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Hörschädigungen, Hörhilfen, Wege der Kompensation

In diesem Kapitel werden die verschiedenen Arten von Hörschädigungen und technische Hilfsmittel für Schüler mit Hörschädigung vorgestellt. Eine Hörschädigung kann unter anderem Auswirkungen auf die Sprache, die Konzentrationsdauer und die zwischenmenschlichen Beziehungen haben. Außerdem wird auf mögliche Strategien des Schülers zur Kompensation von unzureichender Kommunikation eingegangen.

1.1     Arten und Grade von Hörschädigungen

1.1.1   Arten von Hörschädigungen

Die Ursache für eingeschränktes Hören kann an verschiedenen Orten zwischen Außenohr über Mittelohr, Innenohr und Hörnerv bis zum Gehirn liegen, die jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf das Hören bewirkt. Je nach Ort der Störung unterscheidet man die Arten von Hörschädigungen (Abb. 1 und Tab. 1). Diese können zu zwei Gruppen zusammengefasst werden:

periphere und zentrale Hörschädigungen

   periphere Hörschädigungen: betreffen den Bereich vom Außenohr über Mittel- und Innenohr sowie den ersten Teil der Hörbahn

   zentrale Hörschädigung: liegt vor, wenn die weiteren Teile der Hörbahn oder die zuständigen Abschnitte im Gehirn in ihrer Funktion gestört sind, wie bei einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)

Abb. 1: Unterscheidung peripherer und zentraler Hörschädigungen

Tab. 1 gibt einen Überblick über die Arten von peripheren und zentralen Hörschädigun­gen, die im Schulalter vorkommen können. Eine Hörschädigung kann von Tinnitus („Ohrensausen“) begleitet sein und eine psychische und kommunikative Herausforderung bedeuten.

Tab. 1: Arten von Hörschädigungen

Simulationen von verschiedenen Hörschädigungen sowie die Änderungen bei Nutzung technischer Hörhilfen und Geräte können unter facstaff.uww.edu/bradleys/radio/hlsimulation angehört werden.

1.1.2   Grad des Hörverlustes

Audiogramm

Ein Audiogramm wie in Abb. 2 stellt das subjektive Hören einer Person im Vergleich zur Norm dar. Horizontal sind die Frequenzen in Hertz (Hz bzw. kHz), also die Tonhöhen, vertikal der Hörpegel in Dezibel (dB), also die Lautstärken, angegeben.

Abb. 2: Beispiel eines Audiogramms

Hörschwelle

Um die individuelle Hörfähigkeit zu messen, wird mittels Audiometer getestet, bei welcher Lautstärke ein Ton gerade noch wahrnehmbar ist. Diese Messung über verschiedene Frequenzen ermittelt die Hörschwelle. Eine Hörschwelle bei 0 dB entspricht dem definierten ­durchschnittlichen Mittelwert (normal-)hörender junger Erwachsener (Leonhardt 2019, 54f., 96) und ist hier als dicke schwarze Linie gekennzeichnet. Die in diesem Beispiel gemessene Hörschwelle des linken Ohres ist durch die blauen Linien dargestellt und liegt im Bereich zwischen 50 und 80 dB. Die durchgezogene blaue Linie bezeichnet die Messung per Luftleitung, also über Kopfhörer oder im freien Schallfeld, die gestrichelte Linie per Knochenleitung, also über einen Knochenleitungshörer am Mastoid. Im Unterricht hört der Schüler über die Luftleitung.

In Abb. 3 sind in einem Audiogramm Symbole eingetragen, die die entsprechenden Geräusche verorten: Das Tropfen von Wasser erzeugt beispielsweise ein Geräusch bei etwa 250 Hz mit einer Lautstärke von ca. 10 dB. Die Laute der deutschen Sprache bewegen sich vorzugsweise in einem Frequenzbereich zwischen 500 und 4000 Hz. Ein normales Gespräch liegt bei einer Lautstärke von ca. 65 dB (durch die zwei sprechenden Personen dargestellt).

Grad des Hörverlustes

Außer den Arten von Hörschädigung ist das Ausmaß bedeutsam, auch Grad des Hörverlustes genannt. Je nachdem, in welchem Dezibel-Bereich bei den verschiedenen Frequenzen die Hörschwelle liegt, wird von einer leicht-, mittel-, hochgradigen oder an Taubheit grenzenden Hörschädigung gesprochen (Abb. 3). In Abb. 2 und Abb. 3 ist die Hörschwelle (Luftleitung) durch die blaue durchgezogene Linie dargestellt und liegt im Bereich zwischen 50 und 80 dB. Je nach Frequenz wird in diesem Fall von einer mittelbis hochgradigen Hörschädigung gesprochen, mit der Sprache ohne Hörhilfen kaum wahrnehmbar ist.

