: Das erhöhte ihren Wert für den überseeischen Alliierten. Die Zeit würde kommen, da mehr amerikanische als britische Maschinen hier in den Hallen standen – aber dann hatte man ihn hoffentlich schon pensioniert, das wünschte er nicht mehr zu erleben.
"Über der Ostsee", sagte er langsam, "ist eine schwedische Maschine in Seenot geraten. Ein Verkehrsflugzeug der SAS mit fünfundvierzig Personen an Bord. Es sendet seit fünfzehn Minuten Hilferufe. Möglicherweise halten Sie auch das für einen Witz?"
In diesem Augenblick trat Hauptmann Loy ein; die Atmosphäre entspannte sich mit einem Schlage. "Hallo, Rodney", grüßte er freundlich, wandte sich dann an den Meteorologen: "Major Huntington, ich suche einen amerikanischen Journalisten namens Sharp. Er trägt einen weißen Anzug und eine 'Einbahn'-Brille. Haben Sie ihn gesehen?"
"Er sitzt nebenan, glaube ich. Ein Mann, wie Sie ihn beschreiben, ließ sich vorhin die Windstatistik geben."
"Die Windstatistik?"
"Er wies ein Empfehlungsschreiben vor. Er wünschte sich über den Klimacharakter unserer Zone hier zu informieren." Major Huntington blickte dabei nicht Loy, sondern Phil Rodney an, als wollte er sagen: Im Gegensatz zu Ihnen, junger Mann, gibt es Leute, die Wetterkunde durchaus zu schätzen wissen.
Loy dankte und betrat den Nebenraum, in dem ein stämmiger Zivilist hinter einem Berg von Ordnern, Handbüchern und gebündelten Papieren saß. Ein paar Fliegen summten.
"Fein, dass du kommst", sagte Eddie Sharp. "Sieh dir mal das an. Ich fürchte, unsere Generalstäbler haben sich verrechnet. Das ganze Manöver war nicht real."
"Ach, du hast das aus der Windstatistik?"
"Eine feindliche Macht ist nach dem Manöverplan in Mazedonien und Thrazien eingefallen", erklärte Sharp unbeirrt. "Sie hat die griechischen und türkischen Truppen in Richtung Istanbul und Saloniki zurückgeworfen, einen Keil zwischen Jugoslawien und Griechenland getrieben, Albanien erreicht und den Marinestützpunkt Korfu besetzt. In dieser Situation läuft die 6. US-Flotte Griechenland an und landet britisch-amerikanische Reserven. Das feindliche Oberkommando erkennt diese Gefahr und lässt die entscheidende Flottenbasis Malta durch Fallschirmjäger erobern. Der Stab des Cincafmed (Cincafmed = militärische Abkürzung für Commander-in-Chief of Africa and the Mediterranean: NATO-Oberbefehlshaber für Afrika und das Mittelmeer.) kommt mit Mühe aus dem Malta-Schlamassel heraus, und Admiral Lord Mountbatten, der den Gegner von dieser Insel unbedingt entfernen muss, aber keinen Sturmangriff riskieren kann, entschließt sich, Atomwaffen einzusetzen. Zunächst dirigiert er alle Flotteneinheiten aus der Umgebung Maltas heraus, besonders den östlichen Sektor macht er frei, da er mit Westwind rechnet. Einfache A-Bomben vom Typ Hiroshima genügen natürlich nicht für ein so schwer befestigtes, gebirgiges Ziel. Lord Mountbatten wählt also zwei H-Bomben, von denen er die eine direkt auf La Valetta, die andere über dem Südteil der Insel abwerfen lässt."
"Ja, ich erinnere mich." Loy gähnte unterdrückt.
"Pass auf – die radioaktive Strahlung verseucht einen Korridor, der etwa fünfzig Kilometer breit und drei- bis vierhundert Kilometer lang ist. Bei Westwindlage, die der Manöverplan selbstherrlich vorschreibt, liegt dieser Korridor über dem Ionischen Meer, wo er niemanden stört. Wie ich aber gerade festgestellt habe, dreht der Wind in dieser Ecke mitunter plötzlich auf Südwest oder sogar auf Süd. Laut Statistik tritt dieser Fall im Sommer häufig ein. Dann aber schwenkt der tödliche Korridor über Sizilien, schaltet die Stützpunkte längs der Straße von Messina aus und verursacht bei den Italienern eine Panik. Auch der Cincsouth (Cincsouth = Oberbefehlshaber Süd) in Neapel, US-Admiral Fechteler, dürfte unangenehm berührt sein und den Bunker aufsuchen. Was meinst du dazu, Richard? Das ganze Manöver war nicht real!"
