Mit Rabbiner Joel Berger durch das jüdische Jahr
Patmos Verlag
Vorwort
Bereschit
1. BUCH MOSE – GENESIS
Bereschit »Am Anfang« (1,1–6,8)
Noach »Noah« (6,9–11,32)
Lech Lecha »Gehe für dich« (12,1–17,27)
Wajera »Und es erschien« (18,1–22,24)
Chaje Sara »Das Leben Saras« (23,1–25,18)
Toledot »Geschlechter« (25,19–28,9)
Wajeze »Und er zog aus« (28,10–32,3)
Wajischlach »Und er schickte« (32,4–36,43)
Wajeschew »Und er wohnte« (37,1–40,23)
Mikez »Am Ende« (1. Buch Mose 41,1–44,17)
Wajigasch »Und er trat heran« (44,18–47,27)
Wajechi »Und er lebte« (47,28–50,26)
Sch’mot
2. BUCH MOSE – EXODUS
Sch’mot »Namen« (1,1–6,1)
Wa’era »Und ich erschien« (6,2–9,35)
Bo »Komm« (10,1–3,16)
Beschalach »Als er ziehen ließ« (13,17–17,16)
Jitro »Jitro« (18,1–20,23)
Mischpatim »Rechte« (21,1–24,18)
Teruma »Hebopfer« (25,1–27,19)
Tezawe »Du sollst befehlen« (27,20–30,10)
Ki Tissa »Wenn du erhebst« (30,11–34,35)
Wajakhel »Und Er versammelte« (35,1–38,20)
Pekude »Die Zählungen« (38,21–40,38)
Wajikra
3. BUCH MOSE – LEVITICUS
Wajikra »Und er rief« (1,1–5,26)
Zaw »Gebiete!« (6,1–8,36)
Schemini »Achter« (9,1–11,47)
Tasria »Sie empfängt« (12,1–13,59)
Mezora »Aussätziger« (14,1–15,33)
Achare Mot »Nach dem Tode« (16,1–18,30)
Kedoschim »Heilige« (19,1–20,27)
Emor »Sage« (21,1–24,23)
Behar »Auf dem Berge« (25,1–26,2)
Bechukotaj »In meinen Satzungen« (26,3–27,34)
Bemidbar
4. BUCH MOSE – NUMERI
Bemidbar »In der Wüste« (1,1–4,20)
Nasso »Erhebe« (4,21–7,89)
Beha’alotcha »Wenn du anzündest« (8,1–12,16)
Schelach Lecha »Schicke!« (13,1–15,41)
Korach »Korach« (16,1–18,32)
Chukkat »Satzung« (19,1–22,1)
Balak »Balak« (22,2–25,9)
Pinchas »Pinchas« (25,10–30,1)
Mattot »Stämme« (30,2–32,42)
Masse »Reisen« (33,1–36,13)
Dewarim
5. BUCH MOSE – DEUTERONOMIUM
Dewarim »Reden« (1,1–3,22)
Waetchanan »Und ich flehte« (3,23–7,11)
Ekew »Sofern« (7,12–11,25)
Re’eh »Siehe!« (11,26–16,17)
Schoftim »Richter« (16,18–21,9)
Ki Teze »Wenn du ziehst« (21,10–25,19)
Ki Tawo »Wenn du kommst« (26,1–29,8)
Nizzawim »Ihr steht« (29,9–30,20)
Wajelech »Und er ging« (31,1–31,30)
Ha’asinu »Höret!« (32,1–32,52)
Wesot Haberacha »Und dies ist der Segen« (33,1–34,12)
Die Feiertage
Purim
Pessach
Schawuot
Rosch Haschana
Jom Kippur
Chanukka
Sukkot
Glossar
Textnachweis
Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der Schocken-Verlag in Berlin zwei Bücher von Moritz Zobel über den »Sabbat« und »Das Jahr der Juden in Brauch und Liturgie«. Zielgruppe waren die jüdischen Deutschen, denen der Nationalsozialismus und die christlichen Deutschen ihre deutsche Nationalität abzusprechen begannen. Die im 19. Jahrhundert so hoffnungsfroh, vor allem von den jüdischen Deutschen, begonnene Assimilation endete jäh zunächst in antisemitischen Gesetzen, Verordnungen und Diskriminierungen und schließlich in Deportation und Ermordung. Aufgrund der hohen Identifikation der jüdischen Deutschen mit ihrer Heimat, die häufig mit einer Abwendung vom jüdischen Glauben verbunden war, verwundert es nicht, dass Zobel innerhalb des »deutschlesenden jüdischen Publikum(s)« … »den minder kundigen Leser mit den … Eigenheiten der jüdischen Feste und Fasttage … vertraut machen« wollte. Ja, er hoffte sogar, dass »nach einer trüben Episode der Selbstvergessenheit« … »ein junges jüdisches Geschlecht erstehen« werde, »dem warmherzige Empfänglichkeit und innere Aufgeschlossenheit für das geistige Erbgut der Väter eignet«.
