JAMES P. HOGAN
DIE KINDER
VON
ALPHA CENTAURI
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Der Autor
Risszeichnung der Mayflower
Karte vonChiron
Prolog
Teil I – Die Reise der »Mayflower II«
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Teil II – Die Chironer
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Teil III – Phönix
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Epilog
Einmal mehr steht die Erde vor einem globalen Krieg, der die Menschheit zu vernichten droht. Um das Überleben unserer Spezies zu sichern, schicken Forscher eine Sonde ins Alpha-Centauri-System. An Bord: eine genetische Datenbank, künstliche Gebärmütter, Embryonen und Roboter, die diese vollautomatisch geborenen Kinder aufziehen und unterrichten sollen. Wider Erwarten überstehen die Menschen jedoch den Konflikt und bauen die zerstörte Zivilisation einmal mehr auf. Als Jahrzehnte später die Kolonie meldet, dass die erste Generation der Siedler erfolgreich aufgezogen wurde, schicken die irdischen Großmächte Raumschiffe aus, um Anspruch auf den fremden Planeten zu erheben – und wieder droht ein Krieg mit verheerenden Folgen …
James P. Hogan (1941-2010) wuchs im Londoner Westen auf. Sein erster Roman Das Erbe der Sterne erschien 1977. Sein wissenschaftlich-technisch orientierter Schreibstil fand großen Anklang, sodass Hogan mehrere Nachfolgeromane schrieb. Er wurde oft mit seinem Landsmann Arthur C. Clarke verglichen. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Frau Jackie, mit der er in dritter Ehe verheiratet war, in Florida und Irland.
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Titel der Originalausgabe
CODE OF THE LIFEMAKER
Aus dem Amerikanischen von Tony Westermayr
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Überarbeitete Neuausgabe
© der Originalausgabe 1982 by James P. Hogan
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-23135-4
V002
»... Meine Damen und Herren, unser heutiger Ehrengast – Henry B. Congreve.« Der Ansager beendete die Vorstellung und trat zur Seite, um die stämmige, weißhaarige Gestalt im Dinnerjacket mit schwarzer Fliege das Podium besteigen zu lassen. Begeisterter Beifall erhob sich von den dreihundert Gästen, die im Hiltonkomplex am westlichen Stadtrand von Washington, D.C., versammelt waren. Die Saalbeleuchtung erlosch und ließ das Publikum zu weißen Hemdbrüsten, funkelnden Hälsen und Fingern und maskenhaften Gesichtern verblassen. Zwei Punktscheinwerfer erfassten den Sprecher, während er das Verebben des Beifalls abwartete. Der Zeremonienmeister kehrte im Schatten neben ihm zu seinem Stuhl zurück.
Nach achtundsechzig Jahren Lebenskampf stand Congreves gedrungene Gestalt noch immer aufrecht, die Schultern strafften sich zu beiden Seiten des kurzgeschorenen Kopfes jugendlich kräftig. Die Linien seines scharf geschnittenen Gesichtes waren noch immer fest und geradlinig, und seine Augen funkelten belustigt, als er den Blick durch den Saal gleiten ließ. Es schien vielen Anwesenden sonderbar, dass ein Mensch von solch sprühender Lebenskraft, einer, der noch so vieles in sich barg, hier seine Abschiedsrede halten wollte.
Nur wenige der jüngeren Astronauten, Wissenschaftler, Ingenieure und leitenden Angestellten der North American Space Development Organization konnten sich NASDO ohne ihren Chef Congreve vorstellen. Für sie alle würde es nie wieder so sein wie früher.
»Danke, Matt.« Congreves Stimme grollte als heiserer Bariton aus den Lautsprechern ringsum. Er blickte von einer Seite zur anderen, um sein Publikum zu erfassen. »Ich, äh – ich wäre beinahe überhaupt nicht reingekommen.« Er legte eine Pause ein; auch das leiseste Konversationsgeflüster verstummte. »Ein Schild draußen in der Halle verkündet, dass die Fossilien oben in Zwölfnulldrei ausgestellt sind.« Die amerikanische Archäologenvereinigung hielt im Hiltonkomplex diese Woche ihre Jahrestagung ab. Congreve zog die Schultern hoch. »Da hätte ich eigentlich hingehört. Zum Glück stieß ich unterwegs auf Matt, der mich auf den rechten Weg zurückholte.« Eine Welle des Gelächters ging durch die Dunkelheit, untermalt von Protestrufen an einigen Tischen. Er wartete, bis es still geworden war, dann fuhr er mit ernsterer Stimme fort. »Das erste, was ich zu tun habe, ist, allen hier Anwesenden und denjenigen NASDO-Leuten, die heute nicht dabei sein können, für die Einladung zu danken. Außerdem muss ich natürlich meinen tiefempfundenen Dank für das da und noch mehr meine Dankbarkeit für die Gefühle ausdrücken, die es symbolisiert. Ich danke Ihnen allen.« Während seiner Worte wies er auf die einen halben Meter lange Nachbildung in Silber und Bronze der noch unbenannten, unerprobten Sternsonde SP3, die am Haupttisch auf ihrem Teaksockel vor Congreves Platz stand.
Seine Stimme wurde noch ernster.
»Ich will mich nicht auf eine Menge persönlicher Anekdoten und Reminiszenzen einlassen. Dergleichen ist bei solchen Anlässen zwar üblich, aber das wäre banal, und ich möchte meine letzte Rede als Leiter der NASDO nicht mit Banalitäten belasten. Die Zeiten gestatten solchen Luxus nicht. Stattdessen möchte ich über Dinge sprechen, die von globaler Bedeutung sind und jeden Einzelnen betreffen, der auf diesem Planeten lebt, ja sogar die künftigen Generationen – vorausgesetzt, es wird sie geben.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich möchte vom Überleben sprechen – vom Überleben der menschlichen Gattung.«
Obwohl im Saal gebannte Stille herrschte, schien diese sich bei seinen Worten noch zu vertiefen. Hier und dort sah man sich im Publikum verwundert an. Offenkundig würde dies nicht einfach eine gewöhnliche Abschiedsrede sein. Congreve ergriff wieder das Wort.
»Wir standen schon einmal kurz vor einem dritten Weltkrieg und hingen schon über dem Abgrund. Heute, im Jahr 2015, sind dreiundzwanzig Jahre vergangen, seitdem amerikanische und sowjetische Streitkräfte in Belutschistan mit taktischen Atomwaffen gegeneinander kämpften, und obwohl die rasche Verbreitung einer auf Fusion beruhenden Wirtschaft wenigstens die Aussicht bietet, das Energieproblem zu lösen, das diese Konfrontation ausgelöst hatte, sind Eifersucht, Argwohn und Verdächtigungen, die uns damals an den Rand des Krieges brachten und unsere Gattung während ihrer gesamten Geschichte beharrlich heimgesucht haben, heute noch ebenso vorhanden.
