Wolfgang Schreyer
Unternehmen Thunderstorm, Band 2
Roman
ISBN 978-3-86394-737-8 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1954 beim Verlag Das Neue Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
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Im Königssaal der Burg zu Krakau tagten der Kriegswirtschaftsstab und der Verteidigungsausschuss des Generalgouvernements unter Vorsitz des Reichsministers Dr. Hans Frank in kombinierter Sitzung. Um den riesigen ovalen Tisch waren versammelt: Staatssekretär Dr. Bühler, Pressechef Gassner, Oberstarbeitsführer Hinkel, Oberstleutnant v. Dazur, Freiherr von der Goltz, Freiherr von Medem, Amtsleiter Gutbrod, Direktor Dr. Coblitz, Gouverneur Dr. Wendler, Hauptbannführer Förschle, Erster Staatsanwalt Dr. Meidinger, Präsident Ohlenbusch, Generalleutnant d. Pol. Becker, Gouverneur Kundt, Bankdirigent Dr. Paersch, Ministerialrat Plodek, Senatsrat Dr. Blauert, SS-Brigadeführer Dr. Schöngarth, Baudirektor Schuhmache, Präsident Lauxmann, Kanzler Kloetzel, Regierungsdirektor Eichholz, Hauptabschnittsleiter Stahl, Dr. Theo Müsch und ein Dutzend weiterer Würdenträger aus Staat, Partei und Wirtschaft. Es war der 3. August 1944, neun Uhr abends.
"Über die militärische Lage jetzt", rief der Generalgouverneur gerade, "kann nur gesagt werden, dass auch hier alles nunmehr von dem möglichst starken in Erscheinung- und Inkampftreten neu herangeführter deutscher Kräfte allein noch abhängt. Nach Räumung des galizischen Ölgebiets stehen die Russen zwölf Kilometerwestlich von Reichshof und haben nördlich der Weichsel bereits eine Linie etwa fünfzehn Kilometer von Staschow erreicht." Dr. Frank strich sich über den plumpen, gedrungenen Schädel, der – besonders im Profil – an die Kopfform römischer Legionäre erinnerte. "Am nächsten Punkt", fügte er mit etwas brüchiger Stimme hinzu, "sind sie nur noch 118 Kilometer von Krakau entfernt."
Hinter ihm räusperte sich jemand. Er wandte sich um: Einer der Sekretäre... "Was gibt es?", flüsterte er unwirsch.
"Ein Ferngespräch aus Warschau, Herr Reichsminister; Gouverneur Dr. Fischer... Er versichert, es dränge... Denn in jeder Minute könnten die Aufständischen die Leitung zerschneiden!"
"Ich komme. – – Meine Herren, eine kleine Unterbrechung. Vielleicht ergreift inzwischen Generalleutnant Becker bereits das Wort zur allgemeinen Sicherheitslage."
Festen Schrittes verließ er den Saal.
"Hundertachtzehn Kilometer", wandte sich Bankdirigent Dr. Paersch an Müsch, "Herr Doktor, halten Sie das für möglich?"
"gewiss", erwiderte der IG-Direktor, "wenn eine Panzerspitze durchbricht, kann sie in zwei, drei Stunden hier sein."
"Herr Doktor", sagte Paersch gedämpft, "ich muss morgen Nachmittag an einer Sitzung des Reichsbankpräsidiums teilnehmen und möchte gern dazwischen noch ein paar Stunden schlafen. Würden Sie die Liebenswürdigkeit besitzen, mich zu entschuldigen, falls Frank nach mir fragt?"
Der Generalgouverneur griff nach dem Hörer.
"Wie steht es, Fischer?"
"Wir halten aus, Herr Reichsminister! Ich habe General Stahel bei mir, den Verteidiger von Wilna. Stahel ist mein Kampfkommandant. Das Regierungsviertel befindet sich noch fest in unserer Hand. Auch das Polizeiviertel im Süden der Stadt und der Hauptbahnhof, der allerdings schwer bedroht ist."
"Was heißt das, Sie halten aus? Ich will wissen, bis wann Sie den Aufruhr niedergeschlagen haben, Fischer!"
"Das ist, offen gesagt, aus eigener Kraft nicht mehr möglich, Herr Reichsminister", quäkte die Stimme in der Membrane. "General Stahel schätzt die Feindstärke auf mindestens eine Brigade. Es handelt sich um Banden, die für Straßenkämpfe gut organisiert sind! Unsere Verluste allein im Regierungsviertel belaufen sich bereits auf sechshundert Mann, und die Zahl der vermissten im ganzen Stadtgebiet wird auf über siebentausend geschätzt!"
"Ist denn die Hilfe von außen noch nicht wirksam geworden?"
"Nein, davon spüren wir nichts. Wir sind hier im Stadtzentrum eingeschlossen, und General Stahel ist in seiner Kampfführung sehr behindert. Verbindung besteht nur noch durch Telefon, Funk und durch unsere Panzer, die sich immer wieder sehr tapfer von einem Stützpunkt zum anderen durchschlagen. Der Adolf-Hitler-Platz vor meinem Fenster liegt unter Beschuss und ist nicht mehr passierbar. Die Aufständischen haben vorhin das Rathaus gestürmt. Auch die Ruinen des Opernhauses sind in ihrer Hand, wodurch sich der Ring verengt hat..."
"Hören Sie, Fischer! Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Der Reichsführer SS hat sich persönlich nach Posen begeben, um dort weitere Kräfte für den Kampf um Warschau zu mobilisieren. Der Chef der Bandenkampfverbände, Bach-Zelewski, muss inzwischen bereits am Stadtrand eingetroffen sein; bei ihm liegt nun der Oberbefehl im Raum Warschau. Auch die Luftwaffe wird Sie entsprechend unterstützen."
"Wir können uns noch drei bis vier Tage halten, erklärt mir Stahel. Herr Reichsminister, ich werde mit Ihrer Erlaubnis meinen Dienstsitz vorübergehend verlassen, um mit Bach-Zelewski Verbindung aufzunehmen. Von hier aus habe ich keinen Überblick über die Gesamtlage, geschweige denn über die Vorgänge im ganzen Distrikt."
"Das sehe ich ein, aber es darf nicht bei den Männern, die Sie zurücklassen, den Eindruck einer Flucht erwecken!"
"Es ist eine für jeden begreifliche Notwendigkeit, denn die Aufständischen brauchen nur das Telegrafenamt zu besetzen – die Hauptpost konnten sie schon nehmen – und ich bin als Distriktchef restlos ausgeschaltet. Die Funkverbindung versagt häufig."
"Also gut, Fischer, brechen Sie aus. Viel Erfolg dabei."
"Verbindlichen Dank, Herr Reichsminister!"
Unmittelbar vor dem von SD-Männern bewachten Eingang des Königssaales stieß Dr. Frank mit einem offenbar zu spät kommenden Tagungsteilnehmer zusammen. Das Gesicht erschien ihm bekannt.
