Cover

Arthur C. Clarke
Frederik Pohl

DAS LETZTE THEOREM

Roman

DAS BUCH
Die nicht allzu ferne Zukunft: Die drei Supermächte der Erde – USA, Europa und China – sind dabei, ihre Einflusssphären zu arrondieren. Dazu haben sie die Eingreiftruppe Pax Per Fidem gegründet und sie mit der Superwaffe Stiller Donner ausgerüstet, mit der man ganze Länder mittels eines elektromagnetischen Impulses elektronisch blind und taub machen kann – von Waffensystemen über Computer bis hin zu Herzschrittmachern ist alles nur noch Schrott. Als Erstes trifft es Nordkorea, andere Länder folgen. Diese massiven Schläge jedoch bleiben nicht unbemerkt – denn die mächtigen elektronischen Echos der Impulse rollen durch die Galaxis. Die alte Rasse der »Großen Galaktiker« befürchtet, dass die neue junge Spezies den Frieden und das Gleichgewicht stören könnte, und beschließt eine Vernichtungsaktion gegen die Menschheit. Nur ein begnadeter Mathematiker namens Ranjit Subramanian, der in jungen Jahren das Rätsel von Fermats letztem Theorem löste, kann die Gefahr noch abwenden. Doch er weiß nichts davon …

DIE AUTOREN
Arthur C. Clarke war über Jahrzehnte einer der bedeutendsten Autoren der internationalen Science Fiction. Geboren 1917 in Minehead, Somerset, studierte er nach dem Zweiten Weltkrieg Physik und Mathematik am King’s College in London. Zugleich legte er mit seinen Kurzgeschichten und Romanen den Grundstein für eine beispiellose Schriftsteller-Laufbahn. Neben zahllosen Sachbüchern zählen zu seinen bedeutendsten Werken die Romane »Die letzte Generation« und »2001 – Odyssee im Weltraum«, nach dem Stanley Kubrick seinen legendären Film drehte. Clarke starb im März 2008 in seiner Wahlheimat Sri Lanka.
Frederik Pohl gilt als einer der Gründerväter der amerikanischen Science Fiction. Geboren 1919 in New York, gehörte er zu den SF-Herausgebern der ersten Stunde und machte schnell auch mit eigenen Storys und Romanen von sich reden, darunter den mit Cyril M. Kornbluth verfassten »Eine Handvoll Venus«. Sein bedeutendstes Werk ist die »Gateway-Trilogie«. Pohl lebt mit seiner Familie in Illinois.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Titel der englischen Originalausgabe

THE LAST THEOREM

Deutsche Übersetzung von Ingrid Herrmann-Nytko
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 2008 by The Estate of Arthur C. Clarke und Frederik Pohl
Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
 
ISBN 978-3-641-03765-9
V002
 
www.heyne-magische-bestseller.de

www.randomhouse.de

ERSTES VORWORT
Arthur C. Clarke erzählt:
 

Der Überfall auf Pearl Harbor lag noch in der Zukunft, und die Vereinigten Staaten von Amerika waren noch nicht in den Zweiten Weltkrieg verwickelt, als ein britisches Kriegsschiff in den Hafen von Nantucket einlief, an Bord ein Objekt, das man später »die wertvollste Fracht, die jemals die amerikanische Küste erreichte«, nannte. Der Gegenstand sah nicht einmal besonders beeindruckend aus, es handelte sich um einen ungefähr fünf Zoll hohen Metallzylinder, ausgestattet mit Verbindungselementen und Kühlrippen. Er ließ sich leicht in einer Hand tragen. Doch dieses kleine Ding trug wesentlich dazu bei, den Krieg in Europa und Asien zu gewinnen – obwohl erst die Atombombe die letzte der Achsenmächte in die Knie zwang.
Bei diesem kurz zuvor erfundenen Gerät handelte es sich um das Hohlraummagnetron.
Im Grunde war das Magnetron keine völlig neue Idee. Bereits seit geraumer Zeit wusste man, dass man durch ein starkes Magnetfeld Elektronen beschleunigen und somit Radiowellen erzeugen konnte. Doch dieser Umstand blieb so lange eine im Labor erzeugte Kuriosität, bis man feststellte, dass diese Radiowellen sich für militärische Zwecke nutzen ließen.
Und sowie man sie dann beim Militär einsetzte, bezeichnete man sie als Radar.
Als die amerikanischen Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology das erste Gerät erhielten, unterzogen sie es mannigfachen Tests. Zu ihrer Verblüffung stellten sie fest, dass der Energieausstoß des Magnetrons so groß war, dass keines ihrer Laborinstrumente ihn messen konnte. Wenig später sorgten die gigantischen Radarantennen, die man eilig längs des Ärmelkanals errichtete, dafür, dass die Briten frühzeitig die zahllosen Kampfflugzeuge der deutschen Luftwaffe entdeckten, wenn sie sich zu einem Angriff auf das Inselreich formierten. In der Tat verdankt die Royal Air Force es hauptsächlich dem Radar, dass sie die Luftschlacht um England gewinnen konnte.
Schon bald merkte man, dass man mithilfe von Radar nicht nur feindliche Flieger am Himmel aufspüren, sondern auch elektronische Karten des Bodens anfertigen konnte, den man mit dem Flugzeug überflog. Das bedeutete, dass sich die Oberflächenstruktur des Landes selbst bei totaler Dunkelheit oder von Wolken völlig bedecktem Himmel in erkennbarer Form auf einer Kathodenstrahlröhre darstellen ließ, was beim Navigieren half – und beim Abwurf von Bomben. Und kaum war das Magnetron beim MIT erhältlich, stellte sich ein Team, angeführt von dem künftigen Nobelpreisträger Luis Alvarez, die nächste Frage: »Könnte man das Radar nicht nur zum Abschuss von Flugzeugen nutzen, sondern auch, um sie sicher landen zu lassen?«
Das war der Anfang des GCA-Verfahrens oder GCA-Anflugs, eine Technik, die es erlaubt, ein Luftfahrzeug während seines Anflugs durch den Einsatz von Präzisionsradargeräten vom Boden aus so herunterzudirigieren, dass es bei schlechter Sicht und niedriger Wolkenuntergrenze in eine Position gelangte, von der aus die Landung erfolgen konnte.
Das experimentelle Mark-1-GCA-Anflugsystem bestand aus zwei separaten Radargeräten; eines funktionierte mit zehn Zentimetern, um die Entfernung, Richtung und Höhe des Flugzeugs zu erfassen, und das andere – das erste Drei-Zentimeter-Radargerät der Welt – maß die Höhe über Grund. Ein vor den beiden Bildschirmen sitzender Radarlotse konnte dann das Flugzeug herunterdirigieren, indem er dem Piloten sagte, wann er nach rechts oder links fliegen sollte – oder ihn manchmal mit der gebotenen Dringlichkeit anwies, Höhe zu gewinnen, aber schnell!
Das GCA-Verfahren fand begeisterten Zuspruch bei der Royal Air Force, die jeden Tag über Europa mehr Maschinen durch schlechte Wetterbedingungen als durch feindlichen Beschuss verlor. 1943 wurden die Mark 1 und ihre Bedienungsmannschaft auf einem Flugplatz in St. Eval, Cornwall, stationiert. Eine RAF-Crew unter Führung von Flight Lieutenant Lavington sollte zu ihnen stoßen. Lavingtons Assistent war der erst kürzlich bestallte Pilot Officer Arthur C. Clarke.
 

