Hanser E-Book
Wilhelm Genazino
Mittelmäßiges Heimweh
Roman
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-25147-2
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2007/2015
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos © Sven Hagolani / CORBIS
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
1
ES IST FRÜHABEND und immer noch hell. Die Stadt ist fast leer. Die meisten Leute sind in Urlaub oder sitzen in Gartenlokalen. Die Hitze drückt auf die Dächer. Ich könnte in mein Apartment gehen, aber dort ist es genauso warm wie draußen. Gestern abend bin ich so lange in der Stadt umhergelaufen, bis ich durch die Müdigkeit ganz leicht geworden war. Schließlich habe ich mich auf eine Bank gesetzt und bin dort sogar eingeschlafen. Grölende Jugendliche haben mich zwanzig Minuten später geweckt, das war unangenehm. Es ist nicht einfach, ein einzelner zu sein. Ein Halbschuh liegt auf der Straße, die Sohle nach oben. Aus einer Seitenstraße kommt das Geräusch eines Autos, das über eine Plastikflasche fährt. Es überholt mich ein Angestellter mit einem über der Schulter hängenden Koffer. Der Koffer zieht so stark nach unten, daß der Trageriemen den Rückenteil des Anzugs nach unten zieht und den Mann wie ein gehendes Unglück aussehen läßt. Ich ekle mich ein bißchen über die tief nach unten hängenden Unterlippen einiger vorüberkeuchender Jogger. Die Türen vieler Lokale sind weit offen. In manches Lokal trete ich kurz ein und kehre rasch wieder um. In Kürze werde ich dazu keine Lust mehr haben und mich einfach irgendwo auf einen Stuhl setzen und ein Glas Bier bestellen. Ich biege in die Wormser Straße ein und sehe in einiger Entfernung das Sportlereck. In diesem Lokal bin ich in der vorigen Woche zweimal gewesen. Der Wirt hob schon beim zweiten Mal wohlwollend die Hand, als er mich wiedererkannte. Die Tür und die Fenster des Pils-Stübchens sind ebenfalls weit geöffnet, der Lärm der Besucher dringt auf die Straße und vermischt sich mit dem Lärm anderer Wirtschaften. Seit etwa einer Woche werden im Fernsehen die Spiele der Fußball-Europameisterschaft übertragen. In den meisten Lokalen sind die Fernsehapparate eingeschaltet. Meine Schritte führen mich halbautomatisch in die offene Tür des Sportlerecks hinein, obwohl ich mich nicht für Fußball interessiere. Ich suche sogar den Blick des Wirts, damit er in mir wieder den halbwegs bekannter werdenden Fremden erkennt. Im Sportlereck ist an der rechten Stirnseite eine Großbildleinwand aufgebaut, und an der vorderen Stirnseite, fast über der Theke, hängt ein zweiter, normaler Fernsehapparat. Besonders stark ist das Geschrei, wenn zwei verschiedene Spiele gleichzeitig übertragen werden. An diesem Abend spielt auf der Großbildleinwand Deutschland gegen Tschechien. Das Lokal ist voll, obwohl das Spiel noch nicht begonnen hat. Ich finde noch einen Sitzplatz ganz vorne, dicht vor der Wand. Männer in Unterhemden treten ein und drängeln sich zwischen Garderobe und Theke nach vorne und lassen sich auf einer Holzbank nieder. Ein übergewichtiger Mischling betritt die Kneipe, einige Leute rufen: Hansi kriegt sofort ein Bier. Ich bestelle ein Glas Weißwein und ein Mineralwasser. Einige Frauen massieren ihren Männern den Rücken. Die Frauen sind es, die am lautesten schreien. Das Spiel wird angepfiffen, der Wirt stellt vor dem Mann namens Hansi ein riesiges Bier ab. Die meisten Gäste sind mit den deutschen Spielern sofort unzufrieden. Kauf dir eine Blindenbrille, ruft ein Mann einem Spieler nach. So gehts nicht, sagt der Mann neben mir. Nach einer halben Stunde sagt der Reporter: Deutschland macht zuwenig. Ein ältliches Fräulein sagt am Nebentisch: Manchmal lauert die Gefahr dort, wo man sie nicht wittert. Männer gehen zwischendurch nach draußen, laufen eine Weile umher, wenn sie zu erregt sind. Ich sitze jetzt mitten im allgemeinen Gebrüll. Der Wirt bringt neue Biere und sagt: Wenn die Deutschen jetzt kein Tor machen, kriegen sie in der achtzigsten Minute eines rein, und dann ist Feierabend. Das Zittern nimmt zu, sagt der Reporter.
