Verstand und Gefühl erzählt die Geschichte der ungleichen Schwestern Elinor und Marianne: Die eine ist zurückhaltend, selbstbeherrscht und läßt sich nicht leicht von Gefühlen den Kopf verdrehen, während die andere impulsiv und voller Leidenschaft der unbedingten Liebe nachjagt. Beide treffen auf Männer, die ihre Welt aus den Fugen heben — und beide müssen schmerzhaft erfahren, daß das Glück nicht nur eine Frage des eigenen Gefühls ist. Doch gemeinsam stellen sie sich den Untiefen der Liebe und finden Stärke in der jeweils anderen. Um schließlich das Glück da zu finden, wo sie es nicht vermutet hätten …
»Marianne Dashwood schaut auf graue Wolken und sieht nichts als blauen Himmel. Das ist schön und recht und eine Eigenschaft, die man hoffentlich niemals ganz verliert. Aber ein bißchen davon muß man verlieren; sonst läuft man Gefahr, naß zu werden.« Emma Thompson
Jane Austen (1775-1817) hatte dank der umfangreichen Bibliothek des Vaters schon früh Zugang zur Literatur. 1811 erschien ihr erster Roman, Verstand und Gefühl, gefolgt von Stolz und Vorurteil (1813), Mansfield Park (1814) und Emma (1816). Bis heute ist Jane Austen eine der beliebtesten und meistgelesenen Autorinnen der Weltliteratur — was nicht zuletzt daran liegt, daß ihre Romane gleichermaßen von Gefühl, Intellekt und Witz getragen sind und auch noch 200 Jahre nach Erscheinen höchst modern sind.
Jane Austen
Verstand und Gefühl
Roman
Aus dem Englischen von Angelika Beck
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Band folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4568.
© Insel Verlag Frankfurt und Leipzig 1991
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere
Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung
elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets
der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.
Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Umschlagabbildung: Kat Menschik, Berlin
Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
eISBN 978-3-458-79980-1
www.insel-verlag.de
Seit langer Zeit schon war die Familie Dashwood in Sussex ansässig. Sie verfügte über ausgedehnten Landbesitz, dessen Mittelpunkt das Herrenhaus von Norland Park bildete. Dort hatten sie seit vielen Generationen so ehrbar gelebt, daß sie sich in der ganzen Nachbarschaft eines guten Rufes erfreuten. Der verstorbene Eigentümer dieses Anwesens, ein Junggeselle, war sehr alt geworden und hatte in seiner Schwester viele Jahre lang eine treue Gefährtin und Haushälterin gehabt. Aber ihr Tod, der zehn Jahre vor seinem eigenen eintrat, führte in seinem Haus zu großen Veränderungen. Denn um diesen Verlust zu ersetzen, lud er die Familie seines Neffen Mr. Henry Dashwood ein und nahm sie in sein Haus auf; dieser war der rechtmäßige Erbe der Besitzungen von Norland, und ihm wollte sie sein Onkel auch vermachen. In der Gesellschaft seines Neffen, seiner Nichte und deren Kinder verbrachte der alte Herr seine Tage in großer Zufriedenheit. Seine Angehörigen wuchsen ihm immer mehr ans Herz. Die beständige Aufmerksamkeit, mit der Mr. und Mrs. Dashwood seinen Wünschen begegneten, ging nicht auf bloßes Eigeninteresse, sondern auf wirkliche Herzensgüte zurück und gewährte ihm alle erdenkliche Bequemlichkeit, die er in seinem Alter noch erlangen konnte, und die Fröhlichkeit der Kinder gab seinem Leben noch einen zusätzlichen Reiz.
Aus einer früheren Ehe hatte Mr. Henry Dashwood einen Sohn, von seiner jetzigen Frau drei Töchter. Der Sohn, ein gesetzter, angesehener junger Mann, war durch das beträchtliche Vermögen seiner Mutter, dessen eine Hälfte ihm bei seiner Volljährigkeit übertragen wurde, reichlich versorgt. Durch seine Heirat, die kurz darauf erfolgte, wurde er noch wohlhabender. Für ihn war es daher nicht so wichtig, das Erbe von Norland anzutreten, wie für seine Schwestern; denn ohne das, was ihnen zufallen würde, wenn ihr Vater den Besitz erbte, konnte ihr Vermögen nur sehr gering sein. Ihre Mutter besaß nichts, und ihr Vater hatte nur siebentausend Pfund zur eigenen Verfügung: denn die verbleibende Hälfte vom Vermögen seiner ersten Frau sollte ebenfalls ihr Kind bekommen, und ihm selbst stand nur eine lebenslange Rente davon zu.
Der alte Herr starb; sein Testament wurde verlesen, und wie fast jedes andere Testament rief es ebensoviel Enttäuschung wie Freude hervor. Er war weder so ungerecht noch so undankbar, daß er seinem Neffen den Besitz vorenthalten hätte — aber er hinterließ ihn ihm zu Bedingungen, die diesen um den halben Wert seiner Erbschaft brachten. Mr. Dashwood hatte ihn sich mehr seiner Frau und seiner Töchter willen als um seiner selbst oder seines Sohnes willen gewünscht: aber gerade seinem Sohn und dem Sohn seines Sohnes, einem vierjährigen Kind, war er vorbehalten, und zwar so, daß ihm selbst keine Möglichkeit blieb, etwa durch die Aufnahme einer Hypothek auf den Besitz oder den Verkauf der wertvollen Wälder für die zu sorgen, die ihm am meisten am Herzen lagen und die einer Versorgung am dringendsten bedurften. Alles war zugunsten dieses Kindes festgelegt, das bei gelegentlichen Besuchen seiner Eltern in Norland durch Reize, die bei zwei- oder dreijährigen Kindern keineswegs ungewöhnlich sind — durch kindliches Gestammel, durch das unbeirrbare Verlangen, seinen Willen durchzusetzen, eine Menge lustiger Streiche und viel Lärm —, seinen Onkel mehr für sich eingenommen hatte, als es die Aufmerksamkeiten, die ihm von seiner Nichte und ihren Töchtern jahrelang erwiesen worden waren, vermocht hatten. Er wollte jedoch nicht unfreundlich sein, und als Zeichen seiner Zuneigung zu den drei Mädchen vermachte er einem jeden eintausend Pfund.