Eigentlich hätte Clarke überhaupt nicht in der Royal Air Force dienen sollen. Er war Zivilist und hatte als Beamter im Oberrechnungshof seiner Königlichen Majestät gearbeitet, ging also einer Beschäftigung nach, die ihn vom Militärdienst zurückstellte. Allerdings vermutete er – zu Recht, wie es sich herausstellen sollte -, dass man ihn in absehbarer Zeit einziehen würde, deshalb stahl er sich eines Tages aus seinem Büro und meldete sich bei der nächsten RAF-Rekrutierungsstelle als Freiwilliger. Er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. Ein paar Wochen später suchte die Armee nach ihm – einem Deserteur, der von der Sanitätstruppe angefordert wurde! Da er den Anblick von Blut nicht ertragen konnte – vor allen Dingen nicht, wenn es sich um sein eigenes handelte -, hatte er offensichtlich noch einmal schwer Glück gehabt.
Zu dieser Zeit war Arthur Clarke bereits von der Raumfahrt besessen; kurz nach ihrer Gründung im Jahr 1933 wurde er Mitglied der British Interplanetary Society. Und nun, als er sich vergegenwärtigte, dass er das stärkste Radarsystem der Welt kontrollierte, das Strahlen erzeugte, die nur den Bruchteil eines Grades maßen, richtete er das Radar eines Nachts auf den aufgehenden Mond und wartete, ob vielleicht nach drei Sekunden ein Echo zurückkäme.
Leider passierte nichts. Erst Jahre später glückte erstmals der Empfang eines Radarechos vom Mond.
Nichtsdestoweniger hätte gut und gern etwas anderes geschehen sein können, von dem zu diesem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte.

ZWEITES VORWORT
Frederik Pohl erzählt:
 

In meinem Leben gibt es zwei Dinge, die meiner Meinung nach in einer gewissen Beziehung zum Inhalt dieses Buches stehen, und ich denke, ich sollte sie an dieser Stelle anführen.
Erstens: Als ich Anfang dreißig war, hatte ich mich schon viel mit Mathematik beschäftigt – mit Algebra, Geometrie, Trigonometrie, ein bisschen elementarer Differenzial- und Integralrechnung -, entweder am Brooklyn Tech, wo ich in meiner Jugend eine kurze Zeit lang glaubte, aus mir könne einmal ein Chemieingenieur werden, oder während des Zweiten Weltkriegs, in der US-Air-Force-Wetterschule am Chanute Field in Illinois, wo die Lehrer versuchten, mir die mathematischen Grundlagen der Meteorologie einzupauken.
Nichts an dieser Art von Mathematik vermochte mich großartig zu beeindrucken. Das änderte sich jedoch radikal und dauerhaft durch einen Anfang der Fünfzigerjahre erschienenen Artikel im Scientific American, in dem ein Gebiet der Mathematik behandelt wurde, von dem ich zuvor noch nie etwas gehört hatte, die »Zahlentheorie«. Es ging um das Beschreiben und Katalogisieren jener Grundeinheit der gesamten Mathematik, der Zahl, und das beflügelte meine Phantasie.
Ich schickte meine Sekretärin in den nächsten Buchladen, um mir sämtliche Bücher zu kaufen, die in diesem Artikel zitiert waren, ich verschlang sie und wurde süchtig. Im Verlauf der nächsten Jahre verbrachte ich die spärliche Freizeit, die ich mir abringen konnte, damit, endlose Berechnungen auf unzählige Bögen Papier zu kritzeln. (Bedenken Sie, dass dies in den Fünfzigerjahren stattfand, ohne Computer, ja ohne Taschenrechner. Wenn ich eine Primzahl generieren wollte, musste ich es so machen wie Fermat oder Kepler, oder vermutlich auch der alte Aristarch, das heißt, mittels langwieriger, sich ständig wiederholender, mühsam von Hand geschriebener Arithmetik.)
Ich fand nie Fermats verloren gegangenen Beweis, noch löste ich irgendein anderes der großen mathematischen Rätsel. Ich kam nicht einmal sehr weit bei dem Versuch, von dem ich eine Zeit lang annahm, er könne tatsächlich zum Erfolg führen, nämlich eine Formel zu finden, die Primzahlen liefert. Das Einzige, was ich erreichte – herzlich wenig im Verhältnis zu der vielen Arbeit, die ich in meine Bemühungen investierte -, war das Erfinden von zwei mathematischen »Zaubertricks«. Einer bestand in einer Technik, mit den Fingern zu zählen. (He, jeder Mensch kann doch mit den Fingern zählen, werden Sie jetzt sagen. Na klar, aber kommt er damit auch bis zu der Zahl 1023?) Mit dem anderen löst man eine schier unmöglich erscheinende Aufgabe.
Und jetzt gebe ich Ihnen einen kleinen Vorgeschmack auf den Trick:
Wenn Sie Münzen hintereinander in eine Reihe legen, wie lang die Kolonne ist, spielt keine Rolle, benötige ich höchstens zehn Sekunden, um die exakte Anzahl von Vertauschungen (Kopf-Zahl-Kopf, Kopf-Zahl-Zahl, etc.) aufzuschreiben, welche die Menge der Münzen erzeugt, wenn sie geworfen werden. Um es mir ein bisschen schwerer zu machen, dürfen Sie ruhig so viele Münzen in der Reihe zudecken, wie Sie wollen, egal, ob am Anfang oder am Ende, damit ich nicht weiß, wie viele überhaupt vorhanden sind.
Die Aufgabe halten Sie für unlösbar, stimmt’s? Hätten Sie Lust, auszuprobieren, ob es klappt? Ich komme noch einmal darauf zurück, aber bis dahin müssen Sie sich noch ein Weilchen gedulden.
Das Zweite, von dem ich glaube, dass es wichtig sein könnte, passierte rund zwanzig Jahre später, als ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Japan reiste und dort ein paar Wochen verbrachte. Ich war dort Gast eines japanischen Science-Fiction-Fandoms, so wie auch Brian Aldiss, der Großbritannien vertrat, Yuli Kagarlitski, als Repräsentant der damaligen Sowjetunion, Judith Merril, die für Kanada eintrat, und Arthur C. Clarke, der Sri Lanka und fast den gesamten Rest der bewohnten Welt repräsentierte.
Gemeinsam mit einer Gruppe japanischer Schriftsteller und Herausgeber hatten wir auf einer Rundreise verschiedene Städte besucht, Vorträge gehalten, Interviews gegeben und auf Wunsch auch unsere albernen Seiten hervorgekehrt. (Arthur führte so etwas wie die sri-lankische Version eines hawaiianischen Hulatanzes auf. Brian ließ sich zu dem Versuch überreden, eine lange Liste japanischer Wörter auszusprechen, von denen die meisten – unsere Gastgeber liebten einen gelungenen Streich – unglaublich obszön waren. Was ich tat, verrate ich Ihnen lieber nicht.) Als Belohnung erhielten wir alle ein entspannendes Wochenende am Biwa-See, wo wir in Kimonos herumlümmelten und die Hotelbar leertranken.
Die meiste Zeit verbrachten wir damit, uns gegenseitig zu erzählen, was wir seit unserer letzten Zusammenkunft so getrieben hatten. Ich fand, Judy Merril erzählte die interessanteste Geschichte. Sie war eine Weile vor Beginn des Fandoms nach Japan gereist und auf eigene Faust ein paar Tage lang durch Hiroshima gestromert, ehe wir anderen eintrudelten. Obendrein besaß sie das Talent, Dinge plastisch zu beschreiben, und sie faszinierte uns mit der Schilderung dessen, was sie gesehen hatte. Nun ja, jeder kennt wohl die verbogenen Eisenkonstruktionen, die die Japaner als Mahnmal stehen ließen, nachdem das gesamte übrige Gebäude von jener ersten, im Zorn abgeworfenen Atombombe weggefegt worden war, und auch das geschmolzene Antlitz des steinernen Buddhas. Und jeder kennt das Bild von der Treppe, auf der der Schatten eines sitzenden Mannes zu sehen ist, den der unerträglich grelle atomare Blitz für immer in den Stein geätzt hat; wer diese Szene einmal gesehen hat, kann sie nie wieder vergessen.
»Die Helligkeit muss enorm gewesen sein«, bemerkte jemand – ich glaube, es war Brian.
Arthur meinte: »So enorm, dass man das Licht mittlerweile auf einem Dutzend nahe gelegener Sterne hätte sehen können.«
»Vorausgesetzt, dort gäbe es Lebewesen, die den Himmel beobachten«, steuerte jemand anders bei – ich glaube, ich war es selbst.
Wir stimmten darin überein, dass es durchaus in den Tiefen des Weltalls solche Beobachter geben könnte … zumindest gefiel uns diese Vorstellung.
 

