RÜDIGER FRANK
NORDKOREA
Innenansichten
eines totalen Staates
Deutsche Verlags-Anstalt
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Sämtliche Aufnahmen im Bildteil dieses Buches © Rüdiger Frank
mit Ausnahme der Abbildung in der Mitte, die wir mit
freundlicher Genehmigung von Georgy Toloraya verwenden.
1. Auflage
Copyright © 2014 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Karte: Peter Palm, Berlin
Typografie und Satz: DVA/Brigitte Müller
Gesetzt aus der Minion
ISBN 978-3-641-13966-7
V002
www.dva.de
Inhalt
Vorwort
1 – Tradition und Ursprung
2 – Ideologie und Führer: Was das Land
im Innersten zusammenhält
3 – Das politische System:
Die drei Säulen der Macht
4 – Die Wirtschaft:
Ein ungeschliffener Diamant
5 – Reformen: Ein Schritt vorwärts, zwei zurück
6 – Sonderwirtschaftszonen:
Goldesel und Risikofaktor
7 – Nordkorea unter Kim Jong-un:
Noch ungenutztes Potential
8 – Massenspektakel Arirang:
Nordkorea in 90 Minuten
9 – Wiedervereinigung:
Ein Blick in die Zukunft
Nachwort: Nordkorea 2014–2016
Register
Anmerkungen
Bildteil
Vorwort
Am 7. Oktober 1991 saß ich gemeinsam mit fünf Kommilitonen im Flugzeug von Berlin nach Pjöngjang,1 der Hauptstadt der Demokratischen Volksrepublik Korea – besser bekannt als Nordkorea. Wir machten Witze über den just auf diesen Tag fallenden »42. Jahrestag« der DDR, die ein Jahr zuvor aufgehört hatte zu existieren. Dass ich nun ausgerechnet in eines der wenigen verbliebenen sozialistischen Länder reisen würde, erschien mir sonderbar. Aus heutiger Sicht markiert dieser Flug den Beginn meiner Beschäftigung mit Nordkorea.
Es war genau zwei Jahre her, dass die Kundgebung an der Gethsemane-Kirche in Ostberlin gewaltsam niedergeschlagen worden war. Zwei Tage später, am 9. Oktober 1989, waren 100000 Demonstranten durch die Straßen meiner Heimatstadt Leipzig gezogen – als noch nicht vorhersehbar war, dass der Staat nichts dagegen unternehmen würde. Diese Menschen waren deutlich klüger und mutiger als ich. Ich hatte gerade erst verstanden, dass das System das Problem war und nicht nur seine Umsetzung; sie aber hatten bereits gehandelt. Schade, dass man das Datum für den Tag der Deutschen Einheit nicht ihnen zu Ehren gewählt hat.
Das Ende der ohnehin schon lange hirntoten DDR war jedenfalls mit dieser Leipziger Montagsdemo besiegelt. Eine Woche später ging Honecker, und nach weiteren drei Wochen war die Mauer offen. Aus »Wir sind das Volk« wurde »Wir sind ein Volk«. Im März 1990 gewann die ehemalige Blockpartei CDU die Wahlen zur Volkskammer, im Juli kam die versprochene D-Mark, und am 3. Oktober 1990 war die DDR offiziell Geschichte. Das alles war gelinde gesagt atemberaubend und für mich absolut unerwartet – trotz meines Insiderwissens als DDR-Bürger. Das macht mich bis heute sehr, sehr zurückhaltend, was Vorhersagen zur unmittelbaren Zukunft Nordkoreas angeht.
In jenem Herbst 1990 begann ich auch mein Studium der Koreanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Eigentlich galt mein Interesse dem dynamischen, aufstrebenden Südkorea. Ich hatte allerdings das Privileg, von einer der weltweit besten Kennerinnen Nordkoreas unterrichtet zu werden. Helga Picht war Koreanistik-Lehrstuhlinhaberin und kannte Nordkorea bis hin in die oberste Führung aus eigener Anschauung. Sie hat ihren Studenten ein Verständnis Nordkoreas nahegebracht, wie man es in dieser Tiefe nur selten findet. Ihre objektive, kritische Haltung wurde in Pjöngjang nicht verstanden und brachte ihr bald ein Einreiseverbot ein. Seither sehe ich so etwas als Auszeichnung an – die mir bislang zwei Mal zuteilwurde.