"Botschaftsrat Dr. Schumburg", stellte sich der Ankömmling vor. "Herr Reichsminister, darf ich Sie um eine kurze Unterredung bitten?"
"Gehen wir hier hinein", sagte Frank (sie betraten ein Nebengelass). "Was bringen Sie?"
"Ich habe im Auftrage des Auswärtigen Amtes eine vertrauliche Botschaft zu übermitteln", erklärte der Diplomat. "Darf ich zuvor fragen, wie sich die Lage in Warschau entwickelt?"
"Einstweilen nicht zum Guten", entgegnete der Generalgouverneur dumpf, "der Aufruhr greift um sich. Man wird die Häuser niederbrennen lassen, um den Aufständischen die Schlupfwinkel zu entziehen. Gemäß einem Führerbefehl sollen keine Gefangenen gemacht und die Stadt systematisch in Trümmer gelegt werden. Aber selbst dazu fehlen zur Zeit noch die Mittel."
"Gerade von solchen Schritten", flüsterte Dr. Schumburg, "rät das Auswärtige Amt dringend ab. Es besteht zurzeit die Aussicht, über einen Mittelsmann in Bukarest Verbindung mit der polnischen Regierung in London aufzunehmen. Den Polen kommt es jetzt darauf an, ihre Hauptstadt zu retten. Wenn Warschau ein Trümmerhaufen ist, verliert die polnische Nation ihr Zentrum. Deutschland hat nicht mehr viel Aktivum an fremdvölkischem Besitz! Warschau ist ein wichtiges Faustpfand, gegen das wir im internationalen Maßstab einiges einhandeln können, Herr Reichsminister."
"Sagen Sie das einmal Herrn Himmler!"
"Ich war der Meinung..."
"Und wie steht Ihr Chef zu dieser Frage?"
"Reichsaußenminister von Ribbentrop hofft, Mikolajczyk würde in Moskau begreifen, dass nur noch Deutschland seine Nation vor dem Bolschewismus zu retten vermag. Ein großzügiges Kapitulationsangebot an General Bor hält der Reichsaußenminister für eine in diesem Sinne wirksame Geste."
Dr. Frank überlegte.
Das klang vernünftig, aber wahrscheinlich wollten sie ihm eine Falle stellen.
Erst kürzlich war ihm eine vertrauliche Nachricht zugegangen, der zufolge Himmler ihn, Frank, einen Vaterlandsverräter genannt habe, der mit den Polen unter einer Decke stecke und den er demnächst bei Hitler zu Fall bringen werde. Hatte der Reichsführer SS sich mit Leuten vom Auswärtigen Amt verbunden, um dieses Ziel jetzt zu erreichen?
"Über die Richtung der Polenpolitik, Herr Botschaftsrat", versetzte er eisig, "entscheidet allein der Führer. Wie Sie wissen, befolge ich – besonders seit dem Zurückweichen unseres Ostheeres – gegenüber dem Polentum die Linie einer völlig gerechten Behandlung, einer gewissen Vermenschlichung und Vereuropäisierung; infolge der Starrköpfigkeit meiner unteren Instanzen hat sich das leider kaum ausgewirkt. Es existieren bei uns starke Kräfte, die an der alten Ausrottungs-, Zerstörungs- und Degradierungspolitik mit aller Gewalt festhalten wollen, obgleich sich jeder denkende Mensch sagen muss, dass wir jetzt endlich zu einer inneren aufflammenden europäischen Verbundenheit und Verantwortung kommen müssen. Ich tue, was ich kann. Aber bestimmte Starrköpfe hindern mich."
Er wandte sich zum Gehen; doch Dr. Schumburg lief neben ihm her. "Eben deshalb, Herr Reichsminister", murmelte er beschwörend, "ist es notwendig, dass die Herren, welche gemäßigte Ansichten vertreten, sich zusammenschließen! Im Auswärtigen Amt teilt man Ihre Auffassungen voll und ganz! Man ist dort der Meinung, der Warschauer Aufstand sei das Resultat eines gewissen Volkszornes und er wäre nie ausgebrochen, wenn man Ihnen, Herr Reichsminister, freie Hand gelassen hätte... Ihre Politik der Rechtsstaatlichkeit und der leichten Hand... Ihre Konzeptionen stellen den einzigen im europäischen Rahmen noch gangbaren Weg dar..."
Der Generalgouverneur beschleunigte seinen Schritt. Sein Misstrauen gegen diesen Menschen wuchs. Er schien ihm den Fallstrick zu verkörpern, den Himmler – vielleicht auch wieder Bormann oder Lammers – gegen ihn spannen wollten; dennoch war er dessen nicht gewiss.
Im Türrahmen blieb er kurz stehen und sagte abweisend: "Ich kann Ihnen nur wiederholen, veranlassen Sie Ihren Chef, das dem Führer vorzutragen. Ich habe auf die Kampfhandlungen in Warschau keinen direkten Einfluss. Ich bezweifle auch, dass sich Bach-Zelewski davon abbringen lässt, den Aufstand mit allen Machtmitteln niederzuwerfen. Er wird einen militärischen Erfolg anstreben, den wir – nebenbei bemerkt – nach innen genauso dringend brauchen, wie uns das unzerstörte Warschau nach außen hin von Nutzen wäre."
"Was wird aus unseren Werken und Gruben?", äußerte nun Kommerzienrat Dr. Sohnrey, Wehrwirtschaftsführer und Vertreter des Giesche-Konzerns. "Der Russe rückt näher, und im ganzen Hinterland brodelt es; sogar bei uns in Oberschlesien. Für das Generalgouvernement hat Becker ja eben eingestanden, dass die Sicherheitsorgane nicht mehr völlig die Lage beherrschen."
"Die Ausrüstungen rechtzeitig evakuieren", empfahl Dr. Müsch leise, "und im Reich bombensicher einlagern,"
"Na, das sagen Sie so. Wenn ich die Produktion drossele, kommt mir die Gestapo ins Haus."
"Es gibt schon Wege", versicherte Müsch, an seinem Bärtchen fingernd. "Übrigens, ein kleiner Tipp: Sicher sind diese Dinge auch im Reich nur westlich der Elbe und des Thüringer Waldes."
Dr. Sohnrey nickte trübe.
"Es war ein schönes Land, dieses Polen", bemerkte er, "das Volk – recht anspruchslos und einigermaßen arbeitsam. Die Werke – verwahrlost, aber man konnte etwas daraus machen. Ein schönes Land; in jeder Beziehung."
"Ein schönes Land", bestätigte Dr. Müsch. "Kohle, Eisen, Erdöl, Zink, Phosphate, Blei; ein warenhungriger Markt, wie in jedem unterentwickelten Gebiet. Viel zu schön, um es jemals endgültig zu verlassen."
"Und doch", flüsterte Sohnrey, nachdem er sich flüchtig umgesehen, "nun ist's wohl bald soweit."