Bezüglich dieser mathematischen »Zaubertricks«:
Ich denke, ich sollte sie Ihnen an dieser Stelle noch nicht erklären, aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass es jemand tun wird, ehe das Buch zu Ende geht.
Dieser Jemand wird vermutlich ein intelligenter junger Mann namens Ranjit Subramanian sein, den Sie bereits auf den nächsten Seiten kennenlernen.
Schließlich erzählt dieses Buch in erster Linie Ranjits Geschichte.

DRITTES VORWORT
Atombombenversuche in der Atmosphäre
Im Frühling des Jahres 1946 zog die amerikanische Marine in einem (bis dahin noch) unverseuchten Atoll im Südpazifik, das den Namen Bikini trug, eine Armada aus zirka neunzig Schiffen zusammen. Es handelte sich um Schlachtschiffe, Kreuzer, Zerstörer, U-Boote und alle möglichen Versorgungsboote. Ihre Herkunft hätte unterschiedlicher nicht sein können; manche waren aufgebrachte deutsche oder japanische Schiffe, Beutestücke des kürzlich beendeten Zweiten Weltkriegs, doch die meisten waren im Krieg beschädigte oder technisch veraltete amerikanische Schiffe.
Diese Flotte war nicht dazu bestimmt, in irgendeine gigantische Seeschlacht gegen einen Feind zu ziehen, sondern sie sollte nirgendwohin segeln. Das Bikini-Atoll war das endgültig letzte Ziel der Schiffe. Man hatte diese Flotte lediglich zusammengestellt, um sie den Auswirkungen von zwei Atombomben auszusetzen. Eine Bombe wollte man in der Atmosphäre zünden, die andere unter Wasser. Die Admiralität hoffte, dadurch zumindest eine Ahnung zu bekommen, was ihrer Marine in einem künftigen Atomkrieg vielleicht blühen mochte.
Nach den Atombombenversuchen im Bikini-Atoll waren die Nukleartests natürlich nicht zu Ende. Im Gegenteil, sie stellten erst den Anfang dar. Über ein Dutzend Jahre lang zündeten die Amerikaner eine Bombe nach der anderen in der Atmosphäre, sammelten emsig Daten über den Erfolg der Aktion sowie über den angerichteten Schaden und notierten sämtliche Informationen, die sich durch diese Tests ergaben. Wenig später folgten die Sowjets und die Briten ihrem Beispiel, und noch später beteiligten sich die Franzosen und die Chinesen an diesem Treiben. Insgesamt ließen die ersten fünf Atommächte (die nicht durch Zufall auch die fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen waren) mehr als eintausendfünfhundert Atombomben in der Atmosphäre explodieren. Sie unternahmen diese Tests im Bereich der Marshall-Inseln im Pazifik, in Algerien und Französisch-Polynesien, in der australischen Wüste, in Semipalatinsk im sowjetischen Kasachstan und Nowaja Semlja im Arktischen Ozean, im sumpfigen Ödland von Lop Nor in China und an vielen anderen Orten der Welt.
Wo die Explosion stattfand, spielte keine große Rolle. Jede einzelne erzeugte einen unvorstellbar grellen Blitz – »heller als tausend Sonnen«, wie der Physiker Hans Thirring sich ausdrückte -, und dieser Blitz raste in einer hemisphärischen Hülle aus Photonen ins Weltall hinaus, sich mit einer Geschwindigkeit von dreihunderttausend Kilometern pro Sekunde bewegend.
 