Zunächst war das eine herbe Enttäuschung für Mr. Dashwood, aber er hatte ein heiteres und zuversichtliches Naturell und durfte billigerweise hoffen, noch viele Jahre zu leben und durch sparsame Lebensweise eine beträchtliche Summe von dem Ertrag eines bereits ausgedehnten und in nächster Zeit noch erweiterungsfähigen Besitzes beiseite legen zu können. Aber der Reichtum, der so lange auf sich hatte warten lassen, sollte ihm nur für ein Jahr gehören. Länger überlebte er seinen Onkel nicht, und zehntausend Pfund, einschließlich der letzten Legate, war alles, was seiner Witwe und seinen Töchtern blieb.
Als man erkannte, wie ernst es um ihn stand, wurde nach seinem Sohn geschickt, und ihm legte Mr. Dashwood mit allem Nachdruck und aller Eindringlichkeit, die ihm bei seiner Krankheit noch zu Gebote standen, das Wohl seiner Stiefmutter und seiner Schwestern ans Herz.
Mr. John Dashwood war nicht so empfindsam wie die übrige Familie, aber eine solche Bitte zu einem solchen Zeitpunkt berührte ihn doch, und er versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit sie angenehm leben könnten. Sein Vater war durch diese Versicherung beruhigt, und Mr. John Dashwood hatte dann Zeit, sich Gedanken zu machen, wieviel für sie zu tun vernünftigerweise in seiner Macht stehen konnte.
Er hatte keine schlechte Gesinnung, es sei denn, eine gewisse Kaltherzigkeit und ein gewisser Egoismus sind ein Beleg dafür. Aber er war im allgemeinen gut angesehen, kam er doch all seinen gewöhnlichen Pflichten mit Anstand nach. Hätte er eine liebenswertere Frau geheiratet, so wäre er vielleicht noch angesehener gewesen: — vielleicht wäre er sogar liebenswert geworden, denn als er heiratete, war er noch sehr jung und seiner Frau sehr zugetan. Aber Mrs. John Dashwood war ein wahres Zerrbild seiner selbst — noch engherziger und noch egoistischer.
Als er seinem Vater sein Versprechen gab, erwog er insgeheim, das Vermögen seiner Schwestern durch ein Geschenk von je eintausend Pfund zu vermehren. Dazu hielt er sich zu diesem Zeitpunkt wirklich für fähig. Angesichts der viertausend Pfund im Jahr, die zu seinem gegenwärtigen Einkommen und der verbleibenden Hälfte vom Vermögen seiner Mutter hinzukommen sollten, wurde es ihm ganz warm ums Herz, und er glaubte, großzügig sein zu können. — Ja, er würde ihnen dreitausend Pfund geben! Das wäre großzügig und nobel, genug für sie, um davon völlig sorgenfrei zu leben. Dreitausend Pfund! Er könnte eine so beträchtliche Summe erübrigen, ohne dadurch in große Verlegenheit zu geraten. — Den ganzen Tag und noch viele weitere Tage dachte er darüber nach und bereute seinen Entschluß nicht.
Kaum war das Begräbnis seines Vaters vorüber, da traf Mrs. John Dashwood mit ihrem Kind und ihren Bediensteten ein, ohne zuvor ihre Schwiegermutter über ihre Absicht unterrichtet zu haben. Niemand konnte ihr das Recht zu kommen streitig machen; seit dem Augenblick, da sein Vater verstorben war, gehörte das Haus ihrem Mann; aber die Taktlosigkeit ihres Benehmens mußte einer Frau in Mrs. Dashwoods Lage, auch wenn sie nicht besonders feinfühlig war, höchst unangenehm sein — aber sie besaß ein so ausgeprägtes Ehrgefühl, eine so romantische Großmut, daß jede Beleidigung dieser Art, wer immer sie begangen oder erfahren haben mochte, für sie eine Quelle unversiegbaren Abscheus darstellte. Mrs. John Dashwood war bei niemandem in der Familie ihres Mannes je besonders beliebt gewesen, aber sie hatte bisher noch keine Gelegenheit gehabt, ihnen zu zeigen, wie rücksichtslos gegenüber dem Wohlbefinden anderer sie handeln konnte, wenn es die Situation erforderte.
Mrs. Dashwood empfand dieses unfreundliche Benehmen so heftig und verachtete ihre Schwiegertochter so inbrünstig dafür, daß sie bei deren Ankunft ein für allemal ausgezogen wäre, hätte sie nicht auf Drängen ihrer ältesten Tochter erst noch einmal nachgedacht, ob es schicklich sei zu gehen; und ihre zärtliche Liebe zu ihren drei Kindern bewog sie dann, doch zu bleiben und ihretwegen einen Bruch mit deren Bruder zu vermeiden.
Elinor, die älteste Tochter, deren Rat eine solche Wirkung zeitigte, besaß einen scharfen Verstand und ein nüchternes Urteilsvermögen, die sie trotz ihrer erst neunzehn Jahre zur Ratgeberin ihrer Mutter befähigten und sie häufig in die Lage versetzten, zum Vorteil aller jenem Gefühlsüberschwang Mrs. Dashwoods entgegenzuwirken, der sonst zu Unbedachtsamkeit geführt hätte. Sie hatte ein edles Herz, ein gütiges Wesen und starke Gefühle; aber sie wußte sie zu beherrschen — eine Fähigkeit, die ihre Mutter noch lernen mußte und die eine ihrer Schwestern entschlossen war sich niemals lehren zu lassen.
Mariannes Anlagen glichen denen Elinors in vieler Hinsicht. Sie war empfindsam und klug; aber in allem überschwenglich. In ihrem Schmerz und in ihrer Freude konnte sie sich nicht mäßigen. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Mutter war bemerkenswert ausgeprägt.