"Es sieht so aus, allerdings, es sieht so aus", sagte Dr. Müsch. "Doch verlassen Sie sich darauf: man mag uns politisch und militärisch zwingen zu gehen; wirtschaftlich werden wir wiederkommen..." (er ließ sein Bärtchen durch die Finger rinnen) "eines Tages..."
"Meinen Sie wirklich, Herr Doktor?"
"Aber gewiss, Herr Kommerzienrat! Denken Sie daran – wie war es denn nach dem letzten Kriege...?"
In diesem Augenblick kehrte Dr. Frank zurück, und ihre Unterhaltung fand ein Ende.
In der Nacht vom fünften zum sechsten August drangen Stoßtrupps der Aufständischen bis zur Rennbahn Neu-Immelin im äußersten Süden Warschaus vor. Der Rennplatz, Endstation der Straßenbahnlinie 19, diente mit seinen Stallungen der 9. deutschen Armee als Lager für Winterausrüstung und Proviant. Zusammen mit den Häuserblocks ringsum und einer benachbarten alten Zarenfestung, die als Pferdelazarett benutzt wurde, galt er als sicherer Stützpunkt; die Woge des Aufstands brach sich an vorgeschobenen Posten und zerrann, bevor sie ihn erreichte. Er lag an der großen Straße nach Warka; die dort kämpfenden deutschen Verbände wurden von hier aus versorgt. Achthundert Meter westlich davon, zwischen dem Flughafen Okecie und dem Arbeiterviertel Sluzewiez waren Eisenbahngeschütze (Es waren die gleichen 65-cm-Eisenbahngeschütze, mit denen die Faschisten im Frühjahr 1942 die Festung Sewastopol zertrommelt hatten.) auf einem Nebengleis der Radomer Strecke in Stellung gegangen. Schwarz starrten die Schlünde der Kanonenrohre, die ein Mann bequem zu durchkriechen vermochte, hinauf zum sternenübersäten Himmel. Sie hatten noch keine der mehr als dreißig Zentner schweren Granaten in die unglückliche Stadt geschleudert. Unheil verkündend gähnten ihre Mäuler.
Zu dieser Zeit fielen im Stadtgebiet nur vereinzelt dünne Schüsse. Die Untergrundarmeen hatten große Teile Warschaus erobert und alle Straßen, die sie beherrschten, durch starke Barrikaden (Die Barrikaden sperrten die ganze Breite der Straße und erreichten mindestens die Höhe des ersten Stocks; an der Seite wurde meist ein kleiner, notfalls schnell verschließbarer Durchgang gelassen.) gesichert. Die Faschisten begriffen, dass ihnen eine militärische Macht gegenüberstand, und schickten sich an, einen regelrechten Feldzug zu führen. In ihrer Hand waren die Weichselbrücken, der Danziger Bahnhof (auf dem ein Panzerzug unter Dampf stand), das Justizministerium, die Direktion der Wasserwerke, die Haberbusch-Brauerei, der Sächsische Garten mit den Regierungspalästen, das Hotel Bristol, das Post-Hochhaus, die Universität, der Dreikreuzplatz, das SD-Hauptquartier in der Schuch-Allee (Die Schuch-Allee, polnisch "Aleja Szucha", trägt den Namen des königlichen Baumeisters und Gartenarchitekten Johann Christian Schuch, der 1773 aus Dresden nach Warschau kam. Er legte Warschaus schönsten Garten an, den Lazienki-Park, und schuf für den Fürsten Lubomirski den Landschaftsgarten 'Mon Coteau' (heute Mokotów). 1939 wurde die Schuch-Allee für die Warschauer Bevölkerung Inbegriff des Naziterrors und der Gestapo, die dort ihr Hauptquartier bezog. Gouverneur Dr. Fischer nannte sie um in "Straße der Polizei".) und einige Polizeikommissariate und Magazine. Sie versuchten, die Stützpunkte aus der Luft zu versorgen. Auch sie hatten Barrikaden errichtet und zogen allmählich rings um die Stadt Verstärkungen zusammen.
Ganz Warschau war ein einziger Kessel, in dem mehrere deutsche Igel saßen. Es hätte schwerer Waffen bedurft, um sie rasch zu zerschlagen. Jedes Haus, in dem sich die Deutschen verschanzten, wurde zur Festung, weil die Aufständischen keine Geschütze besaßen; mit Handgranaten und Kugeln ist es schwierig, Mauern zu zerschmettern. Die Munition ging zur Neige, es galt, Bestände des Feindes zu erbeuten. So gewöhnten sich die polnischen Kämpfer daran, die fehlende Artillerie durch Heldenmut zu ersetzen: unter schrecklichen Verlusten stürmten sie einen Stützpunkt nach dem anderen...
Den vordersten, fünf Mann starken Stoßtrupp führte Hauptmann Henryk (Henryk: Die Offiziere der Volksarmee trugen Decknamen, ebenso wie die Funktionäre der Arbeiterpartei (PPR), die im Widerstandskampf oft zugleich militärische Führer waren. So wurde Bierut "Genosse Tomasz" genannt.). Er starrte auf die grasbewachsene, von Stacheldraht übersponnene Böschung, hinter der ein Posten seine Runde machte, und dachte flüchtig an die letzte Meldung des Londoner Rundfunks. Er hatte sie nicht selbst gehört, aber die A. K. ließ Tausende von Flugblättern damit bedrucken, und eins davon war auch in seine Hand geraten. 'Der russische Gürtel um Warschau verengt sich', hieß es darin, 'Rokossowski trägt seinen Angriff von drei Seiten vor. Nach Ansicht Londoner Kreise wird Warschau langsam umzingelt...'
Worte, nichts als Worte! Kein einziger Sowjetsoldat, kein Kämpfer der 1. Polnischen Armee (Warschau wurde von der I. Polnischen Armee unter Führung von General Poplawski befreit. Diese Armee war fünf Divisionen stark und operierte im Verband der 1. Belorussischen Front, welche zu diesem Zeitpunkt Marschall Shukow befehligte.) stand auf dem linken Weichselufer, außer bei Warka und bei Pulawy – fünfzig und hundert Kilometer von hier! Man log in London, um den A. K.-Leuten Mut zu machen oder um des eigenen schlechten Gewissens willen. In Praga brach der Aufstand schon zusammen. Dieses größte Arbeiterviertel Warschaus hatte Bor von vornherein den Faschisten in die Hände gespielt, als er keinen Versuch unternahm, die Brücken im Handstreich zu erobern. Am 1. August wäre das gelungen, nun war es zu spät. Von allen Verbindungen mit dem linken Ufer abgeschnitten, wurden die proletarischen Widerstandsgruppen in Praga überwältigt. Ja, die Herren der A. K. wollten das Heft in der Hand behalten... Und dennoch: Aktionseinheit!...
Die Schritte des Postens verklangen.
"Hinlegen!", befahl Henryk flüsternd. Sie krochen geräuschlos vorwärts. Im blassen Mondlicht funkelte matt der Stacheldraht auf der Böschung. Seitab peitschte ein Schuss. Sie verharrten regungslos. Das galt nicht ihnen!
