Über das Buch

Geben macht glücklich. Susanne Kippenberger schreibt über das Schenken als Kommunikationsform: eine Sprache, die man lernen kann.

Überraschung, Erwartung, Glück, Enttäuschung, Kränkung — warum reagieren wir so emotional auf Geschenke — unabhängig von jedem materiellen Wert? Susanne Kippenberger, selbst eine leidenschaftliche Schenkerin, erkundet das Schenken als Universum der Gefühle und komplexe Form der Kommunikation. Mit Leichtigkeit und Eleganz fächert sie die vielfältigen Aspekte auf, geht der Frage nach, warum es vor allem Frauen sind, die sich um Geschenke kümmern, und die schönsten Präsente jene sind, die man in keinem Laden kaufen kann. Dabei erzählt sie überraschende und berührende Geschichten vom Schenken zwischen Seligkeit und Desaster. Vor allem aber zeigt sie, wie viel Freude die Kunst der Großzügigkeit bereitet.

Inhalt

Einführung

Marcel Mauss und die folgenschwere Gabe

Die Karte ist die Botschaft

Geschenksendung, keine Handelsware

Sag’s mit Petersilie

Verhüllung ist Verheißung

Gastfreundschaft

Großzügigkeit

Sweet Memories

Von mir für mich

Erinnerungen mitbringen

Almosen oder Geschenk?

Dankbarkeit

Organspende

Missglückt

Ich bring’ ein Ei und hätt’ gern zwei.

Nackt: Geld

Tod — Beerdigung — Erbe

Das erwartbare Glück: Wünsche

Das unerwartete (Un-)Glück: Überraschung

Freude

Mit dem Schlauchboot durchs Wohnzimmer: Kindheit

Jugend: Erwachsen werden

Geschichten teilen: Bücher verschenken

Kunst als Gabe

Zeit statt Zeug

Für meine allabeste Lerarin: Selbstgemachtes

Geburtstage und andere Wendepunkte

Weihnachten: Der Marsch in Himmel und Hölle

Das (leere) Versprechen. Gutscheine

Liebe schenken

Hochzeitsgeschenke

Emotionale Arbeit: Frauen und Männer

Trennung

Die Allerbesten

Danke!

Fragebogen zum Schenken

Bibliographie

Für meine Mutter,

Lore Kippenberger,

die großzügig in jeder Beziehung war,

und

Esther Kogelboom und Julia Prosinger,

ohne die es dieses Buch nicht gäbe

Bei Nichtgefallen Gefühle zurück

MK

Einführung

Ich hatte mal die Motten. Sie steckten überall, im Müsli, im Mehl, in allen Ecken, ich wurde sie einfach nicht los. In meiner Verzweiflung rief ich die Kammerjäger. »Sie backen aber gerne!«, rief der eine durchaus bewundernd aus der Speisekammer heraus. »Die Frau kauft einfach gerne ein«, erwiderte sein Kollege nüchtern.

Ich fürchte, er hat recht. Das habe ich von meiner Mutter geerbt.

Mit zwölf hatte sie den Höhepunkt ihrer sportlichen Laufbahn erreicht: Als sie beim Hochsprung die Ein-Meter-Marke knackte. Damit hatte niemand gerechnet. Die Lehrerin war so entzückt, dass sie ihr eine Tafel Schokolade schenkte. Was für ein Luxus! Seit ihre eigene, ebenso großzügige wie gastfreundliche Mutter gestorben war, wurde sie mit Präsenten nicht eben verwöhnt. Der größte Ehrgeiz der Haushälterin, die jetzt für die Kinder zuständig war, hieß sparen.

Hiermit war der sportliche Ehrgeiz meiner Mutter erschöpft. Höher, weiter, schneller, ein solcher Wettkampf interessierte sie nicht. Ihr Sport hieß fortan: schenken. Mochten andere wandern oder Tennis spielen, meine Mutter trabte los, Präsente kaufen.

Wann immer sie was Interessantes sah, ob im Schlussverkauf oder auf Reisen, schlug sie zu. Fing es in den großen Ferien in Holland an zu regnen, bekämpfte sie Anflüge von schlechter Laune mit Ausflügen zu De Bijenkorf, dem bienenkorbgleichen Kaufhaus in Amsterdam, und breitete am Abend ihre Beute selig vor uns aus. Hatte jemand Geburtstag oder war ein Dankeschön fällig, musste sie nur noch in die Geschenkekiste greifen.

So mache ich es auch. Ich bin zum Hamster geworden, nur dass ich statt der Backen die Taschen vollstopfe — ich reise grundsätzlich mit großem Gepäck. In Schubladen und Truhen horte ich dann, worüber B sich freuen könnte, was ich für I beim letzten Londonbesuch besorgt habe.

Denn Schenken braucht Aufmerksamkeit und langen Atem. Hinweise, die fallengelassen werden, müssen aufgefangen, gespeichert und rechtzeitig umgesetzt werden. Nichts ist schlimmer, als auf Kommando einzukaufen: P hat heute Geburtstag, was kann ich da zwischen Dienstschluss und Dinnerparty noch besorgen? Bestimmt nichts Persönliches.

Schenken ist Einkaufen mit gutem Gewissen. Ist ja für andere. Man muss die Fundstücke nur im passenden Moment zücken können. Auch das habe ich von meiner Mutter geerbt: Schenken war ihre Leidenschaft, Ordnung nicht ihre Stärke. Weihnachtspräsente, im Sommer erstanden, versteckte sie so gut, dass sie diese im Advent nicht mehr wiederfand. Auch ich muss dauernd suchen. Manchmal entdecke ich ein halbes Jahr zu spät, dass ich für das Geburtstagskind längst was besorgt hatte. Egal, bald ist Weihnachten.

Meine Mutter war eine fröhliche Schenkerin. Eine Christin, weniger fromm als sozial, die gerne gab. In unserer Familie ist das Schenken — mehr noch als das Beschenktwerden — eine einzige Freude, von außen betrachtet vielleicht auch ein Spleen.