Diese innere Aufgeschlossenheit der jüdischen Deutschen konnte sich in Deutschland nicht mehr entwickeln, dessen oberstes Ziel es bis 1945 ja war, »judenrein« zu sein. Nach dem Ende des Nationalsozialismus und des Deutschen Reiches waren auch die deutschen jüdischen Gemeinden zerstört und ihre Mitglieder vertrieben oder ermordet. Jüdisches Leben in Deutschland fand zunächst nur noch unter dem Schutz amerikanischer Gewehre statt – und dies nur für eine Übergangszeit, da die meist aus dem Osten stammenden Juden auswandern wollten.
Die Selbstverständlichkeit, mit der die jüdischen Feiertage und auch der wöchentliche Sabbat zum Alltag der Städte und Dörfer mit einer jüdischen Gemeinde gehörten, verschwand damit. Unkenntnis und Unwissenheit machten sich neben generellem Desinteresse an Glaubensfragen breit. Dazu kam eine aufgrund unserer Vergangenheit verständliche Unsicherheit, Fragen zu jüdischen Bräuchen zu stellen.
Um Unwissenheit und Unsicherheit zu überwinden, bedurfte es eines »Vermittlers«, eines Menschen, der die jüdischen Feste und Feiertage, das jüdische Jahr einprägsam, wortgewaltig und verständlich erklären konnte. Dieser »Vermittler« war und ist bis heute der württembergische Landesrabbiner i. R. Joel Berger. In zahlreichen Rundfunkbeiträgen hat er in den letzten Jahrzehnten vielen überwiegend christlichen Hörerinnen und Hörern das jüdische Jahr nahegebracht. Er hat die gemeinsamen Wurzeln von Judentum und Christentum ebenso betont wie ihre Unterschiede. Er hat die, vor allem seit der Öffnung im Osten, wieder sehr lebendigen jüdischen Gemeinden in Deutschland erneut ins Bewusstsein der christlichen Mehrheitsbevölkerung gerückt.
Nun ist das Radio ein sehr schnelllebiges Medium. Die Gedanken und Überlegungen von Joel Berger lohnen aber das Nachlesen und Nachdenken. Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg ist mit Joel Berger seit vielen Jahren überaus eng verbunden. Wir versuchen gemeinsam, an das jüdisch-deutsche Erbe in allen seinen Facetten zu erinnern, vor allem aber an der deutsch-jüdischen Zukunft zu arbeiten. Wichtig ist dabei vor allem das Wissen übereinander und voneinander, das Verständnis für die jeweiligen Eigenheiten, die zur Vielfalt unserer pluralistischen Gesellschaft beitragen. Aus einem Nebeneinander soll ein selbstverständliches Miteinander werden. Dazu möge dieses Buch beitragen.
Auf der Grundlage der über das Jahr verteilten Lesung der Tora, das heißt der fünf Bücher Mose, erzählt Joel Berger von jüdischem Glauben und Tradition. Gegliedert ist der Band nach den Lesungen des jüdischen liturgischen Jahres, das seit biblischer Zeit mit dem Monat Nissan, dem Monat der Erlösung, beginnt. Dr. Andreas Morgenstern hat im Haus der Geschichte Baden-Württemberg mit viel Engagement und Einfühlungsvermögen die Redaktion für diesen Band übernommen. Ihm sei an dieser Stelle herzlich für seine Arbeit gedankt.