"Glücklicherweise", murmelte Loy.
"Na, hör mal! Im Ernstfall hätte das Tausenden unserer Jungs das Leben gekostet... Unsere ganze Mittelmeerfront wäre wahrscheinlich zusammengebrochen."
"Mach dir nichts draus."
"Das ganze Manöver war nicht real."
"Offen gesagt, ich habe genug davon. Entschuldige, Eddie."
Sharp war Militärkorrespondent der 'US. News and World Report', eines amerikanischen Nachrichtenmagazins mit ausgezeichneten Pentagon-Verbindungen; Loy wusste, die Redaktion hatte ihn eigens nach Nordafrika entsandt, damit er einen ausführlichen Manöverbericht lieferte. Er mochte ihn und fand, dass Eddie im Grunde nur seine Pflicht tat, wenn er bis zur letzten Minute verstaubte Unterlagen wälzte, um den Lesern seines Blattes die ganze Fragwürdigkeit der Manöver darzulegen. Dennoch wollte er selbst davon nun nichts mehr hören.
Sharps Antlitz entspannte sich. "Wir reden ein andermal darüber." Er schichtete die wetterwissenschaftlichen Papiere des Majors Huntington zu einem hohen Stapel auf, erhob sich mit einem Seufzer und kam um den Tisch herum. Einen Kopf kleiner als der Hauptmann, aber kräftig, braungebrannt, von kühn geschnittenem Profil und in blendendweißen Flanell gekleidet, wirkte er sportlich, fünf Jahre jünger und ganz als der 'homme à femme', der er tatsächlich war.
"Wie ging es mit den Plätzen für die beiden?"
"Es klappt. Hab's mit dem Kommandanten abgesprochen. Sie fliegen bei uns mit, alter Junge!" Sharp lächelte lausbubenhaft, ein wenig eitel. Eigentlich hätte nicht einmal er selbst die Militärmaschine benutzen dürfen; er dankte diese Erlaubnis dem besonderen Entgegenkommen einiger Stabsoffiziere, denen an einem wohlwollend abgefassten Manöverbericht lag. Die 'US. News' zahlten seine Spesen, und die dreihundertzwanzig Dollar für den Flug nach Oslo wanderten nun in seine eigene Brieftasche.
"Großartig!"
"Hab' es ihnen schon gesagt. Sie sind sehr froh."
"Über unsere Gesellschaft doch nicht?"
"Auch das. Welche von ihnen reizt dich?"
"Ich fürchte, beide."
"Das ist ein bisschen heftig, alter Junge."
"Wir werden schon sehen, Eddie."
"Gut, ich lege mich auch noch nicht fest."
Es entstand eine Pause.
Dann sagte Loy: "Wenn mich nicht alles täuscht – mit der langen Blonden würde ich mich gelegentlich mal ganz gern etwas näher unterhalten."
"Sprichst du von Miss Graves?"
"Ich glaube, ja."
"Ah...! Eine langstielige Teerose, eisgekühlt."
Loy sagte nichts.
"Sie will ihren Urlaub in Norwegen verbringen. Nehme an, sie bleibt nicht in Oslo wie wir, sondern tummelt sich zwischen den Fjorden herum."
"Das ist allerdings zu befürchten."
"Aber vielleicht", murmelte Sharp, während sie hinausgingen, "vielleicht hält sie sich wenigstens ein oder zwei Tage in Oslo auf."
Der Hauptmann sah ihn von der Seite an; er schwieg.
"Teerose ist übrigens ihr Spitzname, Richard."
"Hab's gehört."
"Sie ist die Unauffälligere von beiden, nicht wahr", sagte Sharp leise. "Ihre Freundin sieht viel attraktiver aus, ist auf den ersten Blick ganz bezaubernd. Sie geht nach Hollywood, weißt du das?"
"Ja."
"Natürlich, sie erzählt es überall herum. Hat von der Metro-Goldwyn-Mayer 'nen Sechsmonatsvertrag für Probeaufnahmen bekommen."
"Wie es scheint, ein patentes Mädel."
