Der Wind, der vom Meer herkommt, bringt schwere, graue Wolken mit
sich, die sich am Himmel türmen und baldigen Regen verheißen. Der
Wind bringt auch Nebel mit sich, feine Schlieren noch, die über den
Strand treiben und sich in den Dünen verlieren.
Sie folgt ihrem allabendlichen Weg hinunter an den Strand, in einem
Kleid, das viel zu lang ist, weil sie barfuß läuft, mit einem
breiten Schal um die Schultern dem Wind trotzend. Der Saum ihres
Kleides schleift hinter ihr her, wie um ihre Spuren zu verwischen,
damit niemand um ihre Anwesenheit weiß. Sie bleibt stehen, als das
kalte Wasser ihre Füße umspielt, den Saum des Kleides durchtränkt.
Den Schal enger um sich ziehend blickt sie hinaus aufs Meer und
kann doch nicht so weit sehen. Sie schmeckt Salz auf ihren Lippen,
dort, wo ihre Tränen sich mit der Gischt mischen, die der Wind mit
sich trägt. Eine Blüte fällt aus ihrer Hand, eine Calla, zartlila,
bleibt neben ihrem Fuß liegen, bis eine Welle sie mit sich nimmt,
hinaus aufs Meer.
Als der Regen einsetzt, wendet sie sich ab und geht nach
Hause.
Das Badewasser ist beinahe zu heiß, weil der kalte Regen bis auf
die Knochen gedrungen zu sein scheint, und doch kann es nicht die
Kälte in ihrem Inneren bannen. Sie schließt die Augen und lehnt
sich zurück.
Beinahe wäre sie im letzten Moment noch zu Hause geblieben, weil
der Absatz ihres Schuhs abgebrochen war. Etwas, das ihr noch nie
vorher passiert war, und sie zu der Überlegung veranlasste, ob es
sich dabei möglicherweise um ein schlechtes Omen handelte. Doch sie
kannte auch ihre Schwester. Es war deren Verlobungsfeier, die
Familie ihres Zukünftigen kam extra aus Australien. Oder
Neuseeland. So genau hatte sie nicht zugehört. Sie wusste nur, dass
sie aus „Übersee“ kamen – was immer das heißen sollte. Also zog sie
seufzend ein anderes Paar Schuhe an und machte sich auf den
Weg.
Das Erste, das sie an ihm wahrnahm, waren seine Augen. Dunkelbraun
und voller Leben. Das Zweite war sein Lachen, und da war es bereits
um sie geschehen.
Nach einem langen Abend mit unzähligen Tänzen und einigen
Gesprächen schwebte sie längst oberhalb des gesunden
Menschenverstands und wäre ihm bedenkenlos nach „Übersee“ gefolgt,
obwohl sie immer noch nicht wusste, wo genau das lag.
Das darauf folgende Jahr bestand ausschließlich aus Chatten und
Telefonieren, ohne dass der Zauber der ersten Begegnung verflogen
wäre. Im Gegenteil, die Sehnsucht wuchs beständig, und als er ihr
erzählte, er könnte für einen Monat zu ihr kommen, war sie selig.
Und konnte sein Eintreffen kaum abwarten.
Es war der schönste Monat ihres Lebens, und bevor er sie wieder
verlassen musste, schenkte er ihr einen Strauß blasslilafarbener
Calla und bat sie, seine Frau zu werden.
Sie bleibt nicht lange im Wasser, noch immer friert sie, ihr
feuchter Körper dampft in der Kühle des Badezimmers und überzieht
sich mit einer Gänsehaut. In ein großes Badetuch gehüllt flieht sie
ins Wohnzimmer, wo der Kachelofen eine wohlige Wärme
verbreitet.
Ihr erster Weg führt sie zur Stereoanlage, sie legt eine CD ein und
beginnt, sich abzutrocknen.
Endlich ist er da, steht hinter ihr, nimmt ihr das Handtuch ab und
fährt damit sanft über ihre noch feuchte Haut. Dann lässt er das
Handtuch fallen, seine Fingerspitzen wandern jetzt sacht über ihren
Körper, wieder bekommt sie eine Gänsehaut, doch sie friert nicht
mehr. Er haucht einen Kuss auf ihren Nacken, lacht plötzlich auf
und wirbelt sie herum, seine Arme umfangen sie fest und zugleich
zärtlich, und er beginnt, mit ihr zu tanzen. Sie taucht tief in
seine warmen Augen und schmiegt sich an ihn, Wange an Wange wiegen
sie sich im Takt der Musik.
Zeit hat ihre Bedeutung verloren, Tanz um Tanz in seinen Armen,
genießt sie seine Nähe. Irgendwann hebt er sie hoch, trägt sie zum
Sofa und küsst sie verheißungsvoll, während seine Hände über ihren
erhitzten Körper wandern, sie schaudern machen vor Wonne, und dann
ist er in ihr und die Wellen der Lust tragen sie fort.
Sie erwacht auf dem Bett, allein, er ist bereits wieder fort. Nur
auf dem Kopfkissen neben ihr liegt eine Blume. Eine Calla.
Zartlila. Sie ist sein Abschiedsgruß. Und sein Versprechen.
Die Sonne ist bereits aufgegangen, strahlt von einem nahezu
wolkenlosen Himmel und lässt die Wellen glitzern. Sie steht
fröstelnd am Schlafzimmerfenster und schaut hinaus aufs Meer, das
ihr einst genommen hatte, was sie am meisten liebte – und das ihn
ihr doch jede Nacht wiederbringt.