Wir wünschen dem Buch viele interessierte und begeisterte Leserinnen und Leser.
Dr. Thomas Schnabel
Leiter des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg
1. BUCH MOSE – GENESIS
An diesem Sabbat beginnen wir in unseren Synagogen aufs Neue mit der Vorlesung der Heiligen Schrift vom »Anfang«, von der Genesis an. Die einmalige Geschichte der Schöpfung beginnt mit einer Unterscheidung. G-tt sprach: »Es werde hell, und es ward hell … Da schied G-tt zwischen der Helle und dem Dunkel« (1. Buch Mose 1,3). »Er nannte die Helle Tag, das Dunkel aber nannte er Nacht« (1. Buch Mose 1,4).
Dieser Akt der Schöpfung ist bis heute eine der wesentlichsten Lehren des Judeseins. Wandelnd auf den Spuren des Schöpfers, lernen wir ständig zu unterscheiden: nicht nur den Tag von der Nacht, sondern auch die Wochentage vom Sabbat, also vom Ruhetag; zwischen Mensch und Tier, obwohl beide Geschöpfe des Herrn sind; zwischen Mann und Frau; zwischen Reinheit und Unreinheit; zwischen Gut und Böse und zwischen Leben und Tod.
Diese Lehre aus der Schöpfung zeigt dem Menschen seine Beschränkung in der prachtvollen Welt G-ttes auf. Sie lehrt ihn, die Welt nicht als sein grenzenloses Jagdrevier zu betrachten, das er hemmungslos ausnützen kann. Der lapidare Satz: »Machet euch die Erde untertan« trifft im hebräischen Original der Bibel in seiner Reinform nicht zu. Er bedeutet für uns: Nutzt vernünftig ihre Ressourcen.
In der Reihe der genannten »Unterscheidungen« ragt für den Juden diejenige zwischen dem Sabbat und den Arbeitstagen heraus. Der Schöpfungsbericht provoziert viele Menschen zum Widerspruch: Was ist das für ein G-tt, der diese Welt in sechs Tagen erschuf, um sich dann auszuruhen? Für den jüdischen Leser ist dieser Bericht ein Ansporn zum Nachahmen G-ttes, um seinen Lebens- und Arbeitsrhythmus zu regulieren – und um des Schöpfungswerks zu gedenken. Es ist ein Zeichen, und zwar das allererste, zur Notwendigkeit des Ruhetages. Dieser wird erst deshalb heilig, weil jeder Mensch, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, ein Anrecht auf ihn hat. Jüdische Gelehrte behaupten, dass die Idee des G-ttlichen Ruhetages das Schöpfungswerk G-ttes bezeugt. Der Midrasch, die jüdische Auslegung der Schrift, fragt nach dem Sinn des Abschlusses des G-ttlichen Schöpfungsberichts: »G-tt vollendete am siebenten Tag sein Werk« (1. Buch Mose 2,2). Wenn die Welt in sechs Tagen erschaffen wurde, was gab es noch an diesem Werk zu »vollenden«? Was fehlte noch in der Welt? Die Ruhe, die friedliche, ausgelassene Ruhe nach dem Werken und Wirken. Diese kam am siebten Tag. Damit wurde die Schöpfung abgeschlossen, »vollendet«. Diese Atmosphäre ruht auf den jüdischen Häusern bis heute, wenn wir den Sabbat feierlich begehen.
Der Titelheld unseres Toraabschnittes für diesen Sabbat ist nicht allein durch das Kommen der Sintflut bekannt, jenes altertümlichen Weltuntergangs. Mit ihm verbindet die Tora auch die Pflanzung eines Weinbergs: »Noah aber … pflanzte als Erster einen Weinberg. Und da er von dem Wein trank, ward er trunken und lag im Zelt aufgedeckt« (1. Buch Mose 9,20–21). Der Wein und der durch ihn verursachte Rausch werden an einer Stelle des Midrasch (Bereschit rabla 36,3) äußerst kritisch bewertet. Gemäß dieser Stelle der exegetischen Literatur habe Noah einen moralischen Niedergang eingeleitet. Er öffnete den Weg des Leichtsinns und des verantwortungslosen Handelns für viele Menschen. Dennoch verbietet die Tora keineswegs das Weintrinken.