Mit Sorge sah Elinor das Übermaß an Gefühl bei ihrer Schwester, aber Mrs. Dashwood schätzte und hegte es. Sie bestärkten sich jetzt gegenseitig in der Heftigkeit ihres Unglücks. Die Leidensqual, die sie zunächst überwältigt hatte, wurde nun bewußt erneuert, herbeigesehnt und immer wieder erzeugt. Sie gaben sich ganz ihrem Kummer hin, suchten ihr Elend durch jeden sich bietenden Gedanken zu steigern und waren entschlossen, selbst in Zukunft niemals Trost zuzulassen. Auch Elinor war tief betrübt; aber noch konnte sie kämpfen, konnte sich zusammenreißen. Sie konnte sich mit ihrem Bruder besprechen, ihre Schwägerin bei deren Ankunft empfangen und sie mit gebührender Höflichkeit behandeln und sich bemühen, ihre Mutter zu ähnlicher Selbstüberwindung zu bringen und zu ähnlicher Nachsicht zu ermuntern.
Margaret, die andere Schwester, war ein gutmütiges, umgängliches Mädchen; aber da sie bereits viel von Mariannes romantischen Neigungen in sich aufgesogen hatte, ohne freilich viel von deren Verstand zu besitzen, versprach sie mit dreizehn nicht gerade, ihren Schwestern später einmal ähnlich zu werden.
Mrs. John Dashwood richtete sich nun als Herrin von Norland ein, und ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerinnen sahen sich zu bloßen Besuchern degradiert. Als solche wurden sie von ihr jedoch mit gemessener Höflichkeit behandelt und von ihrem Ehemann mit so viel Freundlichkeit, wie er für irgend jemanden außer für sich selbst, seine Frau und ihrer beider Kind aufzubringen vermochte. Es war durchaus ernst gemeint, als er sie nötigte, Norland als ihr Zuhause zu betrachten, und da es Mrs. Dashwood annehmbar erschien, zu bleiben, bis sie ein Haus in der Nachbarschaft gefunden hatte, wurde seine Einladung angenommen.
Weiter an einem Ort zu verweilen, wo alles sie an ihr früheres Glück erinnerte, war genau das, was ihrem Wesen entsprach. In fröhlichen Zeiten konnte niemand fröhlicher sein oder von jener schwärmerischen Glückserwartung, die allein schon Glück bedeutet, mehr erfüllt sein als sie. Aber im Schmerz wurde sie von ihrer Einbildungskraft ebenso unweigerlich fortgerissen und war so untröstlich wie in der Freude maßlos.
Mrs. John Dashwood billigte ganz und gar nicht, was ihr Mann für seine Schwestern zu tun beabsichtigte. Vom Vermögen ihres lieben kleinen Jungen dreitausend Pfund wegzunehmen würde bedeuten, ihn in die bitterste Armut zu stürzen! Sie bat ihn, die Sache noch einmal zu überdenken. Wie konnte er es vor sich selbst verantworten, sein Kind, noch dazu sein einziges, um eine solch riesige Summe zu bringen? Und welchen möglichen Anspruch konnten die beiden Misses Dashwood, die mit ihm nur zur Hälfte blutsverwandt waren, was sie überhaupt nicht als Verwandtschaft ansah, auf seine Großzügigkeit erheben, der einen so stattlichen Betrag rechtfertigte? Es war doch weidlich bekannt, daß man zwischen den Kindern eines Mannes aus verschiedenen Ehen nie von Zuneigung ausgehen konnte, und warum sollte er sich und ihren armen kleinen Harry dadurch zugrunde richten, daß er sein ganzes Geld an seine Halbschwestern verschenkte? »Es war meines Vaters letzte Bitte an mich«, erwiderte ihr Mann, »daß ich seine Witwe und seine Töchter unterstütze.«
»Ich glaube allerdings, er wußte nicht, wovon er sprach; aber ich wette zehn zu eins, er war damals wirr im Kopf. Wäre er ganz bei Sinnen gewesen, hätte er nicht an so etwas gedacht, wie dich zu bitten, deinem eigenen Kind die Hälfte deines Vermögens wegzunehmen.«
»Er bestand nicht auf einer bestimmten Summe, meine liebe Fanny; er bat mich nur ganz allgemein, sie zu unterstützen und ihre Lage angenehmer zu machen, als es in seiner Macht stand. Vielleicht wäre es dasselbe gewesen, wenn er alles mir überlassen hätte. Er konnte schwerlich annehmen, daß ich sie vernachlässigen würde. Aber da er das Versprechen erbat, konnte ich es ihm nicht gut abschlagen: Zumindest dachte ich damals so. Das Versprechen wurde also gegeben und muß gehalten werden. Es muß etwas für sie getan werden, wann immer sie auch Norland verlassen und sich in einem neuen Zuhause einrichten.«
»Nun gut, dann soll etwas für sie getan werden; aber dieses Etwas müssen ja nicht gleich dreitausend Pfund sein. Bedenke doch«, fügte sie hinzu, »wenn das Geld erst einmal weggegeben ist, kommt es nie wieder zurück. Deine Schwestern werden heiraten, und dann ist es für immer dahin. Wenn es freilich unserem armen kleinen Jungen wieder zurückerstattet werden könnte —«
»Allerdings«, sagte ihr Mann sehr ernst, »das wäre etwas ganz anderes. Vielleicht kommt einmal die Zeit, wo Harry es bedauern wird, daß man eine so große Summe weggegeben hat. Wenn er zum Beispiel eine große Familie haben sollte, wäre es eine sehr angenehme Ergänzung.«
»Gewiß wäre es das.«
»Vielleicht wäre es dann für alle Beteiligten besser, wenn man die Summe halbierte. — Fünfhundert Pfund wären doch ein gewaltiger Vermögenszuwachs!«
»Oh, über alle Maßen! Welcher Bruder auf dieser Welt würde für seine Schwestern, selbst wenn sie seine richtigen Schwestern wären, auch nur halb soviel tun! Und wie die Dinge nun einmal liegen — nur zur Hälfte blutsverwandt! — Aber du hast ja eine so freigebige Art.«
»Ich möchte nicht kleinlich sein«, entgegnete er. »Bei solchen Gelegenheiten sollte man lieber zuviel als zuwenig tun. Zumindest kann niemand auf den Gedanken kommen, ich hätte nicht genug für sie getan: Sogar sie selbst können wohl kaum mehr erwarten.«
»Man weiß nicht, was sie erwarten«, sagte die gnädige Frau, »aber über ihre Erwartungen brauchen wir uns keine Gedanken zu machen: die Frage ist, was du erübrigen kannst.«
»Gewiß — und ich denke, ich kann für jede fünfhundert Pfund erübrigen. So wie die Dinge liegen, wird jede von ihnen ohne einen Zuschuß meinerseits beim Tod ihrer Mutter mehr als dreitausend Pfund haben — ein sehr stattliches Vermögen für eine junge Frau.«
»Das will ich meinen, und da fällt mir ein, daß sie eigentlich gar keinen Zuschuß brauchen. Sie werden zusammen zehntausend Pfund haben. Wenn sie heiraten, werden sie bestimmt gut versorgt sein, und wenn nicht, können sie alle miteinander von den Zinsen der zehntausend Pfund sehr angenehm leben.«
»Sehr richtig, und deshalb weiß ich nicht, ob es nicht aufs Ganze gesehen ratsamer wäre, anstatt für sie lieber etwas für ihre Mutter zu tun, solange sie noch am Leben ist — ich denke an eine Art Leibrente. — Das käme meinen Schwestern ebenso zugute wie ihr selbst. Mit hundert Pfund im Jahr könnten sie alle sehr bequem leben.«
Seine Frau zögerte jedoch ein wenig, diesem Plan ihre Zustimmung zu geben.