Doch als ich anfing, darüber nachzudenken, merkte ich, dass es mehr als eine persönliche Macke ist. Ich entdeckte, wie viele Seiten das Schenken hat, noch eine und noch eine, es wollte gar kein Ende nehmen, und plötzlich stellte ich fest: Es gibt gar kein Ende. Jeder tut es, jeder empfängt es, und zwar sein Leben lang. Von der Geburt bis zum Tod, ja, darüber hinaus. In den USA fängt es mit der Baby Shower noch vor der Niederkunft an. Und wenn der Mensch dann gestorben ist, werden ihm zum Abschied Blumen gereicht, spendet man in seinem Sinne und Andenken Geld. Das Leben geht weiter. Das Schenken auch.

Fast scheint es ein Instinkt zu sein, schon kleinste Kinder pflücken Blumen, sammeln Muscheln und Steine auf und präsentieren sie den Großen, um ihnen eine Freude zu machen. Und natürlich: Applaus zu bekommen. Jeder wichtige Umbruch im Leben wird von Präsenten begleitet, Taufe, Einschulung, Kommunion, Konfirmation, Bar-Mizwa, Volljährigkeit, Schulabschluss, Hochzeit, runde Geburtstage, eine neue Wohnung, Rentenbeginn …

Wenn ich mit anderen darüber spreche, sprudeln sie sofort mit ihren Geschichten los. Bei einer Dinnerparty erzählt ein Künstler von einem Kindheitserlebnis in Tokio, als seine französische Mutter so überfordert war von den liebevollen, aber immer größer werdenden Präsenten der japanischen Vermieter, dass sie irgendwann nicht mehr wusste, wie sie diese Freundlichkeit erwidern konnte. Sie kapitulierte. Die Familie zog aus. Solche Gespräche habe ich viele geführt, mal zufällig, mal gezielt, in Form von Interviews wie mit dem Schriftsteller David Wagner, der über das größte Geschenk, das jemand bekommen kann, ein Organ, in seinem Fall die Leber, ein Buch geschrieben hat. Er nennt es einen Dankesbrief. Eine literarische Gabe für eine(n) unbekannte(n) Tote(n).

Dauernd gibt man dem anderen etwas von sich, so entsteht Gemeinschaft. Eine Gesellschaft ohne diesen Akt ist undenkbar. Befragt nach einem blöden Präsent, antwortete ein älterer Schauspieler: »Ich lasse mir nichts mehr schenken, ich habe alles, was ich brauche.« Der Mann hat gar nichts begriffen. Es geht hier nicht um Kochtöpfe und warme Socken. Es geht um sozialen Kitt, um Emotionen. Präsente schaffen und stärken Verbindungen, manchmal verletzen sie diese auch, zerstören sie in seltenen Fällen gar. Eine 52-Jährige erzählt von der Barbiepuppe, die sie mit zwölf bekam, von ihrer Freundin, die genau wusste, dass sie Barbiepuppen hasst. »Danach war die Freundschaft beendet.« Aber wer anderen verbietet, ihm was zu schenken, stößt sie von sich weg: Ich will nicht in deiner Schuld stehen, komme allein zurecht, vielen Dank.

Es sind so viele Gefühle involviert, Erwartungen, Enttäuschungen, Erfüllungen, Verletzungen, Demonstrationen von Machtverhältnissen, Freude, Erinnerungen. Doch im Grunde geht es immer um Liebe. Egal, wie nah man sich steht. Das liebevolle Aussuchen und Verpacken — oder das lieblose. Was sie am Schenken so mag, meint eine der von mir Befragten, ist »das Zeigen von Zuneigung«. Der symbolische Wert ist eigentlich immer wichtiger als der materielle. Wie gut kennst du mich? Oder wie schlecht. Das Gefühl, nicht gesehen, ja, verkannt zu werden, gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, von denen Beschenkte erzählen.

Schenken ist eine soziale Tätigkeit, eine Kultur (keine Technik), eine Sprache der Gefühle. Die man lernen kann, damit es einem nicht so geht wie dem Vater einer Freundin, der seiner Frau sagte: Kauf dir was, ich geb’ dir das Geld und leg’ es dann unter den Tannenbaum. Natürlich gehört, wie bei allen Sprachen, auch eine Portion Begabung dazu. Das steckt schon im Wort Gabe, und noch deutlicher im englischen »gift«, das sowohl Präsent wie Begabung bedeutet. Weshalb man, um allen Missverständnissen vorzubeugen, auch nicht sagen kann, dass nur der gute Schenker ein guter Mensch ist.

Natürlich kaufe ich inzwischen doch mit schlechtem Gewissen ein, von wegen Umwelt und Klimawandel. Aber dieses Buch soll auch keine Anleitung zum Konsum sein. Schenken muss nicht kaufen heißen. Aufmerksamkeit, Zeit, selbstgekochte Marmelade, das Reparieren des kaputten Stuhls, ein gemeinsamer Ausflug, ein Essen — man kann sich so vieles einfallen lassen. Aber man sollte sich was einfallen lassen. Präsent hat etwas mit präsent sein zu tun. Umweltbewusstsein ist keine Ausrede für Faulheit. Nachhaltig sind Geschenke, über die man sich Gedanken gemacht hat. Was alle hassen, sind einfallslose Pflicht-Gaben. Und sowieso gilt hier, wie stets, Qualität geht über Quantität.

S zum Beispiel, gefragt, wann sie das letzte Mal richtig große Freude erlebt hat über ein Präsent, erzählte von ihrem Besuch, dem ersten, bei einer neuen Bekannten. S brachte ihr einen Herbststrauß aus dem eigenen Garten mit, Hortensie, Dahlie, kleine Beerenzweige in Pink. Drum herum goldenes Seidenpapier und eine Schleife aus schlichtem Strick. Eine solche Freude hatte sie nicht erwartet: »Sie war regelrecht umgeworfen von der Schönheit des Straußes, drehte ihn hin und her, benannte die Blumen und die Farben und betonte, wie das Zusammenspiel von Texturen und Farben so perfekt zur Geltung käme. Und dann holte sie ihren Mann und die Haushaltshilfe und begann ihr Gloria von neuem. Ich fand keine Worte.«

»Wirkliches Schenken«, schrieb Theodor Adorno, »hatte sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten. Es heißt wählen, Zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den anderen als Subjekt denken.« Adorno war pessimistisch, er glaubte, dass dazu kaum mehr einer fähig sei. »Günstigenfalls schenken sie, was sie sich selber wünschten, nur ein paar Nuancen schlechter.«

