JOCKO WILLINK
DAS NAVY-SEAL-HANDBUCH FÜR FÜHRUNGS-STRATEGIEN
JOCKO WILLINK
DAS NAVY-SEAL-HANDBUCH FÜR FÜHRUNGS-STRATEGIEN
Übersetzung aus dem Englischen von Jordan Wegberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek |
Für Fragen und Anregungen
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1. Auflage 2021
© 2021 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
© der Originalausgabe 2020 by Jocko Command LLC
Die englische Originalausgabe erschien 2020 bei St. Martin‘s Press unter dem Titel Leadership Strategy and Tactics: Field Manual.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Jordan Wegberg
Redaktion: Bärbel Knill
Umschlaggestaltung: Marc Fischer
Umschlagabbildung: Jocko Willink
Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.
Druck: Florjancic Tisk d.o.o., Slowenien
eBook by tool-e-byte
ISBN Print 978-3-86881-800-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-231-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-232-4
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DIESES BUCH IST DEN MÄNNERN DES SEAL TEAM THREE GEWIDMET, DER TASK UNIT BRUISER, DIE MICH ZU FÜHREN GELEHRT HABEN, INSBESONDERE:
MARC LEE, DER MICH DEN WERT DES LEBENS GELEHRT HAT.
MIKEY MONSOOR, DER MICH DIE BEDEUTUNG VON OPFERBEREITSCHAFT GELEHRT HAT.
RYAN JOB, DER MICH ECHTE BEHARRLICHKEIT GELEHRT HAT.
CHRIS KYLE, DER MICH PFLICHTBEWUSSTSEIN GELEHRT HAT.
UND SETH STONE, MEINEM BRUDER, DER MICH LOYALITÄT UND FREUNDSCHAFT GELEHRT UND NIE IM STICH GELASSEN HAT.
NIEMALS.
INHALT
EINLEITUNG: FÜHREN LERNEN – DIE WURZELN
TEIL 1: FÜHRUNGSSTRATEGIEN
KAPITEL 1: GRUNDLAGEN
Erster Platoon: Loslösung
Zweiter Platoon: von Arroganz und Demut
Dritter Platoon: die eigenen Grenzen überschreiten
Die Gesetze des Kampfes und die Prinzipien der Führung
Die Macht von Beziehungen
Das Spiel mitspielen
Wann ist Meuterei zulässig?
Woher kommt Führung?
Führung und Manipulation
Zügeln Sie Ihren Stolz
Führungskräfte sagen die Wahrheit
Lernen
KAPITEL 2: ZENTRALE LEHRSÄTZE
Seien Sie tüchtig und bitten Sie um Hilfe
Vertrauen und Beziehungen aufbauen
Einfluss und Respekt gewinnen
Extreme Ownership in allem
Messing aufsammeln
Führung aus dem Hintergrund
Nicht überreagieren
Mir egal!
Jeder ist gleich, jeder ist anders
Überlassen Sie es der Natur
Isolation als Führungskraft
Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden
KAPITEL 3: PRINZIPIEN
Das wichtigste Mitglied des Teams
Wie weit reicht Ihre Kontrolle?
Disziplin ist Fürsorge für Ihre Mitarbeiter
Erzwungene Disziplin
Stolz
Anweisungen erteilen
Jasager
Die Ausnahme von »Es gibt keine schlechten Teams, nur schlechte Vorgesetzte«
TEIL 2: FÜHRUNGSTAKTIK
KAPITEL 4: ZUR FÜHRUNGSKRAFT WERDEN
Als neue Führungskraft erfolgreich sein
Wie man zur Führungskraft ernannt wird
Wenn Sie nicht ausgewählt werden
Das Hochstapler-Syndrom
Ungewissheit als Führungskraft
Vom Teamkollegen zum Anführer
Groll überwinden
Ein neuer Sheriff in der Stadt
Übertreib’s nicht, Rambo
KAPITEL 5: FÜHRUNGSKOMPETENZ
Wann man initiativ werden und führen muss
Nehmen Sie’s nicht persönlich
Verschanzen Sie sich nicht
Entscheidungen schrittweise treffen
Dezentrales Kommando oder Delegieren aus Bequemlichkeit?