»Sicherlich ist es besser«, sagte sie, »als sich auf einen Schlag von fünfzehnhundert Pfund zu trennen. Aber wenn dann Mrs. Dashwood noch fünfzehn Jahre leben sollte, wären wir ganz schön angeschmiert.« — »Fünfzehn Jahre! Meine liebe Fanny, ich gebe ihrem Leben nicht einmal halb soviel.«
»Sicher nicht; aber wenn du dich einmal umsiehst, leben Leute immer ewig, wenn man ihnen eine Leibrente zahlen muß; und sie ist sehr rüstig und gesund und noch keine vierzig. Eine Leibrente ist eine sehr ernste Angelegenheit; sie fällt Jahr für Jahr an, und man wird sie nie wieder los. Du ahnst ja gar nicht, worauf du dich da einläßt. Ich habe eine Menge Schwierigkeiten mit Leibrenten kennengelernt, denn meiner Mutter hing es wie ein Klotz am Bein, daß sie dem Testament meines Vaters zufolge drei Leibrenten an alte, arbeitsunfähige Bedienstete bezahlen mußte; und es ist kaum zu glauben, wie unangenehm sie das fand. Zweimal im Jahr mußten diese Leibrenten gezahlt werden; und dann war da das Problem, sie ihnen zukommen zu lassen, und dann hieß es, einer von ihnen sei gestorben, und hinterher stellte sich heraus, daß das gar nicht stimmte. Meine Mutter hatte es gründlich satt. Ihre Einkünfte gehörten ihr nicht mehr, bei diesen ständigen Forderungen, sagte sie; und es war um so herzloser von meinem Vater, als das Geld sonst meiner Mutter ganz zur Verfügung gestanden hätte, ohne irgendwelche Einschränkungen. Das hat in mir einen derartigen Abscheu gegen Leibrenten erzeugt, daß ich mich um nichts auf der Welt auf eine solche Zahlung festlegen lassen würde.«
»Es ist gewiß unangenehm«, erwiderte John Dashwood, »solche jährlichen Abzüge von seinem Einkommen zu haben. Das eigene Vermögen, wie deine Mutter ganz richtig sagt, gehört einem nicht mehr. An die regelmäßige Zahlung einer solchen Summe bei jedem Zahltag gebunden zu sein, ist keineswegs wünschenswert: es raubt einem seine Unabhängigkeit.«
»Zweifellos, und außerdem dankt es dir keiner. Sie halten sich für abgesichert, du tust nicht mehr, als was man von dir erwartet, und so kommt überhaupt keine Dankbarkeit auf. Wenn ich du wäre, so würde ich alles, was immer ich auch täte, ganz nach eigenem Ermessen tun. Ich würde mich nicht festlegen, ihnen jährlich etwas zukommen zu lassen. In manchen Jahren könnte es vielleicht sehr lästig sein, hundert oder fünfzig Pfund von unseren eigenen Ausgaben abzuzwacken.«
»Ich glaube, du hast recht, meine Liebe; es wird wohl besser sein, in diesem Fall keine Jahresrente auszusetzen: Wenn ich ihnen gelegentlich etwas zukommen lasse, wird ihnen das eine viel größere Hilfe sein als eine jährliche Zuwendung, denn sie würden nur einen aufwendigeren Lebensstil annehmen, wenn sie sich eines größeren Einkommens sicher sein könnten; und am Jahresende wären sie deshalb nicht um Sixpence reicher. Das ist bestimmt die beste Lösung. Ein Geschenk von fünfzig Pfund hin und wieder wird sie davor bewahren, jemals in Geldnöte zu geraten, und wird, so denke ich, mein Versprechen gegenüber meinem Vater voll und ganz erfüllen.«
»Ganz gewiß. Ja, um die Wahrheit zu sagen, ich bin innerlich überzeugt davon, daß dein Vater gar nicht die Absicht hatte, daß du ihnen überhaupt Geld geben solltest. Er dachte bestimmt nur an eine Unterstützung, wie man sie vernünftigerweise von dir erwarten kann: zum Beispiel, daß du dich nach einem netten Häuschen für sie umsiehst, ihnen beim Umzug behilflich bist und ihnen, wenn die Jahreszeit danach ist, mal ein paar Fische oder ein Stück Wildbret und dergleichen als Geschenk schickst. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, mehr hatte er nicht im Sinn; andernfalls wäre es in der Tat sehr merkwürdig von ihm gewesen. Bedenke doch nur, mein lieber Mr. Dashwood, wie außerordentlich angenehm deine Stiefmutter und ihre Töchter von den Zinsen der siebentausend Pfund leben können, abgesehen von den tausend Pfund, die jedes der Mädchen besitzt und die einem jeden jährlich fünfzig Pfund einbringen, und davon werden sie ihrer Mutter natürlich für Kost und Logis bezahlen. Alles in allem werden sie zusammen fünfhundert im Jahr haben, und was um alle Welt brauchen denn vier Frauen noch mehr? — Sie werden so billig leben! Ihre Haushaltung wird überhaupt nichts kosten. Sie werden keine Kutsche, keine Pferde und kaum Personal haben, sie werden keine Gesellschaften geben und können somit gar keine Ausgaben haben! Denk doch nur, wie gut sie es haben werden! Fünfhundert im Jahr! Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie sie auch bloß die Hälfte davon ausgeben wollen; und was einen weiteren Zuschuß deinerseits betrifft, so ist der Gedanke daran geradezu absurd. Viel eher werden sie in der Lage sein, dir etwas zu geben.«