In der Halbzeit überlege ich kurz, ob ich nicht doch nach Hause gehen soll. Das Fußballspiel unterhält mich nur schwach. Ich betrachte die Zuschauer, nicht das Spiel. Besonders die schreienden Frauen haben mich in der ersten Halbzeit beeindruckt. Viele von ihnen stehen auf, wenn sie erregt sind und die Spieler ausschimpfen. Zu Beginn der zweiten Halbzeit ertönen Pfiffe im Stadion. Ein bißchen bange ich auch darum, daß die deutsche Mannschaft das Spiel verlieren könnte. Dabei kenne ich keinen einzigen Spieler mit Namen. Nur als Kind wußte ich ein bißchen Bescheid, aber auch nur, weil ich vor den anderen Kindern nicht ahnungslos sein wollte. Wieder schießt ein deutscher Spieler knapp neben das Tor, der Lärm und die Empörung im Lokal sind drastisch. Ein Mann beugt sich über meinen Tisch und sagt: Das sieht aus wie 74, jetzt kommt ein Konter, dann fällt ein Tor, und dann ist es aus, Sparwasser damals! Ich nicke, als wüßte ich, wovon er redet. Das Zittern nimmt zu, sagt der Reporter. Ein Mann bietet mir fünf Euro für meinen Platz vor der Wand, ich lehne ab. Das ältliche Fräulein verschwindet auf der Toilette und lächelt mich bei der Rückkehr an. Die Uhr tickt gnadenlos, sagt der Reporter, es wird eng für Deutschland. Die Stimmung im Lokal schwankt stark. Bislang war die Mehrheit der Zuschauer auf der Seite der Deutschen, aber mehr und mehr Zuschauer sind jetzt Anhänger der Tschechen. Plötzlich ein schreckliches Schreien und Kreischen. Die Tschechen haben ein Tor geschossen. Die Deutschen, diese Schnarchsäcke, schreit ein Mann und haut auf den Tisch. Ein Meer von tschechischen Fahnen ist zu sehen. Viele Zuschauer zahlen und verlassen das Lokal. Plötzlich sehe ich unter einem der vorderen Tische ein Ohr von mir liegen. Es muß mir im Gebrüll unbemerkt abgefallen sein. Offenbar hat es niemand bemerkt. Ich will nicht mit unüberlegten Handlungen auffallen, ich gehe auf die Toilette und schaue in den Spiegel. Es ist wahr, mein linkes Ohr ist weg. Offenbar habe ich es im Schrecken über das Gekreisch verloren. Ich sehe mein Ohr am Boden liegen wie ein kleines helles Gebäck, das einem Kind in den Schmutz gefallen ist. Ich überlege kurz, ob ich das Ohr aufheben und mitnehmen soll. Aber ich kann gar nicht überlegen, ich bin erstarrt. Mir wird ein bißchen schlecht, ich kann keine Entscheidungen fällen. Ich lege mein Haar notdürftig über die Stelle, wo früher das Ohr war. Ich verlasse die Toilette und gebe mir Mühe, mein zurückbleibendes Ohr nicht noch einmal anzuschauen. Tatsächlich besteht zwischen dem Ohr und mir jetzt schon eine riesige Distanz. Ich drängle mich durch das Lokal und zahle an der Theke. Mühsam mache ich mir klar, daß ich seit ein paar Minuten in einer Tragödie lebe. Während der letzten Jahre habe ich immer mal wieder in Tragödien gelebt. Insofern ist das tragische Lebensgefühl für mich nichts Neues. Aber diesmal scheint es sich um eine bösartige Tragödie zu handeln. Sehen die anderen mein Entsetzen? Zum Glück sind nur wenige Menschen unterwegs. Eines meiner innerlichsten Probleme ist, daß ich nicht mehr mit der Kompliziertheit des Lebens in Berührung kommen will. Erst vor ein paar Tagen habe ich mir vorgenommen, meinen Alltag so einzurichten, daß ich nur noch einfache Verhältnisse mit einfachen Personen darin vorfinde. Lächerlich! Ich sage mir