"Auch sie hält sich leider nicht in Oslo auf, sondern steigt sofort in eine SAS-Maschine um", sagte der Journalist. "Zielort – Los Angeles."
"Weshalb fliegt sie dann nicht zunächst mit der BOAC nach Glasgow? Ich dachte, die SAS-Amerikaroute geht über Glasgow."
"Die traditionelle Route – ja. Patricia fliegt aber mit der neuen Polarlinie (Die neue Polarlinie nach Los Angeles wurde im Herbst 1954 erstmalig planmäßig beflogen. Gegenüber der traditionellen Atlantikroute sparen die Passagiere acht Stunden Zeit, die Fluggesellschaft 5760 Liter Sprit.) über Grönland und Kanada. Es ist der erste fahrplanmäßige Flug dieser Art, sagte sie mir."
"Warum macht sie das?"
"Die Polarroute ist fast zweitausend Kilometer kürzer. Sie ist acht Stunden eher in Hollywood."
"Ich finde, sie hat es furchtbar eilig, zum Film zu kommen."
"Besonders, wenn man bedenkt, dass ihre erste Rolle dort bestenfalls im Bett des Produktionschefs, wahrscheinlich aber schon auf dem Fußboden des Schneideraums enden wird." Sharp grinste ein bisschen. "Nun, vermutlich ist etwas wie Reklame dabei. Die MGM zahlt das Flugbillett, zweitausendachthundert Schwedenkronen, eine teure Reklame, findest du nicht?"
"Auf jeden Fall ein bemerkenswertes Mädchen. Mir scheint, man sollte sich ihr widmen, Eddie."
"Hm..."
"Wenn wir ihr zu verstehen gäben, dass du mit der Presse zu tun hast, würde sie dich ausquetschen und kaum von deiner Seite weichen."
"Hm, hm."
Greller Sonnenschein lag über dem Flugplatz, doch jetzt empfand Loy die mörderische Hitze nicht. "Wir brauchten ja nicht zu erwähnen", fuhr er fort, "dass du hauptsächlich Militärkorrespondent bist."
"Nein, das brauchten wir nicht."
"Sie wird also annehmen, du könntest ihr behilflich sein, beim großen Publikum Stimmung zu machen."
"Vielleicht glaubt sie das wirklich, Richard."
"Sie wird allerhand über die Art hören wollen, wie man die Öffentlichkeit für sich einnimmt. In diesem Fall hättest du gewonnenes Spiel – heute Abend, in Oslo."
"Du vergisst, dass sie dort keinen Aufenthalt hat", erinnerte Sharp. "Weißt du, es ist besser, wir legen uns jetzt in dieser Beziehung noch nicht fest. Ist gescheiter, meinst du nicht?"
"Ich verstehe, Eddie. Du hast vollkommen recht."
Inzwischen waren sie bei Loys Jeep angelangt.
"Pass mal auf, ich hab' hier was." Sharp zog einen Zettel aus der Brusttasche. "So etwas wie eine Passagierliste... Mit der Besatzung werden wir neun Mann sein, neun Mann und zwei Frauen. Nimm mal an, wir müssten auf einer unbewohnten Insel notlanden; es entstünde eine vertrackte Lage."
Sie stiegen ein, der Wagen rollte an.
"Vermutlich würden sich die beiden einen Männerharem zulegen. Man könnte gespannt sein, auf welche Weise sie sich uns neun dabei aufteilen würden."
Der Hauptmann ging auf diese für seinen Geschmack zu frivole Bemerkung nicht ein, er ließ sich die Liste geben und las:
Richard Loy, 32, Hauptmann der RAF
Edward E. Sharp, 39, Militärkorrespondent
Doris Graves, 24, WAF-Corporal (WAF:
Abkürzung für das weibliche Hilfskorps der amerikanischen Luftwaffe).
Patricia Binchy, 21, Filmstar (hofft es)
Oliver D. Macauley, 60, Industrieller
Dr. Drexel E. Spencer, 45, Privatsekretär
Phil A. Rodney, 30, Chefpilot
Flip Laski, 43, zweiter Pilot
Achille Bartolomeo, 19, Bordfunker
Mike O'Connor, 22, Bordmechaniker
Rex Martin, 28, Navigator
"Eddie, wo hast du das her?"
"Berufskrankheit. Man sammelt Informationen."