»Auf mein Wort«, sagte Mr. Dashwood, »ich glaube, du hast vollkommen recht. Mein Vater kann mit seiner Bitte an mich nichts anderes im Sinn gehabt haben, als was du sagst. Ich sehe es jetzt ganz deutlich und will meiner Verpflichtung gewissenhaft nachkommen, indem ich mich ihnen gegenüber so hilfreich und freundlich verhalte, wie du es beschrieben hast. Wenn meine Mutter in ein anderes Haus umzieht, werde ich ihr bereitwillig meine Dienste zur Verfügung stellen, um ihr, soweit ich kann, behilflich zu sein. Vielleicht ist es dann auch angebracht, ihnen irgendein kleines Möbelstück zu schenken.«
»Gewiß«, entgegnete Mrs. John Dashwood, »aber eines muß freilich bedacht werden. Als dein Vater und deine Mutter nach Norland zogen, wurde zwar das Mobiliar von Stanhill verkauft, aber das gesamte Porzellan, das Silber und die Wäsche behielten sie, und deine Mutter hat es nun geerbt. Ihr Haus wird daher bei ihrem Einzug fast vollständig eingerichtet sein.«
»Das ist zweifellos eine wichtige Überlegung. Ein in der Tat wertvolles Erbe! Und einiges von dem Silber hätte doch unser eigenes recht schön ergänzen können.«
»Ja, und das Frühstücksservice ist zweimal so hübsch wie dasjenige, das zu diesem Haus gehört. Meiner Meinung nach viel zu hübsch für jedes Haus, das sie sich je werden leisten können. Aber so ist es nun einmal. Dein Vater hat nur an sie gedacht. Und eins will ich dir sagen: Du schuldest ihm weder besondere Dankbarkeit noch seinen Wünschen Gehorsam, denn wir wissen nur zu gut, daß er ihnen fast alles auf der Welt vermacht hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre.«
Dieses Argument war zwingend. Es gab seinen Absichten all jene Entschiedenheit, die ihnen bis dahin gefehlt hatte, und er gelangte schließlich zu der Überzeugung, daß es absolut unnötig, wenn nicht sogar höchst ungehörig wäre, für die Witwe und die Kinder seines Vaters mehr zu tun als ihnen diese Art von nachbarschaftlicher Hilfe angedeihen zu lassen, auf die seine Frau hingewiesen hatte.
Mrs. Dashwood blieb noch mehrere Monate in Norland; nicht etwa, weil sie abgeneigt gewesen wäre wegzuziehen, als der Anblick jedes wohlbekannten Fleckchens nicht mehr die heftige Gemütsbewegung in ihr hervorrief, die eine Zeitlang von ihm ausgegangen war; denn als ihre Lebensgeister allmählich wieder erwachten und sie wieder fähig war, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, als ihr Leid durch melancholische Erinnerungen noch schlimmer zu machen, konnte sie es nicht erwarten, auszuziehen, und suchte unermüdlich nach einer passenden Bleibe in der Umgebung von Norland; denn weit von diesem geliebten Ort wegzuziehen war ihr unmöglich. Aber sie konnte nichts in Erfahrung bringen, was ihren Vorstellungen von Komfort und Behaglichkeit genügt und zugleich der Umsicht ihrer ältesten Tochter entsprochen hätte, deren nüchternes Urteil mehrere Häuser als zu groß für ihr Einkommen verwarf, mit denen ihre Mutter durchaus einverstanden gewesen wäre.
Mrs. Dashwood war von ihrem Mann über das feierliche Versprechen seines Sohnes zu ihren Gunsten unterrichtet worden, das seinen letzten irdischen Überlegungen Trost gespendet hatte. Ebensowenig wie er zweifelte sie an der Aufrichtigkeit dieser Versicherung, und um ihrer Töchter willen erfüllte sie der Gedanke daran mit Befriedigung, obwohl sie persönlich überzeugt war, daß auch eine viel geringere Zuwendung als siebentausend Pfund sie überreichlich unterstützen würde. Auch um ihres Stiefsohns und ihres eigenen Herzens willen freute sie sich; und sie machte sich Vorwürfe, ihn bisher verkannt zu haben, weil sie ihm Großmut überhaupt nicht zugetraut hatte. Sein zuvorkommendes Benehmen ihr selbst und seinen Schwestern gegenüber brachte sie zur Überzeugung, daß ihm ihr Wohlergehen am Herzen liege, und lange Zeit vertraute sie fest auf die Hochherzigkeit seiner Absichten.
Die Verachtung, die sie fast von Anfang an für ihre Schwiegertochter empfunden hatte, verstärkte sich noch erheblich, als ihr ein sechsmonatiges Zusammenleben mit der Familie ihres Stiefsohns Gelegenheit bot, ihren Charakter näher kennenzulernen; und vielleicht hätten es die beiden Damen trotz aller höflichen Rücksichtnahme oder mütterlichen Regungen seitens der ersteren unmöglich so lange unter einem Dach miteinander aushalten können, wäre nicht ein besonderer Umstand eingetreten, der nach Meinung von Mrs. Dashwood den weiteren Verbleib ihrer Töchter in Norland noch wünschenswerter erscheinen lassen mußte.
Dieser Umstand war eine wachsende Zuneigung zwischen ihrer ältesten Tochter und Mrs. John Dashwoods Bruder, einem wohlerzogenen und liebenswerten jungen Mann, dessen Bekanntschaft sie machten, kurz nachdem seine Schwester in Norland eingezogen war, und der seither den größten Teil seiner Zeit dort verbracht hatte.