vor, was gerade geschehen ist: Du hast im überstarken Lärm eines Lokals ein Ohr verloren. Nach Art der Menschen beginne ich bereits, mein Unglück zu relativieren. Es gibt viele Menschen, denen ein Bein, ein Arm, eine Hand oder ein Finger fehlt, warum sollte es nicht jemanden geben, dem ein Ohr fehlt? Die innere Unstimmigkeit meiner Relativierung liegt darin, daß ich schon viele beinlose, armlose, handlose Menschen gesehen habe, aber einen einohrigen Menschen noch nie. Aber wie man sich an die anderen gewöhnt hat, so wird man sich auch an einen Einohrigen gewöhnen. Am besten wäre, wenn es demnächst mehr Einohrige geben würde. Dann würde ich nicht mehr so stark auffallen wie in diesen Augenblicken vor mir selber. Künftig werde ich mich nur noch in leisen Umgebungen aufhalten dürfen. Das bedeutet, daß mein Alltag kompliziert werden wird. Wieder und wieder fällt mir das Bild meines im Bodenschmutz eines elenden Lokals liegenden Ohres ein. Ein paar Schluchzer ringen sich mir durch die Kehle. Ich beobachte eine Weile den Eingang des Hauses, in dessen fünften Stock ich ein Ein-Zimmer-Apartment mit Bad und Küche bewohne. Nichts regt sich. Ein blauer Plastikhandschuh liegt zwischen zwei geparkten Autos. Einmal kommt eine junge Frau vorüber. In der linken Hand trägt sie einen Tierkäfig, in dem sich eine schreiende Katze befindet. Ich stehe an einer Ecke und habe blöde Gedanken. Zum Beispiel finde ich es jetzt schon angemessen, daß einohrige Menschen in Ein-Zimmer-Wohnungen leben. Dabei habe ich es nicht gern, wenn ich abschätzig auf mein eigenes Leben herabschaue. Die Leute sitzen vor ihren Fernsehgeräten, der Lärm der Zuschauer dringt aus den offenen Fenstern nach draußen. Ich warte noch zwei Minuten, dann schließe ich die Haustür auf und betrete den Fahrstuhl.
Es gelingt mir, ungesehen die Tür meines Apartments zu erreichen. Eine kleine Spinne ist durch das offene Fenster in meine Wohnung eingedrungen und läuft an der Decke entlang. Ich setze mich auf das Bett und schalte kein Zimmerlicht an. Langsam kommt Bewegung in die Wohnungen und Treppenhäuser ringsum. Viele Bewohner gehen nach dem Fernsehen noch einmal auf die Straße. Das laute Reden von alkoholisierten Menschen macht mir schlechte Laune. Ich trete an mein Fenster und nehme die Tomate in die Hand, die dort seit ein paar Tagen liegt. Immer mal wieder spiele ich mit dem Gedanken, die Tomate auf die Leute zu werfen, die laut und polternd auf der Straße reden. Aber ich finde den Mut nicht. Ich lege die Tomate auf das Fensterbrett zurück und setze mich erneut auf das Bett. In der langsam zunehmenden Stille höre ich jetzt nur noch das gelegentliche Stöhnen des Fahrstuhls. Mir wird deutlich, daß ich so allein bin wie wahrscheinlich nie zuvor in meinem Leben. Dabei will ich von meiner Einsamkeit kein Aufhebens machen. Ich bin vergleichsweise gebildet und weiß seit langer Zeit, daß Einsamkeit unausweichlich ist. Ein wesentlicher Grund für die Einsamkeit der Menschen ist, daß viele Einsame … ach nein, ich will dieses alte Zeug nicht denken. Im Radio läuft Figaros Hochzeit, eine Übertragung aus irgendeinem Festspielort. Aus der Wohnung über mir dringen Beischlafgeräusche zu mir herunter. Zuerst höre ich eine Weile das Knatschen eines Bettgestells, dann das Stöhnen der Frau. Ich schalte das Radio aus, weil