In einer Zeit, wo es alles zu kaufen gibt, könne man das Schenken für überflüssig und das Klagen über den Verfall dieser Kultur für sentimental halten, fuhr Adorno fort, um sich selbst gleich zu widersprechen: Denn erstens »gibt es keinen heute, für den Phantasie nicht genau das finden könnte, was ihn durch und durch beglückt«. Und, was vielleicht noch wichtiger ist: Das Schenken bräuchten gerade jene, die es nicht mehr tun. »Ihnen verkümmern jene unersetzlichen Fähigkeiten, die nicht in der Isolierzelle der reinen Innerlichkeit, sondern nur in Fühlung mit der Wärme der Dinge gedeihen können.«

Nicht dass Sie mich nun für eine Adorno-Kennerin halten. Ich habe noch nie ein Buch von ihm gelesen. Aber meine Kollegin hat es getan und mich mit dieser Stelle aus Minima Moralia beglückt, nachdem wir uns über das Thema bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße unterhalten hatten.

Es ist eines von vielen Präsenten, die ich im Laufe der Arbeit an diesem Buch bekommen habe und die mich von der Bedeutung und Komplexität des Schenkens überzeugt haben — das ich mein Leben lang eher arglos praktiziert habe. Dieses Buch hat viele Co-Autoren. Menschen, die mir ihre Geschichten geschenkt haben, kaum dass wir auf das Thema zu sprechen kamen. Familie, Freunde, Kollegen und Bekannte, die mir meinen Wunsch erfüllten und jene Fragen beantworteten, die am Ende des Buches nachzulesen sind. »Jetzt weißt du alles über mich«, witzelte meine Kollegin hinterher. Bei aller Ironie — es stimmt: Die Geschichten gehen tief. »Dinge, die völlig verschüttet lagen, sind wieder hochgekommen«, meinte eine Freundin zu mir. Sage mir, was und wem und wie du schenkst, worüber du dich selbst freust — und ich sage dir, wer du bist.

Geiz ist nicht geil. Großzügigkeit schon. Die, genau wie die Knausrigkeit, noch nie eine Frage des Geldes gewesen ist. Das Buch soll Lust machen. Denn, das ist wissenschaftlich erwiesen: Geben macht glücklich. Im Zeitalter des Narzissmus, der permanenten Selbstoptimierung und Achtsamkeit (für die eigenen Bedürfnisse) tut es gut, einem selbst wie der Gesellschaft, mal nicht an sich zu denken, sondern an andere. Aber Vorsicht, nicht verkrampfen, weder beim Geben noch beim Nehmen.

Marcel Mauss und die folgenschwere Gabe

Mauss, Mauss, Mauss, was hast du nur gemacht! Hast den Menschen den Spaß am Schenken verdorben, den Glauben an das Gute daran geraubt.

Dabei ist das gar nicht seine Absicht gewesen. Fast 100 Jahre ist es her, dass der französische Gelehrte seinen berühmten Essay »Die Gabe« veröffentlichte, über »Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften«, wie es im Untertitel heißt. Nicht mal 200 Seiten lang, aber die Sekundärliteratur füllt ganze Regale. Es gibt wohl nur wenige Texte, die für ein einzelnes Thema so einflussreich gewesen sind. Jeder, wirklich jeder Akademiker oder Essayist, der sich mit dem Thema Schenken beschäftigt, beruft sich auf Marcel Mauss. Einige Wissenschaftler nennen sich sogar ganz offiziell Maussianer.

Abgesehen von der »Gabe« hat der Sozialanthropologe, Neffe und Schüler von Émile Durkheim, wenig veröffentlicht. Die Lehre war Mauss, der als selbstlos galt, wichtiger als die Forschung, seine Dissertation — über das Gebet — hat er nie fertigbekommen. Seine Geschenkwissenschaft betrieb er vom Schreibtisch aus, ein Feldforscher ist er nie gewesen. Er wandte sich dem Archaischen zu, vor allem Gesellschaften in Polynesien, Melanesien und Nordwestamerika, um darin nach dem Archetypischen zu fahnden.

Es ging ihm darum, zu zeigen, welche Bindungen entstehen, indem man Geschenke tauscht, anstatt etwas mit Geld zu kaufen oder für Geld zu verkaufen. Wobei natürlich auch beim Geschenkeaustausch eine Form von Handel stattfindet: Gibst du mir, geb’ ich dir. Geb’ ich dir, will ich auch was zurück. Wenn nicht sofort, so doch später. Soll und Haben, am Ende muss die Gleichung stimmen in der Trias von Geben, Annehmen und Erwidern.

Aber Mauss machte sichtbar, welchen Stellenwert das Schenken in der sozialen Kommunikation hat. Dabei geht es in den von ihm untersuchten Gesellschaften vor allem um kollektive Präsente, die erst mal die friedliche Beziehung zwischen verschiedenen Gruppen herstellen und stärken — sozusagen ein notwendiges Vorspiel. Auch zum kommerziellen Warenaustausch.

Verblüffenderweise bleibt in den Darstellungen vieler seiner Exegeten und Schüler aber nur das Berechnende vom Schenken übrig, der Zwang zum Geben und Erwidern. Viele dieser Theoretiker leugnen jede Form von Freiwilligkeit und Individualität, von Spontanität und Originalität, die Freude auf beiden Seiten, ja, überhaupt die ganze Emotionalität und das Persönliche, die damit verbunden sind. Oft wird die Gabe als Instrument der Unterdrückung verstanden, die Großzügigkeit als reines Kalkül.

Wer nimmt, gehe eine Verpflichtung ein, werde zum Schuldner, sagt Elfie Miklautz zum Beispiel. Für sie wird das Schenken sogar zum Akt der Aggression: »Mit dem Übermitteln von Gaben wird … symbolische Gewalt ausgeübt.« Pierre Bourdieu geht kaum fröhlicher an die Sache ran. Er nennt den Gabentausch kurzerhand eine »kollektive Heuchelei«.

Es ist kurios. Durch die Konzentration auf Mauss’ Vorlage, an der sich spätere Generationen abgearbeitet haben, sind die Schenkgewohnheiten in der Südsee vor 100 Jahren bis heute besser erforscht als jene, sagen wir, der Jugendlichen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Das Archaische wird zur zeitlosen Wahrheit erklärt.