Der Hauptmann beschloss zu warten. Sie kauerten jetzt in einem flachen Graben unterhalb der Böschung. Die Deutschen hatten etwas gehört, sollten sie sich erst beruhigen. Er konnte warten – das war eine wichtige Kunst im Kriege. Die Armija Krajowa konnte es nicht. Vier Jahre lang, dachte er bitter, hatte sie mit ihrer Losung 'Gewehr bei Fuß' Verwirrung gestiftet und jede große Kampfaktion verhindert. Als es aber darauf ankam, zu warten, bis die Rote Armee die Zange gegen Warschau ansetzte, da schlug sie plötzlich los, unvermittelt, ohne Absprache... Und trotzdem: Aktionseinheit!
Henryk wusste, das Übergewicht lag bei der A. K.; in jeder Hinsicht: zahlenmäßig, ausrüstungsmäßig und organisatorisch; in ihren Reihen kämpften fast alle Offiziere der Vorkriegsarmee, soweit sie der Gefangennahme entgangen waren. Nein, nicht in jeder Hinsicht; die A. K.-Leute setzten sich genauso tapfer ein, doch ohne echtes Ziel. Eines Tages würden sie begreifen, dass sie jetzt dabei waren, sich das Ausbeuterpack selbst wieder in den Nacken zu setzen. Nur, wann würden sie das einsehen, wann? Er konnte und durfte es ihnen nicht erklären, heute nicht und morgen nicht, denn nun galt nur eine Losung: Tod den Faschisten.
Langsam, Zoll um Zoll, schob sich Henryk die Böschung hinauf. Während er scharf auf jedes leise Geräusch, auf jeden huschenden Schatten achtete, kreiste ein Teil seiner Gedanken noch immer um den Verrat der A. K. Es war ihm klar, weshalb in der Untergrundbewegung reaktionäre Generale den Ton angaben. Die polnische Bourgeoisie hatte in den zwanzig Jahren zwischen den Weltkriegen alle proletarischen Organisationen erbarmungslos vernichtet. Und als sie selbst von den deutschen Imperialisten vertrieben wurde, stützte sie sich auf ihre Auslandsverbindungen. Flugzeuge brachten aus England immer wieder Agenten, Offiziere, Propagandamaterial, amerikanische Dollars und Nachrichtenmittel. Geheime Landeplätze entstanden in den Wäldern... Zu einer Zeit, da die Rote Armee die eigenen Partisanen unmittelbar im Rücken der Deutschen versorgen musste, formierte die A. K. bereits bewaffnete Kader, die sie schonte, die sie niemals einsetzte, die aufgespart wurden für den einen großen Schlag, der gleich nach Ankunft Mikolajczyks in Moskau hier gefallen war. – Trotz alledem: gemeinsames Handeln!
Jetzt lag der erste Draht vor ihm, zerriss den Nachthimmel mit seinen Stacheln. Der Hauptmann wandte den Kopf.
"Die Schere", flüsterte er.
Stefan Gorski, der zweite Mann des Stoßtrupps, schob sich neben ihn. Er hatte, als er auf dem Grunde des Grabens lag, an andere Dinge gedacht. Die Nacht war still, da tauchten vergessene Bilder auf, Erinnerungen wurden wach. Wie ein Film zog es an seinen Augen vorbei, ein Film, der etwas zu schnell lief, denn hinter seinen Lidern pulsierte das Blut rascher als sonst...
Er sah sich an einem Winterabend vor jenem Haus an der Weichsel stehen, dicker Schnee war gefallen, ein Eiswind blies und trieb pulvrige Fahnen vor sich her. Durch den dünnen Mantel biss er sich, stieß ihm körnige Kristalle ins Gesicht, drang in Nase und Ohren... Aber Stefan spürte ihn kaum, immer wieder vergaß er, wie ihn fror. Er sah hinauf zu den Fenstern des ersten Stocks, aus einem sickerte durch den Spalt zwischen Verdunkelungsblende und Mauer gelbes Licht, er wusste: dort lag sie. Sonja war krank, sollte hohes Fieber haben, und er durfte nicht zu ihr hinauf, Malewski hatte es verboten. Es war ganz zwecklos zu klingeln; Malewski und auch Sonjas Mutter hätten ihn nicht eingelassen. So lief er draußen im Schnee auf und ab, um seinem Mädel nah zu sein – bis plötzlich die Tür knarrte und Irena herausschlüpfte! Heute noch ärgerte es ihn, dass er damals weggelaufen war. Sicher wollte sie etwas bestellen, und auch er hätte ihr einen Gruß auftragen können, doch als sie auf ihn zukam, erschien ihm auf einmal sein stundenlanges Herumstapfen nutzlos und töricht, er fürchtete, Irena würde den Mund verziehen und in helles Lachen ausbrechen... Richtige Angst hatte er davor, sie war doch noch ein Kind, sie pflegte Sonja sowieso komische Fragen zu stellen. "Nicht wahr", sollte sie sich ernsthaft erkundigt haben, "du und Stefan – ihr habt euch gern, ist das nun richtige Liebe?" Und dann war sie rot geworden, hatte laut herausgeprustet und gekichert – so jedenfalls erzählte es Sonja später. Nein, auslachen lassen wollte er sich von Sonjas kleiner Schwester nicht!
Klick – machte die Schere, die beiden Enden des durchgekniffenen Stacheldrahts schleiften über das Gras.
"Jetzt den", befahl Henryk.
Klick – –
Ein Maschinengewehr begann zu spucken.
Sonja! dachte der Junge, wenn mich jetzt so eine Kugel trifft, wirst du's vielleicht niemals erfahren! Nun lag er still, schien mit der Erde zu verschmelzen. Das deutsche MG hämmerte noch immer...
Er hatte sie während der letzten Woche in jeder freien Minute gesucht, hatte so viele Menschen nach ihr gefragt, dass ihm klar geworden war: hier im Südabschnitt konnte sie nicht sein. Einmal hatte er eine Meldung ins Stadtzentrum überbracht, war zwischen den Feuerstößen deutscher Maschinenpistolen über die Aleja Jerozolimska gesprungen, hatte sich durch Qualmwolken, niederbrechende Balken, glühende Trümmer gearbeitet (die Faschisten brannten gerade die Häuser im Abschnitt Marszalkowska/Nowy-Swiat nieder) und war, nachdem er die Nachricht übergeben, zum Weichselufer hinabgelaufen. Ja, ihr Haus stand noch. Sie hockten im Keller: Sonjas Mutter, die kleine Irena und dieser Malewski. Ein deutsches Kanonenboot kreuzte vor der Hafeneinfahrt und beschoss die Uferstraße, sie zuckten bei jedem Einschlag zusammen. Von Sonja wussten sie nichts.