ich das Stöhnen deutlicher hören möchte. Erst vor kurzem habe ich eine Frau kennenlernen wollen. Sie sitzt dann und wann mit mir morgens in der Straßenbahn und schaut mich empfänglich an. Aber wie spricht man eine fremde Frau an? Vielleicht habe ich es verlernt. Als ich mir endlich ein paar Sätze zurechtgelegt hatte, fuhr die Frau nicht mehr mit der Straßenbahn. Sie radelte elegant draußen an der Bahn vorbei. Jetzt muß ich warten, bis es Winter wird und die Frau wieder mit der Straßenbahn fährt. Die Vergeblichkeit macht einen starken Eindruck auf mich. Aber jetzt, mit einem fehlenden Ohr, werde ich vielleicht keine Chance mehr haben. Das Stöhnen der Frau in der Wohnung über mir und das Stöhnen des Fahrstuhls vermischen sich. Ich muß ein bißchen lachen, allerdings nicht lange und nicht laut. Nach einer Weile hört das Stöhnen des Fahrstuhls auf, das Stöhnen der Frau geht weiter. Das Quietschen des Bettgestells und das Stöhnen der Frau haben sich rhythmisch aufeinander eingestellt. Das Stöhnen der Frau geht jetzt in ein eigenartiges Rufen über. Wenn ich der Mann der Frau wäre, würde ich mich fragen, was das Rufen bedeutet. Ich bin nicht der Mann der Frau und frage mich trotzdem, was das Rufen bedeutet. Nach einiger Zeit ertönt ein starker, ochsenartiger Laut, der vermutlich von dem Mann stammt. Danach ist der Beischlaf offenbar vorüber, alle Geräusche enden. Das heißt, ich ahme in meinem Mundinnenraum das Stöhnen der Frau nach, natürlich nur leise, weil ich nicht möchte, daß das Paar über mir denkt, jetzt geht es hier unten weiter. Es ist ganz seltsam, aus meinem Mund das Stöhnen der Frau zu hören. Es verstärkt sich dadurch das Gefühl der Verlassenheit. Um es zu mildern, nehme ich ein Bad. Auf dem kleinen Schränkchen im Badezimmer steht eine Taschenlampe. Die Vormieterin des Apartments hat sie vergessen mitzunehmen. Obwohl ich schon länger als ein Jahr in dieser Wohnung lebe, habe ich die Taschenlampe bis jetzt nicht angefaßt. Als ich das Wasser in der Wanne steigen sehe, fühle ich, das Bad wird das Verlassenheitsgefühl verstärken. Ich drehe den Hahn zu und lasse das Wasser wieder ablaufen. Im Spiegel betrachte ich meine linke Gesichtshälfte und hebe ein wenig das Haar über dem fehlenden Ohr. Dort, wo früher mein Ohr war, hat sich ein bißchen Feuchtigkeit gebildet, kein Blut ist zu sehen. Kurz überlege ich, ob ich doch noch einmal in das Lokal zurückgehen und nach meinem Ohr suchen soll. Lächerlich! Jemand wird das Ohr mit Besen und Schaufel aufgekehrt haben, danach wird es in einem Ascheimer verschwunden sein. Bei der Vorstellung meines zukünftigen Unglücks drückt sich mir wie von selbst die Brust zusammen. In einem Fenster im Haus gegenüber flammt Licht auf. Es wird ein Mann sichtbar, der einen Teller und ein Glas durch einen Raum trägt. Auch ich erlaube, daß gegenüber wohnende Personen in mein Zimmer schauen können, und mache das Licht an. Während der Opernpause im Radio wird der Regisseur interviewt. Er wendet sich leidenschaftlich gegen dieses und jenes. Ein Fenster, das hinter einem Baum hell wird, sieht aus, als sei das dazugehörige Haus ganz weit entfernt. Die Leidenschaft, mit der der Opernregisseur gegen Kunstprobleme wettert, ist albern und komisch. Aber ich höre ihm gern zu, weil ich dadurch meine Schluchzer nicht so ernst nehmen muß.