Das waren damals seltsame Zeiten, so unmittelbar nach der »Wende«. Noch bis 1993 hatten wir zum Beispiel einen nordkoreanischen Sprachlektor, Herrn Pak, der mit seiner Frau und einer der beiden Töchter – die andere hatte man zur »Sicherheit« in der Heimat behalten – in einem Ostberliner Plattenbau lebte. Einmal waren wir bei ihm sogar zum Essen eingeladen. Ein Reformer war er nicht; er versuchte nach Kräften, all die ihn umgebenden Veränderungen zu ignorieren. Das muss für diesen klugen Mann schwer gewesen sein. Auch von ihm habe ich viel über Nordkorea gelernt.
Nach einem Jahr intensiven Unterrichts in Deutschland war ich bereit für das Studium in Korea. Natürlich wollte ich in den Süden. Doch die nächste Gelegenheit bot sich ausgerechnet in Form des nach der Wiedervereinigung erstaunlicherweise weiterhin geltenden Austauschabkommens zwischen meiner Alma Mater und ihrer Partnerinstitution in Nordkorea. Der Deutsche Akademische Austauschdienst war bereit, das Auslandssemester mit einer für mich damals astronomisch hohen Summe zu unterstützen, meine Professorin kümmerte sich um das Visum – und damit war beschlossen, dass ich ein paar Monate an der Kim-Il-sung-Universität Koreanisch studieren würde. Ich gebe zu, dass mir das damals wie ein Fehler vorkam. Aus heutiger Sicht war es ein einmaliger Glücksfall.
Die Ankunft in Nordkorea war ein Schock. Niemand hatte mich auf das vorbereitet, was mich erwartete. Ich hatte nicht viel gefragt; warum auch. Ich kannte den Sozialismus ja – dachte ich zumindest. Immerhin war ich in der DDR aufgewachsen und hatte, bedingt durch einen Forschungsaufenthalt meines Vaters, darüber hinaus in den 1970er Jahren knapp fünf Jahre in der Sowjetunion verbracht. Doch Nordkorea war völlig anders als alles, was ich zuvor gesehen hatte. Der Flug nach Pjöngjang 1991 war nicht, wie gedacht, eine Zeitreise in meine Vergangenheit. Er markierte vielmehr den Einstieg in eine fremde, bizarre, unwirkliche und bald auch frustrierende Welt.
Schnell war mir damals klar: Nordkorea wird keine sechs Monate mehr überleben. Die Wirtschaft des Landes war offenkundig am Boden, und überall in der Welt fielen die sozialistischen Dominosteine – es konnte also nur eine Frage der Zeit sein, bis Nordkorea folgen würde. Ein gewisser Trost ist es mir, dass ich mich mit dieser Fehleinschätzung in prominenter Gesellschaft befinde. Der Kollaps Nordkoreas wurde und wird weltweit in schöner Regelmäßigkeit prognostiziert.
Ich habe mich seither darum bemüht, dieses Land zu verstehen. Es war ein langer Prozess, der noch immer nicht abgeschlossen ist. Ich muss immer wieder an einen Satz meiner Mentorin Helga Picht denken: Wer ein Buch über Nordkorea schreiben will, sollte entweder für zwei Wochen ins Land fahren oder sich zwei Jahrzehnte lang damit beschäftigen. Ich fand das damals etwas übertrieben – und dann hat es bei mir fast ein Vierteljahrhundert gedauert, bis ich dieses Buch begann.
Inzwischen bin ich Professor an der Universität Wien und Vorstand des dortigen Instituts für Ostasienwissenschaften. Diese sichere Position ist ein einzigartiges Privileg; sie gibt mir die Möglichkeit, mich zu einem kontroversen Thema ohne opportunistische Rücksicht auf Kritik oder Unterstützung zu äußern. Und meine Meinung wird gehört, was mich freut, angesichts der damit verbundenen Verantwortung manchmal auch erschreckt. Artikel und Interviews von mir erscheinen sowohl in der Süddeutschen Zeitung wie in der Bild. Ich habe die Gruppe ehemaliger Staatsoberhäupter »The Elders« um Jimmy Carter beraten, bin Mitglied des World Economic Forum und werde von diversen Regierungen konsultiert. Im September 2013 hat mich die Frankfurter Allgemeine Zeitung als einen der fünfzig einflussreichsten Ökonomen Deutschland gelistet, was offenbar meiner Arbeit über Nordkorea geschuldet ist. Ich stehe ebenso im Dialog mit nordkoreanischen wie mit südkoreanischen offiziellen Stellen.
