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© Anna Auerbach/Kosmos
Nadin Matthews mit Faust.
Seit Jahren bereitet sich Ihr Hund darauf vor. Er trainierte, perfektionierte, erarbeitete sich einen Ruf und er wurde nicht müde, diesen täglich zu verteidigen. Sein Verhalten wurde mit dem Prädikat unerwünscht abgestempelt und er selbst galt als schwierig, als Systemsprenger. Doch egal, welche Steine Sie ihm in den Weg legten, egal, wie sehr seine Hüften schmerzten, er hat nie aufgegeben. Bis vor Kurzem blieb er gänzlich unverstanden. Doch vor Kurzem offenbarte sich die Wahrheit. Durch Corona ergibt plötzlich alles einen Sinn. Sie wissen, dass es an der Zeit ist, sich bei ihm zu entschuldigen. Während andere Menschen an der Kontaktsperre zu zerbrechen drohen, bleiben Sie entspannt. Während andere Schwierigkeiten haben, ihren Mitmenschen auszuweichen und auf die geforderten 1,5 Meter körperlichen Abstands zu pochen, lächeln Sie nur müde.
Social Distancing ist für Sie nichts Neues. Mit dem Hund darf und muss man sogar rausgehen. Doch niemand unterwandert die Ausgangssperre sicherer als Sie. Wo Sie mit Ihrem Hund auftauchen, werden Straßenseiten gewechselt, Plätze leer gefegt und mit gesenktem Kopf leise getuschelt. Und warum? Richtig, weil Ihr Hund seiner Zeit weit voraus war, weil er gesehen hat, was niemand sah, weil er Sie geschützt hat. Geschützt vor dem, was Menschen COVID-19 nennen. Sie stecken sich nicht an. Es ist kein Zufall, dass Hundeleinen gut 1,5 Meter Abstand gewährleisten.
Sie fühlen sich schon lang nicht mehr einsam, wenn Sie allein mit Ihrem Hund sind. Gewöhnung eben. Je mehr Abstand wir halten, desto mehr soziale Nähe brauchen wir, das wissen Sie. Warum sollte es bedenklich sein, mit seinem Hund zu sprechen? Draußen sorgt er für mindestens eine Leinenlänge Abstand und drinnen ist er anschmiegsam und liebevoll. Jetzt, wo die meisten Hundeschulen geschlossen haben, gibt es sowieso kein Problem mehr. Wo kein Kläger, da kein Richter. Ein guter Moment, sich in die Aggression hinein zu entspannen und zu realisieren: Sie und ihr Hund sind krisensicher.
Ob dieses Buch systemrelevant ist, entscheiden Sie selbst. Was mit Ihrem Hund nach der Krise passiert, auch.
© Anna Auerbach/Kosmos
Das Problem ist so alt wie die Hundeleine. Das Ausleben aggressiven Verhaltens an der Leine gehört zu den häufigsten Gründen, eine Einzelberatung aufzusuchen. Die sogenannte Leinenaggression lässt sich nicht auf das unerwünschte Bellen reduzieren. Es geht dabei um so viel mehr. Für die Hunde und für die Menschen.
© Anna Auerbach/Kosmos
Mit dem Wetterbericht kommt die Angst. Jeden Abend, wenn der Nachrichtenabspann läuft, kriecht sie ihr in den Nacken. Die Angst vor 800 Metern. Die Angst vor der Abendrunde. Wer könnte jetzt noch mit seinem Hund unterwegs sein?
© Anna Auerbach/Kosmos
Diese Frage beschäftigt sie dreimal täglich. Wann hat das eigentlich angefangen, dieses Unbehagen vor dem Spaziergang? Bevor ihr die Antwort einfällt, schießen ihr vier Buchstaben durch den Kopf: ASCO. Der müsste schon wieder zu Hause sein, wenn alles nach Plan läuft. Über Ascos Besitzer weiß sie im Grunde genommen nicht viel, außer wann er mit seinem nicht kastrierten Rüden nach draußen geht. Es gab eine Zeit, in der sie überlegt hatte, ihn zum Kaffee einzuladen, um ihn näher kennenzulernen. Das war die Zeit, als Ben klein war und als die Furcht noch nicht ihre gemeinsamen Spaziergänge begleitet hat.