Der Prophet Jesaja, ein sendungsbewusster Navi (Künder) der späteren Epoche, klagte gegen die Maßlosigkeit im Wein- und Alkoholkonsum: »Weh’ denen, die des Morgens früh auf sind, dem Bechern nachzugehen, und sitzen bis in die Nacht, dass sie der Wein erhitzt, und haben Harfen, Zithern, Pauken, Pfeifen und Wein in ihrem Gelage« (Jesaja 5,11). Die Sorgen des Propheten bezogen sich auf die Folgen solcher Handlungen: »… aber sehen nicht auf das Werk des Herrn und schauen nicht auf das Tun seiner Hände« (Jesaja 5,12).
Es ist nicht die Pflanzung des Weinbergs, was der Midrasch verurteilt. Hat doch G-tt selbst einen Garten mit allerlei Bäumen für den Menschen gepflanzt (1. Buch Mose 2,8). Ferner bildet eine der ersten Verpflichtungen (Mitzwot), die unsere Vorfahren nach dem Einzug in das Heilige Land erhielten, das Pflanzen von Bäumen (3. Buch Mose 19,23). Im Land fand man den Weinstock bereits vor und so wurde er weiter gepflegt. Im 5. Mose-Buch (Kap. 8, Vers 8) wird der Wein unter den sieben gesegneten Früchten des Landes neben anderen wie Weizen, Gerste und Feige aufgezählt.
Bis in unsere Zeit hinein werden die meisten religiösen Zeremonien mit dem Segensspruch über einem gefüllten Kelch mit Wein eingeleitet. Es kann also nicht der Akt des Pflanzens der Weinstöcke gewesen sein, der die Kritik unserer Weisen erregte. Wie der Prophet Jesaja wandten sie sich gegen die Folgen des unmäßigen Weingenusses, der, wie im Fall Noahs, zur Selbsterniedrigung und Demütigung vor seinen Kindern führte.
Nach einer Erzählung des Midrasch war Noah der erste Mensch, der vom Wein berauscht wurde. Der Grund dafür sei gewesen, so führt es die exegetische Literatur aus, dass Noach verzagt war, als er nach der Sintflut seine Arche wieder verlassen konnte. Er musste erkennen, dass er die Erde aufs Neue bebauen musste. So pflanzte er Weinberge und suchte im Saft der Reben Mut und Trost für diesen Neubeginn. Der Midrasch begründet in einer Allegorie die unterschiedlichen Stationen des Weinrauschs: Als Noah die Reben pflanzte, kam der Satan und erkundigte sich, was er denn tue. Auf die Antwort Noahs hin bot er an, sich an den umfangreichen Arbeiten an dem Weinberg zu beteiligen. Noah nahm seine Hilfe sehr gern an. Die Mitarbeit des Satans entwickelte sich eigenartig: Zuerst brachte er ein Lamm, das er schlachtete; dann trieb er einen Löwen an, den er auch tötete. Zum Schluss brachte er noch ein Borstenvieh und einen Affen an, die er auch erlegte. Mit dem Blut dieser vier Tiere begoss er die Weinstöcke gründlich, so der Midrasch. Damit wollte er listig und ohne Noahs Wissen die Menschen verderben. So ist man nach dem ersten Glas Wein noch sanftmütig und mild wie ein Lamm. Nach weiteren Gläsern wird man mutig und wild wie ein Löwe. Wenn man aber weitertrinkt, wirkt man häufig wie ein Ferkel, das sich im Schlamm wälzt. Und wenn man sich dann nicht enthalten kann, wird man zum Affen, der gedankenlos herumhüpft, zur Belustigung der anderen. Diese Allegorie nutzten mehrere Autoren der Weltliteratur für ihre Zwecke.