Heute giert die Industrie nicht nach Erdöl, sondern nach Mineralen. In fünfzig Jahren wird unsere Beherrschung der Prozesse kontrollierter Kernfusion vermutlich auch diese überflüssig machen, aber inzwischen erzeugen kurzsichtige politische Überlegungen wieder das Klima von Spannungen und Rivalität, das gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die Erdölfrage so brisant machte. Wie man deutlich sehen kann, beeinflusst die Bedeutung Südafrikas in diesem Zusammenhang die jetzigen Machtverhältnisse, und der mutmaßliche Krisenherd für einen erneuten Zusammenstoß zwischen Ost und West wird wiederum das Grenzgebiet Iran-Pakistan sein. Nach Meinung unserer Strategen werden die Sowjets versuchen, es sich einzuverleiben, um Zugang zum Indischen Ozean zu erlangen, als Vorbereitung zum Eingreifen in einem Krieg der sogenannten schwarzafrikanischen Befreiung gegen den Süden.«
Congreve machte eine Pause, ließ den Blick durch den Saal gleiten und hob resigniert die Hände.
»Es scheint, dass wir als Einzelne nur hilflos beobachtend dabeistehen und die Ereignisse verfolgen können, die uns der Kollektivität entgegenreißen. Die Lage wird weiter kompliziert durch das Aufkommen und rapide wirtschaftliche und militärische Wachstum der chinesisch-japanischen Co-Prosperity Sphere, die damit droht, Moskau einen unangreifbaren Machtblock gegenüberzustellen, sollte es sich mit uns und den Europäern einigen. Mehr als nur einige Kreml-Analytiker müssen ihr am wenigsten riskantes Spiel nun darin sehen, sich entscheidend mit dem Westen zu schlagen, bevor eine solche Allianz Zeit gehabt hat, sich zu konsolidieren. Mit anderen Worten, es wäre nicht übertrieben, wollte man behaupten, die Zukunft der Menschheit sei nie gefährdeter gewesen als in eben diesem Augenblick.«
Congreve stützte sich mit den Armen am Rednerpult ab und richtete sich dann auf. Als er weitersprach, klang seine Stimme ein wenig heiterer.
»Auf dem Gebiet, das uns alle hier im Alltag betrifft, hat die Beschleunigung des Raumfahrtprogramms in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel Aufregung verursacht. Einige ermutigende Leistungen haben dazu beigetragen, die weniger erfreulichen Meldungen aus anderen Gebieten auszugleichen: Wir haben Dauerstützpunkte auf Mond und Mars errichtet, im Weltraum werden Kolonien gebaut, eine bemannte Mission hat die Jupitermonde erreicht, und Roboter sind unterwegs, um die entlegensten Winkel des Sonnensystems und darüber hinaus zu erforschen. Aber« – er breitete die Arme wie zu einem bildlichen Seufzen aus – »diese Maßnahmen sind nationaler, nicht internationaler Art gewesen. Trotz der Hoffnungen und der Worte vergangener Jahre ist die Militarisierung der Forschung weltweit auf den Fersen gewesen, und wir müssen zu dem unabweisbaren Schluss gelangen, dass ein Krieg, wenn er denn ausbräche, sich bald über die Grenzen der Erdoberfläche hinaus ausdehnen und unsere Gattung überall gefährden würde. Wir müssen der Tatsache ins Gesicht sehen, dass die Gefahr, die uns in den bevorstehenden Jahren droht, keine geringere ist als diese.«
Er wandte sich kurz zu dem Modell der SP3 um, das vor ihm auf dem Tisch funkelte, und deutete darauf.
»In fünf Jahren wird diese automatische Sonde die Sonne verlassen und die benachbarten Sterne nach bewohnbaren Welten erforschen ... jenseits der Erde und jenseits aller Mühen, Probleme und Gefahren der Erde. Wenn alles gutgeht, wird sie schließlich an einem solchen Ort eintreffen, durch unvorstellbare Entfernungen isoliert von den Problemen, die dafür sorgen werden, dass Zwist ein untrennbarer und unauslöschlicher Teil der bedrückenden Geschichte menschlichen Daseins auf diesem Planeten bleiben wird.« Congreves Blick schien in die Ferne zu gehen, als flöge er mit der Sonde hinauf und hinaus in den Weltraum. »Es wird ein neuer Ort sein«, sagte er versonnen. »Eine neue, unverbrauchte, vibrierende Welt, unzernarbt vom Kampf des Menschen, sich über die Tiere zu erheben, ein Ort, der bietet, was die einzige Gelegenheit für unsere Rasse sein könnte, einen Ableger von sich dort zu bewahren, wo er überleben und, falls notwendig, neu beginnen kann, diesmal aber mit den Lehren der Vergangenheit als Leitschnur.«
Gemurmel raunte durch die Reihen. Congreve nickte, um zu zeigen, dass er die Einwände kannte. Er hob die Hand, bis sich die Aufregung legte.
»Nein, ich sage nicht, dass SP3 umgebaut und statt als Roboterfahrzeug mit menschlicher Besatzung fliegen sollte. In diesem späten Stadium lässt sich das nicht mehr einrichten. Zu vieles müsste von Anfang an neu durchdacht werden, eine solche Aufgabe würde Jahrzehnte erfordern. Und trotzdem ist nichts mit SP3 Vergleichbares zur Zeit irgendwo im Planungsstadium, geschweige denn vor der Fertigstellung. Die Gelegenheit ist eine einmalige und darf auf keinen Fall versäumt werden. Aber gleichzeitig können wir uns die Verzögerung nicht leisten, die nötig wäre, um diese Gelegenheit zu nutzen. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?« Er blickte auf seine Zuhörer hinunter, als rechne er mit einer Antwort. Sie musste ausbleiben.
»Wir haben uns mit diesem Problem nun seit einiger Zeit beschäftigt und glauben an eine Lösung. Es wäre nicht machbar, ein Kontingent erwachsener Menschen mit dem Raumschiff hinauszuschicken, sei es als funktionierende Gemeinschaft, sei es in irgendeinem Schlafzustand; das Schiff ist in einem zu weit fortgeschrittenen Bauzustand, als dass die Baumaße noch entscheidend verändert werden könnten. Aber warum denn Erwachsene schicken?« Er breitete bittend die Arme aus. »Es geht doch schlicht darum, einen Ableger der Menschheit hinauszusenden, dorthin, wo er sicher ist vor jeder Katastrophe, die uns hier heimsuchen mag, und ein solcher Ort wäre nur am Ziel der Reise zu finden. Die Menschen würden weder während des Fluges noch bei der Vermessungsphase gebraucht werden, da die Maschinen ohne weiteres in der Lage sind, alles damit Zusammenhängende allein zu bewältigen. Menschen werden erst dann Bedeutung erlangen, wenn diese Phasen erfolgreich abgeschlossen sind. Wir können deshalb alle Schwierigkeiten, die mit der Vorstellung verbunden sind, Menschen mitzuschicken, umgehen, indem wir die üblichen Methoden interstellaren Raumflugs beiseitestellen und einen vollkommen neuen Weg gehen: Das Schiff wird die Menschen erschaffen, sobald es sein Ziel erreicht hat!«
Congreve verstummte wieder, aber diesmal störte nicht ein Wispern die Stille.