Nur, dass Polizisten sie verhaften wollten, wenige Stunden bevor der Aufstand ausbrach; dass ein deutscher Offizier, der bei ihnen im Quartier lag, die Polizei hinausgeworfen hatte (dies erwähnte nur Irena – die anderen bestätigten es nicht); dass die Mutter ins Werk gelaufen war, um das Mädel zu warnen, es jedoch nicht angetroffen hatte. Bleich waren ihre Gesichter, von Furcht und Sorge verzerrt, die Mutter begann zu jammern, auch ihr Wladek sei fort, sie wisse nicht...
Stefan war bald wieder gegangen, er nahm den gleichen Weg durch die Ruinen wie damals im Winter, als er vor Irena weglief. Vieles hatte sich seitdem geändert, die Rollen waren vertauscht: sie dachten diesmal nicht daran, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen; seine Fragen erschienen ihnen ganz natürlich, für das Versprechen, Sonja zu suchen, waren sie ihm dankbar. Sie hatten sich alle verändert, besonders die kleine Irena: ihre samtbraunen Augen schimmerten feucht, sie achtete kaum auf das Heulen der Granaten draußen, ein sonderbarer Zug kindlicher Trauer lag um ihren Mund. Sie fragte – als sie ihn hinausgeleitete – danach, was die Aufständischen mit deutschen Soldaten machten, die in ihre Hände fielen. Man behandele sie wie Kriegsgefangene, sagte er; wenn sie ärztliche Hilfe brauchten, bekämen sie die, soweit das hier eben möglich sei. Ob sie geglaubt habe, polnische Widerstandskämpfer seien SS-Leute? – Da hatte sie heftig den Kopf geschüttelt, ein paar Mal geschluckt und ihm wortlos die Hand gedrückt...
Das Maschinengewehr war verstummt.
Stefan hob seine Arme... Klick – machte die Schere, der letzte Draht zersprang. Er schob sie sorgfältig in den Gürtel zurück, zog das Schnellfeuergewehr an sich heran. Erst gestern hatte er's bekommen, es stammte aus einer der sowjetischen Versorgungsbomben, die am Fallschirm über Mokotow niedergegangen waren... Ich bin ja selbst daran schuld, überlegte er zum tausendsten Male, warum hab' ich ihr nicht vertraut? Sie wusste nicht, wo sie uns finden konnte, wie mag sie umhergeirrt sein, und wo ist sie jetzt? – Eine Handbewegung des Hauptmanns löschte seine Gedanken aus.
"Kommt", zischte Henryk, "kommt!"
Der dritte Mann, Werner Huse, kroch durch die Gasse im Drahtgewirr. Über dem Rennplatz stieg eine Leuchtkugel auf, zwang ihn, in Deckung zu gehen; er schmiegte sich an den sandigen, trockenen Boden. Weißer Schein umflatterte ihn, er ängstigte sich nicht. Das Empfinden, nach vier langen Jahren endlich auf der richtigen Seite zu stehen, war stärker als die Furcht. Er dachte an die Granaten, die er bei Warka in die polnischen Soldaten hineingejagt hatte, unter den Augen des Batteriechefs. Nie würde er es fertig bringen, den anderen davon zu erzählen. Das war das Schlimmste, was der Klassenfeind mit seinem ausgeklügelten Machtapparat erreichen konnte: Arbeiter, die Bescheid wussten, zu zwingen, auf Genossen zu schießen. Aber das gelang ihnen nur einmal, bei ihm schafften sie es nicht wieder, und jetzt zahlte er dafür zurück. Er hatte bei der Volksarmee eine Anzahl deutscher Deserteure getroffen, die hatten es – manche davon lange vor ihm – genauso gemacht. Von denen sprach auch keiner davon, in was für Situationen ihn der Krieg gebracht; sah man aber, mit welcher Wut sie sich schlugen, dann wurde klar: sie hatten alle etwas gutzumachen.
Die Leuchtkugel sank und erlosch.
Jenseits des Drahtverhaus richtete sich sein Vordermann vorsichtig auf. Unter dem düsteren Holzgebälk der Rennbahntribünen pirschten sie sich weiter.
Werner schaute zurück: Ja, er folgte ihm!
Jürgen trug noch die Uniform der deutschen Flak, nur die Hoheitszeichen hatte er abgetrennt und dafür eine weiß-rote Binde mit den Buchstaben A. L. um den linken Ärmel des Waffenrocks geschlungen. Äußerlich unterschied ihn das kaum von seinen Kameraden: die Volksarmisten hatten ein Zeugamt erobert und zogen für ihre fadenscheinigen Zivilanzüge, die nichts mehr aushielten, gern die festen deutschen Uniformen und Stiefel über. Nur, den inneren Gegensatz überbrückte das nicht...
Er war Nazi-Soldat gewesen, einer der Betrogenen, wie Werner sagte. Er lief über, eigentlich nicht aus dieser Erkenntnis heraus, sondern weil sie ihn vors Kriegsgericht zerren wollten, und überhaupt, um Schluss zu machen. Wer gab ihm jetzt ein Recht, auf die anderen Betrogenen zu schießen? Es waren Menschen wie er selbst, und die Betrüger – selbst wenn es sie gab – die Betrüger traf er nicht!
Da stieß er mit dem Fuß gegen einen der hölzernen Pfeiler, die die Tribünen stützten, ein dumpfes Geräusch entstand, und ihm war, als pflanze es sich fort, als erbebten und dröhnten die Sitzreihen über ihm – er erschrak. Hinter ihm zischte jemand wütend, es war der Mensch, den er hasste, dieser gemeine Pole...
Wieder wurde ihm bewusst, was er riskierte. fassten sie ihn, blieb er verwundet liegen, dann erschossen sie ihn als Deserteur! Niemand hatte ihn gezwungen, an solchen Sachen teilzunehmen, es hatte ihm freigestanden, sich einfach gefangenzugeben. Aber dann wäre er allein gewesen, ohne Werner. Er fühlte sich so schon sehr einsam, abgeschnitten von der Heimat. Nie mehr würde ihm die Feldpost einen Brief von Renate bringen oder von Mutter...
Die ersten drei drangen in einen Schuppen ein. Jürgen und dem letzten Mann – Oberleutnant Bardini – wurde befohlen, zu sichern und den Rückweg offen zu halten. Bardini hatte sich einen Tag vor Ausbruch des Aufstands bei der Volksarmee gemeldet und den A.L.-Stab über Bors Absichten unterrichtet. Er bekannte dabei, dass er vor Jahresfrist aus der Volksgarde ausgeschieden sei, weil ihm die politischen Schulungen nicht gefielen: er wollte kämpfen und nicht diskutieren. Zu dieser Zeit gab es bei der Volksgarde nur wenige, oft altmodische Pistolen; die überlegene Ausrüstung der Armija Krajowa und ihre straffe militärische Organisation hatten Bardini beeindruckt. Dort, in der A. K., wurde selten politisiert, die These von den 'zwei Feinden' ging um, und damit war alles klar...