Besonders eklatant zeigt sich das in der Auseinandersetzung mit dem von Mauss geschilderten Potlatch von Native Americans in Nordwestamerika: Häuptlinge schaukeln sich hoch mit ihren Gaben, versuchen einander zu übertrumpfen — ein regelrechter Krieg zwischen Rivalen um ihren Status, der mit der Kapitulation des einen oder der Zerstörung bis hin zum Tod des anderen endet. Von Mauss’ Nachfolgern wird der Potlatch aber nicht als exzessives Extrem gedeutet, sondern als Zuspitzung, die das Eigentliche deutlich werden lässt. Das Schenken als Wettkampf, als Schlacht — ist es nicht genau das, was zu Weihnachten in der kommerzialisierten Gesellschaft passiert? Immer höher, weiter, schneller, das ist doch die Devise des Turbokapitalismus.

Dabei war Mauss selbst Sozialist und Aktivist, ein Anhänger der Genossenschaftsbewegung. Am Ende seines Essays, und den scheinen viele gar nicht oder zumindest nicht bis dahin gelesen zu haben, zeigt er auf, wie aus dem Geist des Gebens eine gerechtere Welt entstehen könnte. Für ihn ist die Geschenkökonomie die Basis unserer Gesellschaft, ein entscheidendes Mittel für ein friedliches Miteinander. Mauss spricht von der »edlen Verschwendung« und appelliert an die Reichen, sich wieder als Schatzmeister ihrer Mitbürger zu betrachten, denn die Gesellschaft brauche mehr Großzügigkeit und guten Willen, ganz konkret etwa bei Wohnungsvermietungen. Mauss forderte eine neue Moral, eine Rückkehr zu archaischen und elementaren Prinzipien, etwa die Freude am öffentlichen Geben, »das Vergnügen der Gastfreundschaft«.

Bad news are good news heißt es im Journalismus. Gute Nachrichten verkaufen sich halt schlechter. In der Wissenschaft gelten möglicherweise ähnliche Regeln. »Schenken gehört zu den eher freundlichen Seiten des Lebens«, schreibt der Kultursoziologe (und Theologe) Gerhard Schmied zu Beginn seines Buchs zum Thema. Das ist für ihn der Grund, warum seine Kollegen sich kaum mit dieser Tag für Tag praktizierten Spielart des sozialen Handelns auseinandergesetzt haben. Ein Soziologielexikon widme ihm gerade mal 14 Zeilen. Auch Schmied bezieht sich natürlich auf Mauss.

Marcel Mauss war ein Pionier, der sich als Erster dem Thema in dieser Form gewidmet hat. Aber er hat einen Essay geschrieben, keine Bibel. Gedanken kann man weiterentwickeln.

In der Fülle der Mauss-Interpretationen habe ich auch ein paar gefunden, die mir plausibler, differenzierter erscheinen als jene, die nur Zwang, Eigennutz und Kalkül in der Gabe sehen. Am sympathischsten ist mir Alain Caillé, dessen Anthropologie der Gabe 2008 erschienen ist. Ein echter Maussianer, wie er sich selbst nennt, Mitgründer einer MAUSS-Gruppe und einer MAUSS-Zeitschrift. Ja, Caillé ist mein Mann. Lustigerweise wieder ein Mann. Obwohl Frauen diejenigen sind, die am meisten schenken und verpacken, sind es vor allem Männer, die Bücher darüber schreiben. Die einen packen in dekoratives Papier, die anderen in gelehrte Worte.

Alain Caillé jedenfalls entdeckt im Pflichtkorsett den Spielraum. Für ihn geht es beim Schenken um mehr als ein rein mechanisches Ritual. Selbst wenn die Gabe sozial zwingend ist, gewinnt sie in seinen Augen nur in Verbindung mit Spontanität ihren Sinn. »Es soll gegeben und erwidert werden. Zweifellos. Aber wann? Und wie viel? Wem eigentlich? Mit welchen Gesten, in welchem Ton? Mit welcher Absicht?« Da bleibt für ihn selbst in streng geregelten Gesellschaften viel Raum für Eigeninitiative.

Caillé wirft einen wohlwollenderen, auch differenzierteren Blick auf seine Mitmenschen und ihre Motive, entdeckt Widersprüchliches, statt nur Eindeutiges zu sehen. Ihm geht es um »ein komplexes Wechselspiel von Interesse, Uneigennützigkeit, Pflicht und Spontaneität«. Vor allem durchbricht Caillé die rein ökonomistische Sicht auf das Schenken: Ohne eine gewisse Bedingungslosigkeit, ohne Vertrauen, sagt er, geht es nicht. »Eine rein obligatorische Gabe ist keine Gabe.«

Es gibt Menschen, die glauben, was nichts kostet, ist auch nichts wert. Ich meine, das Gegenteil stimmt. Es macht eine Sache kostbarer, wenn man sie geschenkt bekommt, statt sie sich selbst zu kaufen. So erklärt es auch Mauss: In der Gabe steckt das hau, die Seele des Gebenden, ein Stück von sich selbst.

Darum soll es hier gehen — um den Raum, den Spielraum, in dem sich das Schenken bewegt, mit all seinen Widersprüchen und Risiken und seiner Freude, um die Komplexität dieses Tuns. Um die Seele. Es soll um die Caillé’schen Fragen gehen: Um das Vergnügen des Schenkens — wann, wie viel, wem, mit welchen Gesten, in welchem Ton, mit welcher Absicht. Ich bin davon überzeugt, dass Gabe nicht gleich Gabe ist und die Wundertüte einer Freundin nicht das Gleiche wie die Goodiebag eines Veranstalters, der will, dass ich ihm wohlgesinnt bin.

Die Karte ist die Botschaft

Zu meinen Neujahrsresolutionen für 2019 gehörte ganz offiziell: Keine Karten mehr kaufen. Ich hab’ nämlich genug davon, zweieinhalb Schubladen voll. Das reicht bis ans Ende meines Lebens. Ich hab’s mir sogar in den neuen Kalender geschrieben — keine Karten kaufen! Hat auch nichts genützt. Sicher, am Anfang war ich noch diszipliniert. Wenn ich in eine schöne Papeterie kam oder einen Museumsshop, vor allem auf Reisen, habe ich mir die Bilder angeschaut, sie bewundert, die Karte in die Hand genommen, um sie noch mehr zu bewundern, und mir am Ende auf die Finger gehauen. Nein! Nein! Nein! Bald wurde ein Jein daraus. Ich kann einfach nicht widerstehen.