Nun diktiert ihr ebendieses Gefühl, nicht auf die Begegnung mit ihm zu hoffen, sondern sie zu vermeiden. Sie steht im Flur und greift nach der Leine. Als hätte Ben auf dieses Geräusch gewartet, springt er aus seinem Korb, rast an ihr vorbei, direkt zur Wohnungstür. Er ist bereit für seinen großen Auftritt. Noch ein letztes Mal will er es heute allen zeigen: Er ist der König der Straße.
Sie fühlt sich ganz und gar nicht königlich und schaut ihn sorgenvoll an. Was Ben zeigt, würden Fachleute Appetenzverhalten nennen. Man könnte aber auch sagen, dass er bereits beim Griff zur Leine auf der Suche nach den anderen Hunden ist und große Erwartungen an den Spaziergang knüpft. Wäre er ein Mensch, so würde er sich voller Vorfreude seine Lederjacke anziehen und mit der Hand durch die Haare fahren, um vor dem Spiegel grinsend zur Probe zu posen. Sie aber ist kein Hundefachmensch. Sie ist ein Mensch mit einem Problem. Und sie weiß, wenn er sich vor dem Spaziergag so verhält, wird es draußen schwierig. Fast reflexartig greift sie daraufhin zum Halti. Man weiß ja nie, was – oder besser wer – einem begegnet.
Zur Sicherheit nimmt sie seinen Lieblingsball mit und die Tüte mit der klein geschnittenen Fleischwurst. Vielleicht kann sie ihn diesmal damit ablenken.
Mit diesem Arsenal an „Wunderwaffen“ – in der Hundeerziehung auch Hilfsmittel genannt – geht sie über zu den nächsten Schritten. Wie ein altes einstudiertes Tanzlied verlangt sie von Ben ein „Sitz“. Wie immer reagiert er erst nach der dritten Ermahnung darauf. Wie immer erscheint er ihr dabei genervt. Doch sie bleibt eisern und leint ihn erst an, wenn er sich hingesetzt hat. Es ist ein gutes Gefühl, wenn er auf sie reagiert. Wenigstens in dieser Situation.
Sollte sie nicht fröhlich und entspannt mit ihrem Hund die schöne Abendluft genießen können? Schließlich hat sie sich einen Hund zugelegt, um mehr nach draußen zu kommen. Einen treuen Begleiter für ihre morgendliche Joggingrunde, ihr Ausgleich zum Bürojob. Sie wollte einen gesunden, sportlichen Hund, der sie fordert und hat sich für einen Schäferhund-Mix entschieden. Agil ist er, aber ihre alte Joggingstrecke ist mit ihm nicht zu laufen. Dort gibt es zu viele andere Hunde. Dabei hat sie auf alles geachtet. Er wird ausgewogen ernährt, hat für jeden Anlass die passende Ausstattung, besitzt hundetaugliches Spielzeug, ist tierärztlich bestens versorgt und sie geht mit ihm regelmäßig in eine Hundeschule. Doch kann sie trotz allem nicht einmal spazieren gehen, wann, wo und wie sie will.
Jeden Tag wagen sich Leute mit einem unguten Gefühl und ihrem Hund an der Leine auf die Straße. Schon die Minuten vor dem Gassi-Gang sind voller Anspannung. Das bleibt vom Hund nicht unbemerkt. „Kommunikation verläuft immer kreisförmig“ hat Paul Watzlawick in seinen Gesetzen der Kommunikation formuliert. Das heißt, dass die Reaktion des einen Kommunikationspartners auch gleichzeitig eine Aktion ist, auf die der andere wiederum reagiert. Oder übersetzt: Ben rechnet die Uhrzeit mit der Stimmung seiner Besitzerin zusammen und weiß, dass es nun hinausgeht und dass jede Hundebegegnung ein Highlight wird. Durch ein schnelles und aufgeregtes Pendeln zwischen seinem Menschen und der Tür versucht er den Start des Spazierganges zu beschleunigen. Und es gelingt jedes Mal. Aus seiner Sicht.
Dass seine Besitzerin den Ball und das Futter eingesteckt hat, bleibt für ihn nicht unbemerkt. Ihr gibt es Sicherheit, ihm zwei Gründe mehr, um mit durchgedrückten Beinen und erhobenem Schwanz aus der Tür zu stürmen. Schließlich hat er viel zu tun und zu verteidigen. „Mein Mensch, mein Futter, meine Beute“, so kann für ihn der Reviergang mit stolzgeschwellter Brust beginnen. Sie reagiert mit angestrengter Miene. Er zieht in eine Demonstration seiner eigenen Macht. Sie zieht in den Krieg.