Es gibt vieles, was ein Buch wie dieses leisten kann, aber auch vieles, was immer unmöglich bleiben muss. So muss man sich in aller Aufrichtigkeit fragen, ob man »ein Land« überhaupt je zufriedenstellend erklären kann. Selbst bei der »Erklärung« des eigenen Heimatlandes wird man schnell an Grenzen stoßen, obwohl es keine sprachlichen Hürden gibt, Daten und Informationen weitgehend verfügbar sind und die Forschung keinen Einschränkungen unterliegt. Zu vielschichtig und komplex ist eine aus Millionen Menschen bestehende Gesellschaft. Umso unrealistischer ist es, eine perfekte, über alle Zweifel erhabene, objektive und finale Erklärung Nordkoreas zu erwarten.
Dies ist somit ein sehr persönliches, auf meinen Erfahrungen und Einsichten beruhendes Buch. Um das zu verdeutlichen, habe ich bewusst meine Geschichte als Einstieg gewählt und bediene mich der für einen Wissenschaftler ungewohnten Ich-Form. Ich erhebe meine Einsichten nicht zum Dogma. Ich schreibe nicht darüber, wie Nordkorea ist, sondern wie es sich mir darstellt. Ich greife auf meine individuell gefärbten Erkenntnisse zurück, die sich aus meinem Lebensweg, meiner Ausbildung und meiner Erfahrung speisen.
Ich äußere mich als jemand, der den real existierenden Sozialismus nicht nur aus politisch korrekten Dokumentationen und mehr oder weniger unterhaltsamen Spielfilmen kennt. Das macht mich nicht nur mit Voraussagen über die Zukunft, sondern auch bezüglich vorschneller Urteile über das Leben der Menschen in Nordkorea sehr vorsichtig.
Ich schreibe dieses Buch auch als Koreanist und Regionalwissenschaftler. Ich habe die Geschichte, Literatur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Koreas studiert, kann koreanische Quellen lesen und mich mit den Menschen unterhalten. Das ist hilfreich im Falle eines Landes, zu dem es außer »Informationen« aus extrem pro- oder extrem anti-nordkoreanischen Quellen vergleichsweise wenige verwertbare Daten in westlichen Sprachen gibt.
Auch meine durch und durch westliche Ausbildung als Volkswirt prägt meine Sicht auf Nordkorea. Als Schüler von Werner Pascha, einem der wenigen deutschen Ökonomen, die frühzeitig die Bedeutung Ostasiens für sein Fach erkannt und erforscht haben, bin ich Anhänger einer den institutionellen Kontext berücksichtigenden Sichtweise. Ich bin überzeugt, dass man wirtschaftliche Prozesse nur begreifen kann, wenn man sich in der gebotenen Tiefe des politischen und gesellschaftlichen Umfeldes bewusst ist, innerhalb dessen sie sich vollziehen.
Nicht zuletzt schreibe ich als jemand, der Nordkorea seit über zwanzig Jahren regelmäßig besucht, zuletzt im September 2013. Ich war dort als Student, als Mitglied von EU-Delegationen, als Wissenschaftler und als Tourist. Solche Besuche sind meist kurz, und sie sind einseitig. Der westliche Gast kann sich weder frei im Land bewegen, noch kann er frei mit den Menschen kommunizieren. Das soll jedoch nicht heißen, dass Bewegung und Kommunikation unmöglich sind. Man muss eine hohe Frustrationstoleranz und einen langen Atem haben. Nordkorea erschließt sich einem nicht leicht und nicht sofort, doch geduldige Annäherungsversuche lohnen sich letztlich.