Zu der Zeit hatten sich die Photonen jenes ersten kümmerlichen Radarstrahls, den der junge Arthur Clarke auf den Mond gerichtet hatte, eine weite Strecke von dem Punkt in der Galaxis entfernt, an dem die Erde gestanden hatte, als diese Photonen ins All hinausgeschickt wurden.
Wie weit mochten sie gekommen sein? Nun, seit dem Aufblitzen des Radarstrahls, auf den kein Echo erfolgt war, waren ungefähr dreißig Jahre vergangen. Licht – oder Radiowellen, jede Form von elektronischer Strahlung überhaupt – pflanzt sich mit einer Geschwindigkeit von, nun ja, 186 000 Meilen (oder ungefähr 300 000 Kilometern) in der Sekunde fort, nämlich mit Lichtgeschwindigkeit. Jedes Jahr waren diese Photonen also ein Lichtjahr weiter gereist und auf diesem Weg hatten sie jetzt schon mehrere Hundert Sternensysteme durchquert. Viele dieser Sterne besaßen Planeten. Ein paar dieser Planeten waren so beschaffen, dass auf ihnen Leben entstehen konnte. Und ein winziger Bruchteil dieser Lebewesen war intelligent.
Die Menschen erfuhren nie, auf welchem Planeten die Wesen beheimatet waren, die als Erste entdeckten, was sich auf der Erde abspielte. War es Groombridge 1618? Alpha Centauri B? (Oder vielleicht doch A?) Oder Lalande 21 185, Epsilon Eridani oder möglicherweise sogar Tau Ceti?
Die Menschheit blieb für immer im Ungewissen, und vielleicht war das gut so. Es hätte sie nur beunruhigt.
Egal welches Sternensystem sie bewohnten, die Astronomen dieser Wesen (allerdings bezeichneten sie sich nicht als Astronomen; jemand, der ihre Tätigkeit ausübte, galt grob übersetzt als »Bestandsaufnehmer externer Vorgänge«) zollten diesem ersten schwachen Impuls große Beachtung. Er erfüllte sie mit Sorge.
Diese Wesen sahen nicht im mindesten wie Menschen aus, doch sie empfanden gewisse, annähernd menschliche »Emotionen«, unter anderem kannten sie so etwas wie Furcht. Die Mikrowellenausstrahlungen von der Erde waren das Erste, was ihnen Angst machte. Nicht lange danach folgten diese erheblich helleren Explosionsblitze; sie stammten von den ersten Nukleartests, die in White Sands, dem Übungs- und Testgelände der Amerikaner, durchgeführt wurden, dann kamen die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, und schließlich experimentierte man an allen Ecken und Enden der Welt mit der Kernkraft. Diese atomaren Blitze sorgten dafür, dass die extraterrestrischen Himmelsbeobachter außer sich gerieten und unter großem Getöse und Gequieke ihrer Besorgnis Luft machten. Derartige Lichtblitze bedeuteten Ärger, aller Wahrscheinlichkeit nach sogar großen Ärger.
Es war jedoch keineswegs so, dass diese ersten Beobachter sich vor dem fürchteten, was die Menschen auf ihrem fernen kleinen Planeten so trieben. Es interessierte sie nicht im mindesten, was mit dem Planeten Erde geschah. Ihnen bereitete vielmehr Sorge, dass dieselbe sich ausbreitende Hemisphäre aus Strahlung nicht verschwinden würde, nachdem sie an ihrem Stern vorbeigerast war. Sie würde ihren Weg fortsetzen, immer weiter und tiefer in die Galaxis vorstoßen. Und früher oder später musste sie bestimmte andere Individuen erreichen, die dieses Phänomen aller Wahrscheinlichkeit nach sehr, sehr ernst nahmen.