Nun, da er vor der Tür des deutschen Magazins im Anschlag lag, flatterten die Erinnerungen wie wirre Fetzen durch seinen Kopf. Erste Zweifel überkamen ihn damals, als er die Untätigkeit der Landesarmee erkannte und einsah, dass die schlechter bewaffneten Kommunisten energischer gegen die Deutschen kämpften. Später, in Broinitzkis Stab, hörte er gerüchtweise davon, dass die A. K. in Ostpolen angesichts des russischen Einmarschs Neutralitätsabkommen mit den Deutschen abzuschließen beginne. Das waren Schweinereien.
Sie hatten ihn in die Volksarmee aufgenommen, obgleich er erklärte, er sei kein Kommunist und wolle nur gegen die Okkupanten kämpfen; ob sie wohl hofften, ihn bekehren zu können? Zum Glück blieb ihnen dazu keine Zeit. Aber auch so passte ihm verschiedenes nicht: hier war er mit allerhand Gesindel zusammen, deutschen Deserteuren, und gerade jetzt lag so ein Lump neben ihm. Bardini horchte in die Dunkelheit hinein, doch zugleich ließ er kein Auge von dem anderen.
Jürgen verspürte Furcht, es war sein erster wirklicher Einsatz, denn bisher hatten sie ihn nur als Meldegänger benutzt; außerdem fühlte er, dass sein Nebenmann ihn beobachtete. Ihm fiel die gestrige Auseinandersetzung mit diesem Polen ein, der so gut Deutsch sprach und trotzdem einen gemeinen Hass auf die Deutschen hatte:
Bardini: "Sie sind Deutscher?"
Jürgen: "Ja..."
Bardini: "Weshalb sind Sie dann hier?"
Jürgen: "Das Regime... die Nazis... Ich habe begriffen, dass es Verbrecher sind."
Bardini: "Sie sahen ein, dass es Verbrecher sind?"
Jürgen, tonlos: "Ja..."
Bardini, verächtlich: "Weshalb versuchten Sie nicht lieber, ein paar von ihnen zu töten?"
Jürgen: "Aber..."
Bardini, unterbrechend: "Kein Deutscher wagt sich da heran. Auf euren Hitler wurden in all den Jahren nur zwei Anschläge gemacht, der erste war fingiert, der andere dilettantisch vorbereitet!"
Jürgen, sich wütend verteidigend: "Das dürfte verdammt schwierig sein!"
Bardini, höhnisch: "Schwierig? Natürlich! Einfacher ist es jedenfalls, überzulaufen und dann die ehemaligen Gefährten abzuknallen!"
Jürgen erstarrte vor Wut und Scham, als hätte man ihm ins Gesicht gespien. Diese Worte trafen ihn ins Herz, sie waren wie bohrende Finger in einer großen eiternden Wunde.
Bardini: "Kennen Sie den Unterschied zwischen Hochverrat und Landesverrat?"
Jürgen, gepresst: "Mein Vater ist Jurist."
Bardini: "Nun, also..."
Jürgen, außer sich: "Wollen Sie denn, dass ich wieder zurückgehe zu denen da drüben? Bitte, wenn Sie das wünschen, ich kann es ja tun!"
Bardini, schneidend: "Es wäre sehr bequem, nicht wahr? Bekämen Sie nicht für mutige Flucht aus der 'Gefangenschaft' noch eine Auszeichnung?"
Jürgen war, als sei dies eben erst gesagt worden, er besann sich auf jedes einzelne Wort. So also dachten sie über ihn, er hätte es wissen müssen! Aber der Offizier, der die erste Vernehmung anstellte, und auch der Hauptmann Henryk – die sprachen höflich und verständnisvoll mit ihm, wie konnte er da ahnen... Er war Kanonenfutter für sie, im Übrigen verachteten sie ihn. Mit Recht? Vielleicht – mit Recht.
Sie lagen schweigend nebeneinander, misstrauisch, hasserfüllt, und horchten. Nichts regte sich. Bardini überlegte, ob er den anderen warnen solle. Er verachtete Überläufer und traute ihnen einen doppelten Treuebruch zu; während der konspirativen Arbeit unter Lukowez hatte er solche Fälle kennen gelernt... In der Ferne pfiff eine Lokomotive, dann schepperten Waggons; unter den Tribünen tappten Schritte, wohl die des deutschen Postens...
Bardini, nach dem Posten spähend, flüsterte dicht an Jürgens Ohr: "Keine Dummheiten jetzt! Ich erschieße sonst zuerst Sie!"
Jürgen Faber schwieg. Seine Hände umklammerten den Karabiner, sie bebten in ohnmächtiger Wut. Es war wirklich nicht schwer, sich die Armbinde herunterzureißen und zu den eigenen Leuten zurückzulaufen. Dort erwartete ihn zwar das Kriegsgericht. Aber was erwartete ihn hier? "Versuchen Sie das doch!", zischte er schließlich zurück.
Die Schritte tappten näher. Zu sehen war nichts.
Bardini ballte die Faust; er bereute bitter, nicht gegen die Zusammensetzung des Stoßtrupps protestiert zu haben. "Nehmen Sie sich in Acht!", fauchte er...
Da erblickte er den Posten zwanzig Schritte vor sich, wie er unter den Tribünen hervortrat und auf den Schuppen zukam. Bardini wusste, sein Schuss würde die Deutschen alarmieren, er hätte versuchen müssen, diesen hier geräuschlos niederzumachen – aber wie konnte er das, mit einem Lump im Rücken? Kam es zum Handgemenge – was würde sein Begleiter, der selbst ein Deutscher war, tun?
Er hob die Pistole und gewahrte, dass auch sein Nachbar auf den Posten zielte. Kenne sich einer aus bei dem Gesindel! Er drückte ab.
Hauptmann Henryk ließ den schmalen Kegel seiner Taschenlampe über lange Regale gleiten: Pelzwesten, Schneemäntel, Skier, wattierte Jacken, Filzstiefel, Gesichtsschützer und Handschuhe; Dinge, die die Deutschen brauchten, um auch im Winter erfolgreich morden zu können.
"Keine Waffen", raunte Stefan enttäuscht.
Vor der Tür peitschte ein Schuss.
"Die Flaschen hinein, dann zurück!", befahl Henryk. Die Besatzung des Stützpunktes zu überwältigen, dazu waren die Stoßtrupps zu schwach, auch wäre es nicht möglich gewesen, diese schon jenseits der Stadtgrenze liegende Position zu behaupten.
Werner schleuderte zwei Brandflaschen gegen die eisernen Pfosten der Regale: Flammen zuckten auf, leckten gierig über die Stoffstapel, kletterten empor... Greller Feuerschein blendete ihn, er stolperte zum Ausgang.
Unter den Rennbahntribünen hetzten sie davon, auf die Gasse im Stacheldraht zu; Kugeln pfiffen hinter ihnen her.