Während sie hektisch die Straße nach potenziellen Hunden und Haltern absucht, bringt sich Ben durch das Überpinkeln anderer Markierungen olfaktorisch ein. Für ihn eine geniale Arbeitsteilung. Sie arbeitet visuell und wird ihm sofort körpersprachlich signalisieren, ob ihnen ein anderer Hund entgegenkommt. Er dagegen kann sich auf die geruchliche Suche begeben. Jeder Baum, jede Laterne und Ecke informieren Ben über die aktuelle Situation in seiner Straße. Sie waren alle hier. Sam, Fee und Quentin. Und Henry. Dieser vorwitzige Dackel kann froh sein, dass er vor einigen Monaten kastriert wurde. Und Lola! Sie ist seit einer Woche läufig. Zwar hat Ben sie seither nicht mehr gesehen, aber er riecht sie jeden Tag. Sein Testosteronspiegel sagt ihm, dass er der Richtige für sie wäre. Es kann nur einen geben.
Und da biegt er plötzlich um die Ecke. Asco. „Wieso ist der denn um diese Zeit unterwegs?“, fragt sie sich noch verzweifelt und checkt innerhalb von Sekunden die Fluchtmöglichkeiten ab. Es ist aussichtslos. Es gibt keine Möglichkeit, noch einen anderen Weg einzuschlagen und es dabei wie eine Zufälligkeit aussehen zu lassen.
Wenn sie jetzt umdreht, verliert sie vor Ascos Besitzer ihr Gesicht.
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Aggression ist oft selbstbelohnend.
Sie versucht sich selbst unter Kontrolle zu bringen, aber ihr Puls steigt. Sie nimmt die Leine kurz und steigt mit einem scharfen „Fuß“ in den zu erwartenden Konflikt ein. Und Ben kennt sich aus. „Leine kurz“ heißt: Es kommt ein anderer Hund. In Verbindung mit dem Kommando „Fuß“ bedeutet es: Er ist in meiner Kampfklasse. Sie hatte gehofft, dass Ben an ihre Seite kommt, er schiebt sich jedoch direkt an ihr vorbei und nach vorne in die Leine.
Er ist in Bestform. Angespannt und mit einem festen Blick marschiert er geradewegs auf Asco zu. Ihr Blick geht flackernd zwischen Ben und Asco hin und her, die Atem- und Pulsfrequenz steigen weiter an, ihre Hände werden feucht. Wie man es von einem richtigen Macho erwarten darf, spielt Ben den Retter und signalisiert ihr: „Das übernehme ich.“
In ihrem Ohr noch immer wie ein Echo die Stimme ihrer Hundetrainerin: „Entspannen Sie sich, sonst verstärken Sie sein Verhalten.“ Aber wie soll sie sich jetzt noch entspannen? Und wo ist eigentlich diese verdammte Hundetrainerin, wenn man sie braucht? Sie weiß, dass sie das jetzt nicht tun sollte, aber es lässt sich nicht mehr aufhalten: „Ist doch gut Ben, das ist doch nur Asco.“ Die Information, dass es sich bei dem anderen Hund um Asco handelt, hätte sie sich natürlich sparen können, Ben wusste das schon. Allerdings wird er wahrnehmen, dass seine Besitzerin dem Ganzen die gleiche Bedeutung beimisst wie er selbst.
„Sie müssen wichtiger sein als der andere Hund. Konzentrieren Sie ihn auf sich.“ Die Worte hämmern in ihrem Kopf. Sie fummelt nervös an ihrer Tasche herum. Für das Halti ist es jetzt zu spät, also versucht sie, den Ball mit ins Spiel zu bringen. „Schau mal Ben, dein Ball!“ Er scheint beunruhigt. Wie kann sie jetzt, wo der andere Rüde kommt, mit unserer Beute herumwedeln? Er versucht sich trotz Ball zu konzentrieren und beginnt Asco zu fixieren. Sie weiß, was das heißt. Mit dem Tunnelblick eines Skispringers springt er kräftig in die Leine.