Der Problemlöser
Menschen beurteilen
Beeinflussung
Alles ist gut (aber so gut auch wieder nicht)
KAPITEL 6: MANÖVER
Führungskräfte durch die Praxis schulen und aufbauen
Eine negative Haltung korrigieren
Kollegen führen
Misstrauische, entscheidungsunfähige und schwache Vorgesetzte
Wann Mikromanagement angebracht ist
Der Chef heimst alle Lorbeeren ein
Der nahezu untragbare Vorgesetzte
Stressabbau
Bestrafung
Wann man aufgeben sollte
KAPITEL 7: KOMMUNIKATION
Die Leute auf dem Laufenden halten
Gerüchten entgegenwirken
Klare Richtlinien
Weil ich es sage
Die Frage nach dem Warum
Mit Taktgefühl die Wahrheit sagen
Ausgewogenes Lob
Hoffnung
Das Ultimatum als letztes Mittel
Spiegeln und abschwächen
Untergebene anbrüllen
Andere zum Zuhören bringen
Entschuldigungen
Seien Sie nahbar, aber wählen Sie Ihre Worte mit Bedacht
Mit gutem Beispiel vorangehen
ZUM ABSCHLUSS:
Alles hängt von Ihnen ab – aber es geht nicht um Sie
ÜBER DEN AUTOR
Als ich nach dem Abschluss des Basic Underwater Demolition/SEALTrainings (BUD/S) dem SEAL Team One zugeteilt wurde, gab es keinen Leadership-Kurs. Neue SEALs erhielten keine wie auch immer gearteten Lehrbücher oder Materialien zum Thema. Von uns wurde erwartet, dass wir so zu führen lernten, wie SEALs seit Anbeginn ihrer Existenz gelernt hatten - durch OJT - On-the-Job-Training.
Mit Sicherheit hat das OJT einige Vorteile. Es ist von Nutzen, eine erfahrene Führungskraft als Coach und Mentor zu haben, die einen ausbildet, während man die realen Herausforderungen des tatsächlichen Jobs durchmacht. In den SEAL-Teams bedeutet dies, dass ein Vorgesetzter einem sagt, was genau man in verschiedenen Szenarios tun soll, während man sie durchläuft. Falls der Vorgesetzte zufällig eine gute Führungspersönlichkeit ist, dann investiert er gern in einen, und wenn man klug genug ist, aufmerksam zuzuhören, lernt man am Ende etwas über Führung.
Doch diese Methode, Führen zu unterrichten, hat ein paar entscheidende Mängel. Zunächst einmal sind nicht alle Führungskräfte gute Führungskräfte und die SEAL-Teams bilden da keine Ausnahme. Es war das Jahr 1991, als ich in die SEAL-Teams kam. Es gab keinen Krieg. Der erste Golfkrieg war soeben beendet worden, aber die Bodenkämpfe hatten lediglich zweiundsiebzig Stunden gedauert. SEALs führten nur eine geringe Anzahl von Operationen durch und diese waren relativ leicht. Fast alle anderen Einsätze in den annähernd zwanzig Jahren davor waren Friedenseinsätze gewesen. Die Hauptaufgabe der SEALs hatte darin bestanden, das Militär anderer Länder auszubilden. Die Teilnahme an Kampfhandlungen war für mich und die meisten anderen Militärangehörigen nur ein ferner Traum. In Wirklichkeit waren die SEAL-Teams – und das restliche US-Militär – seit dem Ende des Vietnam-Kriegs im Friedensmodus. Das bedeutete, dass Führungskräfte eigentlich nicht auf die Probe gestellt wurden. Ein guter Vorgesetzter in den SEAL-Teams hatte mehr oder weniger dieselben Aufgaben und stieg ebenso schnell auf wie ein schlechter Vorgesetzter.
Es gab keine Garantie, dass ein Zugführer, der junge SEALs betreuen sollte, die Art von Führungskraft war, der man hätte nacheifern müssen. Zudem streben nicht alle Vorgesetzten danach, ihre Untergebenen zu fördern. Außerdem können selbst die besten Führungskräfte ihre Zeit und ihr Wissen nur in ein paar wenige von ihren Leuten investieren. Selbst in Friedenszeiten gibt es jede Menge administrativer Arbeiten zu erledigen, weshalb Führungscoaching und Mentoring oft den Zeitplan sprengen.
Es blieb den jungen SEALs überlassen, achtsam zu sein. Doch es gab auch jede Menge Ablenkungen. Manchmal war es für ein neues Teammitglied schwer zu begreifen, dass er nicht immer der Neue bleiben würde – sondern dass er eines Tages Führer eines SEAL-Zugs sein würde und so viel wie möglich lernen musste, um dafür bereit zu sein.
