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NACHWORT

Hiermit ist das zweite von sechs oder sieben Büchern zu Ende, die zusammen eine lange Geschichte mit dem Titel Der Dunkle Turm bilden. Das dritte Buch (tot.) erzählt zur Hälfte die Suche von Roland, Eddie und Susannah nach dem Dunklen Turm; das vierte (Glas) berichtet von einer Verzauberung und einer Verführung, vor allem aber davon, was Roland widerfuhr, bevor die Leser ihm auf der Spur des Mannes in Schwarz zum ersten Mal begegneten.

Meine Überraschung darüber, wie positiv das erste Buch dieser Serie aufgenommen wurde, das ganz anders als die Geschichten ist, für die ich bekannt bin, wird nur noch von meiner Dankbarkeit denen gegenüber übertroffen, die es gelesen haben und denen es gefallen hat. Ehrlich, dieses Werk scheint mein eigener Turm zu sein; diese Menschen verfolgen mich, allen voran Roland. Weiß ich wirklich, was der Turm ist und was Roland dort erwartet (sollte er ihn erreichen; und Sie müssen sich auf die sehr reale Möglichkeit vorbereiten, dass er nicht derjenige sein wird, dem es gelingt)? Ja … und nein. Ich weiß nur, dass mich die Geschichte über einen Zeitraum von siebzehn Jahren hinweg immer wieder gerufen hat. Dieser längere zweite Band lässt immer noch viele Fragen unbeantwortet, und der Höhepunkt der Geschichte liegt noch in ferner Zukunft, aber ich finde, es ist ein wesentlich in sich abgeschlossenerer Band als der erste.

Und der Turm ist näher gerückt.

 

Stephen King
1. Dezember 1986

Kapitel 1

DIE TÜR

1

Drei. Das ist deine Schicksalszahl.

Drei?

Ja, drei ist mystisch. Drei ist der Mittelpunkt deiner Suche.

Welche drei?

Der Erste ist jung und dunkelhaarig. Er steht am Rand von Raub und Mord. Ein Dämon hat von ihm Besitz ergriffen. Der Name ist HEROIN.

Was ist das für ein Dämon? Ich kenne ihn nicht, nicht einmal aus Kindergeschichten.

Er versuchte zu sprechen, aber seine Stimme war dahin, die Stimme des Orakels, Sternendirne, Hure der Winde, beide waren dahin; er sah eine Karte vom Nichts ins Nichts flattern, die sich in der trägen Dunkelheit drehte und drehte. Auf ihr grinste ein Pavian über die Schulter eines jungen Mannes mit dunklem Haar; seine beunruhigend menschlichen Finger waren so tief im Nacken des Mannes vergraben, dass ihre Spitzen im Fleisch versunken waren. Als er näher hinsah, erkannte der Revolvermann, dass der Pavian eine Peitsche in einer seiner klammernden, würgenden Hände hielt. Das Gesicht des gepeinigten Mannes schien sich in stummem Entsetzen zu verzerren.

Der Gefangene, flüsterte der Mann in Schwarz (der einstmals ein Mann gewesen war, dem der Revolvermann vertraut hatte, ein Mann namens Walter) gesellig. Etwas beunruhigend, nicht? Etwas beunruhigend … etwas beunruhigend … etwas …

2

Der Revolvermann erwachte hochschreckend, winkte mit seiner verstümmelten Hand nach etwas und war überzeugt davon, dass sich binnen eines Augenblicks eines der monströsen Schalentiere aus dem Westlichen Meer auf ihn stürzen und verzweifelt in seiner fremden Sprache Fragen stellen würde, während es ihm das Gesicht vom Schädel riss.

Stattdessen flatterte ein Meeresvogel, den das Glitzern der Morgensonne auf seinen Hemdknöpfen angelockt hatte, mit erschrockenem Krächzen davon.

Roland setzte sich auf.

Seine Hand pochte übel und unablässig. Sein rechter Fuß ebenso. Beide Finger und der Zeh beharrten darauf, dass sie noch da waren. Die untere Hälfte seines Hemds war fort; was übrig geblieben war, erinnerte an eine ausgerissene Unterjacke. Mit einem Stück hatte er seine Hand verbunden, mit dem anderen den Fuß.

Geht weg, sagte er zu seinen fehlenden Körperteilen. Ihr seid jetzt Geister. Geht weg.

Das half ein wenig. Nicht viel, aber ein wenig. Sie waren Geister, richtig, aber lebhafte Geister.

Der Revolvermann aß ruckhaft. Sein Mund wollte wenig, sein Magen noch weniger, aber er bestand darauf. Als er es in sich hatte, fühlte er sich etwas kräftiger. Aber es war nicht mehr viel übrig; er war beinahe mittellos.

Dennoch musste Verschiedenes getan werden.