1
Auf dem Swami-Felsen
Und nun begegnen wir endlich besagtem Ranjit Subramanian, von dessen langem und bemerkenswertem Leben dieses Buch handelt.
Zu der Zeit war Ranjit sechzehn Jahre alt, Student im ersten Jahr an Sri Lankas bedeutendster Universität, die sich in Colombo befand, und noch mehr von sich eingenommen als ein durchschnittlicher Sechzehnjähriger. Es war Semesterende, und auf Geheiß seines Vaters hin hatte er den langen Weg von Colombo auf sich genommen und war quer über die Insel Sri Lanka in den Bezirk Trincomalee gereist, wo sein Vater das ehrenvolle Amt des Obersten Priesters in einem Hindutempel mit Namen Tiru Koneswaram bekleidete. Ranjit liebte seinen Vater sehr. Er war fast immer froh, ihn zu sehen. Dieses Mal jedoch hielt seine Freude sich in Grenzen, denn Ranjit ahnte bereits, worüber der ehrwürdige Ganesh Subramanian mit ihm sprechen wollte.
Ranjit war ein intelligenter Bursche, beinahe so superschlau, wie er sich vorkam. Dazu sah er noch gut aus. Er war nicht besonders groß, aber das sind die meisten Sri Lanker nicht. Ethnisch gesehen war er Tamile, und seine Haut besaß die dunkelbraune Farbe von Kakao, kurz bevor man ihn in heiße Milch gibt. Doch seine Tönung hatte nichts damit zu tun, dass er Tamile war. Unter den Sri Lankern trifft man Leute mit nahezu skandinavischer Blässe bis zu einem tiefschwarzen Teint, der fast schon einen purpurnen Schimmer hat. Ranjits bester Freund, Gamini Bandara, war ein reinblütiger Singhalese, und egal wie viele Generationen man zurückging, der Stammbaum blieb unverfälscht; trotzdem hatte der Junge dieselbe Hautfarbe wie Ranjit.
Die beiden waren schon sehr lang miteinander befreundet – seit jener fürchterlichen Nacht, als Gaminis Schule bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, vermutlich weil ein paar ältere Jungen in einem Lagerraum heimlich Zigaretten geraucht und aus Versehen den Brand entfacht hatten.
Wie jede andere Person, die sich gerade in der Nähe aufhielt und fähig war, ein zersplittertes Stück Sperrholz in die Hand zu nehmen und auf die Ladefläche eines Lasters zu werfen, hatte man auch Ranjit zu Aufräumungsarbeiten herangezogen. Zusammen mit der gesamten Schülerschaft seiner eigenen Schule. Die Arbeit war dreckig gewesen, viel zu schwer für junge Leute, deren Muskeln an eine solche Schufterei nicht gewöhnt waren, ganz zu schweigen von den Holzsplittern, den Hautabschürfungen und den zahlreichen Schnitten durch die überall herumliegenden Glasscherben.
Das war der unangenehme Teil gewesen, und es war wirklich schlimm. Aber es gab auch erfreuliche Momente. Zum Beispiel als Ranjit und ein anderer Junge seines Alters endlich zu der Ursache für jene kläglichen Laute durchstießen, die aus einem Trümmerhaufen kamen, und die verängstigte, aber unverletzte alte Siamkatze des Schuldirektors befreiten.
Nachdem ein Lehrer die Katze auf den Arm genommen hatte, um sie ihrem Besitzer zu bringen, standen die beiden Knaben da und grinsten sich an. Ranjit hatte nach Art der Engländer die Hand ausgestreckt. »Ich bin Ranjit Subramanian«, stellte er sich vor.
»Und ich bin Gamini Bandara«, erwiderte der andere Junge, während er die dargebotene Hand nahm und erfreut schüttelte. »Da ist uns ja was ganz Tolles gelungen, findest du nicht auch?«
Doch, auch Ranjit freute sich, dass sie die Katze gerettet hatten. Sie hatten ihre Sache wirklich gut gemacht, der Einsatz hatte sich gelohnt. Als man ihnen schließlich erlaubte, an diesem Tag ihre Arbeit niederzulegen, stellten sie sich zusammen in die Schlange, um ihr Abendessen, Haferbrei, in Empfang zu nehmen; zur Nacht legten sie ihre Schlafsäcke nebeneinander, und seitdem waren sie die besten Freunde. Sicherlich wurde diese Entwicklung durch den Umstand gefördert, dass Gaminis Schule durch das Feuer zerstört worden war und die Schüler in Ranjits Schule Aufnahme fanden. Gamini entpuppte sich als ein Freund, wie man sich einen besseren nicht vorstellen konnte; obendrein brachte er für die eine große Leidenschaft in Ranjits Leben, die er allerdings mit niemand anderem teilen wollte, nicht das geringste Interesse auf.
Darüber hinaus nahm Gamini noch eine andere Rolle ein. Und exakt dieses Thema hätte Ranjit bei dem bevorstehenden Gespräch mit seinem Vater am liebsten ausgelassen.
Ranjit zog eine Grimasse. Wie angewiesen, begab er sich direkt zu einem der Nebeneingänge des Tempels, doch nicht sein Vater empfing ihn dort, sondern ein ältlicher Mönch namens Surash, der Ranjit beschied – in übertrieben förmlichem Ton, wie er fand -, dass er sich noch ein wenig gedulden müsse. Also wartete Ranjit, eine sehr lange Zeit, wie ihm vorkam, und er konnte nichts anderes tun, als den Geräuschen aus dem Tempel zu lauschen, über den Ranjit eine zwiespältige Meinung hatte.
Der Tempel verlieh seinem Vater einen Wirkungsbereich, eine geachtete Stellung und ein lohnendes Einkommen, und das alles war natürlich gut. Aber er nährte auch in dem alten Mann die Hoffnung, sein Sohn könne einmal in seine Fußstapfen treten. Doch daran hätte Ranjit im Traum nicht gedacht. Selbst als Knabe hatte er nicht an das komplexe Pantheon der Hindus glauben können, mit seinen zahlreichen Göttern und Göttinnen, einige mit den unterschiedlichsten Tierköpfen und unnatürlich vielen Armen ausgestattet, deren Skulpturen die Tempelwände schmückten. Schon im Alter von sechs Jahren wusste Ranjit den Namen jeder einzelnen Gottheit und kannte ihre besonderen Kräfte und Festtage. Aber nicht, weil er sich für Religion interessierte; er hatte diese Dinge nur auswendig gelernt, um seinem Vater, den er liebte, eine Freude zu machen.
Ranjit erinnerte sich daran, wie er als kleiner Junge zu Hause des Morgens aufgewacht war und sein Vater aufstand, um bei Sonnenaufgang im Tempelteich zu baden. Er sah seinen Vater mit nacktem Oberkörper im Wasser stehen, das Gesicht der aufgehenden Sonne zugewandt, und hörte sein langgezogenes, nachhallendes Om. Als er ein bisschen älter war, konnte er selbst ein Mantra intonieren; er kannte die sechs Stellen an seinem Körper, die er berühren musste, und er bot den Statuen im Puja-Raum Wasser dar. Aber dann ging er von zu Hause fort, um eine Schule zu besuchen. Man verlangte von ihm nicht, dass er religiöse Bräuche einhielt, und er hörte auf, sie zu befolgen. Mit zehn Jahren wusste er, dass er den Glauben seines Vaters nie verinnerlichen würde.
Nicht dass der Beruf seines Vaters ihm missfallen hätte. Gewiss, Ganesh Sumramanians Tempel war weder so alt noch so riesig wie der, den er eigentlich ersetzen sollte. Obwohl man ihm tapfer denselben Namen verliehen hatte wie dem ursprünglichen Bauwerk – Tiru Koneswaram -, bezeichnete selbst sein Oberster Priester ihn meistens nur als »der neue Tempel«. Erst 1983 war er vollendet worden, und von der Größe her reichte er bei weitem nicht an das Original heran, den alten Tiru Koneswaram, den berühmten »Tempel mit den tausend Säulen«, dessen Ursprung im Nebel einer zweitausendjährigen Geschichte versank.
Und als sich endlich jemand Ranjit näherte, um ihn von seiner Warterei zu erlösen, war es nicht sein Vater, sondern der alte Surash. Er brachte Entschuldigungen vor. »Es sind die Pilger«, erklärte er. »Furchtbar viele! Über einhundert, und dein Vater, der Oberste Priester, will jeden Einzelnen von ihnen begrüßen. Geh nach draußen, Ranjit. Setz dich auf den Swami-Felsen und beobachte das Meer. In einer Stunde wird dein Vater dann vielleicht zu dir kommen, aber bis dahin …« Er seufzte, schüttelte den Kopf und ging zurück, um Ranjits Vater zu helfen, die Flut der Pilger zu bewältigen. Ranjit blieb sich selbst überlassen.
 