Congreve begann sich für das Thema zu erwärmen, er sprach drängender und überzeugender.
»Die Entwicklung auf den Gebieten Gentechnik und Embryologie ermöglicht es, menschliche genetische Information in elektronischer Form in die Schiffscomputer einzugeben. Mit einer kleinen Erhöhung von Raum und Gewicht könnte das Schiffsinventar so erweitert werden, dass es alles Notwendige enthält, um eine erste Generation von, sagen wir, einigen hundert menschlichen Embryos zu erzeugen und zu ernähren, sobald eine Welt gefunden ist, die den Anforderungen der vorbereitenden Oberflächen- und Atmosphäretests entspricht. Sie könnten aufgezogen und versorgt werden von Spezialrobotern, denen von dem Wissen und der Geschichte unserer Kultur so viel zur Verfügung stünde, wie in die Schiffscomputer einprogrammiert werden kann. Alle erforderlichen Ressourcen für Errichtung und Erhaltung einer fortgeschrittenen Gesellschaft würden von dem Planeten selbst geliefert werden. Während die erste Generation ihre Kindheit noch in der Umlaufbahn hinter sich bringt, würden andere Maschinen Anlagen für Metall- und Materialverarbeitung errichten, Fabriken, landwirtschaftliche Güter, Transportsysteme und Stützpunkte, die für eine Besetzung geeignet wären. Binnen weniger Generationen wäre mit der Etablierung einer blühenden Kolonie zu rechnen, und die Menschheit würde überleben, ohne Rücksicht darauf, was hier auf der Erde geschieht. Der besondere Reiz dieser Methode liegt daran, dass, sollte man sich jetzt dazu entschließen, die erforderlichen Veränderungen in den Zeitplan der SP3 eingebaut werden könnten und der Start trotzdem, wie vorgesehen, in fünf Jahren möglich wäre.«
Inzwischen kehrte in seine Zuhörer langsam Leben zurück. Obwohl viele von seinem Vorschlag noch zu verblüfft waren, um deutlich zu reagieren, sah man Köpfe nicken, und das Gemurmel, das durch den Saal ging, wirkte positiv. Congreve nickte und lächelte schwach, als genieße er den Gedanken, sich das Beste bis zuletzt aufgespart zu haben.
»Etwas, was ich heute noch mitzuteilen habe, betrifft die Tatsache, dass ein solcher Entschluss gefasst worden ist. Wie ich vorhin erwähnte, ist das Thema seit geraumer Zeit untersucht worden. Ich kann Ihnen jetzt bekanntgeben, dass der Präsident der Vereinigten Staaten und der Vorsitzende der Co-Prosperity Sphere Ost vor drei Tagen eine Vereinbarung über das Projekt unterzeichnet haben, das ich eben kurz skizzierte, mit der Maßgabe, es ab sofort gemeinsam zu betreiben. Die Maßnahmen der verschiedenen nationalen und privaten Forschungsinstitutionen und anderer Organisationen, die an dem Unternehmen beteiligt sein sollen, werden mit denen der NASDO und unseren chinesischen und japanischen Partnern unter der Projektbezeichnung ›Sternhafen‹ koordiniert.«
Congreve lächelte zufrieden.
»Meine dritte Ankündigung heute ist folgende: Der heutige Abend markiert doch nicht meinen Rückzug aus dem Berufsleben. Ich habe ein Angebot des Präsidenten angenommen, die Leitung des Projekts Sternhafen im Namen der Vereinigten Staaten als führender Mitgliedsnation zu übernehmen, und gebe meine Funktionen bei NASDO lediglich auf, um meine ganze Kraft der neuen Verantwortung zu widmen. Denjenigen, die vielleicht glauben, ich hätte es ihnen in der Vergangenheit manchmal schwer gemacht, darf ich mit unaufrichtigem Bedauern sagen, dass ich noch eine ganze Weile zur Stelle sein werde, und dass die Zeiten, bis dieses Projekt abgeschlossen ist, noch um einiges härter werden dürften.«
Einige der Zuhörer im Auditorium erhoben sich von ihren Plätzen und klatschten Beifall. Der Applaus breitete sich aus. Congreve lächelte zufrieden und genoss sichtlich die Begeisterung, blieb eine Weile stehen, während der Beifall rauschte, und umfasste mit den Händen wieder das Pult.
»Wir hatten gestern unsere erste formelle Zusammenkunft mit den Chinesen. Die erste amtliche Entscheidung ist bereits gefallen.« Er warf wieder einen Blick auf das Modell der Sternsonde. »SP3 hat jetzt einen Namen. Sie ist benannt nach einer Göttin der chinesischen Mythologie, die wir als die passende Schutzherrin genommen haben: Kuan-yin, die Göttin, die Kinder bringt. Hoffen wir, dass sie in den kommenden Jahren sorgsam auf ihre Kinder achtet.«
Teil I
Die Reise der »Mayflower II«
Ungefähr sechzig Meter unterhalb des Hügelkamms hatte der dritte Zug der Kompanie D seine taktische Gefechtsstation in einer Senke errichtet, umgeben von Salbeibüschen und Gestrüpp. Eine niedrige Feldsteinmauer deckte sie auf zwei Seiten, ein großer Felsblock schloss die dritte ab, eine Brustwehr aus kleineren, flachen Steinen schützte sie von vorn; eine Thermalabschirmung über den Köpfen verbarg die Körperwärme der Insassen vor den stets wachsamen Sensoren der feindlichen Aufklärungssatelliten.
Das Gelände draußen war täuschend still, als Colman eine Zeltklappe anhob und hinausspähte, den Kopf weit hinter dem Rand des Überdachs. Der Hang unter dem Gefechtsstand fiel steil ab, die Eigenheiten des Geländes verloren sich rasch im schwachen Sternenlicht, bevor sie in das undurchdringliche Dunkel der Schlucht darunter ganz eintauchten. Es schien kein Mond, der Himmel war kristallklar. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, richtete Colman seine Aufmerksamkeit auf den Boden in der Nähe und suchte methodisch den Bereich ab, in dem die fünfundzwanzig Mann des Zuges seit drei Stunden getarnt und regungslos lagen. Wenn sie ihre Schützenlöcher und Unterstände so ausgehoben hatten, wie er es ihnen gezeigt hatte, und sie Felsen und Vegetation richtig zu nutzen verstanden, hatten sie gute Aussicht, nicht entdeckt zu werden. Um die taktischen Maßnahmen des Gegners weiter zu unterlaufen, hatte die Kompanie Thermalköder eine halbe Meile weiter hinten und den Hang hinauf ausgelegt, wo es nach allen anerkannten Regeln mehr Sinn für den Zug ergeben hätte, sich zu verschanzen. Automatisch eingestellt, um sich in wahlloser Reihenfolge ein- und abzuschalten und damit Bewegung vorzutäuschen, hatten die Scheinanlagen fast die ganze Nacht hindurch sporadisches Feuer auf sich gezogen, der Zug selbst dagegen nicht, was einiges über die »Regeln« zu sagen schien, wie Staff Sergeant Colman sie umgeschrieben hatte.