Er erhob sich unsicher auf die Beine und sah sich um. Vögel flogen und stießen hernieder, aber die Welt schien ausschließlich ihnen und ihm zu gehören. Die Monstrositäten waren verschwunden. Vielleicht waren sie Nachtlebewesen; vielleicht von den Gezeiten abhängig. Derzeit schien das einerlei zu sein.

Das Meer war gewaltig, es verschmolz an einem nebelverhangenen blauen Punkt, der unmöglich zu bestimmen war, mit dem Horizont. Während er nachdachte, vergaß der Revolvermann lange Augenblicke seine Schmerzen. Er hatte noch niemals so viel Wasser gesehen.

Er hatte natürlich in Kindergeschichten davon gehört; seine Lehrmeister – jedenfalls einige – hatten ihm versichert, dass es existierte –, aber sie nach all den Jahren der Trockenheit tatsächlich zu sehen, diese Unermesslichkeit, diese erstaunliche Wassermasse, war schwer aufzunehmen … sogar schwer zu sehen.

Er betrachtete es lange Zeit verzückt, zwang sich, es zu sehen, und vergaß dabei vorübergehend vor Staunen seine Schmerzen.

Aber es war Morgen, und es musste noch Verschiedenes getan werden.

Er tastete nach dem Kieferknochen in seiner Tasche, tastete behutsam mit der Handfläche, weil er nicht wollte, dass die Stummel seiner Finger damit in Berührung kamen, sollte er noch da sein, damit das unablässige Pochen der Hand nicht in schluchzende Schreie verwandelt wurde.

Er war noch da.

Gut.

Zum Nächsten.

Er schnallte unbeholfen die Revolvergurte ab und legte sie auf einen sonnigen Felsen. Er nahm die Revolver heraus, klappte die Trommeln auf und entfernte die nutzlosen Patronen. Er warf sie weg. Ein Vogel stieß auf den hellen Schimmer hernieder, den eine von ihnen zurückwarf, hob sie mit dem Schnabel auf, ließ sie dann fallen und flog wieder weg.

Auch die Revolver selbst mussten versorgt werden, hätten schon vorher versorgt werden müssen, aber da kein Revolver in dieser oder einer anderen Welt ohne Munition mehr als eine Keule war, legte er die Holster selbst in den Schoß, ehe er etwas anderes tat, und strich sorgfältig mit der linken Hand über das Leder.

Jeder war von Schnalle und Klammer bis zu dem Punkt, wo die Gurte seine Hüften überkreuzten, feucht geworden; von dieser Stelle an schienen sie trocken zu sein. Er holte vorsichtig jede trockene Patrone aus den trockenen Abschnitten der Gurte. Seine rechte Hand versuchte ständig, das zu übernehmen, beharrte darauf, trotz der Schmerzen ihre Behinderung zu vergessen, und er stellte fest, dass sie immer und immer wieder zum Knie zurückkehrte, wie ein Hund, der zu dumm oder zu störrisch war, um Männchen zu machen. Er war, von seinen Schmerzen abgelenkt, ein – oder zweimal nahe daran, sie zu quetschen.

Ich sehe ernste Probleme auf mich zukommen, dachte er wieder.

Er legte diese hoffentlich noch guten Patronen auf einen Haufen, der entmutigend klein war. Zwanzig. Davon würden einige mit ziemlicher Sicherheit nicht losgehen. Er konnte sich auf keine von ihnen verlassen. Er nahm die restlichen heraus und legte sie auf einen anderen Haufen. Siebenunddreißig.

Nun, du warst sowieso nicht gut bestückt, dachte er, aber ihm war der Unterschied zwischen siebenundfünfzig verlässlichen Schüssen und möglicherweise zwanzig klar. Oder zehn. Oder fünf. Oder einem. Oder keinem.

Er schichtete die fraglichen Patronen zu einem zweiten Häufchen.

Er hatte noch seine Tasche. Das war doch etwas. Er legte sie auf den Schoß, dann zerlegte er langsam seine Revolver und führte das Ritual der Reinigung durch. Als er damit fertig war, waren zwei Stunden verstrichen, und seine Schmerzen waren so groß, dass sein Kopf sich drehte; bewusstes Denken fiel ihm schwer. Er wollte schlafen. Das hatte er sich noch nie im Leben mehr gewünscht. Doch im Dienste der Pflicht gab es niemals einen akzeptablen Grund, sich zu drücken.

»Cort«, sagte er mit einer Stimme, die ihm fremd war, und lachte trocken.