Gerade noch rechtzeitig kann sie mit beiden Händen die Lederleine festhalten. Ben ist in seinem Element. Seine Besitzerin bangt darum, ihren Stand zu halten und blickt wie erstarrt auf ihren Hund, dessen Bellen ihr unnatürlich laut vorkommt in dieser Abendstille. Sie versucht mit einem „Sitz“ zu kontern, schickt ein „Platz“ hinterher und ein lautes „Nein“. Er scheint „Attacke“ verstanden zu haben. Es ist vergebens. Ben steht auf beiden Hinterbeinen, hängt sich fast auf, während er mit hochgezogenen Lefzen den anderen Hund angeifert und sich wahrscheinlich darüber freut, dass seine Besitzerin sein Hobby teilt. Zu zweit pöbelt es sich einfach schöner.
Der Besitzer von Asco lächelt und sagt etwas, das nach „Guten Abend“ klingt. Was von ihm als nette soziale Geste gemeint war, drückt für sie sein Mitleid und seine Überlegenheit aus. Wie konnte sie ihn jemals mögen. Er hat keine Probleme, seinen Hund zu halten, Asco zieht nicht. Ben hingegen schon, mehr als einmal hat er es geschafft, sie über den Gehweg zu schleifen. Diesmal gelingt ihm das zwar nicht, fertig ist sie trotzdem. Als Asco samt Besitzer an ihnen vorbei ist, atmet Ben – inzwischen wieder auf allen vieren – den beiden noch einmal lautstark hinterher, schüttelt sich und rempelt in einem kurzen Sprung seine Besitzerin an. Er fühlt sich triumphal, sie fühlt sich miserabel. Vor dem Spiel ist nach dem Spiel – das wissen beide.
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Die Aggression beginnt mit dem fixierenden Blick und dem Aufbau der inneren Ladung.
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Eher unfreiwillig wird der Mensch in den Konflikt einbezogen und zum wichtigen Bestandteil des gesamten Ablaufs.
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Auf gleicher Höhe kommt es zur Entladung. Es wird gebellt, gebrüllt und in die Leine gesprungen.
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Die Spannung hat sich entladen und Entspannung ist möglich. Zumindest bis zur nächsten Hundebegegnung.
Noch dreihundert Meter Abendrunde. In vielen Fenstern geht das Licht aus. Ben hebt noch mehrmals das Bein, sie entspannt sich langsam. Eine letzte Straßenecke – es ist geschafft – keiner sonst ist noch unterwegs. Das nächste Mal, sagt sie sich, gehe ich nach dem Nachtmagazin. Dann ist hier niemand. Zu Hause läuft noch der Fernseher. Der Krimi hat begonnen. Ihr Krimi ist vorbei.
Das Allgemeine Aggressionsmodell nach DeWall, Anderson & Bushman (2011) stammt aus der Humanpsychologie und beschreibt das komplexe Zusammenspiel verschiedener Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen, die sich auf aggressive Interaktionen auswirken.
Generalisiertes Aggressionsmodell
Es spiegelt den aktuellen Stand der psychologischen Forschung zum Aggressionsverhalten bei Menschen wieder und wird u. a. in der neurobiologischen Forschung verwendet, um die gewonnenen Erkenntnisse theoretisch einzuordnen.
Laut dem Psychologen und Neurowissenschaftler Robert Mehl lässt sich das Modell mit kleineren Einschränkungen auch auf das Aggressionsverhalten von Hunden übertragen, da die neurobiologischen Grundlagen – insbesondere im Zusammenspiel von limbischem System und Frontalhirn – bei Menschen und Hunden sehr ähnlich sind.
Zusammengefasst trifft eine Persönlichkeit in einer Situation auf eine andere Person und erlebt in diesem Moment einen bestimmten inneren Zustand, der sich aus Gedanken, Gefühlen und dem Grad der Erregung zusammensetzt. Dieser gegenwärtige innere Zustand ist Grundlage für einen Bewertungs- und Entscheidungsprozess, der in einer durchdachten aggressiven Handlung oder einer impulsiven aggressiven Handlung innerhalb der sozialen Begegnung seinen Ausdruck findet. Auf die gezeigte Handlung folgt ein Feedback. Diese Rückmeldung hat wiederum Einfluss auf die Persönlichkeit und so schließt sich der Kreis.