Ich hatte Glück. Ich hatte ein paar wirklich hervorragende Vorgesetzte, die in mich investierten. Sie nahmen sich die Zeit, mir Dinge zu erklären. Sie sprachen mit mir über Strategie und Taktik. Einige der VietnamSEALs erzählten Geschichten, die wichtige Lektionen über taktische Führung vermittelten. Ich hörte zu. Diese Geschichten und Lektionen prägten sich mir ein. Schließlich konnte ich die erlernten Führungstheorien auf die ultimative Probe stellen – im Kampf. Danach erstellte ich eine Liste dieser Lektionen und gab sie weiter an die jungen SEALs, die in den Dienst eintraten. Ich versuchte, ihnen das Führen beizubringen.
Das Ziel des Führens erscheint simpel: Menschen dazu zu bringen, das Notwendige zu tun, um die Mission und das Team zu unterstützen. Aber die Führungspraxis ist für jeden anders. Es gibt Führungsnuancen, die jeder für sich selbst finden muss. Führungskräfte sind unterschiedlich. Gefolgsleute sind unterschiedlich. Kollegen sind unterschiedlich. Jeder hat seine eigenen individuellen Merkmale, Persönlichkeitsmuster und Perspektiven. Was das Führen so schwierig macht, sage ich Führungskräften häufig, ist der Umgang mit Menschen, denn Menschen sind verrückt. Und der Verrückteste, mit dem ein Vorgesetzter es zu tun hat, ist er selbst. Ungeachtet dessen hat selbst die Verrücktheit ein Muster; das menschliche Verhalten folgt Mustern. Wenn man die Muster erkennt, kann man voraussagen, wie die Dinge sich wahrscheinlich entwickeln werden, und Einfluss darauf nehmen.
Nachdem ich beim Militär meinen Abschied genommen hatte, unterrichtete ich zivile Führungskräfte nach den Prinzipien des Führens in Gefechten. Schließlich schloss ich mich mit meinem früheren SEALKameraden Leif Babin zusammen und rief eine Führungsberatungsfirma namens »Echelon Front« ins Leben. Die Grundsätze des Schlachtfelds passten auf jede Führungssituation. Was wir in kriegerischen Auseinandersetzungen gelernt hatten, beschrieben wir in zwei Büchern, die unsere Erfahrungen als Gefechtsführer wiedergaben, und schilderten die Anwendung der Kampfführung auf Geschäfts- und Privatleben. Die Bücher Extreme Ownership und Die zwei Seiten der Führung erläutern die Prinzipien auf verständliche Weise und illustrieren sie anhand von Geschichten aus dem Gefecht und aus der Geschäftswelt. Die Rückmeldungen von Führungskräften aus aller Welt waren unglaublich positiv, denn sie wendeten die in den Büchern beschriebenen Prinzipien auf ihr Umfeld an.
Doch die Anwendung der Prinzipien kann anspruchsvoller sein, als es den Anschein hat. Zwar ist es recht leicht, das Konzept zu verstehen, aber manchmal braucht es mehr als das. Ein Vorgesetzter muss die Strategie und Taktik begreifen, die zur tatsächlichen Umsetzung dieser Prinzipien notwendig ist – wie die Prinzipien auf pragmatische Weise zur Anwendung gebracht werden. Er muss die strategischen Grundlagen verstehen, auf denen die Prinzipien aufbauen, ebenso wie die zentralen Dogmen, die ihnen zugrunde liegen. Dann muss er die taktischen Fähigkeiten, die strategischen Manöver und die Kommunikationstechniken verstehen, die zum Einsatz dieser Führungsprinzipien verwendet werden. Und darum geht es in diesem Buch.
Wie in den anderen von mir verfassten Büchern beschreibe ich die Erfahrungen aus dem Gedächtnis und das ist nicht perfekt; die Zitate sind keine wortwörtlichen Wiedergaben, sondern Annährungen, um die thematisierten Ideen zu vermitteln. Einige Details wurden abgeändert, um die Identität der betroffenen Personen oder sensible Informationen zu schützen.
Dieses Buch muss nicht unbedingt der Reihe nach von vorne bis hinten gelesen werden. Es ist als Nachschlagewerk geschrieben und konzipiert, damit Führungskräfte rasch die für ihre Situation relevanten Strategien und Taktiken verstehen und umsetzen können. Das Navy-Seal-Handbuch für Führungsstrategien ist ein Praxishandbuch, um Führungskräften dabei zu helfen, das zu tun, was sie tun sollen: führen.