Er setzte seine Revolver langsam, ganz langsam wieder zusammen und lud sie mit den Patronen, die er für trocken hielt. Nachdem er das erledigt hatte, hielt er denjenigen, der für seine linke Hand gemacht war, spannte ihn … und ließ den Hahn dann langsam wieder sinken. Er wollte es wissen, ja. Wollte wissen, ob er einen zufrieden stellenden Knall hören würde, wenn er den Abzug betätigte, oder nur ein nutzloses Klicken. Aber ein Klicken wäre bedeutungslos, und ein Knall würde lediglich zwanzig auf neunzehn verringern … oder neun … oder drei … oder keine.

Er riss einen weiteren Streifen von seinem Hemd ab, legte die anderen Patronen, die nicht nass geworden waren, hinein und band ihn unter Zuhilfenahme der linken Hand und der Zähne zu. Er legte sie in die Tasche.

Schlafe, verlangte sein Körper. Schlafe, du musst jetzt schlafen, vor Einbruch der Dunkelheit, es ist nichts mehr übrig, du bist verbraucht …

Er kam torkelnd auf die Beine und sah rechts und links den verlassenen Strand entlang. Dieser hatte die Farbe von Unterwäsche, die schon lange nicht mehr gewaschen worden war, und war von farblosen Muscheln übersät. Hier und da ragten große Felsen aus dem grobkörnigen Sand hervor; diese waren von Guano überzogen, dessen ältere Schichten die gelbe Farbe alter Zähne hatten und dessen frischere Flecken weiß waren.

Die Flutlinie wurde von trocknendem Tang gekennzeichnet. Er konnte Stücke seines rechten Stiefels und seine Wasserschläuche in der Nähe dieser Linie liegen sehen. Er betrachtete es fast als ein Wunder, dass die Schläuche nicht von den hohen Wellen aufs offene Meer hinausgetragen worden waren. Der Revolvermann ging langsam und ausgeprägt hinkend zu der Stelle, wo sie lagen. Er hob einen auf und schüttelte ihn an einer Ecke. Der eine war leer. Der andere enthielt noch ein wenig Wasser. Die meisten wären nicht imstande gewesen, einen Unterschied zwischen den beiden zu erkennen, aber der Revolvermann konnte sie ebenso unterscheiden wie eine Mutter ihre eineiigen Zwillinge. Er reiste schon lange, lange Zeit mit diesen Wasserschläuchen. Wasser gurgelte im Inneren. Das war gut – ein Geschenk. Entweder hätte die Kreatur, die ihn angegriffen hatte, oder jedwede andere diesen oder den anderen mit einem beiläufigen Biss oder einem Hieb mit den Scheren aufreißen können, aber das war nicht geschehen; und auch die Flut hatte sie verschont. Von dem Wesen selbst war keine Spur zu sehen, wenngleich er es weit oberhalb der Flutlinie erledigt hatte. Vielleicht hatten es andere Fleischfresser geholt, vielleicht hatte seine eigene Art ihm ein Begräbnis im Meer verschafft, so wie die Elaphaunten, gigantische Geschöpfe, von denen er in Kindergeschichten gehört hatte, angeblich ihre Toten begruben.

Er hob den Wasserschlauch mit dem linken Ellbogen, trank herzhaft und spürte, wie seine Kraft teilweise zurückkehrte. Der rechte Stiefel war natürlich ruiniert … doch dann verspürte er einen Funken der Hoffnung. Der Fuß selbst war unversehrt – zerkratzt, aber noch ganz – und es könnte möglich sein, den anderen Stiefel passend zurechtzuschneiden und etwas daraus zu machen, was wenigstens vorübergehend hielt.

Schwäche stahl sich über ihn. Er kämpfte dagegen an, aber seine Knie knickten ein, und er setzte sich und biss sich dabei dummerweise auf die Zunge.

Du wirst nicht bewusstlos werden, sagte er grimmig zu sich. Nicht hier, wo heute Nacht ein weiteres dieser Tiere zurückkommen und die Sache zu Ende bringen kann.

Daher stand er auf und band sich den leeren Schlauch um die Hüften, aber er kam nur zwanzig Schritte in Richtung der Stelle zurück, wo er die Revolver und die Tasche gelassen hatte, als er wieder hinfiel, wobei er halb bewusstlos wurde. Dort lag er eine Weile, eine Wange in den Sand gedrückt, und die Kante einer Muschel schnitt ihm so tief ins Kinn, dass Blut kam. Es gelang ihm, aus dem Wasserschlauch zu trinken, dann kroch er zu der Stelle zurück, wo er erwacht war. Zwanzig Schritte hügelaufwärts stand ein Josuabaum; er war verkümmert, würde aber wenigstens etwas Schatten spenden.

Für Roland sahen die zwanzig Schritte wie zwanzig Meilen aus.