Von weitem sahen sie auf Startbahn C ihre Maschine stehen. "Ich möchte bloß wissen, weshalb sie unten weiß ist", sagte Sharp.
"Vielleicht finden deine Landsleute, dass es schön aussieht", antwortete Loy; "repräsentativ. Stabsoffiziere haben manchmal einen Tick."
"Während der Manöver habe ich diesen Anstrich öfter gesehen", brummte Sharp. "Aber nur an Langstreckenjägern und ein paar Düsenbombern... Es muss einen anderen Grund haben, Richard."
"Hast du gefragt?"
"Sie sagen nichts. Anscheinend soll es geheim bleiben."
"Na, ich glaube kaum, dass viel dahintersteckt."
Die Maschine geriet außer Sicht, sie ließen das Thema fallen. Loy fragte: "Wer ist das, dieser Macauley?"
Der Wagen rollte durchs Flugplatztor, am Andenkenpavillon vorbei. "Siehst du, dort steht er", erwiderte Sharp.
"Diese Bronzeglocke ist ein Kunstwerk, eine erlesene Kostbarkeit, sie ist mehr als dreitausend Jahre alt", rief der Händler und rollte mit den Augen. "Sie stammt aus dem Grabe Ramses des Großen. Bemerken Sie die herrliche Intarsieneinlage, die Bilder, welche Szenen aus der altägyptischen Geschichte darstellen? Später ging sie durch die Hände räuberischer Beduinen, die die Schatzkammer einer der Pyramiden geplündert hatten, Signore, wanderte auf dem Rücken ungezählter Lastkamele wohl hundertmal durch die Wüste, gehörte lange Zeit zum Hort des Senussiordens in Giarabub und wurde dann weitergetauscht, von Oase zu Oase..."
"Mr. Macauley", raunte Dr. Spencer, "ich möchte dringend davon abraten, die Glocke zu erwerben." Er war ein distinguierter Herr mit dünnem, sorgsam gebürstetem Haar, das an den Schläfen etwas ergraut war und schöne weiche Locken bildete. Gewöhnlich trug er, ganz unabhängig vom Wetter, tadellos sitzende Tweedanzüge in subtilen Farbschattierungen: Themsegrün, Perlgrau, Rosenholz oder Londoner Rauch.
"Abraten? Weshalb?"
"Wir dürfen, meine ich, diesem Menschen kein Wort glauben."
"Möglich", erwiderte Macauley, "aber mich interessiert der Kram, den er da hat." Er war fest entschlossen, von der Stätte, an der ihm ein bedeutender Geschäftserfolg zuteil geworden, ein würdiges Andenken mitzubringen.
"Später", hub der Antiquitätenhändler von neuem an, "geriet sie an den Pascha von Tripolis, der den Türken tributpflichtig war. Ein jüdischer Kaufmann erwarb sie für hundert Silberpiaster und zwei blutjunge nubische Sklavinnen. Der Kaufmann starb... Nur durch einen glücklichen Zufall, Signore, kam ich zu diesem wahrhaft einmaligen Besitz, biete ihn weit unter dem eigentlichen Wert für achtundneunzig Dollar an..."
"Achtundneunzig?", forschte Macauley, "dann wird sie kaum echt sein. Doc, hörten Sie je von einer ägyptischen Bronzeglocke, die nur achtundneunzig Dollar gekostet hätte?"
"Bei Gott, Sir, niemals", sagte Spencer.
"Also, mein Bester, zeigen Sie mir etwas anderes!"
Der Italiener führte neue, kostbarere Antiquitäten vor.
"Eine schauderhafte Bedienung", flüsterte der Sekretär. "Unsachlich, betrügerisch... Was er vorhin über die Negersklavinnen sagte, klang unwahrscheinlich, Sir. Er tischt uns haarsträubende Märchen auf."
