„Heilpädagogische Professionalität – Eine Orientierung“ – für den Leser mag der Titel dieses Buches eine Hybris in zweifacher, vielleicht sogar dreifacher Hinsicht darstellen:
Ist es nicht vermessen, eine heilpädagogische Professionalität zu beschreiben, da noch nicht einmal sicher zu sein scheint, ob es eine solche überhaupt gibt? Befindet sich die Heilpädagogik nicht vielmehr im Zustand eines Berufes, welcher seine professionelle Ausrichtung noch sucht?
Kann eine Orientierung über ein Berufsfeld im Rahmen dieser kurzen Einführung in die Theorie und Praxis der Heilpädagogik gelingen? Ist hierzu nicht mindestens ein enzyklopädisches Werk von Nöten?
Und schließlich: Wie kann eine Orientierung zu einer Profession stattfinden, wenn diese immer wieder in Frage gestellt wird? Dient eine solche Publikation dann nicht vielmehr dazu, eine Desorientierung hervorzurufen?
Dieses Buch beantwortet diese Fragen, indem es auf der einen Seite eine Einführung in die Fach- und Handlungswissenschaft der Heilpädagogik darlegt. Es beschreibt somit als Lehrbuch den aktuellen Stand der theoretischen und methodologischen Begründungen und Differenzierungen der Heilpädagogik. Auf der anderen Seite, und das ist das eigentliche Ziel dieser Publikation, begründet es, als fachliche Positionierung, einen multidimensionalen Ansatz zur Charakterisierung und Entwicklung der Profession der Heilpädagogik. Diese hat, als eine der letzten Wissenschaften auf den Feldern des Sozialwesens, diesen Diskurs spät aufgenommen. Das, was schon vor gut 25 Jahren in der Allgemeinen Pädagogik, schon vor ca. 20 Jahren in der Sozialen Arbeit im Hinblick auf die Parameter der Professionsentwicklung und -gestaltung diskutiert worden ist, ist erst vor gut zehn Jahren in der Heilpädagogik angekommen. Da diese aktuell sehr deutlich dazu aufgefordert ist, sowohl sich zu positionieren (so z.B. im Hinblick auf eine m.E.z. T. dogmatisch und unreflektiert geführte Diskussion zur Inklusion sowie in Bezug auf die Abgrenzungsnotwendigkeiten und Kooperationspotentiale zu den Disability Studies) als auch sich weiter auszugestalten und zu differenzieren (so z.B. auf dem Hintergrund einer sich rasch verändernden demografischen Entwicklung und einer Zunahme heilpädagogischer Tätigkeiten am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens), ist eine professionstheoretische Einordnung und ein Diskurs zur Profession der Heilpädagogik mehr als notwendig.
In dieser Publikation werden daher in einem ersten Schritt die Themen und Strukturen des Professionsdiskurses in der Heilpädagogik erörtert, wie sich diese in der Vergangenheit dargestellt haben. Hierauf aufbauend werden dann grundlegend die Begriffe der Profession, der Professionalität und der Professionalisierung geklärt und für die Fachwissenschaft der Heilpädagogik aufbereitet. Im letzten Schritt dieses einleitenden Kapitels wird dann die eigentliche Idee der Dimensionen der Professionalisierung in der Heilpädagogik im Rahmen einer kurzen Skizze begründet.
In den nächsten Kapiteln werden dann diese einzelnen Dimensionen, welche eine Professionalisierung der Heilpädagogik bedingen und eine Professionalität dieser Handlungswissenschaft etablieren können, ausführlich erörtert. Der Weg führt hierbei über die erkenntnistheoretische Basis und Etablierung einer Profession, über ihre semiotischen Bezugnahmen und Verortungen hin zu ausbildungsspezifischen Aussagen. Die einzelnen Dimensionen sind hierbei als Verfahren und Wege gekennzeichnet, mit welchen eine systematische und systematisierende Begründung und Differenzierung erfolgen kann. Es handelt sich konkret um folgende Dimensionen:
Abb. 1: Übersicht über die Themenbereiche der heilpädagogischen Professionalität
In der Zusammenschau dieser Dimensionen (siehe Abb. 1) entsteht das Bild einer heilpädagogischen Professionalität, welche sich ihrer metatheoretischen, theoretischen und methodologischen Begründungen bewusst ist und welche diese nutzen kann, um eigenständige Konzepte zu entwickeln und auszugestalten. Dieser Prozess führt dann, so ist zu hoffen, zu einem kompetenten Handeln auf den unterschiedlichen Feldern der Heilpädagogik. Zudem gestaltet dieser Aufbau der professionsrelevanten Dimensionen den Weg einer Professionsgestaltung, welche sich ihrer disziplinären Basis bewusst und hierauf ihre professionellen Handlungsmuster aufzubauen, zu realisieren und zu evaluieren in der Lage ist. Dieser Band stellt daher in der Reihe der Grundlagen der „Praxis Heilpädagogik“ die theoretische Basis bereit, auf welcher die weiteren Bände, so z.B. zur Didaktik und Methodik und zur Speziellen Heilpädagogik, aufbauen und betrachtet werden können.