Dennoch schaffte er mühsam die Reste seiner Habseligkeiten zu jener winzigen Schattenpfütze. Dort lag er mit dem Kopf im Gras und dämmerte bereits Schlaf oder Bewusstlosigkeit oder Tod entgegen. Er sah zum Himmel und versuchte, die Zeit zu schätzen. Noch nicht Mittag, aber die Größe der Schattenpfütze, in der er lag, verriet ihm, dass der Mittag nahe war. Er hielt noch einen Augenblick durch, drehte den rechten Arm um und führte ihn dicht vor die Augen, um die viel sagenden roten Linien der Infektion anzusehen, eines Giftes, das sich konstant in seinen Leib hinein vorarbeitete.

Seine Handfläche war dunkelrot. Kein gutes Zeichen.

Ich wichse mit links, sagte er, wenigstens etwas.

Dann holte ihn die Dunkelheit, und er schlief die nächsten sechzehn Stunden, während das Dröhnen des Westlichen Meeres ihm unablässig in die träumenden Ohren toste.

3

Als der Revolvermann wieder erwachte, war das Meer dunkel, aber im Osten herrschte schwaches Licht am Himmel. Der Morgen war unterwegs. Er richtete sich auf, und eine Woge der Übelkeit übermannte ihn fast.

Er neigte den Kopf und wartete.

Als die Übelkeit vergangen war, betrachtete er seine Hand. Sie hatte tatsächlich eine Infektion – eine deutliche rote Schwellung, die sich über die Handfläche und das Gelenk ausbreitete. Dort hörte sie auf, aber er konnte bereits die Ansätze anderer roter Linien erkennen, die schließlich zu seinem Herzen führen und ihn umbringen würden. Er war heiß und fiebrig.

Ich brauche Medizin, dachte er. Aber hier gibt es keine Medizin.

War er nur um zu sterben so weit gekommen?

Er würde nicht sterben. Und sollte er trotz seiner Entschlossenheit sterben, so würde er auf dem Weg zum Turm sterben.

Wie bemerkenswert du bist, Revolvermann, kicherte der Mann in Schwarz in seinem Kopf. Wie unbezähmbar! Wie romantisch mit deiner dummen Besessenheit!

»Scheiß auf dich«, krächzte er und trank. Es war auch nicht mehr viel Wasser übrig. Vor ihm befand sich ein ganzes Meer, doch was nützte ihm das; Wasser, überall Wasser, aber nicht ein Tropfen zu trinken. Egal.

Er legte die Revolvergurte an, band sie fest – was so lange dauerte, dass das erste schwache Licht der Dämmerung sich bereits zum tatsächlichen Prolog des Tages aufgehellt hatte, als er fertig war – und versuchte aufzustehen. Er war erst davon überzeugt, dass es ihm gelingen würde, als er wirklich stand.

Er stützte sich mit der linken Hand an den Josuabaum, während er den nicht ganz leeren Wasserschlauch mit der rechten hochnahm und über die Schulter warf. Dann die Tasche. Als er sich gerade aufrichtete, wusch die Schwäche wieder über ihn hinweg, und er senkte den Kopf, wartete und zwang sich.

Das Schwindelgefühl ging vorbei.

Der Revolvermann machte sich mit den schlingernden, schwankenden Schritten eines Mannes im letzten Stadium noch zu Bewegungen fähiger Trunkenheit auf den Rückweg zum Strand hinunter.

Dort stand er und betrachtete das Meer, das so dunkel wie Maulbeerwein war, dann holte er den letzten Rest Dörrfleisch aus der Tasche. Er aß die Hälfte, und diesmal akzeptierten Mund und Magen das Ganze etwas williger. Er drehte sich um und aß die andere Hälfte, während er zusah, wie die Sonne über den Bergen aufging, wo Jake gestorben war. Anfangs schien sie an den grausamen und baumlosen Zähnen dieser Höhen hängen zu bleiben, doch dann erhob sie sich über diese.

Roland hielt das Gesicht der Sonne entgegen, machte die Augen zu und lächelte. Er aß den Rest Dörrfleisch.

Er dachte: Nun gut, jetzt bin ich ein Mann ohne Nahrung und habe zwei Finger und einen Zeh weniger als zuvor; ich bin ein Revolvermann mit Patronen, die vielleicht nicht zünden; ich wurde durch den Biss eines Monsters krank und habe keine Medizin; ich habe noch für einen Tag Wasser, wenn ich Glück habe; und wenn ich mich bis zum Äußersten belaste, kann ich vielleicht noch ein Dutzend Meilen gehen. Ich bin, kurz gesagt, ein Mann am Rande von allem.

Welchen Weg sollte er gehen? Er war von Osten gekommen; nach Westen konnte er ohne die Kräfte eines Heiligen oder Erlösers nicht gehen. Blieben Nord und Süd.

Nord.

Das war die Antwort, die sein Herz ihm gab. Daran bestand keine Frage.

Nord.