Katastrophen wie einst jene Flut werden heute auch durch den verantwortungslosen Umgang mit der Schöpfung heraufbeschworen. Wir hoffen, dass die heutigen Mahnungen zur Rettung der Umwelt eher wahrgenommen werden als die Aufforderungen zur Rettung der Menschen zu Noahs Zeiten. Diese Erzählung in der Tora schildert aber, wie der frühere Oberrabbiner von Florenz, Umberto Cassuto, schrieb, »die verschiedenen Stadien der G-ttlichen Gnade, die das Leben auf der Erde erneuern. Dann sehen wir eine zur Ruhe gekommene Welt und den Regenbogen, der sein Farbenspektrum durch die Wolken reflektiert und die Erde schmückt.«
»Und Gott sagte zu Noah: Das sei das Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe zwischen mir und allen Wesen auf Erden« (1. Buch Mose 9,17). Nach der Sintflut schloss demnach G-tt einen Bund mit allen Menschen. Als Zeichen dieses Bundes sehen wir bis heute den Regenbogen. Demgegenüber betrachten wir Juden als unser verbindliches Bundeszeichen mit unserem Schöpfer die Tefillin, die Gebetsriemen, die wir an den Wochentagen zum Morgengebet anlegen, den Sabbat als Ruhetag G-ttes und die Brit Mila, die Beschneidung, das unablegbare Zeichen des jüdischen Mannes. Samson Raphael Hirsch, ein Frankfurter Rabbiner des 19. Jahrhunderts, betonte, dass der Symbolgehalt des Regenbogens sich nach der Sintflut erneuerte.
Die Hoffnung bleibt. Um es mit den Worten Rabbi Cassutos auszudrücken: »Der Regenbogen soll das Zeichen der Sicherheit für das Leben und für den Frieden der kommenden Generationen sein.«
In der biblischen Lektüre für diesen Sabbat erscheint der erste Jude: Abraham. Gleichzeitig ist er der erste jüdische Neueinwanderer und Siedler im Heiligen Land. Das Wort seines G-ttes besagt: »Gehe aus deinem Lande fort – in das Land, das ich dir zeigen werde. Verlasse dein Geburtsland, dein Vaterhaus, und ziehe in die Fremde, in das Unbekannte« (1. Buch Mose 12,1).
Die jüdischen Bibelkommentatoren sahen in dieser Aufforderung eine harte Probe für Abraham. Ihm wurde befohlen, jegliche Bindungen zu lösen, die seine Mission hätten behindern können. Im letzten Jahrhundert, dem Jahrhundert der Emigranten, zeigten wir für den Erzvater der Juden vielleicht noch mehr Verständnis als in früheren Zeiten. Diese Emigranten und Vertriebenen erreichten nicht selten die rettenden Ufer, wenn sie auch häufig alles, was sie mit ihrer Heimat verband, zurücklassen mussten. Dies erbrachte ihnen oft Wohlergehen und Frieden nach der Verfolgung.
Nicht so Abraham. Er verließ das damals führende Land der antiken Zivilisation – Babylonien – »nur« auf G-ttes Geheiß. Babylonien war ein Reich mit weitreichendem Handel, hochentwickelter Kultur und Gesellschaft. Und jenes Land Kanaan, wohin er zog, war dünn besiedelt. Seine Einwohner waren einfache, geizige und gierige Hirten, die oft auch gewalttätig wurden. Auf das Schicksal Abrahams blickend, zitieren Juden häufig aus der rabbinischen Literatur: »Ma’asse Awot Siman lebanim.« Das heißt, die Erlebnisse der Ahnen verfolgen die Nachfahren und wiederholen sich auch des Öfteren in ihrem Leben. So also auch die Wanderungen in der klassischen wie auch modernen Geschichte Israels …
Abraham und seine Frau Sara durchlebten nach der G-ttlichen Botschaft weitere harte Proben: Hungersnot trieb sie für eine Weile nach Ägypten, wo Sara sogar eine kurze Zeit im Harem des Pharao verbringen musste. Abraham hatte Angst, dass man ihn wegen seiner Frau aus dem Weg räumen könnte. Daher bezeichnete er sich selbst als ihr Bruder und nicht als ihr Gatte. Der Herrscher erfuhr jedoch, dass es sich bei Sara um eine verheiratete Frau handelte. Wütend macht er Abraham Vorwürfe. Er fühlte sich betrogen: »Was hast du mir angetan?«, fragte er, gekränkt in seiner Ehre. Vermutlich galt es als besonders gemeiner Betrug, wenn man dem herrschaftlichen Harem keine Jungfrauen zuführte. Der Pharao drückt sich daraufhin sehr deutlich aus: »Nimm deine Frau und verschwinde.« So endete Abrahams »Asylsuche« in Ägypten. Ein Ort der Sicherheit war bereits für den ersten Juden nicht leicht zu finden.