Wer bin ich, dass ich versuche, Führungskräften das Führen beizubringen? Wo habe ich Führung gelernt? Ein Großteil meiner Führungsausbildung war Glück. Ich nenne es Glück, weil es eine Reihe von glücklichen Umständen gab, die mir die richtige Grundeinstellung, die richtigen Lehrer und die richtigen Gelegenheiten verschafften, um zu lernen.
Einer dieser glücklichen Umstände, der meinen Fokus auf das Thema Führung lenkte, war die Tatsache, dass ich eigentlich über keinerlei spezielle natürliche Begabung verfüge. Als Kind war ich nie der Schnellste, der Stärkste oder der Klügste. Ich konnte nicht besonders gut Körbe werfen, Tore schießen oder Baseball spielen. Ich gewann keine Wettläufe und hatte kein Regal mit Pokalen und Medaillen. Auch meine Zeugnisse waren nichts Besonderes. Vielleicht hätte ich mehr leisten können, wenn der Unterrichtsstoff mich interessiert hätte, aber das tat er meistens nicht, und meine Noten spiegelten das wider. Ich war in jeder Hinsicht durchschnittlich.
Dennoch wollte ich im tiefsten Inneren gern gut sein. Ich wollte andere beeindrucken. Ich wollte ein Zeichen setzen, aber meine sportlichen und kognitiven Fähigkeiten ließen das nicht immer zu. Deshalb musste ich schon in jungen Jahren andere mit mehr Talent und mehr Kompetenz dazu bringen, das zu tun, was ich für notwendig hielt. Ich musste führen.
Natürlich betrachtete ich das nicht als Führung. Ich fand, dass ich einfach etwas ins Rollen brachte und meinen Beitrag leistete, indem ich Menschen dazu brachte, zusammenzuarbeiten und einander zu unterstützen, während wir uns einer gemeinsamen Mission widmeten. So eine Mission konnte darin bestehen, ein Lager im Wald zu bauen oder einen Angriff mit Wasserpistolen auf eine Gruppe von befreundeten Jungen zu planen. Was immer es war, im Allgemeinen gab ich denjenigen Anweisungen, die stärker, schneller oder sonst wie fähiger waren als ich. Das schien das zu sein, womit ich am besten helfen konnte, und es war der Bereich, in dem ich einen höheren Grad an Kompetenz aufwies.
Ich hatte auch immer einen Hang zur Rebellion. Vielleicht war das für mich wieder eine Methode, um mich hervorzutun; ich passte mich nicht dem an, was die anderen Kinder taten. Ich verhielt mich anders, hörte Hardcore und Heavy Metal und hatte eine Hardcore-Lebenseinstellung. Diese Haltung hob mich von der Masse ab. Nachdem ich nicht mehr zu den »normalen« Jugendlichen gehörte, war ich ein Außenseiter. Also beobachtete ich. Mit dem Blick von außen nach innen gewann ich ein tieferes Verständnis für die Menschen, die ich beobachtete. Ich betrachtete aus einer unbeteiligten Position heraus ihre Emotionen, ihre Cliquen und ihre Dramen. Ich lernte.
Meine Rebellion erreichte ihren Höhepunkt, als ich beschloss, zur Navy zu gehen. Viele der Jugendlichen aus meinem kleinen Städtchen in New England kifften, tranken Alkohol und hörten Hippiemusik. Nach der Highschool gingen etliche von ihnen ans College oder fingen an, mit irgendetwas zu handeln. Der Militärdienst war eines der radikalsten Dinge, die ein Jugendlicher aus meinem Heimatort tun konnte. Ich trieb es auf die Spitze und bewarb mich für die SEALs.
Ende der Achtziger- und Anfang der Neunziger-Jahre kannte sich niemand mit den SEALs besonders gut aus. Mein Musterungsoffizier von der Navy hatte eine schlechte Kopie des SEAL-Anwerbungsvideos mit dem Titel Be Someone Special dabei. Nach heutigen Maßstäben war es zwar total kitschig, aber es eröffnete mir eine Perspektive auf die SEALs: Maschinengewehre, Scharfschützen, Sprengstoff und Hochgeschwindigkeitsoperationen. Ein Traum schien wahr zu werden. Ich bewarb mich. Als ich meinem Vater erzählte, dass ich zur Navy gehen würde, sagte er: »Du wirst es hassen.«
»Warum?«, fragte ich.