Der Revolvermann setzte sich in Bewegung.

4

Er ging drei Stunden lang. Er fiel zweimal hin, und beim zweiten Mal glaubte er nicht, dass er noch einmal imstande sein würde, aufzustehen. Dann rollte eine Welle auf ihn zu, und zwar so nahe, dass ihm seine Revolver wieder einfielen, und er sprang ohne zu überlegen auf und stand auf Beinen, die wie Stelzen zitterten.

Er glaubte, dass er in diesen drei Stunden vier Meilen zurückgelegt hatte. Jetzt wurde die Sonne heiß, aber nicht heiß genug, um zu erklären, dass sein Kopf pochte und ihm der Schweiß übers Gesicht strömte; und auch der Wind vom Meer war nicht so heftig, dass er die plötzlichen Zitteranfälle erklären konnte, die ihn überfielen, die seinen Körper mit Gänsehaut überzogen und seine Zähne zum Klappern brachten.

Fieber, Revolvermann, kicherte der Mann in Schwarz. Was noch in dir ist, wurde von Feuer entzündet.

Jetzt waren die Linien der Infektion deutlicher hervorgehoben; sie waren vom rechten Handgelenk halb bis zum Ellbogen hinaufgewandert.

Er legte noch eine Meile zurück und leerte den Wasserschlauch. Er band ihn zu dem anderen um die Hüften. Die Landschaft war monoton und unfreundlich. Rechts das Meer, links die Berge, unter den Sohlen seiner zerschlissenen Stiefel der graue, von Muscheln übersäte Sand. Die Wellen kamen und gingen. Er hielt nach den Monsterhummern Ausschau, sah aber keine. Er kam aus dem Nichts und ging ins Nichts, ein Mann aus einer anderen Zeit, der, wie es schien, ein sinnloses Ende erreicht hatte.

Kurz vor Mittag fiel er wieder hin und wusste, dass er nun nicht mehr wieder aufstehen konnte. Also war dies der Ort. Hier. Dies war schließlich das Ende.

Er lag auf Händen und Knien und hob den Kopf wie ein geschlagener Kämpfer … und in einer gewissen Entfernung, vielleicht eine Meile, vielleicht drei (es war schwer, an diesem einförmigen Strand Entfernungen zu schätzen, zumal er das Fieber in sich hatte, das seine Augäpfel nach innen und außen pulsieren machte), erblickte er etwas Neues. Etwas, das aufrecht auf dem Strand stand.

Was war es?

(drei)

Einerlei.

(drei ist deine Schicksalszahl)

Es gelang dem Revolvermann, wieder auf die Beine zu kommen. Er krächzte etwas, ein Flehen, das nur die kreisenden Meeresvögel hörten (wie glücklich wären sie, könnten sie mir die Augen aus dem Kopf picken, dachte er, wie glücklich über einen so schmackhaften Happen!), dann setzte er sich, schwankender denn je, in Bewegung und ließ eine Spur hinter sich, die aus bizarren Schlaufen und Schlingen bestand.

Er ließ keinen Blick von dem, was da vorn auf dem Strand stand. Wenn ihm das Haar in die Augen fiel, strich er es beiseite. Es schien nicht näher zu kommen. Die Sonne erreichte das Dach des Himmels, wo sie viel zu lange zu verweilen schien. Roland stellte sich vor, er wäre wieder in der Wüste, irgendwo zwischen der Hütte des letzten Grenzbewohners

(das musikalische Gemüse, jedes Böhnchen gibt ein Tönchen)

und der Zwischenstation, wo der Junge

(dein Isaak)

ihn erwartet hatte.

Seine Knie knickten ein, streckten sich, knickten ein, streckten sich wieder. Als ihm das Haar wieder einmal in die Augen fiel, machte er sich nicht mehr die Mühe, es zurückzustreichen; er hatte nicht mehr die Kraft, es zurückzustreichen. Er sah zu dem Gegenstand, der mittlerweile einen schmalen Schatten in Richtung Hochland warf, und ging weiter.

Jetzt konnte er es erkennen, mit oder ohne Fieber.

Es war eine Tür.

Weniger als eine Viertelmeile davon entfernt knickten Rolands Knie wieder ein, und dieses Mal konnte er ihre Scharniere nicht steif machen. Er stürzte, seine rechte Hand glitt über körnigen Sand und Muschelschalen, die Stummel seiner Finger kreischten, weil der frische Schorf weggerissen wurde. Die Stummel fingen wieder an zu bluten.

Er kroch weiter. Kroch, während das stetige Rauschen, Dröhnen und Zurückweichen des Westlichen Meeres in seinen Ohren klang. Er benützte Ellbogen und Knie und grub Vertiefungen in den Sand oberhalb des Streifens schmutzig grünen Tangs, der die Flutlinie markierte. Er nahm an, dass der Wind immer noch wehte – er musste wehen, denn die Kälte lief weiterhin durch seinen Körper –, aber der einzige Wind, den er hören konnte, waren die rasselnden Atemstöße, die in seine Lunge gesogen und hinausgeweht wurden.