Als sie sich durch Sluzewiez auf Mokotów zurückzogen, hörten sie einen vierfachen Knall: die Eisenbahnbatterie auf der Strecke nach Radom eröffnete Vergeltungsfeuer. Heulend schlugen die überschweren Granaten ein, jede zerstörte ein Gebäude bis auf die Grundmauern und machte zwei, drei Nachbarhäuser unbewohnbar. Die dünnen Ziegelmauern der Arbeitersiedlung zerrissen wie Papier, Pflastersteine, Erdbrocken und Sprengstücke fielen vom Himmel. Jäher Luftdruck ließ die Scheiben splittern, hob Türen aus, presste sich in heißen Wellen durch die Straßen, stieß wie mit Messern in die Ohren...
"Wegnehmen müssten wir denen die Kanonen", schrie Stefan in hilfloser Wut, "warum greifen wir die nicht an, Hauptmann?"
"In offenem Gelände? Mit unserer Bewaffnung, unserem bisschen Munition?"
"Verdammt, wäre nur etwas mehr Zeit gewesen, wir hätten an der Rennbahn auch Waffen gefunden..."
Hättet ihr das deutsche Gesindel zu Hause gelassen, dachte Bardini – ich hätte den Posten lautlos erledigt, und ihr würdet Zeit gehabt haben zu suchen!
"Geht schlafen", sagte Henryk, als sie in ihrem Quartier anlangten, "morgen wird ein schwerer Tag. Es heißt, dass die A.K. Wola räumen will; wir haben Befehl, dorthin zu gehen und die Verteidigung zu übernehmen."
Sie streckten sich auf den Strohsäcken aus.
Nur Stefan lag noch eine Weile wach. Er dachte, dass sie in einen neuen Abschnitt verlegt wurden und dass vielleicht, vielleicht...
Er schloss die Augen und malte sich das Wiedersehen aus. Er lächelte ein wenig, hob die Hand, strich mit dem Finger über die Narbe auf seiner linken Wange, wie sie es immer tat.
So schlief er ein.
Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski, General der Waffen-SS, Träger des Ritterkreuzes, Mitglied des Deutschen Reichstages, Chef der Bandenkampfverbände seit 1942 und gegenwärtig Sonderbeauftragter zur Niederwerfung des Warschauer Aufstands, hatte sieben Kilometer vor den Toren der Stadt in einem Gutshof sein Hauptquartier aufgeschlagen. Spanische Reiter, MG-Posten, Schützenlöcher und ein Tretminengürtel umgaben den Gebäudekomplex, der sich – auf einem kleinen Hügel gelegen – braungrau und wuchtig über das flache Land ringsum erhob. Eine auf Bataillonsstärke gebrachte Stabskompanie (ausgerüstet mit Granatwerfern, Schützenpanzerwagen und dem MG 42, verstärkt durch ein Sonderkommando besonders zuverlässiger Leute von der SS-Junkerschule Posen-Treskau) wachte über das Leben des Obergruppenführers und seiner Mitarbeiter. Diese im Hinblick auf außerhalb Warschaus streifende Partisanengruppen getroffenen Sicherheitsmaßregeln waren lückenlos. Bach-Zelewskis 'Stabskompanie', die nach Art solcher Einheiten die besten und modernsten Waffen bei sich aufzuhäufen pflegte, verfügte nahezu über die Feuerkraft eines Infanterieregiments. Von diesem Gesichtspunkt aus konnte er nichts bemängeln. Die Schutzvorkehrungen übertrafen sogar das seinerzeit in Weißrussland übliche Maß. Der Gutshof lag außerhalb der Reichweite polnischer Karabiner, und die Küche lieferte schmackhaftes Essen.
Dennoch lief von dem Bach mit gereizter Miene vor der großen Karte auf und ab. Es war Sonntag, der 6. August 1944, neun Uhr vormittags. Für zehn Uhr hatte er die Befehlshaber der ihm unterstellten Verbände – Dirlewanger, Reinefarth und Kaminski – sowie die Verbindungsoffiziere zum Heer und zur Luftwaffe zu einer Lagebesprechung befohlen. Schließlich – so ging es nicht mehr weiter. Keinesfalls durfte er das Vertrauen, welches der Führer in ihn gesetzt hatte, enttäuschen!
Sein Adjutant, Obersturmbannführer Wurm, trat ein. "Obergruppenführer", meldete er, "die 19. Panzerdivision hat uns einen Leutnant zur persönlichen Berichterstattung geschickt. Der Mann hat fünf Tage lang einen kleinen Stützpunkt in der Innenstadt gehalten und ist in letzter Minute herausgehauen worden. Offenbar soll er über die Lage im Stadtzentrum Vortrag halten."
"Bringen Sie ihn her!"
Der Adjutant trat ab und kehrte unmittelbar darauf mit einem langen, hageren Flak-Offizier zurück, der eine Nickelbrille trug. Er knallte die Hacken zusammen und schnarrte seine Meldung herunter.
"Na, mein Lieber", befahl Bach-Zelewski, "nun erzählen Sie mal der Reihe nach. Wo befanden Sie sich, als der Aufstand ausbrach?"
Leutnant Tolkemit geriet in eine gewisse Verlegenheit. Einerseits wollte er gegenüber einem so hohen Vorgesetzten unbedingt am Grundsatz strenger Wahrheitsliebe festhalten; zum anderen jedoch konnte er schlecht eingestehen, ein Bordell verteidigt zu haben. Um nicht offen zu lügen, antwortete er: "In einer, eh – Sanitätsdienststelle, zweihundert Schritte südlich der Universität, Obergruppenführer!"
Bach-Zelewski trat zur Karte und deutete auf einen Punkt zwischen dem ehemaligen Polnischen Theater und dem Konservatorium. "Etwa hier also?", schnarrte er.
"Jawohl, Obergruppenführer", versicherte Tolkemit beflissen. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Wenn der SS-General nun Warschau näher kannte?
"Los, erzählen Sie! Stehen Sie bequem!"
Der Leutnant lockerte weisungsgemäß die starre Grundstellung durch Vorschieben des linken Fußes und berichtete: "Als das Schießen begann, stellte ich fest, dass ich in der erwähnten Dienststelle der rangälteste Vorgesetzte war, und übernahm daraufhin kurzerhand den Befehl über die dort befindlichen zirka dreißig Unteroffiziere und Mannschaften. Wir verbarrikadierten die Tür und nahmen diejenigen der draußen herumlaufenden Zivilisten, die Waffen oder eine weiß-rote Armbinde trugen, unter Beschuss. Sie erwiderten schließlich das Feuer und konnten am folgenden Tag, weil die Munition meiner Leute zur Neige ging, einen Einbruch erzielen, insofern, als es ihnen gelang, das Erdgeschoss zu besetzen. Wir zogen uns Stockwerk um Stockwerk zurück. Ich gestattete den Männern, die Eiserne Ration zu verzehren. Da sich jedoch auch der Trinkwasservorrat erschöpfte, entschloss ich mich, die Stellung preiszugeben. Es bestand keinerlei Verbindung mehr, und ich erteilte den entsprechenden Befehl aus eigener Verantwortung. In der Nacht setzten wir uns über die Dächer auf die Universität ab, wo sich noch stärkere eigene Kräfte hielten. Dabei verlor ich vier Fünftel meiner Leute. Es ist uns aber – nach zuverlässigen Beobachtungen zu urteilen – gelungen, mindestens die doppelte Anzahl Feinde, respektive etwa fünfzig Verbrecher aus den Reihen des polnischen Gesindels, vorher außer Gefecht zu setzen!"