»Es gibt immer zwei Möglichkeiten«, erklärte er den Rekruten. »So, wie es die Army macht, und die falsche. Etwas anderes gibt es nicht. Wenn ich euch also sage, macht es auf die Army-Weise, was heißt das dann?«
»Es heißt, wir machen es auf Ihre Weise, Sergeant.«
»Sehr gut.«
Ein winziger, orangegelber Lichtpunkt glühte eine Sekunde lang in etwa fünfzehn Metern Entfernung hell auf, wo Stanislau und Carson mit dem Submegajoule-Laser den Weg von der Schlucht herauf deckten. Colman zog die Brauen zusammen. Er wandte den Kopf eine Spur und flüsterte Driscoll zu: »LKP lässt eine Zigarette sehen. Sagen Sie ihnen, sie sollen sie wegtun.«
Driscoll tippte auf die Kleintastatur des Kom-Geräts; aus einem in den Boden gestoßenen Lift breiteten sich Ultraschallwellen mit dem Rufsignal des Laserkanonenpostens aus.
»LKP verstanden«, bestätigte eine leise Stimme aus dem Kom-Gerät.
Driscoll sprach in das Mikro an seinem Helm.
»Rot Drei, Routineprüfung.« Das würde im automatischen Signallogsystem harmlose Spuren hinterlassen. In der Dunkelheit drückte Driscoll eine Taste, um den Aufzeichnungskanal vorübergehend zu blockieren. »Bei euch sieht man Licht, Scheißkerle. Löschen oder verdecken.« Seine Finger ließen die Taste los. »Meldung, LKP.«
»In Bereitschaft«, erwiderte die Stimme ausdruckslos. »Keine Vorkommnisse.« Draußen verschwand das Lichtpünktchen schlagartig.
»In Bereitschaft bleiben. Ende.«
Colman gab einen Knurrlaut von sich, suchte die Umgebung noch einmal gründlich ab, ließ die Klappe zurückfallen und kroch in das Innere zurück. Hinter Driscoll suchte Maddock den Schluchtboden mit dem Bildverstärker ab, während im Schatten neben ihm der Ausdruck von Konzentration auf Corporal Swyleys Gesicht durch das schwache Leuchten des Gelände-Displayschirms scharf akzentuiert wurde.
Das Bild, das ihn so fesselte, wurde von einer fünfzig Zentimeter langen Infanterie-Aufklärungsdrohne übertragen, die sie dreihundert Meter über dem Schluchtboden und fast genau über den vorgeschobenen Stellungen des Gegners hatten in Position bringen können, und wurde ergänzt durch Zusatzdaten über Satellit und andere ELINT-Netzquellen. Das Display zeigte den Befehlsbunker am Schluchtboden, bekannte gegnerische Gefechtsstellungen, durch Computer rückerrechnet aus radarverfolgten Geschossbahnen, und die Örtlichkeiten von Beobachtungs- und Feuerleitstellen durch Dreiecksaufnahmen verirrter Spiegelungen von Leitlasern. Das kühle Wasser des Flusses und seiner Nebenarme zeigte sich auf dem Bildschirm als schwarze, verzweigte Linien; die Felsvorsprünge und -blöcke waren blau schattiert; lebende Vegetation ging von Rostbraun auf den Hügeln bis zu Dunkelrot, wo sie sich an den unteren Schluchtwänden zusammendrängte; und Granaten- und Bombenkrater leuchteten von mattem Orangerot bis zu Gelb, je nachdem, wie lange die Explosion zurücklag.
Aber worauf Corporal Swyley sich so konzentrierte, waren die winzigen Fleckchen von hellerem Rot, die unvollkommen getarnte Abwehrstellungen waren oder auch nicht, und die kaum erkennbaren haarfeinen Spuren, die Thermalreste neuer Fahrzeugbewegungen sein mochten.
Wie Swyley das, was nur er so gut konnte, wirklich machte, wusste niemand so recht genau, am allerwenigsten Swyley selbst. Woran es auch liegen mochte, Swyleys Fähigkeit, aus einem hoffnungslosen Durcheinander bedeutsame Einzelheiten herauszuschälen und ständig zwischen gültiger Information und Tarnanlagen zu unterscheiden, wurde zu Recht gerühmt – und war geradezu unheimlich. Da aber Swyley selbst nicht wusste, wie er das anstellte, konnte er es auch nicht den Systemprogrammierern erklären, die gehofft hatten, seine Leistungen mit ihren Bildanalyse-Programmen nachzuvollziehen. Darauf hatten die »-isten« und »-ologen« mit ihren endlosen Folgen nutzloser Tests begonnen. Schließlich erfand Swyley plausibel klingende Erklärungen für die Spezialisten, aber sie wurden bloßgestellt, als die nach ihren Angaben geschriebenen Programme nicht funktionierten. Swyley behauptete nun, seine geheimnisvolle Gabe hätte ihn plötzlich ganz verlassen.
Major Thorpe, Elektronik-ND-Offzier im Brigadehauptquartier hatte irgendwo gelesen, Spinat und Fisch seien sichere Mittel gegen nachlassendes Sehvermögen, und Corporal Swyley auf die entsprechende Diät gesetzt. Nun hasste Swyley Spinat und Fisch noch mehr als dauernde Tests, und er war binnen einer Woche von akuter Farbenblindheit befallen worden, die er dadurch nachwies, dass er sich selbst bei den einfachsten Ausbildungsdisplays weigerte, irgendetwas zu erkennen.
Danach war Swyley für »milieugestört« erklärt und zu Kompanie D versetzt worden, wo alle Unangepassten und Unzufriedenen landeten. Seine Talente kehrten auf wundersame Weise nur dann zurück, wenn keine Offiziere in seiner Nähe waren, ausgenommen Captain Sirocco, der die Kompanie D führte und sich nicht darum scherte, wie Swyley zu seinen Ergebnissen kam, solange sie richtig waren. Und Sirocco störte sich nicht daran, dass Swyley ein Eigenbrötler war, weil die Kompanie D angeblich ohnehin nur aus solchen Typen bestand.
Es bedeutete vermutlich, dass es keine sichere Methode gab, aus der Kompanie D wieder herauszukommen, geschweige denn aus dem normalen Dienst überhaupt, dachte Colman, während er in die Dunkelheit starrte und auf Swyleys Urteil wartete. Und so sprach nicht viel dafür, dass Colman die beantragte Versetzung zur Technik erleben würde.