Aufblähkurve

Hörhilfen heben die Hörschwelle an. Die dadurch neu entstehende Hörkurve wird als Aufblähkurve bezeichnet und ist in Abb. 3 mit der gestrichelten roten Linie gekennzeichnet. Sprache wird so besser, aber nie uneingeschränkt verständlich.

Abb. 3: Audiogramm mit Geräusch-Symbolen

Die verschiedenen Hörschädigungen haben unterschiedlich hohen Einfluss auf das Sprachverstehen und die Sprachentwicklung. Eine frühzeitige Versorgung mit Hörhilfen, deren konsequente Nutzung und eine gezielte Förderung unterstützen die Laut- und Schriftsprachentwicklung.

einseitige Hörschädigung

Eine Hörschädigung kann auch einseitig auftreten. Diese Schüler hören leiser, unter Störgeräuschen schlechter und haben kein Richtungshören. Auch sie benötigen spezifische didaktische Maßnahmen. Weitere Literatur dazu am Ende des Kapitels.

Zusatzinfo „Weitere Schülergruppen“

Gebärdensprachlich kommunizierende Schüler

Vorliegende Handreichung bezieht sich auf Schüler, die mittels Lautsprache kommunizieren, da dies die größte Gruppe der inklusiv beschulten Schüler mit Hörschädigung ausmacht. Neben den lautsprachlich kommunizierenden gibt es die gebärdensprachlich kommunizierenden Schüler. Bei ihnen unterscheidet sich die Kommunikationssituation, sodass die in dieser Handreichung gegebenen Hinweise zum Sprachverstehen (Kap. 1.3.1) nicht bedingungslos übertragen werden können. Viele Aspekte der Handreichung treffen jedoch ebenso auf diese die Gebärdensprache nutzende Schülergruppe zu.

Dolmetscher

Zu beachten: Bei einem mit Gebärdensprache kommunizierenden Schüler in der ­Inklusion ist ein Gebärdensprachdolmetscher (in höheren Klassen auch ein Schriftsprachdolmetscher) nötig. Bei Interesse kann gemeinsam das Fingeralphabet gelernt werden mit dem hörgeschädigten Schüler als Experten (Kap. 4.3). Ein Link mit weiteren ­Informationen findet sich in den Literaturangaben am Ende des Kapitels.

Children Of Deaf Adults (CODA)

Children Of Deaf Adults (CODA) sind hörende oder mit einem Cochlea Implantat versorgte Kinder gehörloser Eltern. Sie wachsen sprachlich und kulturell in zwei Welten auf. Das führt oft zu einer leichten visuellen Ablenkbarkeit und einer erschwerten Identitätsfindung. Auftretende Probleme teilen die Schüler ihren Eltern häufig nicht mit.

Schüler mit Auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)

Definition

Eine Auditive Verarbeitungs- und/oder Wahrnehmungsstörung (AVWS) liegt vor, wenn bei einer normalen Hörschwelle zentrale Prozesse des Hörens gestört sind: Der Schüler hört, versteht aber nicht. Häufig sind die Schwierigkeiten dieser Schüler nicht in der direkten Ansprache, jedoch in bestimmten Unterrichtssituationen festzustellen.

Auffälligkeiten

AVWS tritt isoliert oder in Kombination mit anderen Störungen auf. Es kann Auffälligkeiten im Hör-, Sprach-, Unterrichts- und psychosozia­len Verhalten (Abb. 4) geben, wobei Zahl und Ausprägung der Auffälligkeiten variieren und die ­Diagnostik erschweren.

Abb. 4: Mögliche Auffälligkeiten bei AVWS im Hör-, Sprach-, Unterrichts- und psychosozialen Verhalten

Schüler mit AVWS und CODA’s benötigen ähnliche Rahmenbedingungen und Unterstützung wie Schüler mit peripherer Hörschädigung. Die Empfehlungen aus dieser Handreichung nutzen folglich auch diesen Schülergruppen. Der Mobile Dienst kann sowohl organisatorisch als auch didaktisch unterstützen.