"Und Sie selbst, Leutnant", erkundigte sich von dem Bach, durch die exakte Schilderung dieser heroischen Tat freundlich gestimmt, "irgendwie – verletzt?"
"Nur belanglose Schrammen!", krähte Tolkemit stolz. Nun, da der Schauplatz seiner Geschichte gewechselt hatte und das anrüchige Haus nicht mehr erwähnt zu werden brauchte, erzählte er furchtlos weiter und entwarf ein anschauliches Bild der verzweifelten Situation der deutschen Igel im Stadtzentrum.
"Ich weiß, die Lage ist zur Zeit noch schwierig", erklärte Bach-Zelewski, "aber ich werde rasch Wandel schaffen."
Tolkemit erlaubte sich zu nicken. Er schaute tiefernst drein. Doch dies war verkehrt.
"Sie glauben das wohl nicht!", herrschte ihn von dem Bach an. "Setzen Sie mal keine so tragische Miene auf, Leutnant!"
"Jawohl, Obergruppenführer", sagte Tolkemit; sein Antlitz heiterte sich befehlsgemäß auf. Der hohe Vorgesetzte hatte schließlich recht: zum Durchhalten gehörten heutzutage Frischheit, frohe Laune und eine tüchtige Portion Optimismus.
"Seit wann sind Sie eigentlich Leutnant?"
"Seit dem 20. April 1941, Obergruppenführer."
"Weshalb wurden Sie in der Zwischenzeit nicht längst schon einmal befördert?"
"Obergruppenführer", erwiderte Tolkemit geschmeichelt, "wurde als Ausbildungsleiter für Flakschießlehre eingesetzt, und mein Regimentskommandeur wünschte wohl, dass es dabei bliebe. Als Oberleutnant hätte ich darum nachsuchen können, dass man mir eine Batterie gibt."
Stabsegoismus, urteilte Bach-Zelewski; er fühlte sich geneigt, diesem tapferen Offizier, der (im Unterschied zu vielen) trotz härtestem Fronteinsatz die zackige Haltung bewahrt hatte, irgendwelche Wohltaten zu erweisen. "Also, Sie übernehmen eine Kampfgruppe aus versprengten Flaksoldaten. Obersturmbannführer Wurm! Regeln Sie das! – Leutnant, für Ihre Beförderung werde ich mich einsetzen; leider gehören Sie einer anderen Waffengattung an, sonst würde ich das selbst machen. – Wurm! Setzen Sie den Mann mit auf die Liste für das EK I!"
"Jawohl, Obergruppenführer."
"Danke, Obergruppenführer!", schmetterte Tolkemit; er sah seine kühnsten Hoffnungen übertroffen. Oberleutnant würde er werden und das EK I bekommen, das Eiserne Kreuz, welches auch der Führer trug! Endlich ein Vorgesetzter, der erkennt, was wir wert sind! Der es würdigt! Für den Bruchteil einer Sekunde flüsterte ihm eine Stimme zu: Dein ganzes Glück rührt daher, dass du in den Puff gegangen bist, wenn auch dienstlich... Doch er gebot ihr Schweigen.
"Jetzt gefallen Sie mir bedeutend besser", verabschiedete ihn Bach-Zelewski. "Merken Sie sich: Niemals eine tragische Miene aufsetzen, mein Lieber!" Und bestrebt, ein menschlich-warmes Wort hinzuzufügen, schloss er: "Oder kennen Sie etwa nicht den alten Landsknechtsspruch: 'Ein fröhlicher Hauptmann schafft ein fröhliches Kriegsvolk'?"
"Doch, Obergruppenführer! Jawohl, Obergruppenführer!", entgegnete Tolkemit mit überschnappender Stimme, vollzog eine schneidige Kehrtwendung und entfernte sich.
"Der Gouverneur des Distrikts Warschau und sein Polizeichef", erinnerte Adjutant Wurm, "warten bereits seit einer Stunde!"
"Ich lasse bitten", brummte von dem Bach.
Dr. Ludwig Fischer und – einen halben Schritt hinter ihm – Dr. Hans von Sammern-Frankenegg traten ein.
"Nun, meine Herren", bemerkte der Obergruppenführer, während er ihnen die Hand reichte, "etwas ungemütlich geworden in Ihren Dienstwohnungen, was? Blaue Bohnen zwitschern, hm? Wollen Sie bei mir unterkriechen? Im Seitenflügel habe ich noch ein paar Zimmer frei."
Sammern-Frankeneggs Nasenspitze wurde weiß.
Dr. Fischer presste die Lippen zusammen.
"Sie äußern sich nicht zu meinem Vorschlag?", höhnte Bach-Zelewski weiter. Ihm begann die Sache Spaß zu machen; seine Laune, schon durch Tolkemit gehoben, besserte sich noch mehr. "Da Sie beide über akademische Bildung verfügen – Sie, mein lieber Oberführer, gehörten offensichtlich sogar einer schlagenden Verbindung an –" (Sammern-Frankeneggs Mund verzerrte sich), "da Sie also studierte Leute sind, kennen Sie sicherlich aus der englischen Geschichte den König Johann 'ohne Land'. Ich weiß nicht, wie das kommt, aber gerade jetzt fällt mir dieser König ein." Er blickte seinen Gästen erstaunt in die Augen, als wollte er fragen: Wisst ihr nicht, wie es kommt?
"Ich interessiere mich nicht für englische Geschichte", erklärte Dr. Fischer nachdrücklich, "sondern für die deutsche Gegenwart."
"John Lackland", gestattete sich Adjutant Wurm, der im Zivilberuf Historiker und Sippenforscher war, einzuwerfen, "John Lackland starb im Kloster."
Bach-Zelewski lächelte hinterhältig. "Es liegt mir natürlich gänzlich fern", beteuerte er, "irgendwelche Vergleiche zu ziehen."
"Das wäre in unseren Augen auch sinnlose Zeitvergeudung", würgte Sammern-Frankenegg heraus. Er durfte sich solchen Ton erlauben, denn obgleich er drei Dienstgrade unter von dem Bach stand, war dieser nicht eigentlich sein Vorgesetzter. Der Obergruppenführer gehörte der Waffen-SS an – er empfing seine Weisungen vom OKH oder von Hitler –, während Sammern-Frankenegg als SD- und Polizeiführer dem Distriktchef beigegeben war und einerseits dem Generalgouverneur Dr. Frank, andererseits dem Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Dr. Kaltenbrunner, unterstand; nur in der Person Heinrich Himmlers gab es für sie eine gemeinsame Spitze.