Hunde haben Persönlichkeit und unterscheiden sich voneinander in ihrer Art, wie sie sich fühlen, wie sie auf andere zugehen, wie sie mit anderen kommunizieren, wie offen sie für neue Erfahrungen sind und wie sie mit Regeln umgehen. Manche neigen zu Ängsten, andere scheinen unerschütterlich. Die einen sind in einer Hundegruppe immer mittendrin und die anderen sind lieber für sich. Ob freundlich, kooperativ oder misstrauisch, konkurrierend; ob dem Wandel und Wechsel zugeneigt oder der Statik und Beständigkeit; ob gewissenhaft und genau oder spontan und ungenau im Erfüllen von Aufgaben oder dem Annehmen von Regeln, all das ist eine Frage der Persönlichkeit. Das persönliche Sosein besteht aus dem Zusammenspiel und der Interaktion von biologischen Faktoren und Umwelteinflüssen.
Die Persönlichkeit erhöht oder senkt die Chance, in bestimmte Situationen zu geraten. Wer das Abenteuer sucht, gerät häufiger in eines als der, der gern auf dem Sofa sitzt. Ein Hund wird an der Leine zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort, von einem bestimmten Menschen an einem bestimmten anderen Hund und dessen Halter in einem bestimmten Abstand in Anwesenheit bestimmter Gegenstände vorbeigeführt. Wie in dem ersten Beispiel mit Ben (siehe hier) zu sehen, können Situationsvariablen wie Territorium, Ball, Futter, die Stimmung des Menschen und das Geschlecht und Verhalten des anderen Hundes entscheidend auf das Verhalten Einfluss nehmen.
Hunde denken, erleben Gefühle und ihr Grad an Erregung kann unterschiedlich sein. Diese drei Variablen zusammengenommen beschreiben den gegenwärtigen inneren Zustand. Hinter dem Begriff Kognition stecken sämtliche Vorgänge, die mit dem Denken zu tun haben. Dazu gehören die Werte, also das, was dem Hund wichtig ist.
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Ob aus Ärger Wut wird, entscheidet der Grad an Erregung.
Aber auch die Skripte, die er gelernt hat: Vor einem Spaziergang ist man aufgeregt und läuft hin und her, vor einem Laden muss man als Hund warten, auf einem Hundeplatz springt man über Hürden, einen Dummy apportiert man und an der Leine bellt man. Und zur Kognition gehören auch die Ziele des Hundes. Möchte er den anderen Hund vertreiben oder zu ihm? Möchte er sich sicher fühlen oder möchte er seinen Frust loswerden? Was ist sein Ziel in diesem Moment? Was denkt er über die Begegnung mit dem anderen Hund an der Leine? Bei der Frage nach dem Affekt sind wir bei der Beschreibung der Gefühlswelt des Hundes. Ärger kann Aggression verursachen. Die Intensität des Gefühls wird jedoch von der Erregung bestimmt. Ärger in niedriger Erregung ist Ärger. Ärger in mittlerer Erregung ist Wut. Ärger in hoher Erregung ist Zorn. Ist der Hund also vor einer Hundebegegnung bereits in hoher Erregung, zum Beispiel, weil er immer aufgeregt ist, wenn der Spaziergang beginnt oder durch ein wildes Spiel hochgepeitscht wurde, wird sich der Ärger auf andere Hunde in Wut entäußern.
Vor dem Hintergrund all dieser Faktoren trifft der Organismus eine Entscheidung und die können wir von außen beobachten: Es kann zu einer durchdachten, kontrollierten Handlung kommen, das kann ein selbstsicheres, offensives Drohen mit fixierendem Blick und ruhigem Kampfversprechen sein oder auch nur Imponierverhalten mit durchgedrückten Beinen, hölzernem Gang und starrem Gesicht, um die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Man spricht in diesem Fall von einer kalten, instrumentellen Aggression, bei der ruhig und effizient ein Ziel verfolgt wird. Oder es kommt zu einer heißen, impulsiven Aggression mit starker emotionaler Beteiligung, die häufig lautäußerungsstark und mit wilden, schnellen Bewegungen vorgetragen wird. Der Hund rastet aus.
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Die erfahrene Wolfshündin droht dem Cattle-Dog-Rüden als Antwort auf seinen Flirtversuch. Sie bleibt dabei gelassen.