Empfehlungen bei Schülern mit AVWS

Rahmenbedingungen

Optimierung der äußerenRahmenbedingungen

Sitzposition (Kap. 3.1.2)

   Blick zu Mitschülern mit geringem Abstand zum Lehrer (oft Eckplatz vorne am Fenster)

   Einzeltisch, um Ablenkung zu reduzieren, oder neben ruhigem Nachbarn als Tutor

Akustische Bedingungen (Kap. 3.1.3)

   Vermeidung von Geräusch- und Lärmquellen (v. a. bei offenen ­Unterrichtsformen)

   Schaffen von Ruheinseln (abgeschirmter Arbeitsplatz, z. B. mit Gehörschutz)

   Übertragungs- oder Klassenbeschallungsanlage einsetzen (Lautsprecher)

   gezielte Wahl der Lage des Klassenzimmers (z. B. am Flurende, abseits der Straße)

Unterricht

Unterricht

Sprache und Kommunikation (Kap. 3.2.1)

   Blickkontakt zum Schüler

   deutliche, klare, reflektierte Lehrersprache

   kurze Sätze mit einfach strukturiertem Satzbau

   Einsatz von Gestik und Mimik

   Wiederholung von wesentlichen Beiträgen (durch Lehrer oder Mitschüler)

   Einhaltung von Gesprächsregeln (Kap. 4.4 und 4.5)

   Beachtung von Sprechpausen

   Zeit zum Überlegen und Antworten einräumen

Methodisch-didaktische Maßnahmen (Kap. 3.2.2)

   Strukturierung und Visualisierung (Rituale, Wichtiges anschreiben, ­Wortkarten)

   Verwendung von Symbolen und akustischen Signalen

   Einsatz rhythmisch-motorischer Elemente (Silbenschwingen, Luftschreiben)

   Informationsdarbietung in kleineren Einheiten

   Einplanen von Konzentrations- und Ruhepausen

   Kurzzusammenfassung/Wiederholung durch den Schüler, Verständnisfragen

   Informationsstunde für die Klasse (Hörstunde, Hörprojekt)

weitere Maßnahmen

Weitere Maßnahmen in Zusammenarbeit mit dem Mobilen Dienst

   Zusammenarbeit mit Fachdiensten (Hausaufgabenbetreuung, Logopädie, …)

   Nachteilsausgleich (bei Bedarf)

   Informations- und Fortbildungsveranstaltungen

(nach Lindauer 2009, besonders empfehlenswert S. 84f.)

1.2     Hörsysteme und weitere technische Hilfsmittel

Technische Hörhilfen können den Höreindruck verbessern, doch auch bei ­optimaler Einstellung und früher Versorgung kein natürliches Hören ermöglichen. Der Hör­eindruck bleibt verändert. Schwierigkeiten in der Kommunikation und negative psychosoziale Folgen können trotz der Hörhilfen nicht ausgeschlossen werden.

Gebräuchliche Hörhilfen sind in Tab. 2 zusammengefasst, bei Interesse können ­genauere Informationen zu den häufigsten Geräten in Kap. 1.2.1 nachgelesen werden.

1.2.1   Typische Hörhilfen

Tab. 2: Übersicht zu verbreiteten Hörgeräten, Implantaten und Übertragungsanlagen

Hörsysteme und Implantate

individuelle Hörhilfen

Hörsysteme und Implantate, sog. individuelle Hörhilfen, nehmen den Schall über das Mikro­fon auf, modifizieren ihn mittels Verstärker und Prozessor nach den spezifischen Anforderungen des geschädigten Gehörs und geben ihn an das Ohr weiter. Digitale Gerä­te verfügen über eine Vielzahl an Funktionen und Programmen, die das ­Sprachverstehen unter möglichst optimaler Ausblendung von Störgeräuschen verbessern sollen. Eine beidseitige Hörschädigung sollte auch beidseits mit Hörhilfen versorgt werden, um ­einen möglichst natürlichen Höreindruck mit Richtungshören zu erreichen.

Umgang mit Hörhilfen

Die individuelle Einstellung und eine Überprüfung auf Funktion und Sitz sollte regelmäßig durch den Hörgeräteakustiker bzw. durch das betreuende CI-Zentrum erfolgen, besonders bei Personen, die sich noch im Wachstum befinden. Eltern und Lehrer sollten auf konsequentes Tragen der Hörhilfe(n) achten. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für die Hörgeräteversorgung von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr etwa alle drei bis fünf Jahre.