»Weil du ein Problem mit Autorität hast und keine Leute magst, die dir sagen, was du tun sollst.«
»Aber Dad«, erwiderte ich zuversichtlich, »das heißt doch SEALTeams. Wir sind ein Team. Wir nehmen keine Befehle entgegen. Wir arbeiten zusammen.«
Was für ein naiver Bengel ich war. Genaugenommen war ich einfach dumm. Ich dachte, die SEAL-Teams wären einfach ein paar Jungs, die als Gruppe zusammenarbeiten, flache Hierarchien, in denen keiner so richtig die Verantwortung trug. Nicht mal ansatzweise. Ich hatte auch gehört, dass die Verlustrate bei den SEALs 50 Prozent betrug und fast keiner es zur Verabschiedung nach zwanzig Jahren schaffte, weil die meisten SEALs irgendwann verwundet oder getötet wurden. Wohlgemerkt, das war 1989, aber mit Ausnahme der Invasion von Panama, wo die Kampfhandlungen nur ungefähr anderthalb Monate dauerten, waren wir nicht im Krieg. Rückblickend bin ich sicher, der Mythos von der 50-prozentigen Verlustrate hatte seinen Ursprung darin, dass die Vorgänger der SEAL-Teams – die Naval Combat Demolition Units oder NCDUs – während der D-Day-Invasion in der Normandie eine Verlustrate von 50 Prozent erlitten hatten. Das wusste ich aber damals nicht. Ich dachte, alle SEALs hätten eine Verlustrate von 50 Prozent, und ich glaubte daran. Das stachelte mich noch mehr an, Teil der SEAL-Teams zu werden. Wie gesagt, ich war dumm. Zäh, aber dumm.
Aber zur Navy zu gehen war trotzdem das Beste, was ich tun konnte. Das war wie ein kompletter Neustart und zeigte mir eine klare Richtung auf. Niemanden bei der Navy kümmerte es, dass ich in der Highschool nicht die besten Noten erzielt hatte. Es spielte keine Rolle, dass ich nicht der beste Sportler war. Keinen interessierte es, woher ich kam, was meine Eltern machten oder was sonst noch zu meinem Hintergrund gehören mochte. Sie schoren mir den Kopf, gaben mir eine Uniform und sagten mir, was ich tun musste, um erfolgreich zu sein. Mach dein Bett so, falte deine Unterwäsche so, polier deine Stiefel, bis du dich darin spiegeln kannst. Wenn man den Regeln folgte und tat, was man tun sollte, bekam man eine Führungsposition. Ich befolgte die Regeln, ich tat, was ich tun sollte, und es zahlte sich aus. Ich wurde Squad-Führer in einem Bootcamp. Was bedeutet das? Rein technisch nicht besonders viel, aber für mich eine Menge. Ich war erfolgreich. Aber was noch wichtiger war: Ich hatte ein Zuhause gefunden.
BUD/S (ein Trainingskurs für Navy-SEALS über 24 Wochen, Anm. d. Red.) war dasselbe für mich. Ich war immer noch in nichts besonders gut. Nicht der beste Läufer oder Schwimmer. Nicht herausragend beim Hürdenlauf. Aber ich konnte tun, was mir gesagt wurde. Ich konnte das Spiel mitspielen. Und ich würde nicht aufgeben. Manche Leute sagen, dass während BUD/S jeder irgendwann übers Aufgeben nachdenkt. Ich tat das nie. Nicht eine Sekunde lang. Der Gedanke kam mir überhaupt nicht. Die Höllenwoche, ein fünf Tage dauernder Block mit permanentem körperlichem Training fast ohne Schlaf, der die höchsten Ausstiegszahlen aufweist, war geradezu entspannend für mich, denn während der Höllenwoche gibt es keine zeitlichen Vorgaben. Fast alle anderen Aspekte von BUD/S erfolgen in festen Zeitfenstern. Zeitlich festgelegtes Laufen, Schwimmen und Hürdenlaufen findet tagtäglich statt. Wenn man die Vorgabe nicht einhält und durchfällt, kommt man »in die Blase«. Fällt man noch mal durch, fliegt man raus. Das war stressig. Aber in der Höllenwoche gab es keine Zeitfenster. Man musste einfach nur weitermachen. Man durfte einfach nur nicht aussteigen. Für mich war das die leichteste Übung.