Wenn ich die Lebenszeit addiere, die ich mit der Suche nach der in diesem einen Moment für diesen Menschen passendsten Karte verbracht habe, komme ich auf einige Monate. Ganz zu schweigen von dem toten Kapital, das da in meinen Schubladen schlummert. Postkarten gehen nämlich ins Geld, unter einem Euro läuft gar nichts mehr. Illustrierte im Sonderformat kosten schon mal das Drei- bis Fünffache. Aber das sind sie auch wert. Gute Bilder sind ein Geschenk für sich, das man ins Regal stellen kann.

Ich brauche originelle, schöne, lustige, romantische Karten, weil mir beim Glückwünschen und zu sonstigen Anlässen nichts Originelles zu schreiben einfällt. Ha, werden Sie sagen, das Schreiben ist doch Ihr Beruf! Aber das ist was anderes. Um persönliche Worte bin ich verlegen. Also ist die Karte die Botschaft. Nicht das, was ich auf die Rückseite kritzle. Das schöne Motiv muss nämlich auch noch meine Handschrift wettmachen. Da erhalte ich regelmäßig Beschwerden.

Leider bin ich nicht Jurek Becker, mein großer Held in Sachen Karten. Der Schriftsteller konnte nämlich beides, wunderbare, knallbunte, witzige Motive entdecken (ein paar davon liegen auch in meiner Schublade) — und auf der Rückseite so schreiben, dass einem das Herz aufgeht.

Ich habe nie eine von ihm bekommen. Dafür, in sehr, sehr jungen Jahren, einmal einen Brief. Da hatte ich ihm, begeistert von der ersten Seminararbeit meines Lebens, ebendiese geschickt. Es ging um seinen Roman Irreführung der Behörden. Wenn ich daran denke, werde ich heute noch rot. Jurek Becker schrieb eine liebevolle Antwort.

Seine schönste Kartenpost kann man inzwischen als Buch kaufen: Am Strand von Bochum ist allerhand los. Allein die Anreden für seinen kleinen Sohn! Du Pudelmütze. Mein Fischbrötchen. Sehr geehrter Bratklops. Du unverhoffte Wendung. — Würde mir glatt welche davon klauen, wenn sie nicht so unverkennbar beckerisch wären. Also kaufe ich das Buch nur zur Inspiration. Und zum Verschenken. Und Anregen: Schreibt, Leute, schreibt, wo immer ihr seid, nicht nur aus dem Urlaub, zu Geburtstag und Weihnachten. So eine Postkarte, egal, ob aus Salzgitter oder Peru, aus dem exotischen Ausland oder der eigenen Stadt, im ansonsten leeren, allenfalls von Rechnungen, Mahnungen und Spendenaufrufen gefüllten Briefkasten zu finden tut der Seele gut.

Meine eigene Unfähigkeit ist im Grunde verwunderlich, denn ich komme aus einer Familie leidenschaftlicher Briefeschreiber und -empfänger. Wenn die Familienlegende stimmt, haben sich unsere Eltern sogar schreibenderweise ineinander verliebt. Mit jeder Post wurde die Beziehung inniger.

Meine Mutter, schrieb mein Vater einmal, konnte ohne sie nicht leben — Briefe, je länger, desto lieber, waren ihr Lebenselixier. Aber auch das ihrer Empfänger. Ihre Freundinnen haben die vielen handgeschriebenen Seiten bis an ihr Lebensende aufbewahrt, sich noch Jahrzehnte später darüber amüsiert.

Mein Vater hat einen ganzen Band mit Briefen aus unserer Familie herausgegeben, im Eigenverlag, auf mattes, fast antik vergilbt aussehendes Papier gedruckt, so dass auch die banalste Nachricht etwas Kostbares bekommt. »Es werden so viele Briefe geschrieben in einer Familie«, notierte er im Nachwort, »schöne Briefe, Schönschreibebriefe — Wie geht es Dir? Mir geht es gut! — Briefe, gekritzelte, von der Seele geschriebene, hingehauene Bitt- und Bettelbriefe: ›Schick mir bitte ein Päckchen mit …!‹; geschmierte, verschmierte, tintenbekleckste Jammerbriefe, sorgfältig aufgesetzte Kondolenzbriefe, Freundschaftsbriefe, liebe Grüße, bemalte Briefe, mit Zeichnungen versehene, Krakeleien mit und ohne Freimarken, teure Briefe, ehrliche Briefe, dumme Briefe, gut für den Papierkorb, einmal gelesen, nie wieder; zweimal gelesen oder noch öfter, kurze Briefe, lange Briefe, inhaltslose Briefe, leserliche und unleserliche, nüchterne, ausschweifende, liebesbedürftige Briefe, Geheimnisbriefe, Geheimbriefe, postlagernde Briefe, Einschreibbriefe, versiegelte Briefe, schlecht zugeklebte, in Hochstimmung geschriebene und wieder zerknitterte Briefe, zerrissene Briefe, duftende Briefe, schwere Briefe, leichte Briefe, Luftpostbriefe, Eilbriefe, gewöhnliche Briefe, Briefe an Bekannte und Unbekannte, Freunde und Freundinnen, Vorgesetzte und Untergebene, Kollegen, Geschäftspartner, Kunden, Auftraggeber, Lieferanten, an die Redaktion, Politiker, Parlamentsmitglieder, offene Briefe, veröffentlichte Briefe, Blumenbegleitbriefe, Gratulationen, Mitteilungen, Anzeigen, Dankesbriefe, Schuldbriefe, blaue Briefe, Zurechtweisungen, Drohungen, Erpressungen, erzieherische Briefe, Berichte, Bewerbungen, Anwerbungen, Vorladungen, Einladungen, Aufforderungen, tröstliche Briefe, aufregende Briefe, Trennungsbriefe, Abschiedsbriefe, Empfangsbestätigungen, Lügenbriefe, Juxbriefe, Notsignale, Hilferufe, Komm-schnell-Briefe, Musterbriefe, Liebesbriefe, poetische Briefe, reizende Briefe, Rundschreiben, Briefe per Boten, per Post, in den Briefkasten geworfene Briefe, unter die Matte gelegte Briefe, durch den Türspalt geschobene Briefe, versteckte Briefe, verlorene Briefe, vernichtete Briefe, Originale, Kopien, fotografierte Briefe, Faksimiles, Briefe in Brieftaschen, Hosentaschen, Schubladen, Kassetten, Geheimfächern, Büchern, Handtaschen; liegengelassene Briefe, in eine Flasche gesteckte Briefe usw. usw.«