HdO-Gerät

Zu den meist verbreiteten individuellen Hörhilfen zählt das Hinter-dem-Ohr-Gerät (kurz: HdO-Gerät), das hinter der Ohrmuschel getragen wird (Abb. 5). Das Ohrpassstück im Gehörgang (Otoplastik) überträgt den im Hörgerät veränderten Schall an das Ohr.

Abb. 5: HdO-Gerät

In der Regel ist ein Audioeingang vorhanden, der das Verbinden mit Audiogeräten (Fernseher, PC usw.) oder Übertragungsanlagen ermöglicht. Dazu kann auf den Audioeingang ein Adapter, der Audioschuh, gesteckt werden, der über ein Kabel oder per Funk mit den Geräten verbunden wird. Diese direkte Übertragung ­ermöglicht einen verbesserten Höreindruck.

Knochenleitungshörgerät

Abb. 6: BAHA mit Stirnband

Das Knochenleitungshörgerät (bone-anchored hearing aid, kurz: BAHA®) wird bei einer Fehlbildung des ­Gehörgangs verwendet. Es wird operativ oder durch ein Stirnband am Knochen hinter der Ohrmuschel (Mastoid) befestigt (Abb. 6). Diese Hörhilfe umgeht den Weg über das Außen- und Mittelohr (z. B. bei Missbildung der Ohrmuschel oder des Gehörgangs, Allergien oder einseitiger Hörschädigung), indem es Schallvibrationen an den Schädelknochen und in der Folge direkt an das funktionsfähige Innenohr abgibt. Ein Audioeingang für Übertragungsanlagen und anderes Zubehör ist optional verfügbar.

Cochlea Implantat

Indikation

Bei einer Schädigung der Haarzellen in der Hörschnecke (Cochlea) kann ein Cochlea Implantat (kurz: CI) operativ eingesetzt werden. In die Hörschnecke eingeführte Elektroden umgehen die geschädigten Haarzellen und geben das Signal direkt an die funktionsfähigen Hörnervenfasern weiter.

Funktionsweise

Beim Hören mit CI wird der Schall durch ein Bauteil mit Mikrofon, Sprachprozessor und Batterie aufgenommen. Es kann wie ein HdO-Gerät hinter der Ohrmuschel getragen oder etwa bei Kleinkindern an der Kleidung fixiert werden. Am Mastoid, dem Knochen hinter der Ohrmuschel, befindet sich die damit verbundene, durch Magneten gehaltene Sendespule. Sie leitet diese Signale an die Empfängerspule unter der Haut und an die Elektroden in der Hörschnecke weiter (Abb. 7).

Rehabilitation

Die Eltern müssen im Austausch mit den Lehrern die regelmäßige Nachsorge durch den zuständigen Ansprechpartner (Hörgeräteakustiker oder CI-Zentrum) sicherstellen, bei dem der Sprachprozessor angepasst wird. Außerdem hilft individuelle Hörerziehung, um das vorhandene Hören auszubauen.

Wie beim Hörgerät kann beim CI über einen Audioeingang die Verbindung mit ­exter­nen Geräten hergestellt werden.

Abb. 7: Querschnitt eines Ohres mit CI

Drahtlose Übertragungsanlage

Funktionsweise

Die in der allgemeinen Schule am häufigsten eingesetzte Anlage ist die drahtlose Übertragungsanlage, die häufig noch mit dem früher üblichen Begriff „FM-Anlage“ bezeichnet wird (mobile frequenzmodulierte Anlage). Der Lehrer bzw. der aktuelle Sprecher trägt eine Sendeeinheit mit Mikrofon. Die Äußerungen werden durch Funksignale an die Empfangseinheit des Schülers geschickt. Diese gibt die Sprachsignale über den Audio­eingang an die Hörhilfe weiter, d. h. an das Hörsystem, das Cochlea Implantat oder bei AVWS an den Kopfhörer. Somit können die Informationen über eine größere Distanz unter Ausblendung von Störgeräuschen und ohne Lautstärkeverlust empfangen werden. Für Sprachbeiträge von Mitschülern sollten weitere Mikrofone, z. B. Handmikrofone, zum Weitergeben eingesetzt werden (Abb. 8), deren Anschaffung jedoch häufig nicht von der Krankenkasse übernommen wird.

Abb. 8: Drahtlose Übertragungsanlage und Handmikrofon

1.2.2   Versorgung und Nutzung der Hörhilfen

Verbesserung des Hörverstehens