Als ich mit BUD/S fertig war, kam ich in SEAL Team One. Ich war total heiß darauf, wie wir alle, die wir in diese geheiligte Riege von Kriegshelden und Legenden aufgenommen wurden. Wir waren stolz, dass wir BUD/S bestanden hatten, und bereit für ein Leben als SEALs. Es gab nur ein Problem: Wir waren noch keine SEALs. Und wie wir bald herausfinden sollten, hatten wir auch keinen Grund, stolz zu sein.
Der Master Chief des Kommandos, der höchstrangige SEAL im Team One, begrüßte uns an Bord. »Es interessiert hier keinen, dass ihr BUD/S geschafft habt. Das haben wir alle. Es bedeutet hier gar nichts. Ihr müsst euch beweisen, um euch euren Dreizack zu verdienen. Also haltet den Mund und sperrt die Ohren auf, vergesst nichts und seid pünktlich. Noch Fragen?« Der »Dreizack« war das goldene Abzeichen, das auf der Uniform getragen wurde und einen als SEAL auswies. Um es zu erhalten, mussten wir eine sechsmonatige Probezeit durchlaufen und uns dann von den Höchstrangigen des Teams schriftlich und mündlich prüfen lassen. Davor hatten wir alle Angst und der Master Chief bot uns keinerlei Trost.
Keiner von uns hatte noch Fragen an den Master Chief. Es war ein demütigender Augenblick. Obwohl wir die BUD/S-Ausbildung geschafft hatten und obwohl man uns sagte, dass sie »elitär« und »besonders« sei, erkannten wir sehr schnell, dass wir das nicht waren. Die anderen neuen Jungs und ich hatten noch eine Menge zu beweisen, aber irgendwie wusste ich, dass ich das konnte. Das ist eins der Grundthemen der SEAL-Kultur: Ruh dich niemals auf dem aus, was du in der Vergangenheit erreicht hast. Du musst immer noch besser werden.
Als ich in den frühen Neunziger-Jahren ins SEAL Team One kam, war der Ausbildungsverlauf noch ein anderer als heute. Wenn man damals ins Team aufgenommen wurde, wurde man irgendwann einem SEALPlatoon zugewiesen. Dort würde man lernen, ein richtiger SEAL zu sein.
Bis zu diesem Zeitpunkt war die Ausbildung nicht taktisch. Bei BUD/S lernt man nicht allzu viel über die tatsächlichen Aufgaben eines SEALs. Man lernt, durchgefroren, nass, müde und elend zu sein und sich nicht darüber zu beklagen. Aber man lernt keine der beruflichen Fertigkeiten, die einen zu einem professionellen Kampfsoldaten machen. Diese Fertigkeiten werden einem vermittelt, wenn man in einem SEAL-Platoon ist. Dort stürzten die Erkenntnisse nur so auf einen ein. Es gab so viel Wissen, das man sich aneignen musste, so viele Fähigkeiten, die es zu entwickeln galt, so viele Taktiken, die es zu verstehen galt, und man hatte das Gefühl, sich das alles niemals merken zu können. Aber genau wie die anderen Neuen hörte ich zu und lernte. Tag für Tag.
In meinen ersten drei Platoons lernte ich ein paar Grundkonzepte, die mir während meiner gesamten restlichen Laufbahn im Gedächtnis blieben. Sie waren das Fundament für die Prinzipien, die ich irgendwann den anderen SEALs vermittelte, und schließlich auch Unternehmen und Organisationen auf der ganzen Welt. Das sind Beispiele für die glücklichen Umstände, von denen ich weiter oben sprach. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und hatte die richtige innere Einstellung, um das zu lernen, was ich lernte. Dann hatte ich das Glück, weitere Erfahrungen zu sammeln, um das Gelernte zu festigen, und ich begann langsam und unterbewusst, ein Führungssystem zu formulieren. Ich hatte auch das Glück, dieses System dann in einem der anspruchsvollsten Kampfgebiete der Welt anwenden zu können – in der Schlacht von Ramadi im Sommer 2006. Als ich aus diesem Einsatz zurückkehrte, übernahm ich die Ausbildung der West Coast SEALs, wo ich das Erlernte in eine Form brachte, ihm eine Struktur gab und es niederschrieb. Doch die Wurzeln all dessen, was ich am Ende niederschrieb, lagen in einer nicht gerade traditionellen und dennoch hocheffektiven Lernumgebung: im SEAL-Platoon.