Die Tür kam näher.

Näher.

Gegen drei Uhr an diesem langen Tag im Delirium, als sein Schatten zu seiner Linken lang geworden war, erreichte er sie schließlich. Er kauerte sich auf die Fersen und betrachtete sie argwöhnisch.

Sie war zwei Meter hoch und schien aus solidem Eisenholz gemacht zu sein, obschon der nächste Eisenholzbaum siebenhundert Meilen oder mehr von hier entfernt wachsen musste. Der Türknauf sah aus, als wäre er aus Gold; ein filigranes Muster war darin eingearbeitet, das der Revolvermann schließlich erkannte: Es war das grinsende Gesicht des Pavians.

Es war kein Schlüsselloch im Knauf, weder darüber noch darunter.

Die Tür hatte Angeln, aber sie waren an nichts befestigt – jedenfalls scheint es so, dachte der Revolvermann. Das ist ein Geheimnis, ein höchst wundersames Geheimnis, aber spielt das wirklich eine Rolle? Du stirbst. Dein eigenes Geheimnis – das einzige, das letztendlich im Leben jedes Mannes und jeder Frau eine Rolle spielt – rückt näher.

Dennoch schien es eine Rolle zu spielen.

Diese Tür. Diese Tür, wo keine Tür sein sollte. Sie stand einfach hier auf dem grauen Strand, zwanzig Schritte oberhalb der Flutlinie, und schien ebenso ewig wie das Meer selbst zu sein, und jetzt warf sie einen schrägen Schatten ihrer eigenen Stofflichkeit nach Osten, während die Sonne nach Westen zog.

In einer Höhe von etwa zwei Dritteln waren zwei Worte in der Hohen Sprache mit schwarzen Buchstaben darauf geschrieben:

DER GEFANGENE

Ein Dämon hat von ihm Besitz ergriffen. Der Name des Dämons ist HEROIN.

Der Revolvermann konnte ein leises Dröhnen hören. Zuerst dachte er, es müsste der Wind oder das Dröhnen seines eigenen fiebrigen Kopfes sein, aber er kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass es sich um den Lärm von Motoren handelte … und der kam von hinter dieser Tür.

Dann öffne sie. Sie ist nicht verschlossen. Du weißt, dass sie nicht verschlossen ist.

Stattdessen torkelte er ohne jegliche Anmut auf die Beine und schritt um die Tür herum zur anderen Seite.

Es gab keine andere Seite.

Nur den dunkelgrauen Strand, der sich immer weiter erstreckte. Nur die Wellen, die Muscheln, die Flutlinie, die Spuren seines eigenen Näherkommens – Stiefelabdrücke und Löcher, die seine Ellbogen gemacht hatten. Er sah noch einmal hin und riss ein wenig die Augen auf. Die Tür war nicht da, wohl aber ihr Schatten.

Er wollte die rechte Hand ausstrecken – oh, sie lernte so langsam ihren neuen Platz in dem, was von seinem Leben noch übrig war –, ließ sie sinken und hob stattdessen die linke. Er tastete, suchte nach festem Widerstand.

Wenn ich sie spüre, klopf ich auf nichts, dachte der Revolvermann. Das wäre eine interessante Sache, bevor ich sterbe!

Seine Hand ertastete nur Luft hinter der Stelle, wo sich die Tür – auch unsichtbar – hätte befinden sollen.

Nichts, daran zu klopfen.

Und der Motorenlärm – falls es das wirklich gewesen war – war verschwunden. Jetzt war nur noch der Wind zu hören, die Wellen und das üble Dröhnen in seinem Kopf.

Der Revolvermann schritt langsam wieder auf die andere Seite des Nichtvorhandenen und dachte schon, dass es eine Halluzination gewesen sein musste, eine …

Er blieb stehen.

Eben noch hatte er nach Westen gesehen und einen freien Ausblick auf grauen Strand gehabt, und jetzt fiel sein Blick auf die solide Masse der Tür. Er konnte die Fassung des Knaufs sehen, die ebenfalls aus Gold zu sein schien, und daraus ragte der Schnappriegel wie eine stummelige Metallzunge hervor. Roland bewegte den Kopf zwei Zentimeter nach Norden, und die Tür war verschwunden. Bewegte ihn dorthin zurück, wo er gewesen war, und da war sie wieder. Sie erschien nicht; sie war einfach da.

Er ging den ganzen Weg herum und stand schwankend vor der Tür.