Bei einer Aggression an der Leine werden zwei Hunde aneinander vorbeigeführt. Dadurch ergibt sich eine Art Dramaturgie. Die Begegnung zwischen den Hunden baut sich energetisch auf. Ein langer Weg, auf dem aufeinander zugegangen und viel kommuniziert wird. Dann entlädt sich diese Energie orgastisch auf gleicher Höhe. Jeder der beiden Kontrahenten bekommt den Eindruck, den anderen in die Flucht geschlagen zu haben, keiner musste dafür wirklich kämpfen und Entspannung tritt ein. Egal, ob nun der Hund die vermeintliche Gefahr, die von dem anderen Hund ausgeht, abwehren wollte, er sich in einer Konkurrenzsituation um Ball, Futter, Territorium, Mensch gegen den anderen durchsetzen oder seinen Status und Stärke demonstrieren wollte, die Rückmeldung wird ihn darin verstärken. Aggressives Verhalten ist oft selbstbelohnend, vor allem, wenn man wie bei einer Leinenaggression nicht verlieren kann. Hinzu kommen die Rückmeldungen vom eigenen Menschen. Seien Sie sich sicher, das alles, was Sie erfolglos tun, um die Aggression Ihres Hundes zu unterbinden, wird sein unerwünschtes Verhalten bestätigen. Auch andere Herumstehende können als Publikum dienen und Teil des positiven Feedbacks für den Hund werden. Diese Rückmeldungen werden zur Lernerfahrungen und sind damit Grundlagen für spätere Hundebegegnungen.
Warum verhält sich mein Hund aggressiv an der Leine? Diese Frage ist bei Hundehaltern sehr beliebt, aber gleichermaßen schwierig zu beantworten. Sie zielt darauf ab, dass es den einen Grund oder die eine Ursache für ein Verhalten geben muss.
Wie in dem Generalisierten Aggressionsmodell bereits sichtbar wurde, gehört zu einer Erklärung etwas mehr, als eine Meinung zu haben. Schaut man sich darüber hinaus die Komplexität sozialer Kommunikation an, so wird die Suche nach dem einen Grund völlig absurd.
Warum macht er das? Die Antwort könnte lauten: Weil er nie ohne Leine läuft und deshalb frustriert ist. Weil er seinen Besitzer oder sein Territorium verteidigt. Weil er grundsätzlich unausgelastet ist und nur zehn Minuten vor die Tür kommt. Weil er sich zurzeit in der Pubertät befindet und seine Hormone ihn verwirren. Weil er eher labil ist und zu Wutausbrüchen neigt. Weil seine Besitzerin Angst vor anderen Hunden hat und sich dementsprechend unsicher verhält. Weil er das mitgeführte Futter oder seinen Ball verteidigt. Weil er als junger Hund einen Beinbruch und dadurch keinen Kontakt zu Artgenossen hatte oder aktuell unter Schmerzen leidet und diese mit dem entgegenkommenden Hund assoziiert. Weil seine Besitzer ihn ungewollt dafür belohnen. Weil er aufgrund seiner Rasse ein höheres Aggressionspotenzial Artgenossen gegenüber hat. Weil er sich nicht selbst regulieren kann. Und so weiter … Ja, das ist alles richtig oder könnte es sein. Das sind viele potenzielle Faktoren, aber kein alleiniger Grund.
Zudem haben Faktoren Auswirkungen im gesamten Mensch-Hund-System, wie ein Stein, der ins Wasser fällt und seine Kreise zieht. Sie rufen Reaktionen hervor, die wiederum Aktionen darstellen, auf die reagiert wird. Wie in einer Spirale bedingt das Verhalten des einen das Verhalten des anderen. Am Ende wird deutlich, dass es keinen greifbaren Anfang gibt und dass das Ergebnis übersummativ ist. Es ist durch die Kommunikation ein Mehr entstanden. So kann es ursprünglich für den Hund ein klares Motiv gegeben haben, sich aggressiv zu verhalten. Verhalten ist aber kein Problem. Erst durch die menschliche Reaktion und Bewertung des Verhaltens wird es zu einem solchen erhoben. Der Mensch wird zum wichtigen Bestandteil des Konflikts. Er erlebt die Situation als Problem und erhält es damit gleichsam aufrecht. Neben den verschiedenen Aggressionsmotiven sind es die Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Mensch und Hund, die dafür sorgen, dass das Verhalten an Intensität gewinnt.
© Anna Auerbach/Kosmos