Es erschien ihm selbstverständlich, dass niemand, der bei Verstand war, getötet oder von Leuten, die er nie zu Gesicht bekam, zu Orten geschickt werden wollte, von denen er nie gehört hatte, um andere Leute umzubringen, die er nicht kannte. Aus diesem Grund war niemand, der seinen Verstand beisammen hatte, in der Armee. Da aber die Armee voller Leute war, die sie als angemessen vernünftig und normal beurteilte, schien daraus zu folgen, dass die Vorstellungen der Armee von dem, was vernünftig war, überaus seltsame sein mussten. Sich nun in einen Bereich wie die Technik versetzen lassen zu wollen, schien auf den ersten Blick eine völlig natürliche, vernünftige, konstruktive und wünschenswerte Sache zu sein. Und das schien auszureichen für eine Garantie, dass die Armee die Bitte als unvernünftig und ihn als ungeeignet betrachten würde.
Auf der anderen Seite war ein wichtiger Teil der Beurteilung die psychiatrische Einschätzung und Empfehlung, und im Verlauf der Sitzungen, die er mit Pendrey, dem Brigade-Psychiater verbracht hatte, war in Colman der ständig wachsende Verdacht entstanden, dass Pendrey verrückt sei. Er fragte sich, ob ein verrückter Psychiater mit verrückten Grundvorstellungen vielleicht auf dieselbe Weise zu vernünftigen Antworten gelangen mochte, wie zwei logische Umkehrungen hintereinander die Wahrheit einer Behauptung nicht veränderten; wenn aber Pendrey nach den Maßstäben der Armee normal war, hatte der Vergleich keine Gültigkeit.
Sirocco hatte den Antrag befürwortet, gewiss, aber Colman war nicht sicher, ob das etwas zählte, weil Sirocco die Kompanie D befehligte und alles, was er sagte, irgendwo auf dem Dienstweg ganz selbstverständlich auf den Kopf gestellt wurde. Vielleicht hätte er Sirocco dazu bewegen sollen, den Antrag nicht zu befürworten. Wenn andererseits alles, was Sirocco befürwortete, von Anfang an auf den Kopf gestellt wurde, und wenn Pendrey verrückt, nach den Maßstäben der Armee aber normal war, und wenn auch die Voraussetzungen, von denen Pendrey ausging, verrückt waren, dann mochte die Entscheidung am Ende doch zu Colmans Gunsten ausfallen. Oder doch nicht? Sein Versuch, die verquere Logik der Situation noch einmal nachzuvollziehen, wurde endlich von Swyley unterbrochen, der sich zurücklehnte und das Gesicht vom Bildschirm abwandte.
»Sie haben praktisch ihre gesamten Kräfte auf beiden Seiten die Schlucht entlang an den Flanken postiert«, erklärte Swyley. »Ein paar Einheiten kommen den gegenüberliegenden Hang herunter, aber es dauert noch dreißig Minuten, bis die an ihrem Platz sind.« Der Widerschein des Sichtschirms betonte den verblüfften Ausdruck, der über sein Gesicht huschte. Er zog die Schultern hoch. »Im Augenblick sind sie ganz entblößt, direkt unter uns.«
»Hier haben sie nichts?« Colman berührte den Schirm mit dem Finger, um die Stelle anzuzeigen, wo die Wegsohle am Rand einer ebenen Wiese und nur hundert Meter vom Feindbunker entfernt aus einem kleinen Wald herauskam. Das Display zeigte auf beiden Seiten des Weges, genau dort, wo man Verteidigungsformationen erwartet hätte, ein schwaches Muster von Flecken.
Swyley schüttelte den Kopf.
»Das sind Scheintruppen. Wie ich schon sagte, sie haben praktisch alle Kräfte auf die Flanken hinaus verlegt« – er tippte mit dem Finger mehrmals auf den Schirm – »da, da und da.«
»Sie wollen Kompanie B umgehen und über Höhe Vier-neun-drei hinauf«, meinte Colman, während er die Anzeige studierte.
»Möglich«, sagte Swyley, ohne sich festzulegen.
»Da unten scheint mir alles mausetot zu sein«, warf Maddock ein, ohne den Blick vom Verstärkerokular zu nehmen.
»Was sagen Seismos und Schnüffler zu Swyleys Scheintruppen?«, fragte Colman und wendete den Kopf zu Driscoll um.
Driscoll übertrug die Frage in einem Computerbefehl und starrte auf die Datenübersicht auf einem der Kom-Schirme.
»Unbedeutende Seismik über Schwellenwert bei achthundert Meter. Verhältnis in Windrichtung unter fünf Punkte bei vierhundert. Negative Bestätigung durch Akustik-Hintergrundüberflutung.« Die Computer konnten Schwingungsdaten im Zusammenhang mit menschlichem Einsatz in den Daten, übermittelt von den Sensoren, die im Lauf der Nacht von tieffliegenden, ferngesteuerten »Bienen« in der Schlucht unauffällig immer wieder verteilt wurden, nicht erkennen; die chemischen Sensoren auf der windabgewandten Seite der vermuteten Scheintruppen erfassten wenig von den für Menschenkörper charakteristischen Geruchsmolekülen; die Mikrofone hatten keine zusammenhängenden Schallmuster übermittelt, aber das lag zweifellos an dem weißen Hintergrundrauschen, das in der Nähe des Flusses entstand. Obwohl die Anzeichen nur partiell und noch dazu negativ waren, stützten sie Swyleys Behauptung, dass die Hauptstraße hinunter zum Ziel unfassbarerweise zunächst praktisch unverteidigt blieb.
Colman runzelte die Stirn, während seine Gedanken sich fieberhaft mit der Bedeutung der Daten befassten. Kein vernünftiger Angreifer würde erwägen, ein solches Ziel durch einen direkten Frontalangriff in der Mitte zu nehmen – der unterste Wegteil war von den Hängen zu gut zu überblicken, und wenn der Angriff steckenblieb, gab es keine Umkehr. Dass jedermann so dachte, hätte der feindliche Kommandeur gedacht. Was hatte es also für einen Sinn, einen Haufen Leute zur Verteidigung einer Stelle einzusetzen, die nie angegriffen werden würde? Den Regeln zufolge führte der richtige Weg, den Bunker anzugreifen, den Fluss entlang von oben, oder indem man ihn unten überquerte und von der Höhe auf der anderen Seite herunterkam. Die Gegenseite konzentrierte sich also auf Stellen über beiden naheliegenden Angriffswegen und bereitete sich darauf vor, der Attacke, die sich dann ergab, aus dem Hinterhalt zu begegnen. Aber inzwischen war man in der Mitte völlig entblößt.
»Alle Sektionsführer des Gitters in Bereitschaft«, sagte Colman zu Driscoll. »Und eine Verbindung zu Blau Eins.«
Sirocco meldete sich Augenblicke später über Funk. Colman gab eine Lagebeurteilung. Die Kühnheit des Gedankens gefiel Sirocco sofort.