Er konnte auf der meerwärts gelegenen Seite um sie herumgehen, aber er war davon überzeugt, dass dann dasselbe geschehen würde, nur würde er dieses Mal umfallen.

Ich frage mich, ob ich von der Nichts-Seite durch sie hindurchgehen könnte?

Oh, es gab jede Menge, worüber man sich wundern konnte, aber die schlichte Wahrheit war die: Hier stand eine Tür einsam auf einem endlosen Strandabschnitt, und es gab nur zwei Möglichkeiten: sie aufzumachen oder zuzulassen.

Dem Revolvermann wurde mit schwacher Belustigung klar, dass er vielleicht doch nicht so schnell starb, wie er glaubte. Wäre das der Fall, würde er dann solche Angst haben?

Er streckte den Arm aus und berührte den Türknauf mit der linken Hand. Weder die tödliche Kälte des Metalls noch die dünne, feurige Hitze der eingravierten Runen überraschte ihn.

Er drehte den Knauf. Die Tür öffnete sich zu ihm, als er daran zog. Er hatte viele Dinge erwartet, doch was nun kam, entsprach keinem davon.

Der Revolvermann sah hinein, erstarrte, stieß den ersten Entsetzensschrei seines Erwachsenenlebens aus und schlug die Tür zu. Sie hatte nichts, woran sie zuschlagen konnte, aber sie schlug dennoch zu, sodass die Meeresvögel kreischend von den Felsen aufstoben, auf denen sie sich niedergelassen hatten, um ihn zu beobachten.

5

Er hatte die Erde von einer hohen, unmöglichen Entfernung am Himmel aus gesehen – Meilen hoch, wie es schien. Er hatte die Schatten von Wolken gesehen, die auf der Erdoberfläche lagen und wie Träume darüber hinwegschwebten. Er hatte gesehen, was ein Adler sehen mochte, könnte er dreimal so hoch wie jeder Adler fliegen.

Durch diese Tür zu treten würde bedeuten, minutenlang schreiend in die Tiefe zu stürzen und sich am Ende tief in den Erdboden zu bohren.

Nein, du hast mehr gesehen.

Er dachte darüber nach, während er benommen und mit der verletzten Hand im Schoß vor der geschlossenen Tür im Sand saß. Die ersten schwachen Spuren waren jetzt schon oberhalb des Ellbogens. Die Infektion würde bald sein Herz erreicht haben, daran konnte kein Zweifel bestehen.

Er hörte Corts Stimme in seinem Kopf.

Hört mir zu, ihr Würmer. Hört um eures Lebens willen zu, denn eines Tages könnte es davon abhängen. Ihr seht niemals alles, was ihr seht. Ein Grund, weshalb sie euch zu mir schicken, ist der, dass ich euch zeige, alles zu sehen, was ihr nicht seht, wenn ihr etwas seht – was ihr nicht seht, wenn ihr Angst habt, wenn ihr kämpft, flieht oder vögelt. Kein Mensch sieht alles, was er sieht, aber bis ihr Revolvermänner seid – das heißt, diejenigen unter euch, die nicht nach Westen gehen –, werdet ihr mit einem einzigen Blick mehr sehen als manche Menschen in ihrem ganzen Leben. Und manches, was ihr bei diesem Blick nicht seht, werdet ihr hinterher im Auge eurer Erinnerung sehen – das heißt, wenn ihr lange genug lebt, dass ihr euch erinnern könnt. Der Unterschied zwischen Sehen und Nichtsehen kann nämlich der Unterschied zwischen Leben und Tod sein.

Er hatte die Erde aus dieser gewaltigen Höhe gesehen (und das war irgendwie Schwindel erregender und beunruhigender als die Vision von Wachstum gewesen, welche ihm kurz vor dem Ende seiner Zeit mit dem Mann in Schwarz zuteil geworden war, denn was er hier gesehen hatte, war keine Vision gewesen), und der geringe Rest seiner Aufmerksamkeit hatte die Tatsache registriert, dass es sich bei dem Land, das er gesehen hatte, weder um eine Wüste noch um ein Meer gehandelt hatte, sondern um einen grünen Ort unvorstellbarer Üppigkeit, mit Wasserflächen, die den Gedanken an einen Sumpf in ihm erweckten, aber …

Wie wenig von deiner Aufmerksamkeit geblieben ist, spottete die Stimme von Cort gehässig. Du hast mehr gesehen!

Ja.

Er hatte Weiß gesehen.

Weiße Ränder.

Bravo, Roland!, schrie Cort in seinem Verstand, und Roland schien einen Hieb der harten, schwieligen Hand zu spüren. Er zuckte zusammen.

Er hatte durch ein Fenster gesehen.

Der Revolvermann stand unter Anstrengung auf, streckte die Hand aus, spürte Kälte und brennende Linien dünner Hitze auf der Handfläche. Er machte die Tür wieder auf.