Am nächsten Morgen beschließe ich, vorerst nicht zum Arzt zu gehen. Ich habe keine Schmerzen. An der Stelle, wo früher mein linkes Ohr war, ist wieder ein wenig hellrosa Flüssigkeit ausgetreten, das ist alles. Mein erster Gang führt mich in die Apotheke am Richard-Wagner-Platz. Ich kaufe eine Ohrenklappe und eine Schachtel mit Mullbinden. Danach gehe ich noch einmal nach Hause und binde mir die Ohrenklappe mit einer dünnen Schicht Mull um den Kopf. Wenn mich im Büro jemand fragen sollte, werde ich antworten, daß ich an einer Ohrenentzündung erkrankt bin. Die Ohrenklappe steht mir überraschend gut. Die Mullbinde schaut ein wenig unter der schwarzen Klappe hervor. Die Klappe gibt mir etwas Piratenhaftes und Verwegenes. Man kann nicht sehen, daß das (eigentlich) darunterliegende Ohr verschwunden ist. Ich gewöhne mich rasch an die Ohrenklappe und auch wieder nicht. Mehrmals fasse ich an die Ohrenklappe und zittere ein bißchen. Die Krähen kreisen an diesem Morgen dichter als sonst über den Dächern. Sie verfinstern den Himmel und füllen den Luftraum mit einem entsetzlichen Krächzen. Wenn ich abergläubisch wäre, müßte ich jetzt an meine Beerdigung denken, aber ich bin nicht abergläubisch. Ich schaue den Leuten von weitem in die Gesichter und frage mich, ob mich jemand auf die Ohrenklappe ansprechen wird. Die Ankunft im Büro ist unproblematisch. Zweimal sage ich meinen vorbereiteten Spruch von der Ohrenentzündung. Frau Kirchhoff sagt, Sie haben ja noch ein zweites Ohr, dann ist Ruhe. Ich arbeite als Controller in einer Arzneimittelfabrik und bin in diesen Tagen, wie an jedem Monatsende, mit dem Erlöscontrolling und der Kostenträgerrechnung für die Hauptprodukte beschäftigt. Das ist eine unaufwendige Erstellung von Verkaufs- und Kostendaten, die notwendig ist, um die Einzelbudgets nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Arbeit ist mir so geläufig, daß ich mir eine Aufspaltung meines Bewußtseins erlauben kann. Im Vordergrund, etwa mit einem Drittel meiner Aufmerksamkeit, stelle ich die Zahlenreihen zusammen. Im Hintergrund, mit etwa zwei Dritteln meines Bewußtseins, bin ich mit meiner neuen Lage beschäftigt. Ich habe noch nie gehört oder gelesen, daß Menschen einzelne Körperteile verlieren und ob es sich dabei um eine alte oder eine neue Krankheit handelt. Weil ich mich nicht verraten will, möchte ich niemanden fragen, jedenfalls vorerst nicht. Frau Bohnenkamp, eine Researcherin, trägt wie fast immer eine ärmellose Seidenbluse und keinen BH. Ihre kleinen Brüste hüpfen bei jedem Schritt. Ich kann diese Reizungen heute viel besser ins Leere laufen lassen als noch vor einem Jahr. Frau Bohnenkamp erzählt von ihrer Freundin Sabine, die ihrem Freund seit mehr als drei Jahren die Treue hält, obwohl der Freund nicht mit ihr, sondern mit anderen Frauen schläft. Trotzdem liebt er sie, sagt Frau Bohnenkamp, aber er hat Angst, sich zu binden. Er schläft sogar mit seiner Sekretärin, einer ziemlich dümmlichen Person, sagt Frau Bohnenkamp, aber meine Freundin verzeiht ihm auch diese Fehltritte, weil sie hofft, er werde durch diese Ausschweifungen seine Angst verlieren. Frau Bredemeyer wirft ein, die Leute heiraten sowieso nicht aus Liebe, sondern aus Langeweile. Frau Bohnenkamp geht darauf nicht ein und liest statt dessen, obwohl es nicht einmal zehn Uhr ist, den Menü-Plan der umliegenden Fast-food-Lokale vor, in denen einige Kollegen gewöhnlich ihre Mittagspause verbringen.