Doch das, was Dr. Drexel E. Spencer, der in seiner besten Zeit zweimal wöchentlich an der Columbia-Universität Soziologie gelesen hatte, im Betragen des Händlers so störte, schien Oliver D. Macauley eher zu erheitern. Seine glänzende Laune war offenkundig. Er war ein stattlicher, vitaler, salopp gekleideter Mann von entschiedenem, gebieterischem Auftreten; Urbild des kraftgeladenen Mannes aus dem Volke, der durch Energie und geschäftlichen Scharfblick vorangekommen ist. Die Zeitschriften der Westküste brachten manchmal sein Bild mit Unterschriften wie 'Smiling Mac, Direktor der Teufelswerkstatt MAC'; mit MAC bezeichneten sie die Macauley Aircraft Company, deren Präsident und Hauptaktionär Oliver D. Macauley seit mehr als zwanzig Jahren war. Die MAC arbeitete recht erfolgreich auf einigen Gebieten der Luftrüstung; ihr Stammsitz lag in Santa Monica, California; Zweigniederlassungen befanden sich in Chikago, Cleveland, New Orleans, St. Louis, Brooklyn N. Y., Los Angeles, Cansas City, San Francisco und Seattle – während die kanadischen Interessen durch die MAC Limited in Montreal wahrgenommen wurden.
Macauley erwarb schließlich einen kurzen, sehr alten Säbel mit stark gebogener, bläulich schimmernder Damaszenerklinge und schönverziertem Knauf. Auf dem Rückweg ins Hotel wischte er sich mehrmals den Schweiß aus Gesicht und Nacken. Dr. Spencer trug die Waffe, er drückte sie eng an seine Hüfte und hoffte, niemand würde sie dort bemerken. Es war ihm peinlich, mit einem so lächerlichen Gegenstand gesehen zu werden.
"Gefällt er Ihnen?", fragte der Präsident.
"Ich fürchte, Sie haben keine sehr glückliche Wahl getroffen", erwiderte Spencer freimütig.
"Ach, das Ding ist ganz in Ordnung!"
"Ich werde ihn sofort wegpacken, in einen Ihrer Koffer, wenn Sie gestatten."
"So? Ich glaubte, Sie würden versuchen, ihn umzuschnallen, Doc. Aber Sie haben ja wohl keinen Sinn für antike Kunst."
"Der Säbel ist bestenfalls spätes Mittelalter."
"Also genau das richtige für Männer in unseren Jahren."
Dr. Spencer schwieg. Macauleys bullenhafte Fröhlichkeit und die lähmende Hitze erdrückten und betäubten ihn.
"Flip, wir wollen die Klarliste durchgehen", sagte Oberleutnant Rodney. Mit einem Seufzer ließ er sich in den linken Sitz fallen und band die Krawatte ab. Vor dem Anlassen der Motoren mussten jedes Mal an Hand einer für jeden Flugzeugtyp besonders aufgestellten Kontroll-Liste alle wichtigen Teile überprüft werden.
Der zweite Pilot verlas wie ein Vorsänger die Prüfungspunkte, und der Flugzeugführer antwortete ihm ernst – ein Verfahren von liturgischer Feierlichkeit.
Flip Laski, ein reaktivierter Weltkriegsflieger polnischer Herkunft, drehte nun an einer kleinen erleuchteten Rolle, auf der die kontrollpflichtigen Bestandteile der Maschine aufgedruckt waren; auf die einzelnen Posten tippend, fragte er: "Park-Bremse?"
"Angezogen", sagte Rodney.
"Notbremsdruck?"
"Geprüft."
"Statisches Drucksystem?"
"Normal."
"Enteiserflüssigkeit?"
"Geprüft, 150 Liter."
"Öldruck?"
"Okay."
Feldwebel Laski nahm diese Arbeit so genau, wie sie es verdiente. Er war ein alter erfahrener Flieger, der wusste, dass Leben und Sicherheit der Besatzung mitunter von unwahrscheinlich geringfügigen Dingen abhingen. Er hatte die vier 3300-PS-Motoren schon vorhin einmal probeweise anspringen lassen und gemeinsam mit dem Bordmechaniker eine Menge Einzelteile geprüft: die Ölleitungen, Ventile und Verschlüsse, die Nieten, Inspektionstüren, Öl- und Gaskappen, Sicherungen, die hydraulische Anlage, Membranpumpen, Lösch- und Wassernotlandegerät, das Leitwerk und die dünnen Messingdrähte, welche die Benzinfilter sicherten. Jede Kleinigkeit konnte zum Mörder werden, er aber wollte die wenigen Flüge, die noch vor ihm lagen, heil überstehen. Der Schweiß rann über seinen mageren, starkknochigen Körper. Er musste gesund zurückkehren zu seiner Tochter Helen, einer zarten siebzehnjährigen Schönheit, die im steinernen Häusermeer Manhattans auf ihn wartete. Sie verdiente sich etwas Geld mit Babysittern und besuchte einen Stenotypistinnen-Kursus. Sie war sein Stolz und seine Hoffnung. Alle Härten des Dienstes, tropische Hitze und Strapazen ertrug er für sie, für ihre Zukunft, ihr Glück. Kehrte er nicht zurück – sie wäre verlassen und verloren...