»Wir müssten das selbst machen. Es bleibt nicht genug Zeit, die Brigade einzuschalten, aber wir könnten die Kerle auf der anderen Seite binden, während Sie vorgehen, und vor Ihnen Sperrfeuer legen, um Hindernisse wegzuräumen.« Er meinte die der Kompanie unterstehenden Roboterbatterien, die hinten aufgestellt waren, unterhalb des Hügelkamms. »Das würde heißen, ohne jede Gegenbatterie-Unterdrückung vorgehen zu müssen, wenn Sie durchbrechen. Was meinen Sie?«
»Wenn wir schnell sind, könnten wir es ohne schaffen«, gab Colman zurück.
»Ohne GB-Unterdrückung bliebe keine Zeit, irgendeinen der anderen Züge als Unterstützung für Sie zu verlegen. Sie wären auf sich allein gestellt«, gab Sirocco zu bedenken.
»Wir können die Roboterbatterien einsetzen, um von den Flanken einen Schirm mit enger Deckung zu legen. Wenn Sie uns bei vierhundert Meter einen Optik- und IR-Schirm geben, können wir es schaffen.«
Sirocco zögerte für den Bruchteil einer Sekunde.
»Okay«, sagte er schließlich. »Wir machen es.«
Zehn Minuten später hatte Sirocco mit seinem Batterieoffizier einen hastig entworfenen Feuerplan aufgestellt und Einzelheiten an die Züge Eins, Zwei und Vier übermittelt und Colman Zug Drei über seine Sektionsführer verständigt. Colman prüfte und sicherte seine Ausrüstung, entlud, lud und überprüfte seine M 32-Sturmkanone, prüfte und zählte die Munition.
Sofort als die erste Salve Rauchbomben auf vierhundert Meter barst, um das Gelände vor feindlicher Beobachtung einzunebeln, stürzte sich Zug Drei den Weg hinunter zur dichteren Vegetation. Augenblicke später begannen knapp unter dem Rauchvorhang Optikstörgranaten zu explodieren und spien Wolken von Aluminiumstaub aus, um die feindlichen Steuer- und Kommunikationslaser lahmzulegen. Vor den Angriffstruppen rollte konzentriertes Punktsperrfeuer von Granaten und starken Impulsstrahlen, abgefeuert von den Flankenzügen, den Weg entlang, um ihn von Minen und anderen Schützenwaffen zu säubern. Hinter dem Sperrfeuer rückte Zug Drei im überschlagenden Einsatz sektionsweise vor, um durch wechselseitig stützendes Bodenfeuer das Werk der Artillerie zu vervollständigen. Es gab keinen Widerstand. Die Abwehrartillerie griff zehn Sekunden nach dem Auftauchen der ersten Nebelwand aus dem Hintergrund ein, aber der Feind feuerte blind und zum größten Teil ohne Wirkung.
Nach dreizehn Minuten war das Feuergefecht vorbei. Colman stand auf dem Kiesufer des Flusses und schaute zu, als ein verwirrter Major aus dem Feindbunker geführt wurde, gefolgt von seinem betäubten Stab, um sich der Schar entwaffneter Verteidiger anzuschließen, die unter den wachsamen Augen feixender Bewacher von Zug Drei zusammengetrieben wurden. Das Hauptziel war gewesen, Gefangene zu machen und Nachrichten zu beschaffen, und die Ernte hatte neben dem Major zwei Hauptleute eingebracht, einen Oberleutnant, einen Leutnant, einen Fähnrich, einen Hauptfeldwebel, zwei Feldwebel und mehr als ein Dutzend Soldaten. Überdies waren die Rufsignallisten und Stabskarten zusammen mit wertvoller Kommunikations- und Waffensteuerungs-Ausrüstung unbeschädigt erbeutet worden. Durchaus keine schlechte Beute, dachte Colman befriedigt.
Die Computer hatten zwei Mann von Zug Drei für tot und fünf ernsthaft genug verwundet erklärt, dass sie als Ausfälle gelten mussten. Colman dachte im Stillen, wie schön es gewesen wäre, wenn man echte Kriege so hätte führen können, als grelle Lichter hoch oben den Schauplatz augenblicklich in künstlichen Tag verwandelten. Er kniff die Augen vor der plötzlichen Grellheit ein paar Sekunden zusammen, schob den Helm ins Genick und schaute sich um. Die Schwerverwundeten, die weiter oben auf den Hängen getroffen worden waren, kamen in einer kleinen Gruppe den Weg herunter, während über ihnen und seitlich die drei anderen Züge der Kompanie D ihre Deckung verließen. Entlang der Schlucht wurde es in beiden Richtungen lebendig, als andere Verteidigungs- und Angriffseinheiten heraustraten. Stabstransporter, Mannschaftsfrachter und andere Fluggeräte kamen hinter den fernerliegenden Hügelkämmen heraufgebrummt. Colman hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Truppen an dem Manöver beteiligt gewesen waren. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn – er hatte eben ein kompliziertes Spiel vorzeitig zu Ende gebracht, auf das Stäbe sich seit geraumer Zeit gefreut hatten; diese Leute würden wohl nicht sehr erbaut sein. Sie mochten vielleicht sogar auf den Gedanken kommen, dass sie ihn nicht in der Armee haben wollen, dachte er stoisch.
Einer der Transporter näherte sich mit schrill ansteigendem Heulen dem Bunker und schwebte einen Augenblick lang regungslos fast genau über ihm, bevor er gleichmäßig herabsank. Die Hecktür glitt zur Seite und gab den Blick frei auf die schlanke, braunhäutige Gestalt Captain Siroccos in Helm und Kampfanzug, die Flakweste noch angelegt. Er sprang behände heraus, während der Transporter noch fast zwei Meter über dem Boden schwebte, und kam auf Colman zu. Die weichen Linien seines Gesichts verrieten hinter dem buschigen schwarzen Schnurrbart so wenig wie eh und je, aber seine Augen zwinkerten.
»Recht gut, Steve«, begann er ohne Vorrede, während er sich die Hände in die Hüften gestützt, herumdrehte, um die empört-finsteren Blicke der gefangenen »Feind«-Offiziere zu genießen, die mürrisch am Bunker standen. »Ich glaube aber nicht, dass wir dafür Pluspunkte erhalten. Wir haben praktisch gegen sämtliche Regeln verstoßen.« Colman gab einen Knurrlaut von sich. Er hatte kaum anderes erwartet. Sirocco zog die Brauen hoch und legte den Kopf auf eine Weise schief, die alles und nichts bedeuten konnte. »Frontalangriff gegen einen Widerstandskern, offene Flanken, keine vernünftigen Rückzugsmöglichkeiten, kein Krisenplan, unzureichende Boden-Unterdrückung und keine Gegenbatterie-Deckung«, führte er sachlich, aber gelassen auf.