Was ihm nur recht war, denn eine Stunde lang allein auf dem Swami-Felsen zu verbringen, war für Ranjit ein willkommenes Geschenk.
Noch vor ungefähr einer Stunde musste es auf dem Swami-Felsen nur so von Menschen gewimmelt haben; er war ein beliebtes Ziel von Ausflüglern, Paaren sowie ganzen Familien, die hier Picknicks veranstalteten, die Umgebung besichtigten oder einfach nur die erfrischende Brise genossen, die von der Bucht von Bengalen herüberwehte. Nun jedoch, als die Sonne hinter den im Westen gelegenen Bergen unterging, war der Ort beinahe menschenleer.
So gefiel es Ranjit am besten. Er liebte den Swami-Felsen. Sein ganzes Leben lang hatte er ihn geliebt – aber nein, berichtigte er sich in Gedanken, als er sechs oder sieben Jahre alt war, hatte der Felsen selbst ihm nicht annähernd so viel bedeutet wie die ihn umgebenden Lagunen und Strände, wo man kleine Sternschildkröten fangen und sie miteinander um die Wette laufen lassen konnte.
Doch das war lange her. Jetzt, mit sechzehn, hielt er sich für einen erwachsenen Mann und musste sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen.
Ranjit fand eine freie Steinbank, setzte sich darauf und lehnte sich zurück. Er genoss sowohl die Wärme der tief stehenden Sonne auf seinem Rücken als auch die Meeresbrise, die sein Gesicht fächelte, während er sich rüstete, über die beiden Probleme nachzudenken, die ihm auf der Seele brannten.
Über die erste Angelegenheit brauchte er sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen. Dass sein Vater sich noch nicht mit ihm hatte befassen können, störte ihn wenig. Ganesh hatte seinem sechzehnjährigen Sohn nicht gesagt, weshalb er ihn zu sprechen wünschte. Doch den Grund dafür konnte Ranjit sich ziemlich genau vorstellen, und der zu erwartenden Diskussion sah er bangen Herzens entgegen.
Die Sache war sehr peinlich, und das Schlimmste daran war, dass sie sich leicht hätte vermeiden lassen. Wenn er daran gedacht hätte, seine Zimmertür abzuschließen, hätte der Pförtner des Studentenwohnheims nicht so einfach in den Raum hereinplatzen und ihn zusammen mit Gamini erwischen können. Aber Ranjit hatte nun mal vergessen, die Tür abzusperren, der Pförtner hatte sie ertappt, und Ranjit wusste, dass Ganesh Subramanian seitdem längst mit dem Mann gesprochen hatte. Ganesh würde behaupten, er erkundige sich lediglich, um sich davon zu überzeugen, dass es Ranjit an nichts fehle. Doch dieser ständige Kontakt trug natürlich auch dazu bei, dass Ganesh stets über alles, was sich im Leben seines Sohnes abspielte, bestens unterrichtet war.
Ranjit seufzte. Das zu erwartende Gespräch belastete ihn, am liebsten hätte er sich davor gedrückt. Aber das ging nicht, und deshalb richtete er seine Aufmerksamkeit auf das zweite Thema, das ihm am Herzen lag – dem wichtigen -, das nahezu ständig seine Gedanken beherrschte.
Von seinem erhöhten Aussichtspunkt auf der Spitze des Swami-Felsens, hundert Meter über der Dünung, die die Bucht von Bengalen bewegte, blickte er nach Osten. In der Dämmerung war nichts zu sehen außer Wasser – mit Ausnahme von ein paar verstreuten Inseln gab es über tausend Kilometer weit auch nichts zu entdecken, bis man die Küste Thailands erreichte. An diesem Abend hatte der Nordostmonsun sich beruhigt, und der Himmel war wie blankgefegt. Dicht über dem östlichen Horizont funkelte ein Stern, dessen Licht eine leicht orangerote Färbung aufwies; es war der hellste Stern am Himmel. Beiläufig fragte sich Ranjit, wie er wohl heißen mochte. Sein Vater würde es natürlich wissen. Ganesh Subramanian war ein frommer und aufrichtiger Anhänger der Astrologie, wie es sich für einen Tempelpriester gehört. Gleichzeitig hatte er sich sein Leben lang für alle möglichen Wissenschaftszweige interessiert. Er kannte die Planeten des Sonnensystems, wusste die Namen vieler ihrer Elemente und vermochte zu erklären, wie es möglich war, dass ein paar Stäbe aus metallischem Uran genug Elektrizität erzeugten, um eine ganze Stadt zu beleuchten; ein bisschen von dieser Begeisterung hatte er an seinen Sohn weitergegeben. Doch Ranjit fühlte sich weniger zu Astronomie, Physik und Biologie hingezogen, sondern sein Wissensdurst richtete sich in erster Linie auf das Fachgebiet, ohne das keine Naturwissenschaft auskam – die Mathematik.
Rajit wusste, dass er dies seinem Vater verdankte, wegen des Buchs, das dieser ihm zu seinem dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Der Verfasser hieß G. H. Hardy, und es trug den Titel Verteidigungsrede eines Mathematikers. In diesem Buch stieß Ranjit zum ersten Mal auf den Namen Srinivasa Ramanujan, ein verarmter indischer Büroangestellter, der ohne formelle Ausbildung in Mathematik die mathematische Welt während der finsteren Jahre des Ersten Weltkriegs in Erstaunen versetzte. Ramanujan hatte Hardy einen Brief geschrieben, in dem er rund hundert von ihm entdeckte Theoreme oder Lehrsätze anführte; daraufhin holte Hardy ihn nach England und half ihm, Weltruhm zu erlangen.
Ramanujan inspirierte Ranjit – offenbar konnte in jedem ein mathematisches Genie schlummern -, und das Buch weckte in ihm ein ausgeprägtes Interesse für Zahlentheorie. Aber nicht nur für Zahlentheorie generell; insbesondere beeindruckten ihn die verblüffenden Erkenntnisse des genialen Pierre de Fermat, der zu Anfang des 17. Jahrhunderts geboren wurde, und am allermeisten faszinierte ihn die quälende Frage, deren Beantwortung Fermat seinen Nachfolgern überlassen hatte, nämlich ob es ihm tatsächlich gelungen war, den Beweis für seine Behauptung, die unter dem Namen Fermats Letzter Satz oder Fermat’sche Vermutung Generationen von Mathematikern in Atem hielt, zu finden. Jetzt galt es zu bestätigen, dass es diesen Beweis tatsächlich gab, oder man musste nachweisen, dass Fermat sich geirrt hatte.