6

Der Anblick, den er erwartet hatte – die Erde aus einer grässlichen, unvorstellbaren Höhe –, war verschwunden. Er sah Worte, die er nicht verstand. Er verstand sie fast; es war, als wären die großen Buchstaben verzerrt worden …

Über den Worten war das Bild eines Gefährts ohne Pferde, eines Motorfahrzeugs, wie sie angeblich die Welt erfüllt hatten, bevor diese sich weiterbewegt hatte. Plötzlich dachte er an die Worte, die Jake gesprochen hatte, als ihn der Revolvermann bei der Zwischenstation hypnotisierte.

Dieses Gefährt ohne Pferde, neben dem eine lachende Frau mit einer Pelzstola stand, konnte das sein, was Jake in dieser seltsamen anderen Welt überfahren hatte.

Dies ist jene andere Welt, dachte der Revolvermann.

Plötzlich geschah etwas mit dem Anblick …

Er veränderte sich nicht; er bewegte sich. Der Revolvermann schwankte auf den Füßen, er verspürte Schwindel und einen Anflug von Übelkeit. Die Worte und das Bild senkten sich, und jetzt sah er einen Korridor mit einer doppelten Sitzreihe auf der anderen Seite. Einige waren frei, aber auf den meisten saßen Männer mit seltsamer Kleidung. Er vermutete, dass es Anzüge waren, aber er hatte dergleichen vorher noch niemals gesehen. Auch die Sachen um ihre Hälse konnten Binder oder Krawatten sein, aber auch solche hatte er noch nie gesehen. Und soweit er das erkennen konnte, war keiner von ihnen bewaffnet; er sah weder Dolche noch Schwerter, geschweige denn eine Feuerwaffe. Was waren das für vertrauensselige Schafe? Einige lasen mit winzigen Worten bedecktes Papier – die Worte hier und da von Bildern unterbrochen –, während andere mit Stiften, wie sie der Revolvermann noch nie gesehen hatte, auf Papier schrieben. Aber die Stifte bedeuteten ihm wenig. Es war das Papier. Er lebte in einer Welt, in der Gold und Papier in etwa denselben Wert hatten. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so viel Papier gesehen. In diesem Augenblick riss ein Mann ein gelbes Blatt von dem Block auf seinem Schoß ab und knüllte es zu einem Ball zusammen, obwohl er erst die obere Hälfte der einen Seite und die andere noch überhaupt nicht beschrieben hatte.

Dem Revolvermann war nicht so übel, dass er nicht eine Regung des Entsetzens angesichts solch unnatürlicher Verschwendung verspürt hätte.

Hinter den Männern befand sich eine gekrümmte weiße Wand und eine Fensterreihe. Einige waren von einer Art weißer Schiebeläden versperrt, aber hinter anderen konnte er blauen Himmel erkennen.

Jetzt näherte sich eine Frau dem Durchgang, eine Frau, die eine Art Uniform trug, aber keine, wie Roland sie je gesehen hatte. Sie war hellrot, und ein Teil davon bestand aus einer Hose. Er konnte die Stelle sehen, wo ihre Beine sich zum Schritt vereinigten. Das hatte er bei einer Frau, die nicht entkleidet war, noch niemals erblickt.

Sie kam der Tür so nahe, dass Roland glaubte, sie würde hindurchschreiten; er torkelte einen Schritt rückwärts und hatte Glück, dass er nicht fiel. Sie betrachtete ihn mit der einstudierten Höflichkeit einer Frau, die Dienerin und zugleich ihr eigener Herr war.

Das interessierte den Revolvermann nicht. Ihn interessierte vielmehr, dass sich ihr Ausdruck nicht veränderte. Man erwartete nicht, dass eine Frau – oder überhaupt jemand – einen schmutzigen, schwankenden, erschöpften Mann so ansah, der überkreuzte Revolvergurte an den Hüften hatte, einen blutgetränkten Lappen um die rechte Hand und der Jeans trug, die aussahen, als wären sie mit einer Art Säge bearbeitet worden.

»Hätten Sie gerne …«, fragte die Frau in Rot. Sie sagte noch mehr, aber der Revolvermann verstand nicht genau, was es bedeutete. Essen oder trinken, dachte er. Dieser rote Stoff – Baumwolle war es nicht. Seide? Er sah ein wenig wie Seide aus, aber …

»Gin«, antwortete eine Stimme, und das verstand der Revolvermann. Plötzlich verstand er noch viel mehr.

Es war keine Tür.

Es waren Augen.

So verrückt das sein mochte, er sah einen Teil eines Gefährts, das durch den Himmel flog. Er sah durch die Augen eines anderen.

Wessen?

Aber er wusste es. Er sah durch die Augen des Gefangenen.