Die Anthologie beginnt 1618 mit einem Liebesbrief und endet 1968 mit der Litanei meiner Schwester über eine österliche Familienreise ins Bergische Land, in der sie von Herzen lästert. Unser Vater hat diese Zeugnisse — jene, die noch vorhanden, nicht verloren, vernichtet oder vor ihm versteckt worden waren — gesammelt, gesichtet und schließlich ausgewählt. WhatsApp und E-Mail-Verkehr gehörten damals noch in den Bereich der Science-Fiction. Und doch hat mein Vater vielleicht schon geahnt, dass die nächste Generation, die übernächste erst recht diese Kunst nicht mehr pflegen würde. »… nachzulesen …« nannte er das Buch. Er wollte etwas bewahren, das ihm kostbar erschien, bevor es auseinanderbrach. Aus der Dokumentensammlung einer Familie lautete der Untertitel, aber aus dieser einen wurden kurz danach zwei, als er uns verließ und eine neue gründete. Der Band war auch ein Abschied.

Nachrichten kommen heute schnell und knapp. Ein richtiger Brief, handgeschrieben, am besten mit Füller, auf feinem Papier, wo sich jemand Zeit genommen und Gedanken gemacht hat, über sich, den anderen und die Welt, ist eine Rarität. Noch dazu ein greifbares Objekt, das manche selbst bekleben und gestalten. Und hat der Umschlag, in den man das Geschriebene steckt, den man dann zuklebt, so dass er etwas Geheimnisvolles bekommt, hat der nicht etwas von einer Geschenkverpackung, die Spannung erzeugt? Als Empfänger erkennt man oft auf dem Umschlag schon eine vertraute Schrift, noch bevor man auf den Absender schaut, hat diesen gleich vor Augen, kann sich entscheiden, ob man den Brief begierig aufreißt oder eine Weile genüsslich liegenlässt und später öffnet.

Es gibt drei Menschen, von denen ich immer mal wieder solche handgeschriebene Post bekomme, interessanterweise alle drei Männer, Freunde, Familie. Keine Ahnung, ob sich daraus eine Gesellschafts- oder Gendertheorie ableiten lässt. Auf jeden Fall sind alle drei auch gute Schenker, was bei Männern gar nicht so selbstverständlich ist.

Eins kann man auf jeden Fall daraus ableiten: Am kostbarsten ist oft das, was am wenigsten kostet. Legendär die Freude meiner großen, damals noch kleinen Schwester über ein Fieberthermometer für 20 Pfennig, das sie eines Weihnachten für ihr Arztköfferchen bekam. Das Porto für einen Brief kostet 80 Cent. (Wird wahrscheinlich bald wieder erhöht.) Natürlich kann man auch mehr investieren, in edle Schreibwaren — die Zahl der urbanen Papeterien hat mit fortschreitender Digitalisierung auffallend zugenommen. Nicht in Geld zu beziffern und in keinem Laden zu kaufen: die Zeit und Hingabe, dass jemand sich hinsetzt und festhält, was er an der langjährigen Freundin so schätzt, kleine, konkrete Beobachtungen zum runden Geburtstag.

»Wir schenken uns nichts«, prahlen viele zur Weihnachtszeit. Aber man könnte sich was schreiben. Selbst wenn man unter einem Dach wohnt. So wie es die Verliebten machen, manche noch nach Jahren des Zusammenseins, kleine Botschaften, Aufmerksamkeiten, Zettelchen, um kurze oder große Distanzen zu überwinden. Überhaupt kann man von ihnen viel lernen: Keiner schenkt so aufmerksam und originell wie sie. Und freut sich so wie sie. Die Aufregung, wenn der Luftpostumschlag des fernen Geliebten im Briefkasten lag!

Worte sind Gaben. Einfach zu formulieren, was man sich vielleicht von Angesicht zu Angesicht nicht traut auszusprechen, weil man sich geniert, weil es einem zu kitschig klingt, oder schlicht, weil man sich eben mehr Gedanken macht, wenn man sich hinsetzt und in Ruhe etwas schriftlich fixiert (was auch gar nicht auf Papier sein muss): Die Bedeutung einer Beziehung, einer Freundschaft, einer Begegnung, eines Abendessens, eines Menschen.

Kein Brief ist so wichtig wie der Kondolenzbrief, wenn der Absender denn nur den Mut hat, persönlich zu werden. Es ist das Schwerste und das Schönste, was jemand zu Papier bringen kann. Nach dem Tod ihres kleinen Sohnes bedankte Jackie Kennedy sich bei Truman Capote für dessen Post mit den Worten: »Wenn alles, was Du je geschrieben hast, letztlich nur Übung gewesen wäre, um diese sieben Zeilen zu schreiben, die nur ich — und Jack — gesehen habe, dann bin ich froh, dass Du Schriftsteller geworden bist.«

Das Schlimmste ist, zu schweigen. Kein Wunder, dass Briefe wie Schätze aufgehoben werden.

Geschenksendung, keine Handelsware

Manchmal, wie bei Verliebten, liegen Briefen auch kleine Gaben bei. Fotos, mit der selbstgebauten Lochkamera aufgenommen, Müsliriegel, weil die Freundin beim letzten Treffen so unterzuckert war, ein exquisiter Stift, damit sie mehr schreibt. Bis die Beigabe zur Hauptsache und der Brief nur noch der Begleiter des Päckchens wird.