Die Erzählung über Abraham birgt in diesem Wochenabschnitt aus der Tora gleich zwei dramatische Höhepunkte: zunächst die Versuchung Abrahams durch G-tt, der ihm befiehlt, seinen geliebten Sohn Isaak auf dem Altar zu opfern. Vater und Sohn fügen sich ohne Weigerung dem Wort G-ttes. Im entscheidenden Augenblick jedoch verhindert der Ewige diese Handlung: »Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du G-tt fürchtest und hast deinen einzigen Sohn nicht verschont um meinetwillen« (1. Buch Mose 22,12). Bei der Opfermütigkeit des Erzvaters lässt es der Herr bewenden. Daraus leiten wir Juden die Lehre ab, die eigentlich für alle abrahamitischen Religionen, also auch für Muslime und Christen, gelten sollte: dass niemand für seinen G-tt sein Leben opfern darf. G-tt reicht allein schon die Bereitschaft der Menschen, seinem Wort Folge zu leisten.
Der zweite Höhepunkt des Wochenabschnittes bildet der Einsatz Abrahams zugunsten der gewalttätigen, verbrecherischen Städte Sodom und Gomorrha, welche für ihre Verfehlungen dem Untergang geweiht waren. Eine Redensart hierzulande lautet: »Handelt wie ein Jude.« Wie »handelte« Abraham, der erste Jude? Er sprach zu seinem Herrn: »Willst du denn den Schuldigen mit dem Unschuldigen umbringen?« (1. Buch Mose 18,23). Wir würden heute fragen: »Gibt es denn bei dir eine kollektive Schuld?« Abraham fragte: »Vielleicht sind dort noch 50 Gerechte. Willst du nicht um der 50 Gerechten Willen den Menschen in diesen Städten vergeben? Und wenn nicht 50, dann vielleicht 40, 30, 20 oder sogar nur zehn Gerechte? Der Richter der ganzen Welt, sollte nicht gerade er Gerechtigkeit üben?« (1. Buch Mose 18,24–33). Und der Herr, der G-tt Abrahams, wollte klein beigeben – aber es gab keine zehn Gerechte in Sodom.
So gedenken wir Abrahams Handeln auch, wenn wir in unseren Synagogen einen Gemeinschaftsg-ttesdienst erst dann beginnen, wenn mindestens zehn aufrecht Betende anwesend sind.
In der Tora beginnt die Wochenlektüre mit dem Bericht über den Tod Saras, der ersten jüdischen Frau. Abraham ist noch in Trauer. Dennoch verhandelt er mit den Hethitern über den Erwerb der Höhle Machpela als Beerdigungsstätte für seine Sippe.
Es mutet in der heutigen Zeit etwas ungewöhnlich an, wenn jemand nach dem schmerzlichen Verlust seiner Frau um den Preis der Grabstätte feilscht. Ein früher Moralist, Rabbenu Bachja, meinte zu dieser Bibelstelle: Obwohl unsere Vorfahren das Land der G-ttlichen Verheißung vornehmlich mit Gewalt in Besitz genommen haben, befinden sich dort dennoch drei besondere Orte, die allem Anschein nach wichtiger, wertvoller und bedeutender sind als andere. Diese wurden allesamt nach dem üblichen orientalischen Handel für Geld erworben. Die drei Orte sind: die Höhle Machpela bei Hebron aus dieser Erzählung, die Berge Gerisim und Ewal bei Sichem (heute: Nablus auf der »Westbank«, auf Hebräisch Schomron, besser bekannt als Samaria) und der Berg Morija (heute: der Tempelberg, der Ort des Heiligtums von Salomon und auch des Herodes, auf dem jetzt die Al-Aqsa- und die Omar-Moschee stehen).