Ranjit war besessen von der Idee, diesen Beweis zu erbringen, und er beschloss, während der nächsten Stunde darüber nachzusinnnen. Leider hatte er seinen Taschenrechner nicht dabei, denn sein bester Freund hatte ihm davon abgeraten, ihn mitzunehmen. »Erinnerst du dich noch an meinen Cousin Charitha?«, hatte Gamini gefragt? »Der als Hauptmann in der Armee dient? Er hat mich gewarnt, dass einige Wachleute, die in Zügen mitfahren, Taschenrechner beschlagnahmen. Sie verscherbeln sie dann zu einem Spottpreis. Deinen zweihundert Dollar teuren Texas-Instruments-Rechner würden sie für vielleicht zehn Dollar an jemand abgeben, der ihn dann nur dazu benutzt, um seine Zahlungen mit Bargeld zu addieren. Lass ihn also lieber hier.« Was Ranjit vernünftigerweise auch getan hatte.
Dass er nicht auf seinen Taschenrechner zurückgreifen konnte, war ärgerlich, aber eigentlich unwichtig, denn das Schöne an Fermats Letztem Satz war dessen Schlichtheit. Was war schließlich simpler als a2 + b2 = c2? Das hieß, in einem rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat der Hypotenuse gleich der Summe der Kathetenquadrate. (Der einfachste Fall besteht darin, wenn die Schenkel des Dreiecks jeweils drei und vier Einheiten lang sind, und die Hypotenuse dann fünf Einheiten beträgt, doch es gibt viele andere Fälle mit einheitlichen Lösungen.)
Diese unkomplizierte Gleichung kann jeder selbst mithilfe eines Lineals und ein bisschen Arithmetik beweisen. Doch Fermat hatte jahrhundertelang in der mathematischen Welt für Aufruhr gesorgt, indem er behauptete, dass dies nur für die zweite Potenz gälte, nicht aber für die dritte oder höhere Potenzen. Und den Beweis dafür hätte er angeblich gefunden.
Aber er veröffentlichte ihn nie.1
Ranjit streckte sich, gähnte und riss sich aus seinen Betrachtungen. Er hob einen kleinen Stein auf und warf ihn, so weit er konnte; in der Abenddämmerung verlor er ihn aus den Augen, lang ehe er drunten im Wasser landen konnte. Er lächelte. Na schön, gestand er sich ein, was andere Leute über ihn redeten, stimmte zum Teil sogar. Zum Beispiel war es nicht gänzlich verkehrt, wenn man ihm unterstellte, er sei besessen. Er hatte schon früh seine Interessensgebiete gewählt, hielt hartnäckig an ihnen fest und war nun so etwas wie ein Fermatianer. Wenn Fermat behauptete, er habe den Beweis für sein Theorem gefunden, dann stellte dies für Ranjit Subramanian wie für viele Mathematiker vor ihm eine Art Glaubensartikel dar, und er ging fest davon aus, dass dieser Beweis existierte.
Damit meinte Ranjit jedoch nicht eine geistige Verirrung wie den sogenannten Wiles-Beweis, über den er mit seinem Mathematikprofessor an der Universität diskutieren wollte. Wenn man diesen schwerfälligen, verstaubten Blindgänger (er stammte aus den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts) überhaupt als Beweis durchgehen ließ – und Ranjit scheute davor zurück, etwas als »Beweis« anzuerkennen, das kein Mensch aus Fleisch und Blut zu lesen vermochte -, dann konnte Ranjit dessen Gültigkeit nicht abstreiten. Wie er Gamini Bandara, kurz bevor dieser verflixte Pförtner die Tür aufgemacht und sie beide ertappt hatte, erklärte, sei es jedoch keineswegs der Beweis, den Pierre de Fermat gefunden haben wollte, als er die berühmte Randnotiz in sein Exemplar der Arithmetica des Diophant kritzelte.
Ranjit grinste wieder, dieses Mal ein bisschen grimmig, weil er Gamini gleich darauf gesagt hatte, er würde Fermats Beweis selbst finden. Diese Bemerkung löste dann die Lachsalven und das freundschaftliche Gerangel aus, das schließlich zu dem geführt hatte, wobei der Pförtner sie erwischte. In der Erinnerung beschäftigte sich Ranjit so intensiv mit der Sache, dass er die Schritte seines Vaters nicht hörte und ihn erst bemerkte, als der alte Mann eine Hand auf seine Schulter legte und fragte: »So gedankenverloren?«
Der Druck von Ganeshs Hand hinderte seinen Sohn am Aufstehen. Ganesh setzte sich neben ihn und musterte gründlich sein Gesicht, die Kleidung und den Körper. »Du bist dünn geworden«, meinte er vorwurfsvoll.
»Du aber auch«, erwiderte Ranjit und lächelte. Er war ein wenig beunruhigt, denn auf dem Gesicht seines Vaters lag ein Ausdruck von Sorge und Kummer, den er noch nie an ihm gesehen hatte, und der gar nicht zu dessen üblicher heiterer Gelassenheit passte. »Keine Angst«, fügte er hinzu, »an der Universität kriege ich genug zu essen.«
Sein Vater nickte. »Ja«, entgegnete er und meinte damit, dass Ranjit nicht nur Recht hatte, sondern er obendrein sehr wohl darüber im Bilde war, dass sein Sohn keineswegs darben musste. »Erzähl mir, was die Universität dir sonst noch zu bieten hat. Was treibst du so?«
Ranjit hätte bei diesem Stichwort einhaken und erklären können, dass ein junger Mann das Recht auf ein Privatleben hätte und er sich dagegen verwahre, von Dienstboten ausspioniert zu werden. Doch er zog es vor, dieses Thema so lange wie möglich hinauszuschieben. »Hauptsächlich beschäftige ich mich mit Mathematik«, improvisierte er hastig. »Du kennst doch Fermats Letzten Satz …« Als Ganesh nun zum ersten Mal vergnügt dreinblickte, legte Ranjit nach: »Selbstverständlich kennst du ihn. Du hast mir doch das Buch von Hardy geschenkt. Nun ja, da gibt es diesen sogenannten Beweis von Wiles. Er ist ein Gräuel. Wie konstruiert Wiles seinen Beweis? Er gründet auf Ken Ribets Behauptung, er hätte eine Verbindung zwischen Fermat und Taniyama-Shimura entdeckt. Es existiert eine Vermutung, die besagt …«
Ganesh tätschelte seine Schulter. »Ja, Ranjit«, unterbrach er ihn freundlich. »Du brauchst dir nicht die Mühe zu geben, mir diese Taniyama-Shimura-Geschichte zu erklären.«