»Wie ist es mit Kinn-Hinhalten?«, fragte Colman. »Steht darüber was in den Regeln?«
»Kommt darauf an, wer man ist. Für die Kompanie D ist alles relativ.«
»Haben Sie schon mal erwogen, sich aus dem Stoff der Flakjacke einen neuen Hosenboden machen zu lassen?«, fragte Colman nach einer Pause. »Den werden Sie vermutlich brauchen.«
»Ach, wen stört das?« Sirocco blickte nach oben. »Außerdem dauert es nicht mehr lange, bis wir Bescheid wissen.«
Colman folgte seinem Blick. Ein gepanzerter VIP-Transporter mit Generalsstandarte an der Bugspitze flog langsam auf sie zu. Colman nahm die M 32 auf die andere Schulter und richtete sich auf. »Reißt euch zusammen«, rief er den Leuten von Zug Drei zu, die rauchten, sich unterhielten und in Gruppen am Fluss und beim Bunker herumlungerten. Die Zigaretten wurden von den dicken Sohlen der Kampfstiefel zertreten, das Geplauder hörte auf, und die Gruppen stellten sich geordneter auf.
»Worauf haben Sie Ihre Analyse der Situationsanzeige gestützt, Sergeant?«, fragte Sirocco in dem abgehackten, schrillen Tonfall, einer exakten Nachahmung von Colonel Wessermans Sprechweise, der General Portneys Adjutant war. Er legte einen Anflug von Argwohn und Anklage in seine Stimme. »Hat Corporal Swyley bei der Formulierung Ihrer taktischen Bewertung eine Rolle gespielt?« Die Frage würde sich stellen; die Bildanalyseabläufe im Brigade-Hauptquartier würden nichts ergeben haben, was den Angriff rechtfertigte.
»Nein, Sir«, erwiderte Colman steif und starrte geradeaus. »Corporal Swyley bediente die Kom-Anlage. Er wird nicht zur ELINT-Analyse eingeteilt. Er ist farbenblind.«
»Wie erklären Sie dann Ihre ungewöhnlichen Schlussfolgerungen?«
»Wir hatten wohl nur Glück, Sir.«
Sirocco seufzte.
»Ich muss es wohl schriftlich geben, dass ich den Angriff aus eigener Initiative und ohne stützende Daten genehmigt habe.« Er legte den Kopf schief. »Kennen Sie hier jemanden, der eine ordentliche Hose nähen kann?«
Die Tür des VIP-Transporters öffnete sich vor der rundlichen Gestalt von Colonel Wesserman. Sein rotes Gesicht war noch geröteter als sonst, am Hals fast violett. Er schien vor unterdrückter Wut halb zu ersticken.
»Er hat wohl keine Nase für den süßen Duft des Erfolgs«, murmelte Colman bissig.
Sirocco zwirbelte nachdenklich seine Schnurrbartspitzen.
»Erfolg ist wie ein Furz«, sagte er. »Nur der eigene riecht gut.«
Eine plötzliche Veränderung in Format und Farben eines der im Monitorraum des Subzentrums Antriebssteuerung dargebotenen Displays bannte Bernard Fallows Blick und vertrieb andere Gedanken. Das Display war eines von mehreren für Gruppe 5 des Treibstoff-Hauptführungssystems und stand in Verbindung mit einer der Batterien riesiger Wasserstoff-Boosterpumpen im Heckteil des Schiffes, fünf Meilen von der Stelle entfernt, wo Fallows saß.
»Was ist mit Fünf E, Horace?«, fragte er ins Leere hinein.
»Trendprojektion Grundbereich«, erwiderte der Exekutivcomputer des Subzentrums durch ein kleines Gitter an der Seite von Fallows Konsole. »Booster Fünf-Sub-Drei scheint schon wieder heißlaufen zu wollen. Korrelationsintegral siebenundsechzig, Funktionsprobe positiv, Ausdehnungsindex Acht-Null.«
»Anzeige bei Index Sechs?«
»Unbedeutend.«
Den Rest der Information erfuhr Fallows vom Sichtschirm. Die von den Computern entdeckten Veränderungen waren minimal, nur die Andeutung eines Trends, der, wenn er sich im derzeitigen Tempo fortsetzte, noch einen Monat oder länger keine ernsthaften Ausmaße annehmen würde. Da es nur noch drei Monate dauern würde, bis das Schiff Chiron erreichte, bestand kein Grund zur Aufregung, da die Pumpengruppe genug Konstruktionsreserven besaß, um den Unterschied sogar ohne Hilfsanlagen auszugleichen. Aber trotzdem gab es keinen Zweifel, dass Merrick darauf bestehen würde, die Hauptanlage zu demontieren, die Lager neu zu schleifen, die Einstellung zu überprüfen und den Rotor neu auszubalancieren. In den drei Monaten, seitdem der Hauptantrieb lief, hatten sie das schon zweimal durchgemacht. Das bedeutete wieder eine Woche Arbeit bei fast Null g und Herumwanken in schweren Schutzanzügen auf der falschen Seite der Strahlungsabschirmung im Heck.
»Dreckspumpe«, murrte Fallows gereizt.
»Da eine Pumpe kein organisches System ist, nehme ich an, dass es sich bei dem Ausdruck um eine Verwünschung handelt«, meinte Horace gesprächig.
»Ach, halt den Mund.« Der Computer kehrte gehorsam zu seinen Meditationen zurück.
Fallows lehnte sich im Sessel zurück und schickte einen geübten Blick durch den Monitorraum. An den bemannten Stationen auf der anderen Seite der Glaswand hinter seiner Konsole schien alles glatt zu laufen, und die anderen Displays bestätigten, dass alles andere so war, wie es sein sollte. Der Reservetank für das Verniertriebwerk 2 war nach einer kleinen Kurskorrektur zuvor neu geladen worden und zeigte wieder »Bereit« an. Alle Treibstoff-, Kühl-, Primär- und Hilfsenergie-, hydraulischen, pneumatischen, Gas-, Öl-, Lebenserhaltungs- und Instrumentierungs-Hilfssysteme des Antriebssektors funktionierten beruhigend innerhalb der geltenden Grenzwerte. Weit hinten Richtung Heck schluckten die Reihen gigantischer Fusionsreaktoren die 35 Millionen Tonnen Wasserstoff, die während der zwanzigjährigen Reise aus dem Weltraum magnetisch angesaugt worden waren, und verwandelten in jeder Sekunde mehr als zwei Tonnen seiner Masse in Energie, um den staunenerregenden Ausstoß von Strahlung und Reaktionsprodukten mit eineinhalb Meilen Durchmesser zu erzeugen, der sechs Monate brennen musste, um die 140 Millionen-Tonnen-Masse der »Mayflower II« von ihrer Freifallgeschwindigkeit abzubremsen.
Das Schiff hatte die Erde mit nur so viel Treibstoff an Bord verlassen, dass es auf Marschgeschwindigkeit kam, und war durch die dichteren Wasserstoffkonzentrationen geflogen, um einzusammeln, was es brauchte, damit es wieder abbremsen konnte.