»Ich mochte gern ein Bäckchen (mit Suzikkeiten)«, schrieb meine Schwester Bine aus dem Internat, und hat es gekriegt. Auch das Päckchenpacken hat unsere Mutter mit Leidenschaft betrieben, wir Kinder durften unsere Finger auf den Knoten halten, damit er nicht zu locker ausfiel, dann schleppte sie alles zur Post, wo ein Korinthenkacker saß, wie sie ihn nannte, der ihr erklärte, dass das Bekleben des Packpapiers mit Oblaten und anderen bunten Bildchen, die sie irgendwo ausgeschnitten hatte, je kitschiger, desto lieber, verboten sei, und den sie becircte, mit Charme und selbstgemachtem Birnengelee, das in unserer Familie keiner außer unserem Großvater mochte.

Nicht nur meine Geschwister im Internat, auch die Freundinnen unserer Mutter, vor allem jene in der »Ostzone«, wie die DDR damals genannt wurde, bekamen Post von ihr. Vor einiger Zeit habe ich einen Film gesehen, der sich allein mit dem Duft dieser Päckchen beschäftigte. Ein unvergleichlicher Duft! Nach Waschpulver und Vanillepudding, Jacobs Krönung und 4711. Vorsichtig öffnen die Menschen im Film noch einmal die Schnur — damals hat man Päckchen noch mit Kordel verknotet —, das Packpapier und schließlich den Karton, bis es ihnen in voller Wucht entgegenströmt. Noch mal schnuppern, einsaugen, strahlen. Ja, genau so hat es gerochen! Nach weiter Welt, wie ein früherer DDR-Bürger sagt.

Der Duft des Westpakets heißt der Film, der diesem Phänomen nachspürt, gedreht von Maja Stieghorst (West) und Brit-Jeannette Grundel (Ost). Er verbindet fröhliche Erinnerungen und traurige Geschichte mit einer Art Reenactment. Für die Dokumentation haben die Protagonisten nämlich nicht nur noch mal Päckchen wie damals gefüllt und geöffnet, sie versuchten auch, den Geruch in Gläsern zu fangen.

Es gibt nur wenige Menschen über vierzig, egal von welcher Seite des Eisernen Vorhangs, die keine Erinnerungen an diesen kleinen Grenzverkehr hätten. »Geschenksendung, keine Handelsware« musste auf den Päckchen stehen.

Als wenn es so einfach wäre. Das hatten wir ja schon: Wer gibt, will was kriegen, wer kriegt, muss was geben. Nur was? DDR-Bürger fühlten sich unter Druck. Etwas, das es im Westen nicht gab, Erzgebirgsfiguren. Oder Stollen, manchmal gebacken mit Zitronat aus dem Westpaket. Unsere Mutter, die Bücher nicht las, sondern verschlang, bekam von ihren Freundinnen original DDR-Literatur. Vor allem spannende DDR-Bückware: Jurek Becker, Christa Wolf, Günter de Bruyn. Kein schlechter Tausch.

Das Westpaket (das bei uns Ostpaket hieß) ist mehr als Folklore. Es fungierte als Leim, hielt die Deutschen miteinander in Verbindung. So schrieb man sich wenigstens, was man so trieb. Das war von nationalstaatlicher Bedeutung, weshalb die Bundesregierung das Schicken der Geschenksendungen auf Plakaten und Flyern propagierte. Erst recht nach dem Mauerbau. Im darauffolgenden Jahr wurden sagenhafte 53,5 Millionen Päckchen von West nach Ost geschickt.

Nach dem Fall der Mauer trat eine gewisse Ernüchterung, ja, Entzauberung ein. Die Brüder und Schwestern aus dem Osten mussten feststellen, dass der kostbare Bohnenkaffee ein billiges Aldiprodukt war. Absender aus dem Westen fühlten sich enttäuscht, weil die Dankbarkeit der Verwandtschaft jetzt schnell bröckelte. Nicht selten brach der Kontakt ab. Die einen fühlten sich im Rückblick gedemütigt, die anderen ausgenutzt.

In der Dokumentation von Stieghorst und Grundel steht dagegen die glückliche Reminiszenz im Mittelpunkt. Getrübt wird das Gefühl allenfalls durch die staatlichen Langfinger, die die Pakete massenhaft öffneten und plünderten. Den Film zu machen war für die beiden ein Herzensprojekt, an dem sie fünf Jahre lang arbeiteten. Die Zuschauer dankten es ihnen mit eigenen, lebhaften Erinnerungen. Die vielleicht gerade deshalb so intensiv sind, weil Nutella und Jeans was ganz Besonderes waren.

So schildert es Wolfgang Thierse, den wohl niemand verdächtigt, die Mauer wiederhaben zu wollen. Ein leicht wehmütiges Bedauern schwingt in seiner Stimme mit, als er sagt: »Die Sehnsucht nach dem, was man nicht hat, ist weg. Es war eine Freude, die es so nicht mehr gibt.«

Und doch, selbst im Zeitalter des Onlinehandels, da der Paketbote jeden Tag zweimal klingelt und die Post sich quasi selbst abgeschafft hat, nur noch als Bank mit ein paar Extraschaltern existiert oder als Außenstelle im Schreibwarenladen, ja, trotz alledem hat das Geschenkpäckchen sich bis heute seinen Zauber bewahrt. Es ist die Magie der Wundertüte. Man weiß nicht, was einen erwartet in all dem raschelnden Papier. Ein Geburtstagskuchen, eine Tischdecke, ein Roman …

Sag’s mit Petersilie

Wenn Sie wüssten! Wenn Sie wüssten, wie viel Freude Blumen auslösen, Sie würden den nächsten Floristen stürmen oder, noch besser, die nächste Wiese leerpflücken. Nie wieder würden Sie lästern über diese Form des Präsents. Von wegen, Verlegenheitsmitbringsel, Fantasielosigkeit! Rosen, Kornblumen, Nelken (ja, auch die, von meiner Mutter geliebt, von den meisten gehasst, erleben ein Revival) sind das perfekte Geschenk: gerade weil sie nichts Nützliches haben, keinen praktischen Zweck erfüllen. Außer dem, schön zu sein und zu duften. Zu erfreuen. Manchmal auch zu trösten, Hoffnung zu geben. Nicht nur bei einer Beerdigung. Eine Freundin aus Berlin hat ihrer Mutter in Konstanz während deren Chemotherapie regelmäßig einen Strauß geschickt. Sie hatten beide ihre Freude dran.