Die Höhle Machpela bei Hebron erwarb Abraham für 400 Silberschekel. Nach dieser ersten »Immobilientransaktion« in der biblischen Geschichte sagt die Schrift: »So wurde Efrons Acker in Machpela östlich von Mamre Abraham zum Eigentum bestätigt, mit der Höhle darin und mit allen Bäumen auf dem Acker umher, vor den Augen der Hethiter und aller, die beim Tor seiner Stadt versammelt waren« (1. Buch Mose 23,17–18). Aus der genauen Beschreibung des Handels in der Tora erfahren wir, dass die Verhandlungen nicht im Geheimen, im Zelt des Fürsten stattfanden, sondern öffentlich vor den Stadttoren – vor den Augen und Ohren der Öffentlichkeit, an der Stelle, wo auch die sonstigen Gerichtsverhandlungen stattzufinden pflegten. Es wurde genau festgelegt, wer der Käufer und wer der Verkäufer, wie hoch die Kaufsumme war und in welchen »Devisen« sie entrichtet werden musste. Aus der Beschreibung wird die Ausdehnung, sogar die Zahl der Obstbäume feststellbar. So sollte niemand versuchen können, sich aus einer ungenauen Formulierung Vorteile zu verschaffen. Es gab keine notariell bestätigte Urkunde, jedoch bürgte die anwesende Öffentlichkeit des Ortes für die Richtigkeit und Dauerhaftigkeit solcher Handelsobjekte.
Der Enkel Abrahams, Jakob, erwarb den Ort Sichem. Die Schrift bemerkt zu diesem Handel: »Danach kam Jakob wohlbehalten zu der Stadt Sichem, die im Lande Kanaan liegt, nachdem er aus Mesopotamien gekommen war, und lagerte vor der Stadt und kaufte das Land, wo er sein Zelt aufgeschlagen hatte, von den Söhnen Hamors, des Vaters Sichems, um hundert Goldstücke« (1. Buch Mose 33,18). Der rabbinische Kommentator fügt noch hinzu, dass Jakob den vollen Preis ohne zu zögern entrichtete.
Den Berg Morija in Jerusalem erwarb David, der legendäre König Israels. An dieser Stelle erbaute sein Sohn, Salomon, nach dem Tod Davids das erste Heiligtum Israels. Über den Erwerb des Morija-Bergs lesen wir im Samuel-Buch der Bibel.
Unsere Ahnen wollten durch den Erwerb dieser Orte auch ihre Besitzrechte im Land der Verheißung stärken. Sie wollten ihren Anspruch auf diese Stätten unanfechtbar machen. Es sind drei besonders weihevolle Orte. Die Machpela, die Grabstätte der Ahnen, ist bis heute bedeutendes Ziel religiöser Pilgerfahrten. Die Berge Gerisim und Ewal sind Zeugen des G-ttlichen Bundes in der Natur des Heiligen Landes, da das Volk dort die Bundesverpflichtungen übernahm. Und schließlich ist der Tempel auf dem Berg Morija auch nach seiner Zerstörung geistiges Zentrum des jüdischen Kults und Sinnbild der nationalen Unabhängigkeit. Die einzige Stätte des Landes, dessen Heiligkeit unvergänglich ist. Dies muss sogar noch in der heutigen Zeit die staatliche israelische Fluggesellschaft beachten: Ihre Maschinen dürfen den Tempelberg nicht überfliegen.