Im Frühjahr, als Frau Bredemeyer ebenfalls eine ärmellose Bluse trug, habe ich mich zu einem Annäherungsversuch hinreißen lassen, den ich kurz darauf bereut habe. Ich wollte mich mit Frau Bredemeyer verabreden, aber sie sagte kühl, daß es für mich doch wohl besser sei, wenn ich meine Aufmerksamkeit meiner Frau und meinem Kind widme. Ich war über diese Abfuhr so verblüfft, daß ich mich entschuldigte und sofort an meinen Schreibtisch zurückkehrte. Ja, ich bin (noch) verheiratet, und ich habe leider den Fehler begangen, daß ich zwei- oder dreimal im Büro über meine Ehe gesprochen habe. Ich redete darüber, daß meine Ehe nur noch formal eine Ehe sei, und dies vermutlich nicht mehr lange. Ich gebe zu, daß diese Mitteilung auch eine Botschaft an die zahlreichen allein lebenden Frauen in unserem Büro war, denen ich mich auf dieses ungezwungene Weise als (wie soll ich sagen) Beziehungskandidat empfehlen wollte. Schon während des Redens merkte ich, wie mich das Reden peinlich machte. Das Bedrückende ist, daß ich nicht die geringste Ahnung habe, wie lange sich die Agonie der Ehe noch hinziehen wird. Ich kann inzwischen sogar die Zurückweisung von Frau Bredemeyer verstehen. Eine bloße Trennungsabsicht kann, wenn sie sich hinzieht und nicht umsetzt, noch strangulierender sein als eine Ehe. Meine Frau ist im südlichen Schwarzwald geboren und dort auch aufgewachsen. Ihre hervorstechendste Eigenschaft ist, daß sie sich ein Leben außerhalb des Schwarzwalds nicht vorstellen kann. Ich war einmal von ihrem Lob des einfachen Lebens im Schwarzwald so hingerissen, daß ich ihr in den Schwarzwald folgte. Edith hat nie woanders gewohnt und wird auch in Zukunft nirgendwoanders leben wollen und können. Ich gebe zu, sie hat diese Bedingung von Anfang an klar ausgesprochen. Es war mir nicht deutlich, was es bedeutet, sich einem Menschen mit einer so heftigen Heimatvorstellung auszuliefern. Vor etwa zehn Jahren, zum Zeitpunkt der Eheschließung, war ich noch vergleichsweise jung und bildete mir ein, überall leben zu können. Außerdem gefiel mir, Edith zu zeigen, daß ich liebeswillfährig war. Es lag eine unaussprechliche Süße darin, sich dem Liebesdruck eines anderen Menschen zu beugen. Von all diesen Verhexungen ist nichts mehr übrig. Im Gegenteil, wir streiten uns über Probleme, von denen wir vor einigen Jahren noch nichts wußten. Vor drei Wochen, bei meinem letzten Wochenendbesuch im Schwarzwald, entstand eine Auseinandersetzung über die Frage, wann man am besten duschen soll. Edith duscht morgens, ich dusche abends. Wer morgens duscht, sagte ich, läßt sich den Tag über einschmutzen und hat am Abend nichts mehr von seiner Sauberkeit. Wer hingegen abends duscht, verliert den ganzen Tagesschmutz und ist reinlich für die Nacht. Sogar jetzt, im Büro, reizt mich die Heftigkeit, mit der Edith verlangt, daß ich auch in den Details genauso leben soll wie sie. Leider bin ich den ganzen Nachmittag über nicht aus diesen Ehegrübeleien herausgekommen. Am Abend, nach Büroschluß, bin ich deswegen ein wenig mißmutig und übellaunig. Das Scheitern der Ehe ist vermutlich der Grund dafür, daß mein Interesse an den Erscheinungen des Lebens kleiner wird. Meine Gleichgültigkeit gegenüber dem normalen Alltag, vermischt mit dem Schreck über den Verlust meines Ohrs, wird zuweilen so stark, daß ich fast zu weinen anfange. Ich trete dann rasch in eine Hofeinfahrt oder hinter einen geparkten Lastwagen und beruhige mich. Immerhin habe ich jetzt, beim Umhergehen in den Straßen, wenigstens meinen Eheschmerz