Manche Mutter hätte vielleicht den vertrauten Umgang aus materiellen Motiven gefördert, denn Edward Ferrars war der älteste Sohn eines Mannes, der sehr wohlhabend gestorben war; und manche hätte ihn vielleicht aus Gründen der Vorsicht unterbunden, denn abgesehen von einer geringfügigen Summe hing sein ganzes Vermögen vom letzten Willen seiner Mutter ab. Aber Mrs. Dashwood war sowohl die eine wie auch die andere Überlegung völlig fremd. Es genügte ihr, daß er liebenswert zu sein schien, daß er ihre Tochter liebte und daß Elinor seine Zuneigung erwiderte. Es widersprach all ihren Grundsätzen, daß unterschiedliche Vermögensverhältnisse zwei Menschen entzweien sollten, die sich aufgrund ähnlicher Anlagen zueinander hingezogen fühlten; und daß irgend jemand, der Elinor kannte, ihre Vorzüge nicht zu würdigen verstünde, konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen.
Edward Ferrars empfahl sich der guten Meinung der Damen nicht durch irgendwelche äußeren Reize oder geschliffene Umgangsformen. Er sah nicht besonders gut aus, und seine Art empfand man erst bei größerer Vertrautheit als angenehm. Er war zu schüchtern, um selbstbewußt aufzutreten; aber wenn er seine angeborene Zurückhaltung überwunden hatte, sprach aus seinem ganzen Verhalten ein offenes und liebevolles Herz. Er besaß einen klaren Verstand, den eine solide Erziehung entsprechend geschult hatte. Aber weder von seinen Fähigkeiten noch seinen Neigungen her vermochte er den Wünschen seiner Mutter und seiner Schwester zu entsprechen, denen es recht lieb gewesen wäre, wenn er sich irgendwie ausgezeichnet hätte — als was, wußten sie freilich selbst nicht zu sagen. Sie wollten, daß er auf die eine oder andere Weise eine gute Figur in der Welt mache. Seine Mutter wünschte ihn für politische Belange zu interessieren, ihn ins Parlament oder mit einigen großen Männern seiner Zeit in Verbindung zu bringen. Mrs. John Dashwood wünschte das ebenfalls; aber in der Zwischenzeit, bis eine dieser höheren Weihen erlangt werden konnte, hätte es ihren Ehrgeiz schon besänftigt, ihn in einem Landauer fahren zu sehen. Doch Edward hatte keinen Hang zu großen Männern oder Landauern. All seine Wünsche richteten sich auf häusliche Behaglichkeit und ein geruhsames Leben als Privatmann. Zum Glück hatte er einen jüngeren Bruder, der in dieser Hinsicht mehr versprach.
Edward hatte bereits mehrere Wochen im Haus verbracht, ehe er Mrs. Dashwoods Aufmerksamkeit überhaupt auf sich zog; denn sie war zu jener Zeit so in ihrer Trauer befangen, daß sie an ihrer Umgebung kaum Anteil nahm. Sie merkte nur, daß er still und unaufdringlich war, und mochte ihn deshalb. Er störte sie in ihrer Trübsal nicht durch Konversation, die zu diesem Zeitpunkt unpassend gewesen wäre.
Die erste Veranlassung, ihn sich genauer anzusehen und noch sympathischer zu finden, gab eine Bemerkung, die Elinor eines Tages zufällig über den Unterschied zwischen ihm und seiner Schwester machte. Es war dies ein Gegensatz, der ihn ihrer Mutter aufs nachdrücklichste empfahl.
»Es genügt schon«, sagte sie, »wenn man behaupten kann, daß er anders ist als Fanny. Das allein bedeutet alles, was einen Menschen liebenswert macht. Ich habe ihn bereits liebgewonnen.«
»Ich glaube, du wirst ihn mögen«, sagte Elinor, »wenn du ihn besser kennst.«
»Ihn mögen!« entgegnete ihre Mutter mit einem Lächeln. »Wenn ich jemanden mag, so muß ich ihn auch lieben.«
»Du kannst ihn doch achten!«
»Ich habe noch nie verstanden, wie man Achtung von Liebe trennen kann.«
Mrs. Dashwood bemühte sich nun, ihn kennenzulernen. Mit ihrer gewinnenden Art überwand sie bald seine Zurückhaltung. Schnell erfaßte sie all seine Vorzüge; vielleicht kam ihr dabei die Gewißheit zu Hilfe, daß er Elinor schätze; aber sie war von seinem inneren Wert wirklich überzeugt: Und selbst jene ruhige Art, die all ihren eingefahrenen Vorstellungen vom angemessenen Auftreten eines jungen Mannes widersprach, erschien ihr nicht mehr langweilig, als sie erkannte, daß er warmherzig und gutmütig war.
Kaum bemerkte sie in seinem Verhalten gegenüber Elinor ein Anzeichen von Liebe, da betrachtete sie die ernsthafte Verbindung zwischen den beiden schon als sicher und sah ihrer baldigen Hochzeit erwartungsvoll entgegen.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Elinor in ein paar Wochen fürs Leben versorgt sein, meine liebe Marianne«, sagte sie. »Wir werden sie zwar vermissen, aber sie wird glücklich sein.«
»Oh, Mama, was sollen wir denn ohne sie anfangen?«
»Meine Liebe, es wird wohl kaum eine Trennung sein. Wir werden nur wenige Meilen voneinander entfernt wohnen und uns jeden Tag sehen. Du wirst einen Bruder gewinnen, einen wirklichen, liebevollen Bruder. Ich habe von Edwards Herz die allerhöchste Meinung. Aber du machst so ein ernstes Gesicht, Marianne; ist dir die Wahl deiner Schwester nicht recht?«