In diesem Toraabschnitt wird auch über die Eheschließung Isaaks, Abrahams Sohn, berichtet. Der Diener Abrahams suchte im Auftrag seines Herrn die zukünftige Frau für Isaak aus. Die Frage ist berechtigt, warum dies für Abraham so wichtig war. Die Gelehrten meinten, dass bei dieser Ehe nicht nur das Fortbestehen der Familie Abrahams auf dem Spiel stand, sondern gleich die Zukunft des Glaubens an den einzigen G-tt, der mit Abraham seinen Anfang nahm. Daher sollte Isaak keine Frau aus den Götzen anbetenden Familien Kanaans nehmen. Und so wurde Rebekka mit ihrem Einverständnis Isaaks Frau. Sie bewies ihre »Eignung« durch ihre Hilfsbereitschaft, als sie am Brunnen ihrer Stadt dem ihr noch fremden Diener bereitwillig zur Seite stand, um seine Tiere zu tränken. Diese Handlung werteten die Rabbinen als Gemilut Chessed, als selbstlose, mitmenschliche Wohltat. Gemilut Chessed zu üben, ist eines der Grundgebote des Judeseins. Im talmudischen Traktat Awot lernen wir, dass die Welt auf drei Säulen ruht: auf der Tora, auf dem Dienst und der Arbeit für G-tt sowie auf jenen Wohltaten, die als Gemilut Chessed bezeichnet werden. Der Talmud betont zudem, dass es viel angesehener sei, diese Tugenden persönlich auszuüben, statt bloß Geld zu spenden. Letzteres kann unpersönlich oder sogar demütigend wirken.
Das deutsche Fernsehen verwöhnt seine Zuschauer mit aufwändigen Kochsendungen, in denen reichhaltige und äußerst geschmackvolle, oft raffinierte Speisen präsentiert werden. Viele Sterneköche begeistern das Publikum in den Studios wie auch vor den Bildschirmen. Augen- und Gaumenweide, welchen Kanal man auch einschaltet.
Wir Juden, seit den biblischen Zeiten zu Gastfreundschaft und Bewirtung der Gäste von Abraham angeregt, gelten eher als Künstler der einfachen, aber erfinderischen Küche. Folgende Anekdote aus der Welt der Chassidim unterstreicht das: Ein Rabbi besuchte seinen langjährigen Amtsbruder. Jener bat sofort seine Frau, dem verehrten Gast eine besondere Mahlzeit zuzubereiten. Die Frau war verzweifelt, da sie im Elend lebten und es im Haus nichts gab, außer ein wenig Mehl. Letztendlich konnte sie aber aus dem Mehl und Wasser doch noch etwas Essbares zubereiten und stellte die Speise auf den Tisch.
Heimgekehrt berichtete der Gast seiner Frau über die »himmlische Mahlzeit«, die ihm serviert worden war. Die Gattin war neugierig darauf, was ihrem Mann aufgetischt worden war. Auf ihre Anfrage gab die Gastgeberin beschämt zu, dass sie nichts im Hause gehabt hatte außer Mehl und Wasser und sie nur aus diesen kläglichen Zutaten etwas Essbares zusammengestellt hatte. Während der Zubereitung habe sie jedoch inbrünstig gebetet: »Herr der Welt, du weißt, dass ich die besten und aufwändigsten Speisen für unseren Gast kochen würde, damit ich dem Gebot der Bewirtung von Gästen entspreche. Du weißt auch, dass wir nichts im Haus haben. Du aber Herr, G-tt, vermagst alles. Ermögliche doch, dass die Speise, die ich nun koche, einen himmlischen Geschmack gewinne, damit der Gast sie gut finde und sich an ihr sättige.« »Es scheint«, fügte die Frau dankbar hinzu, »dass der Herr mein Gebet erhört hat.«
In den heutzutage oft bewunderten Kochsendungen sehen die Zuschauer die köstlichsten Zutaten in Hülle und Fülle. Vielleicht seufzen doch mehr Menschen als wir denken beim Anblick der reichen Vielfalt und stoßen aus vollem Herzen ein Bittgebet aus, dass es auch ihnen vergönnt sein möge, die erblickten Leckerbissen auf ihrem eigenen Tisch zu sehen.
Die Erzählung der Tora folgt Jakob, dem Erzvater, auf seiner Flucht vor dem Zorn seines Bruders Esau. Zuvor hatte Jakob anstelle des erstgeborenen Sohns, Esau, von Isaak den väterlichen Segen erhalten. Jakob nimmt den Weg von seinem Elternhaus in Kanaan nach Padan-Aram in Mesopotamien. Er glaubt, bei der Familie seiner Mutter Zuflucht zu finden.