vergessen, jedenfalls vorübergehend. Ich betrachte einen Mann mit Aktentasche, der ein Haus verläßt und im Weggehen einer Frau winkt, die im Fenster einer Erdgeschoßwohnung zurückbleibt, ein kleines Kind auf dem Arm. Das Kind steckt im Schlafanzug und schläft schon halb. Es ist noch zu klein fürs Winken, deswegen hebt die Mutter sein rechtes Ärmchen und bewegt es winkend hin und her. Das Kind ist verwundert über die Vorgänge und schaut ratlos und überrumpelt auf die Mutter. Ja, genau in dieser wortlosen Verdutztheit wird das Leben weitergegeben! Beide lachen über das Kind, der Vater aus der Ferne, die Mutter aus der Nähe. Ich wundere mich wieder über Passanten, die mit prallgefüllten Rucksäcken umhergehen. Was tragen sie nur immerzu mit sich herum? Noch rätselhafter sind Menschen mit leeren Rucksäcken auf dem Rücken. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der seinen Rucksack vom Rücken genommen und dies oder jenes hineingesteckt oder herausgesucht hätte. Immerhin bringen mich die Rucksäcke auf den Einfall, daß ich dies und das einkaufen muß. Mein Kühlschrank ist so gut wie leer. Ich beschließe, in den Supermarkt in der Kurfürstenstraße zu gehen, der in der Nähe meines Apartments liegt. Ich bewundere die schönen alten Häuser mit ihren großen Balkonen, die von den Bewohnern nicht mehr betreten werden, weil der Lärm und der Staub auf den Straßen zu stark ist. Eine einzelne verirrte Möwe fliegt über einen Platz und läßt sich auf einer Bogenlampe nieder. Ein Bus kommt vorbei, stoppt an einer Haltestelle, drei Personen steigen aus, zwei steigen zu. Der Bus fährt weiter, die Möwe schaut dem Bus nach. Hat das schon mal jemand gesehen, wie eine Möwe einem Bus nachschaut und dabei ein schmerzlich schönes Möwengesicht kriegt? Eine solche Möwe möchte ich eine Minute lang sein. Dann würde ich viel besser mit einer älteren Frau zurechtkommen, die einen Dackel auf ihrem linken Arm trägt und vor mir in den Supermarkt geht. Die Frau läßt sich von dem Dackel ablecken. Es sieht eklig aus, aber zwei Kinder finden die Hundeküsse lustig.
Im Supermarkt fährt ein Rollstuhlfahrer hinter mir her. Von dem Rollstuhl springt eine Bedeutung auf mich über, die ich nicht annehmen möchte. Dabei weiß ich, daß ich seit kurzem, seit mir ein Ohr fehlt, selber zu den Menschen mit einem Seltsamkeitszeichen gehöre, das von anderen nur versteckt angeschaut wird. Allein die Kinder beobachten offen und direkt. Die beiden, die Vergnügen an den Hundeküssen hatten, starren jetzt auf meine Ohrenklappe und kichern unverhohlen. Ich bleibe schutzsuchend vor einem riesigen Brotregal stehen, neben mir ein stark stöhnender Mann. Als er sich mir kurz zuwendet, sehe ich, daß sein oberster Hemdknopf in zwei Hälften auseinandergebrochen ist. Sogar ein Hemdknopf kann zerbrechen, das habe ich nicht gewußt. Die beiden Knopfhälften hängen zärtlich nebeneinander herunter und machen einen starken Eindruck auf mich. Wieder weiß ich nicht, welches Brot ich kaufen soll. Wahllos greife ich nach einem Vollkornbrot und lese auf der Packung versehentlich das Wort Volkszornbrot. Ja, wenn es für alles, was in zwei Hälften auseinandergebrochen ist, das passende Volkszornbrot gäbe! An der Wurst- und Käsetheke sehe ich eine junge Mutter, die ihr Kinn im weichen Kopfflaum ihres Kindes reibt. Die Mutter kauft ein Viertel rohen Schinken, ein Viertel Paprikawurst und ein Paar Frankfurter Würstchen. Die Verkäuferin sagt zur Mutter, sie soll zu Hause die Plastikumhüllungen um die Wurst herum entfernen, dann schwitzt die Wurst nicht.