»Vielleicht«, sagte Marianne, »überrascht sie mich ein wenig. Edward ist sehr liebenswürdig, und ich empfinde eine innige Zuneigung für ihn. Aber dennoch — er ist nicht der Typ von jungem Mann — irgend etwas fehlt ihm — seine äußere Erscheinung ist nicht gerade bemerkenswert; er hat nichts von dem Charme, den ich von einem jungen Mann erwarte, der meine Schwester ernsthaft an sich binden könnte. Seinen Augen fehlt jener Geist, jenes Feuer, das gleichzeitig Tugend und Intelligenz verrät. Und von alledem einmal abgesehen, fürchte ich, Mama, er hat keinen wirklichen Geschmack. Musik scheint ihn kaum zu interessieren, und obwohl er Elinors Zeichnungen sehr bewundert, ist es doch nicht die Bewunderung einer Person, die den Wert derselben recht zu schätzen weiß. Er sieht ihr zwar oft aufmerksam beim Zeichnen zu, aber es ist offensichtlich, daß er im Grunde nichts von der Sache versteht. Er bewundert als Verliebter, nicht als Kenner. Um mich zufriedenzustellen, müßte beides zusammenkommen. Ich könnte nicht glücklich werden mit einem Mann, dessen Geschmack nicht in allen Punkten mit meinem eigenen übereinstimmt. Er muß alle meine Gefühle teilen; uns beide müssen dieselben Bücher, dieselben Musikstücke bezaubern. Ach, Mama, wie zaghaft, wie langweilig Edward gestern abend beim Vorlesen war! Meine Schwester tat mir richtig leid. Aber sie ertrug es mit einer solchen Fassung, sie schien es kaum zu bemerken. Ich saß wie auf heißen Kohlen. Diese wunderschönen Verse, die mich schon so oft fast um den Verstand gebracht haben, mit solch unerschütterlicher Gemütsruhe, so entsetzlicher Gleichgültigkeit vorgetragen zu hören!« —
»Klare, elegante Prosa hätte ihm sicher mehr gelegen. Den Eindruck hatte ich schon, während er vorlas. Aber du wolltest ihm ja unbedingt Cowper zu lesen geben.«
»Aber, Mama, wenn ihm nicht einmal Cowper nahegeht! — Doch über Geschmack läßt sich eben nicht streiten. Elinor empfindet nicht so wie ich und kann daher vielleicht darüber hinwegsehen und mit ihm glücklich werden. Hätte ich ihn geliebt, mir wäre das Herz gebrochen, ihn mit so wenig Gefühl vorlesen zu hören. Je besser ich die Welt kennenlerne, Mama, desto mehr bin ich überzeugt, daß mir niemals ein Mann begegnen wird, den ich wirklich lieben kann. Ich habe so große Ansprüche! Er muß alle Tugenden Edwards haben, und sein Äußeres und sein Auftreten müssen seine Güte mit allem erdenklichen Charme krönen.«
»Vergiß nicht, mein Liebes, daß du noch keine siebzehn bist. Es ist noch zu früh im Leben, um die Hoffnung auf ein solches Glück aufzugeben. Warum solltest du weniger vom Schicksal begünstigt sein als deine Mutter? Nur in einer Hinsicht, liebe Marianne, möge dein Los anders sein als ihres!«
»Wie schade, Elinor«, sagte Marianne, »daß Edward keinen Sinn fürs Zeichnen hat.« — »Keinen Sinn fürs Zeichnen«, erwiderte Elinor, »wie kommst du denn darauf? Er zeichnet zwar nicht selbst, aber es bereitet ihm viel Freude, die Hervorbringungen anderer Leute anzuschauen, und ich versichere dir, es fehlt ihm keineswegs an natürlichem Geschmack, wenn er auch keine Gelegenheit gehabt hat, ihn auszubilden. Wäre er jemals in der Lage gewesen, es zu lernen, so würde er, wie ich meine, gewiß recht gut zeichnen. Er mißtraut seinem eigenen Urteil in derlei Dingen so sehr, daß er über ein Bild nur ungern seine Meinung äußert; aber er hat von Natur aus einen sicheren und unverdorbenen Geschmack, der ihn im allgemeinen zu einem richtigen Urteil führt.«
Marianne wollte ihre Schwester nicht beleidigen und sagte nichts mehr zu dem Thema; aber die Art von Zustimmung, die nach Elinors Darstellung die Bilder anderer Leute in ihm hervorriefen, unterschied sich sehr von jenem leidenschaftlichen Entzücken, das ihrer Ansicht nach allein die Bezeichnung Geschmack verdiente. Doch auch wenn sie insgeheim über dieses Fehlurteil lächeln mußte, rechnete sie doch ihrer Schwester die blinde Parteilichkeit, auf die es zurückging, hoch an.
»Ich hoffe, Marianne«, fuhr Elinor fort, »du sprichst ihm Geschmack nicht generell ab. Das kann ja wohl auch nicht der Fall sein, denn dein Benehmen ihm gegenüber läßt an Herzlichkeit nichts zu wünschen übrig, und ich bin sicher, wenn das deine Meinung wäre, könntest du nicht einmal höflich zu ihm sein.«
Marianne wußte nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. Auf keinen Fall wollte sie die Gefühle ihrer Schwester verletzen, und doch war es ihr unmöglich, etwas zu sagen, was sie nicht glaubte. Schließlich erwiderte sie:
»Sei nicht beleidigt, Elinor, wenn sich mein Lob nicht in jeder Hinsicht mit deinem Eindruck von seinen Vorzügen deckt. Ich hatte nicht so viele Gelegenheiten wie du, seine Neigungen, Vorlieben und seine eher verborgenen geistigen Interessen schätzenzulernen, aber von seiner Güte und seinem Verstand habe ich die allerhöchste Meinung. Er verkörpert für mich alles, was ehrenwert und liebenswürdig ist.«
»Ich bin sicher«, erwiderte Elinor lächelnd, »mit einem solchen Lob könnten selbst seine besten Freunde durchaus zufrieden sein. Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie du noch herzlichere Worte finden könntest.«
Marianne war froh, daß sich ihre Schwester so leicht zufriedenstellen ließ.