Wer den Konflikt fürchtet, sollte besser die Finger vom Thema Nordkorea lassen. Es weckt oft bemerkenswert heftige Emotionen. Was bin ich in Veranstaltungen oder, noch extremer, durch anonyme Postings in Internetforen kritisiert worden. Als ich 2006 bei einer Anhörung vor dem Europäischen Parlament in Brüssel von den seit 2002 begonnenen Reformen und ihren Auswirkungen sprach, wurde ich von einem aufgebrachten Amerikaner im Publikum mit den Worten angeschrien: »You know nothing about Communism!« Das Bild eines sich verändernden Nordkorea widersprach seiner vorgefassten Meinung und stellte vor allem die Forderung nach einem von außen herbeigeführten Regimewandel in Frage.
Doch auch die Gegenseite ist mit mir unzufrieden. Nach einem Vortrag in Hamburg im Januar 2014 wurde ich vom Mitglied einer pro-nordkoreanischen Vereinigung äußerst aggressiv zur Rede gestellt: Wieso ich nicht diese oder jene Errungenschaft erwähnt habe, und überhaupt, was mir einfalle, die großartigen Erfolge der Führung in Frage zu stellen: »Sie haben keine Ahnung von der KDVR!«2 Man braucht schon ein dickes Fell, wenn man sich über Nordkorea äußert, denn unabhängig vom politischen Lager und dem tatsächlichen Wissen scheint so gut wie jeder eine feste Meinung dazu zu haben. Eine differenzierte Haltung wird oft heftig abgelehnt. Das Land hat gefälligst schwarz und weiß zu sein.
Ich habe mich oft gefragt, warum eine sachliche Auseinandersetzung mit Nordkorea so offenkundig schwerfällt. Auch anderswo gibt es schließlich exzentrische Herrscher und militaristische Diktaturen, auch anderswo werden die Menschenrechte mit Füßen getreten, auch anderswo sind Kinder verhungert. Das macht die Zustände in Nordkorea nicht besser. Doch woher kommt unsere beratungsresistente Selbstsicherheit gerade im Hinblick auf dieses Land?
Vielleicht braucht der Mensch einfach das Andere, um sich selbst besser definieren zu können. Asien hat schon seit Jahrhunderten diese Rolle für uns Europäer gespielt, das kann man etwa bei Edward Said nachlesen. Auch die Medien haben einen wesentlichen Einfluss. Die visuelle Repräsentation Nordkoreas ist faszinierend. Extrem reiht sich an Extrem und wird alsbald zur Norm. Aufsteigende Raketen, übergewichtige Führer mit ausgefallenen Frisuren, im Stechschritt marschierende Soldaten und verwackelte »authentische« Fotos von tristen Alltagsszenen werden permanent wiederholt und generieren im Laufe der Zeit jenen Wiedererkennungseffekt, der ein Land zur Marke macht. Zudem ist Nordkorea bei uns bemerkenswert präsent, und zwar in der ganzen Breite der Medien bis hin zum Boulevard. Auch das ist ungewöhnlich, wenn man sich die geringe Größe und die erhebliche geographische Entfernung des Landes von Europa vor Augen führt.
Vielleicht liegt unsere überproportionale Aufmerksamkeit daran, dass die dortigen Machthaber zumindest dem Namen nach noch immer stur auf einer Ideologie bestehen, die von uns längst ad acta gelegt wurde. Mehr noch, sie bauen Atomwaffen und fordern die USA heraus. Das System weigert sich standhaft, wie die DDR zu kollabieren oder wenigstens dem Beispiel Chinas und Vietnams zu folgen und sich zu reformieren. Nordkorea ist ein Land, das eigentlich nicht sein darf.
Und doch »ist« es. Dass es Nordkorea gibt, ist verwirrend, aber auch ein Fakt. In diesem Buch werde ich eine Annäherung an dieses Phänomen versuchen, aus verschiedenen Blickwinkeln und damit hoffentlich der Komplexität der Aufgabe gerecht werdend. Zustimmung zu all meinen Thesen erwarte ich nicht, wohl aber die Bereitschaft, sich sachlich damit auseinanderzusetzen. Neben geostrategischen Sachzwängen gibt es nicht zuletzt einen moralischen Imperativ, der es uns verbietet, das Land und die Zustände dort einfach zu ignorieren.
Wien, im Juni 2014
Rüdiger Frank