Zum ersten Mal höre ich, daß auch Wurst schwitzt, ich kann es kaum glauben. Die Mutter dankt für den Tip, offenbar gibt es schwitzende Wurst tatsächlich. Weil ich nicht weiß, welche Wurst ich kaufen soll, verlange ich ebenfalls Paprikawurst, sage aber aus Versehen Panikawurst. Ich lache ein bißchen, natürlich künstlich, die Verkäuferin lächelt verstehend. Außerdem bitte ich um ein Viertel Salami und um ein Viertel Champignonwurst. Ich warte, daß die Verkäuferin auch mir einen ungewöhnlichen Tip verrät, aber zu mir sagt sie kein Wort. Ich kaufe noch ein Glas Gurken, ein halbes Pfund Butter, einen halben Liter Milch, eine Flasche Rotwein, eine Tube Senf, zwei Flaschen Mineralwasser, dann gehe ich in Richtung Ausgang nach links. In den Augenblicken, als ich in den Kassengang einbiege, wird eine der beiden Kassen geschlossen. Dadurch verlängert sich die Kundenschlange vor der übriggebliebenen Kasse und ich habe wieder viel zuviel Gelegenheit, mich in die Vorgänge um mich herum zu vertiefen. Ein Mann stemmt einen Kasten Bier auf das Band, dazu zwei Flaschen Korn. Obwohl mich der Mann abstößt, gefällt mir seine Brieftasche, die er soeben aus seinem Sakko zieht. Sie ist alt und an den Ecken so sehr abgestoßen beziehungsweise brüchig, daß sie von zwei über Kreuz gespannten Gummibändern zusammengehalten werden muß. Sonderbarerweise geht von der Brieftasche eine kleine Ermutigung für mich aus. Ich möchte dem Mann gerne sagen, er soll sich auf keinen Fall eine neue Brieftasche kaufen, denn in der kaputten Brieftasche steckt der Ausdruck der Erhabenheit seines Lebens. Außerdem würde ich gerne hinzufügen, daß er … nein, natürlich nicht, es ist alles lächerlich. Ich betrachte die peinlichen Bilder deswegen so unerbittlich, weil ich mich mit ihrer Hilfe auf die Sang- und Klanglosigkeit vorbereite, mit der ich demnächst wahrscheinlich sterben werde. Seit ich ein Ohr weniger habe, schließe ich immer mal wieder in meiner Phantasie mein Leben ab. Aber nach einiger Zeit merke ich, daß sich mein Leben nicht um meine inneren Beschlüsse kümmert und einfach weitergeht. Das ist ein bißchen peinlich, merkt aber niemand. In der linken Augenbraue eines Kindes entdecke ich ein winziges Brotkrümel. Ein Brotkrümel in einer Kinderaugenbraue! Dieses Detail treibt mir eine verschwindend kleine Menge Tränenflüssigkeit in die Augen. Ich genieße diese Augenblicke, obwohl ich gerade neben einem Verkaufsstand für Babynahrung stehe und mich der Geruch der Babynahrung ein bißchen ekelt. Unter dem Eindruck des Ekels verstummt meine Innenwelt, was selten genug geschieht. Ich weiß seit langer Zeit, daß es eine Art von Glück ist, wenn man plötzlich nicht mehr weiß, was man sagen oder denken soll. In den Augenblicken, als ich meine Sachen auf das Band vor der Kasse stelle, fliegt eine große schmutzige Taube in den Supermarkt. Sie flattert die engen Warenkorridore entlang, sucht nach freien Simsen und Kanten, auf denen sie sich niederlassen könnte, und wirbelt dabei eine Menge Staub auf. Ich weiß nicht, warum es mir gefällt, daß die von der Taube aufgewirbelten Staubwölkchen langsam auf die Waren und die Kunden niederrieseln.
Bei mir zu Hause packe ich rasch die Lebensmittel aus und räume sie in die Schränke ein. Sorgfältig löse ich die Plastikumhüllungen von der Wurst. Zu den fein aufgeschnittenen Wurstscheiben sage ich halblaut: Habt ihr wieder so sehr schwitzen müssen, ihr Armen! Zufällig schaue ich aus dem Küchenfenster. Weil ich im fünften Stock wohne, kann ich einen Bussard sehen, der durch eine Windbö für ein paar Momente von seinem Kurs abkommt. Unaussprechlich schön ist die Naturbewegung, wenn ein nach vorn fliegender Vogel vom Wind zum seitlichen Wegschweben genötigt wird. Augenblicke später bin ich mit mir unzufrieden und nenne mich einen Bescheidenheitsangeber. Damit meine ich Leute, die sich mit ihrer eigenen Bedürfnislosigkeit imponieren, zum Beispiel, im Büro, Frau Grünewald. Sie geht mit ihrem Kind am Wochenende in den Park und ist entzückt über das Fiepen der kleinen Meisen ringsum. Guter Gott, denke ich, jetzt ahmst du schon Frau Grünewald nach.