»An seinem Verstand und seiner Güte«, fuhr Elinor fort, »kann, glaube ich, niemand zweifeln, der ihn oft genug gesehen hat, um ihn in ein zwangloses Gespräch zu verwickeln. Nur wegen jener Schüchternheit, die ihn allzuoft schweigen läßt, kommen seine hohe Intelligenz und seine Grundsätze nicht immer zur Geltung. Du kennst ihn gut genug, um seinen wahren inneren Wert richtig beurteilen zu können. Aber aufgrund besonderer Umstände sind dir seine eher verborgenen geistigen Interessen, wie du es nennst, länger unbekannt geblieben als mir. Er und ich sind zuweilen oft zusammen gewesen, während du von unserer Mutter aus größter Zuneigung ganz in Beschlag genommen worden bist. Ich habe ihn häufig getroffen, seine Empfindungen studiert, und habe mir seine Meinungen über Fragen der Literatur und des Geschmacks angehört; und ich wage insgesamt zu behaupten, daß er gut informiert ist, an Büchern außerordentlichen Gefallen findet, eine lebhafte Phantasie, eine klare und genaue Beobachtungsgabe und einen feinen und unverdorbenen Geschmack hat. Seine Fähigkeiten wirken in jeder Hinsicht bei näherer Bekanntschaft ebenso gewinnend wie seine Umgangsformen und sein Äußeres. Auf den ersten Blick ist seine Erscheinung gewiß nicht sonderlich eindrucksvoll; und sein Äußeres läßt sich wohl schwerlich als gutaussehend bezeichnen, bis man den Ausdruck seiner so ungemein gutmütig dreinblickenden Augen und die Sanftheit seiner Gesichtszüge wahrnimmt. Ich kenne ihn aber mittlerweile so gut, daß ich ihn für wirklich gutaussehend halte, oder zumindest beinahe. Was sagst du nun dazu, Marianne?«
»Ich finde ihn gewiß bald gutaussehend, wenn ich es nicht jetzt schon tue, Elinor. Wenn du mir sagst, ich solle ihn wie einen Bruder lieben, werde ich sein Gesicht für ebenso makellos halten wie jetzt sein Herz.«
Elinor stutzte bei dieser Erklärung und bereute den Eifer, zu dem sie sich hatte hinreißen lassen, während sie von Edward sprach. Sie fühlte, daß er sehr hoch in ihrer Meinung stand. Sie hielt die Zuneigung für gegenseitig, aber sie mußte der Sache erst gewisser sein, um sich mit Mariannes Überzeugung von dieser Liebe anfreunden zu können. Sie wußte, was Marianne und ihre Mutter in einem Augenblick vermuteten, das glaubten sie im nächsten — Wünschen war für die beiden Hoffen — und Hoffen hieß Erwarten. So versuchte sie, ihrer Schwester den wahren Stand der Dinge zu erklären.
»Ich will gar nicht leugnen«, sagte sie, »daß ich eine sehr hohe Meinung von ihm habe — daß ich ihn außerordentlich schätze, ja, daß ich ihn mag.«
Hier platzte Marianne geradezu vor Empörung —
»Ihn schätzen! Ihn mögen! Kaltherzige Elinor! Ach, schlimmer noch als kaltherzig! die sich schämt, anders zu sein. Sag das noch einmal, und ich verlasse augenblicklich das Zimmer.«
Elinor mußte lachen. »Verzeih mir«, sagte sie, »und glaube mir, daß ich dich nicht ärgern wollte, als ich so zurückhaltend über meine Gefühle sprach. Halte sie ruhig für stärker, als ich zugegeben habe, kurz, halte sie für so stark, wie es seine Vorzüge und die Vermutung — die Hoffnung, daß er mich liebt, rechtfertigen mögen, ohne daß ich dabei unbedacht oder töricht wäre. Aber weiter darfst du in deiner Annahme nicht gehen. Ich bin mir seiner Zuneigung keineswegs sicher. Es gibt Augenblicke, in denen ich mich frage, wie groß sie eigentlich ist; und ehe er mir seine Gefühle nicht rückhaltlos offenbart hat, darfst du dich nicht wundern, wenn ich vermeiden möchte, meine eigene Zuneigung noch dadurch zu bestärken, daß ich sie für größer halte oder sie größer nenne, als sie tatsächlich ist. In meinem Herzen hege ich wenig — kaum einen Zweifel an seiner Freundschaft. Aber neben seiner Zuneigung gibt es noch andere Dinge zu bedenken. Er ist sehr weit davon entfernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Was für ein Mensch seine Mutter wirklich ist, können wir nicht wissen; aber nach dem, was Fanny gelegentlich über ihr Verhalten und ihre Ansichten äußerte, haben wir sie uns nicht gerade als besonders liebenswert vorzustellen; und ich müßte mich sehr irren, wenn Edward nicht selbst wüßte, daß ihm viele Schwierigkeiten in den Weg gelegt würden, wenn er eine Frau heiraten wollte, die weder über ein großes Vermögen noch über einen hohen Rang in der Gesellschaft verfügt.«
Marianne war erstaunt, als sie erkannte, wie weit sie und ihre Mutter in ihrer Phantasie die Wahrheit hinter sich gelassen hatten.
»Und du bist also wirklich nicht mit ihm verlobt!« sagte sie. »Doch das geschieht sicherlich bald. Allerdings wird diese Verzögerung zwei Vorteile mit sich bringen: Ich werde dich nicht so schnell verlieren, und Edward wird mehr Gelegenheit haben, jenen natürlichen Geschmack für deine Lieblingsbeschäftigung zu verfeinern, der für dein zukünftiges Glück gewiß unabdingbar notwendig ist. Oh, wie herrlich wäre es, wenn du ihn so inspirieren könntest, daß er selbst zeichnen lernte!«
Elinor hatte ihrer Schwester ihre ehrliche Meinung mitgeteilt. Sie konnte ihre Zuneigung zu Edward nicht in einem so günstigen Licht sehen, wie Marianne es getan hatte. Zuweilen legte er eine Mutlosigkeit an den Tag, die, wenn auch nicht gerade Gleichgültigkeit, so doch nicht viel mehr verhieß. Ein Zweifel an ihrer Zuneigung, angenommen er hegte ihn, würde ihn allenfalls in Unruhe versetzen, aber wohl kaum jene seelische Niedergeschlagenheit hervorrufen, die ihn so häufig heimsuchte. Ein plausiblerer Grund dafür mochte in seiner Abhängigkeit zu suchen sein, die ihn daran hinderte, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Wie sie wußte, verhielt sich seine Mutter ihm gegenüber so, daß er sich gegenwärtig weder zu Hause wohlfühlte noch die Gewißheit hatte, sich selbst einmal ein eigenes Heim schaffen zu können, wenn er ihren Vorstellungen von gesellschaftlichem Aufstieg nicht genau entsprach. Da sie das alles wußte, konnte Elinor unmöglich unbeschwert sein. Sie war weit davon entfernt, sich darauf zu verlassen, daß seine Zuneigung zu dem Ergebnis führen würde, das ihre Mutter und ihre Schwester noch immer als sicher ansahen. Nein, je länger sie zusammen waren, desto zweifelhafter erschien ihr die Art seiner Zuneigung; und manchmal glaubte sie ein paar schmerzliche Minuten lang, daß er nur Freundschaft für sie empfand.
einzufangen