Als die Schriftstellerin und Kafka-Freundin Milena Jesenská im KZ Ravensbrück eingesperrt war, haben Freunde ihr Blumen ins Lager geschmuggelt. Es gab vieles, was sie dringender hätte gebrauchen können, feste Schuhe, einen warmen Mantel, vor allem Essen natürlich. Der Strauß hat ihr nicht das Leben gerettet, Milena Jesenská ist in Ravensbrück umgekommen. Aber er hat Schönheit und Trost an einen unmenschlichen Ort gebracht.

Man sollte allerdings Vorlieben und Abneigungen berücksichtigen. Eine Freundin liebt elegante Teerosen, schon um des Namens willen, hat sie aber noch nie geschenkt bekommen: »denn sie sind wild und eigen«. Die andere verschenkt Hortensien, »wann immer es geht. Die sind fett und selbstbewusst, bestehen aber aus ganz vielen Einzelblüten und sehen noch toll aus, wenn sie trocknen.« Mag er’s kurz und bündig oder lang und locker, knallig oder zart? Wobei — er trifft es nicht so. Man mag’s kaum glauben, im 21. Jahrhundert, aber viele Menschen kämen nicht auf die Idee, einem Gastgeber (es sei denn, er ist schwul oder öffnet zufällig statt seiner Frau die Tür) einen Strauß zur Dinnerparty mitzubringen. Es gibt 30-jährige Männer, die tatsächlich noch nie Blumen geschenkt bekommen haben, nicht mal von ihren Freundinnen, die sich offenbar denken: Geldverschwendung, weiß er eh nicht zu schätzen. Männer, die ihrerseits allenfalls der Mutter zum Muttertag welche überreichen. Das nenne ich wahre Fantasielosigkeit. Ein Sträußchen irgendwann, ganz ohne äußeren Anlass, sagen wir: Mitte März, wenn man nach Grün und Farben lechzt — das wär’s doch.

Die Ungleichheit der Geschlechter beschränkt sich übrigens nicht auf den häuslichen Bereich. Man muss sich nur mal in der Kultur umgucken: Bei Konzerten bekommt der Dirigent (in der Regel immer noch männlich) einen schönen Strauß als Dankeschön, und der hat nichts Besseres zu tun, als ihn wie eine heiße Kartoffel, so schnell wie möglich, der ersten Geigerin oder sonst einer Musikerin seiner Wahl in die Hand zu drücken. Eine demonstrative Geste der Bescheidenheit eines Kavaliers alter Schule. In der New York Times habe ich von einem Choreographen gelesen, der allen Tänzern des Royal Ballet in London beim Schlussapplaus Bouquets überreichen wollte, aber erst den Direktor der Kompagnie um Erlaubnis bitten musste. Einige Traditionalisten haben sich über die Geste trotzdem empört. Was, bitte schön, ist denn so unmännlich an Blüten? Die Leiterin des Berliner Hauses am Waldsee überreicht allen Musikern und Autoren, die bei ihr auftreten, einen Strauß. Bei Männern ist es ihr ein besonderes Vergnügen: »weil es sie meistens ein klein wenig verblüfft. Dann sehe ich zu, dass die Zusammenstellung besonders unkonventionell ist.«

Wäre es nicht an der Zeit für Gleichberechtigung? Vielleicht muss man nur hartnäckig nachhelfen. Zu wirklich jeder Gelegenheit, erzählt meine Kollegin, verschenke sie Blumen, bunte Wiesensträuße, ungern Rosen. »Auch Männer, Portiers, Hausmeister und Elektriker bekommen welche von mir, damit müssen sie leben.«

Wobei es nicht nur Differenzen zwischen den Geschlechtern, sondern auch ein Stadt-Land-Gefälle gibt. Auf dem Land hat jeder Natur und Garten satt, da reichen die Blumen allein nicht aus, sie brauchen Glitzer, Lack und knisterndes Plastik, die »Personalisierung« in Form von Karten, so dass am Ende von den Blüten nichts mehr zu sehen ist. In der urbanen Middle Class dagegen ist Natürlichkeit angesagt. Alles, was wild aussieht, auch wenn es das nicht ist, Hauptsache saisonal und regional, wie beim Essen, Gräser, Stauden, Rittersporn, Disteln, Mohn.

Es muss kein Riesenstrauß sein, um Freude zu bereiten. Ein Sträußchen ist oft wirkungsvoller. Oder auch bloß eine einzelne kostbare Blüte. »Nach einer schmerzlichen Trennung«, erzählt eine Kuratorin, »stand eine Blume auf meinem Schreibtisch, die ein aufmerksamer Freund dort hingestellt hatte. Das stille Zeichen dafür, dass es weitergeht und ich nicht allein bin, hat mich sehr berührt.« Und, so weit zumindest sind wir im 21. Jahrhundert schon, man braucht nicht mehr die geheime Sprache der einzelnen Arten zu beherrschen. Keiner muss wissen, welche versteckte Botschaft womöglich hinter der Gladiole steckt (sei nicht so stolz!). Allein bei Rosen sollte man vorsichtig sein. Ansonsten gilt: Jeder kann einer Pflanze Bedeutung verleihen. Seit der Journalist Deniz Yücel nach seiner Freilassung aus dem türkischen Gefängnis seine Frau und gleichzeitig einen Strauß Petersilie überglücklich im Arm hielt, weiß die Welt, dass die Blume der Liebe viele Formen haben kann. Alles eine Frage der Fantasie.

Aber Vorsicht! Ich kenne jemanden, der betrachtet Schnittblumen als Mordopfer, vom Menschen allein aus dem egoistischen Grund der Freude abgeschlachtet.

Dabei kann man auch pflücken mit Respekt. So wie es meine Schwägerin macht, die bei jeder Gelegenheit Blumen an Menschen verschenkt, von denen sie weiß oder mindestens annimmt, dass sie es zu schätzen wissen. Zu jeder Jahreszeit geht sie in den Garten und stellt einen kleinen Strauß zusammen. Im Winter notfalls mit Zweigen, Immergrün oder Zapfen. Da Steffi sowieso mit allen Pflanzen spricht, bedankt sie sich bei ihnen und bittet um »das Einverständnis, Freude zu bereiten«.