Fallows warf einen Blick auf die Uhr in der Konsolenmitte. Noch knapp eine Stunde, bis Walters ihn ablösen würde. Dann würde er zwei Tage für sich haben, bevor er den Dienst wieder antreten musste. Er schloss kurz die Augen und genoss den Gedanken.
Nur noch drei Monate! Seine Kinder hatten ihn oft gefragt, warum ein junger Mann in der Blüte seiner Jahre allem Vertrauten den Rücken zuwandte und zwanzig Jahre seines Lebens gegen einen Flug ohne Rückkehr nach Alpha Centauri tauschte. Sie hatten Anlass dazu, weil ihre Zukunft durch die Entscheidung in hohem Maß bestimmt worden war. Die meisten der dreißigtausend Menschen in der »Mayflower II« waren daran gewöhnt, dass diese Frage ihnen gestellt wurde. Fallows erwiderte meistens, durch das Schauspiel der Welt, stetig derselben Wahnsinnsstufe entgegenrüstend, die der Vernichtung eines so großen Teils von Nordamerika und Europa und dem Ende des Sowjetreichs im kurzen Holocaust von 2021 vorangegangen war, wären ihm alle Illusionen geraubt worden, und er hätte alles zurückgelassen, um anderswo einen neuen Anfang zu machen. Das war eine der gängigen Antworten, die ebenso sehr zur Eigenberuhigung wie aus irgendeinem anderen Grund gegeben wurde. Aber wenn er mit sich allein war, wusste Fallows, dass er das nicht wirklich glaubte. Er versuchte sich einzureden, an den wahren Grund entsann er sich nicht mehr.
Er war fast am Ende der kargen Jahre nach dem Krieg geboren worden, so dass er sich an diese Zeit nicht erinnerte, aber sein Vater hatte ihm von der Zeit erzählt, als fünfzig Millionen Menschen im Bretterbudenelend um die geschwärzten und verbogenen Skelette ihrer Städte gelebt und in Frost und Schnee in langen Schlangen um ihre Ration an Suppe und Brot an staatlichen Feldküchen angestanden hatten; von seiner Mutter, die fünfzehn Stunden am Tag Bretter für Fertighäuser schnitt, um jeden Tag zwei kärgliche Mahlzeiten Rindfleischsuppe mit Reis von den chinesischen Lebensmittelschiffen auf den Tisch zu bringen und alle sechs Monate pro Person ein paar Schuhe aus Presspapier kaufen zu können; von seinem älteren Bruder, getötet im Kampf gegen die Horden, die von der Karibik und aus dem Süden zum Plündern gekommen waren.
Die Jahre, an die Fallows sich erinnerte, waren später gekommen, als die schlanken Finger schimmernder neuer Städte aus den Schuttwüsten wieder zum Himmel hinaufgriffen, und neue Stahl- und Aluminiumwerke surrten und hämmerten, während auf der anderen Seite der Welt China und Indo-Japan um die Herrschaft über Industrie- und Handelsmacht des Ostens rangen. Das waren aufregende Jahre gewesen, schwungvolle Jahre, ermutigende Jahre. Fallows erinnerte sich an die Flutlicht-Umzüge am Unabhängigkeitstag in Washington – an die Farbe und Pracht der vielen Musikkapellen, die Kolonnen marschierender Soldaten in schnittigen Uniformen und flatternden Fahnen, die Nationalhymnen und Kirchenlieder, gesungen von Zehntausenden auf dem Capitol Square, wo einst das berühmte Gebäude gestanden hatte. Er erinnerte sich, in seiner eben erworbenen Uniform des Neu-Amerikanischen Jugendkorps zu einem Schulball stolziert zu sein und hochmütig so getan zu haben, als bemerke er die bewundernden Blicke, die ihm überallhin folgten, gar nicht. Wie er seinen neidischen Freunden gegenüber nach dem ersten Wochenende Kriegsmanöver mit der Armee in der Wüste von Neu-Mexiko geprahlt hatte ... die Begeisterung, als Amerika auf dem Mond wieder einen Dauerstützpunkt besetzte.
Gemeinsam mit dem größten Teil seiner Generation war er begeistert worden von der Vision des Neuen Amerika, das sie aus Asche und Ruinen des alten zu gestalten halfen. Noch stärker als zuvor, moralisch und geistig reiner und zuversichtlich im Wissen um seine gottgewollte Mission, würde es wiederauferstehen als unangreifbare Freistätte, um das Erbe der westlichen Kultur vor der zersetzenden Flut heidnischer Dekadenz und Prahlerei zu bewahren, die den anderen Teil der Erdkugel überschwemmte. So hatte das Credo gelautet. Und wenn der Osten endlich aus seinem inneren Zerfall heraus zerbrach, wenn die Illusion der Einheit, die Zentralasien aufzuerlegen die Araber versuchten, endlich deutlich wurde, und wenn die afrikanische Militanz schließlich in einer Orgie innerer Auseinandersetzungen zugrunde ging, würde das Neue Amerika ein zeitweise entfremdetes Europa wieder aufnehmen und die Oberhand behalten. Das war die Bestrebung gewesen.
Die »Mayflower II«, als sie endlich Jahr für Jahr in der Mondumlaufbahn zu wachsen und Gestalt anzunehmen begann, war das greifbare Symbol dieses Strebens gewesen.
Obwohl er 2040 erst acht Jahre alt gewesen war, konnte er sich deutlich an die Erregung auf die Nachricht hin erinnern, es sei ein Signal von einem Raumschiff namens Kuan-yin eingetroffen, das 2020, kurz vor Ausbruch des Krieges, gestartet war. Das Signal hatte mitgeteilt, dass die Kuan-yin einen geeigneten Planeten in einer Bahn um Alpha Centauri entdeckt habe und mit seinem Experiment beginne. Der Planet hieß Chiron, nach einem der Zentauren; drei andere bedeutsame Planeten, ebenfalls von der Kuan-yin im System Alpha Centauri entdeckt, erhielten die Namen Pholus, Nessus und Eurytion.
Zehn Jahre vergingen, während Nordamerika und Europa sich erholten und die Großmächte im Osten ihre Rivalitäten bereinigten. Am Ende dieser Zeit reichte Neu-Amerika von Alaska bis Panama, Großeuropa hatte Russland, Estland, Litauen und die Ukraine als getrennte Nationen aufgenommen, und China beherrschte eine Ostasiatische Föderation, die von Pakistan bis zur Beringstraße reichte. Alle drei Großmächte hatten mehr oder weniger gleichzeitig Programme für die Wiederausdehnung in den Weltraum anlaufen lassen, und da jede ein legitimes Interesse an der Kolonie auf Chiron behauptete und den beiden anderen misstraute, machte jede sich an den Bau eines Sternenschiffs mit dem Ziel, als erste dort zu landen, um die eigenen Leute vor Einmischung anderer zu beschützen.