"Batterieschalter?"
"Ein."
"Hydraulik-Handpumpe?"
"Geschlossen."
"Hebel für Gemischteinstellung?"
"Aus."
"Klappen für Kühlluftregulierung?"
"Offen."
Im Hintergrund nahm Rex Martin am Navigationstisch Platz, ein blasser, hübscher junger Mann im Leutnantsrang, der in dem Rufe stand, ein ausgezeichneter Radarfachmann zu sein. Er lockerte seine Krawatte und legte das Arbeitsgerät vor sich hin – die Windprognose, das Bordbuch, die Wetterkarte, mehrere ordentlich gespitzte Bleistifte, seine Zirkel, Lineale, Rechenschieber und astronomische Tabellen. Die Loran-Karte, die er irrtümlich herausgenommen, faltete er, da sie nur für Transatlantikflüge gebraucht wurde, sorgsam wieder zusammen. Er hantierte schweigend, mit ruhigen, abgemessenen Gesten; vorn im Cockpit vernahm man nur das Rascheln seiner Papiere.
"Generatoren?"
"Aus."
"Signal: Passagiere anschnallen und Rauchverbot?"
"Ein."
'Fasten Seat Belt – No Smoking'
Während der ersten Minuten des Steigens wurden die Fluggäste seltsam fröhlich; ihre Bewegungen schienen lebhafter, ihre Mienen heiterer, die Stimmen klangen höher, sie tauschten kurze Bemerkungen oder saßen lächelnd da. Loy wusste, wer schlechter Laune war, wurde sie in diesem Augenblick manchmal los. Das mochte vom Gefühl des Anstiegs herrühren, jenem leisen Kitzeln oberhalb des Magens, verstärkt durch die schwache Schräglage des Raumes. Vielleicht kam es auch jetzt einfach daher, dass jedermann glaubte, die entsetzliche Hitze ließe allmählich nach – jedoch so deutlich hatte er es noch nie gespürt. Ihm war, als löse er sich zugleich seelisch von der Erde; er vermochte nicht, sich diese Empfindung ganz zu erklären. Stärker als je zuvor kostete er sie heute aus. Ein schwacher Hauch spannungsvoller Erwartung überkam ihn; er fragte sich, was dieser Tag ihm wohl bringen, wie er enden werde – dieser Tag, der mit einem grauenhaften Angsttraum begonnen hatte.
Durch das Kabinenfenster warf Doris Graves den letzten Blick auf Tripolis. Das Flugzeug beschrieb eine Schleife; für kurze Sekunden nahm sie noch einmal den unvergesslichen Anblick in sich auf: die Mole, den Schaum der Brandung, die Schiffsmasten im Hafenbecken, dicht gedrängt, überragt von drei Leuchttürmen... Alte Basteien, Ruinen der Römerzeit, weiße Terrassen, gesäumt von den Ketten blaugrüner Dattelpalmen. Die Villen der Europäer, der Palast des Gouverneurs und das Hotelhochhaus 'El Mehari', in dem Beamte der britischen Zivilverwaltung einen Tanztee gaben, damals, einen Tag bevor sie es mit Nelson, ihrem Dienststellenleiter, verdarb. Ein Bild von märchenhafter, schwermütiger Schönheit. In zitternder Sonnenglut schlummerten die Kuppeln der zahllosen Moscheen, das rötliche Mauerwerk des Kastells, die Elfenbeinspitzen der Minaretts... Sandwirbel geisterten am Horizont.
Doris sah es voller Trauer. Sie kehrte nicht wieder zurück, und wenn sie an einem fremden Ort ihren Dienst antrat, waren Pat und die anderen nicht mehr da! Sie saß still und schaute... In der Ferne ertrank die Stadt in lila Dünsten.
Da kurvte die Maschine, und ein Sonnenstrahl, der jäh auf der Tragfläche blitzte, blendete Doris. Sie kehrte sich vom Fenster ab und spürte sofort, dass Hauptmann Loy sie beobachtet hatte.