»Also gut.« Ranjit überlegte einen Moment. »Tja, dann vereinfache ich das Ganze. Der Haken an Wiles’ Argument besteht in zwei Lehrsätzen. Der erste besagt, dass eine partikulare elliptische Kurve semistabil, aber nicht modular ist. Der zweite lautet, alle semistabilen elliptischen Kurven mit rationalen Koeffizienten sind modular. Das stellt einen krassen Widerspruch dar und …«
Ganesh seufzte nachsichtig. »Du hast dich wirklich in diesen Stoff vertieft, nicht wahr?«, bemerkte er. »Aber wie du weißt, übersteigt diese Art von Mathematik meinen Horizont, also lass uns von etwas anderem reden. Wie geht es mit deinen übrigen Studien voran?«
»Äh …«, erwiderte Ranjit leicht verwirrt; er war sich sicher, dass sein Vater ihn nicht nach Trincomalee beordert hatte, um mit ihm über seinen Unterricht zu reden. »Nun, meine übrigen Studien …« Sie waren auf jeden Fall ein weitaus angenehmeres Gesprächsthema als die Angelegenheit, die der Pförtner seinem Vater zugetragen hatte. Trotzdem hatte er keine große Lust, sich darüber auszulassen. Aber Ranjit ergab sich in sein Schicksal, seufzte und legte los. »Also wirklich, warum muss ich Französisch lernen? Damit ich am Flughafen Souvenirs an Touristen aus Madagaskar oder Quebec verkaufen kann?«
Sein Vater schmunzelte. »Französisch ist eine wichtige Kultursprache«, hielt er entgegen. »Außerdem die Muttersprache deines Helden, Monsieur Fermat.«
»Huh!«, entfuhr es Ranjit, der diesen Einwand akzeptierte, aber trotzdem noch nicht überzeugt war. »Na schön, aber was ist mit Geschichte? Wer interessiert sich schon für diesen alten Kram? Warum muss ich wissen, was der König von Kandy zu den Portugiesen sagte? Oder ob die Holländer die Briten aus Trinco vertrieben oder umgekehrt?«
Wieder klopfte sein Vater ihm auf die Schulter. »Die Universität verlangt diese Allgemeinbildung von dir, ehe man dir einen akademischen Grad gewährt. Später, in höheren Semestern, kannst du dich nach Lust und Laune spezialisieren. Gibt es außer Mathematik denn keinen anderen Lehrstoff an der Universität, der dir gefällt?«
Ranjits Miene erhellte sich ein wenig. »Jetzt noch nicht, aber nächstes Jahr bin ich fertig mit dieser wirklich langweiligen Biologie. Dann kann ich einen Kurs in einer anderen Wissenschaft belegen, und ich werde mich für Astronomie entscheiden.« Ihm fiel wieder etwas ein, und er schaute hinauf zu dem funkelnden roten Stern, der nun den östlichen Horizont beherrschte.
Sein Vater enttäuschte ihn nicht. »Ja, das ist der Mars«, erklärte er, Ranjits Blickrichtung folgend. »Heute scheint er ungewöhnlich hell; das liegt an dem klaren Himmel.« Er wandte sich erneut seinem Sohn zu. »Da wir gerade von dem Planeten Mars sprechen, weißt du noch, wer Percy Molesworth war? Wir besuchten einige Male sein Grab.«
Ranjit forschte in seinen Kindheitserinnerungen, und zu seiner Freude wurde er fündig. »Ja, richtig. Der Astronom.« Sie bezogen sich auf Percy Molesworth, den Hauptmann der britischen Armee, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Trincomalee stationiert war. »Der Mars war sein Spezialgebiet, nicht wahr?«, fuhr er fort, glücklich, über etwas reden zu können, das seinem Vater Vergnügen bereitete. »Er hat bewiesen, dass … äh …«
»Die Kanäle«, half sein Vater aus.
»Genau, die Kanäle! Er hat bewiesen, dass es sich nicht um künstlich angelegte Kanäle handelt, erbaut von irgendeiner fortschrittlichen Marszivilisation, sondern um eine optische Täuschung.«
Ganesh nickte ihm aufmunternd zu. »Er war der Astronom – der wahrhaft bedeutende Astronom -, der den größten Teil seiner Arbeit hier in Trinco verrichtete, und er …«
Mitten im Satz unterbrach sich Ganesh und drehte den Kopf, um Ranjit ins Gesicht blicken zu können. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Weißt du, was ich tue, Ranjit? Ich zögere das Unvermeidliche hinaus. Ich bat dich nicht, hierherzukommen, um mich mit dir über Astronomen zu unterhalten. Wir müssen etwas anderes besprechen, das viel, viel ernster ist. Damit meine ich deine Beziehung zu Gamini Bandara.«
Jetzt war es so weit.
Ranjit holte tief Luft, ehe es aus ihm nur so heraussprudelte. »Vater, bitte, glaube mir! Es ist nicht so, wie du denkst! Für mich und Gamini ist es nur ein Spiel! Es hat nichts zu bedeuten!«
Zu seiner Verblüffung schaute sein Vater überrascht drein. »Es hat nichts zu bedeuten? Natürlich hat das, was ihr getan habt, nichts zu bedeuten. Dachtest du, ich wüsste nicht, dass junge Leute gern mit allen möglichen Verhaltensweisen herumexperimentieren?« Vorwurfsvoll schüttelte er den Kopf, dann fuhr er vehement fort: »Du musst dich auf mein Urteil verlassen, Ranjit. Das Ausprobieren verschiedener sexueller Praktiken spielt wirklich keine Rolle. Aber ich nehme Anstoß an der Person, mit der du dich vergnügst.« Seine Stimme klang wieder gepresst, als kämen ihm die Worte nur schwer über die Lippen. »Du bist ein Tamile, mein Sohn, das darfst du niemals vergessen. Und Bandara ist Singhalese.«
Zuerst dachte Ranjit, er hätte sich verhört. Er konnte nicht fassen, was sein Vater äußerte. Wie konnte er, der ihn immer gelehrt hatte, alle Menschen seien Brüder, jetzt so etwas sagen? Ganesh Subramanian hatte zu seiner Überzeugung gestanden, ungeachtet der Tatsache, dass die ethnischen Aufstände, die in den Achtzigerjahren begannen, Wunden geschlagen hatten, die erst im Laufe mehrerer Generationen heilen würden. Der tobende Pöbel hatte ein paar von Ganeshs engsten Verwandten getötet. Er selbst war mehrere Male nur um Haaresbreite dem Tod entronnen.
Aber diese Zeiten gehörten längst der Vergangenheit an. Damals war Ranjit noch nicht auf der Welt gewesen – selbst seine verstorbene Mutter war noch ein kleines Kind -, und seit vielen Jahren herrschte ein Waffenstillstand, der von beiden Seiten eingehalten wurde. Ranjit hob die Hand. »Vater«, beschwor er ihn, »bitte! So kenne ich dich gar nicht. Gamini hat niemanden ermordet.«
Unerbittlich wiederholte Ganesh Subramanian die schrecklichen Worte. »Gamini ist Singhalese.«