Zum Abschluss dieses Vorwortes gilt es, Dank zu sagen. Zuerst möchte ich mich bei den Studierenden der Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster, der vergangenen Jahre bedanken. Mit ihnen durfte ich dieses Modell der Dimensionen der Heilpädagogik diskutieren, und diesen Gesprächen verdanke ich vielfältige und wertvolle Hinweise zu seiner Modifikation und Ausgestaltung. Bedanken möchte ich mich auch bei Frau Astrid Heitmann, welcher es einmal mehr gelungen ist, das Manuskript in eine lesbare Form zu bringen. Vor allem möchte ich mich aber bei meinem Kollegen Prof. Dr. Dieter Gröschke bedanken. Er hat in den vergangenen 25 Jahren maßgeblich dazu beigetragen, die Theorie- und Konzeptgeschichte der Heilpädagogik innovativ und kohärent auszugestalten. Er hat auch meine eigene Professionsentwicklung als Heilpädagoge intensiv begleitet, unterstützt und geprägt. Ihm sei hierfür herzlich Dank gesagt. Ihm ist dieses Buch gewidmet.
Stadtlohn, im Juni 2011
Heinrich Greving
Bevor die einzelnen Dimensionen einer heilpädagogischen Professionalität in den weiteren Kapiteln beschrieben werden, erscheint es notwendig, den Professionsdiskurs zu skizzieren, wie dieser im Verlauf der letzten zehn bis fünfzehn Jahre in der Heil- und Behindertenpädagogik stattgefunden hat.
In diesem einleitenden Kapitel werden somit zuerst die grundlegenden Themen und Verläufe des Professionsdiskurses beschrieben, wie sich dieser aktuell in der Heilpädagogik darstellt (siehe Abb. 2). Es erscheint hierbei notwendig, auch die prozesstheoretischen Linien der Allgemeinen Pädagogik sowie diejenigen der Sozialen Arbeit hinzuzuziehen, um ein möglichst umfassendes Bild der Kontexte und Postulate in Bezug auf die Entwicklung einer Professionalisierung in der Heilpädagogik zu entwickeln. Danach werden die grundlegenden Begriffe der „Profession“, der „Professionalität“ und der „Professionalisierung“ erläutert und in den Zusammenhang der Entwicklung einer heilpädagogischen Professionalität gestellt. Im Anschluss hieran werde ich mein eigenes Modell zur Differenzierung einer heilpädagogischen Professionalisierung und Professionalität vorstellen. Hierbei werde ich die einzelnen Dimensionen kurz skizzieren, um diese dann in den weiteren Kapiteln ausführlich zu begründen und zu differenzieren.
Abb. 2: Einführung in die Dimensionen der heilpädagogischen Professionalität
In einem ersten Schritt können Professionstheorien als theoretische Foki beschrieben werden, welche die beruflichen Merkmale und Eigenheiten eines Berufs und einer Profession aus unterschiedlichen Perspektiven (und Dimensionen) zu beschreiben und zu verstehen suchen. Hierbei sind „Professionen die Sorte Berufe, die sich um spezifisch menschliche Belange kümmern, sich tendenziell selbst kontrollieren und die sich auf einen akademischen Wissenskorpus beziehen“ (Moser, 2005, 87). Die Entwicklung der Profession der Heilpädagogik ist eingebettet in den Gesamtzusammenhang der Entwicklung aller Berufe im Sozial- und Gesundheitswesen. Die Themen und Probleme, welche sich dort stellen und ergeben haben bzw. welche dort nach wie vor präsent sind, gelten auch für die Handlungswissenschaft der Heilpädagogik. Nach den Forderungen einer Professionalisierung in der Allgemeinen Pädagogik (vgl.: Combe/Helsper, 1996), kam es auch in den hiermit verbundenen Fachwissenschaften der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, aktuell somit auch in der Sozialen Arbeit, welche diese beiden beruflichen Richtungen inzwischen vereint, zu einer intensiven Fokussierung professionstheoretischer Themen (vgl. hierzu ausführlich: Wendt, 2008, 1–9, 259–347). Hierbei kann jedoch eine starke Heterogenität in den Themen und Inhalten dieser Professionsdebatten in der Allgemeinen Pädagogik (und im weiteren Verlauf in den anderen Sozial- und Gesundheitswissenschaften) festgestellt werden. Nach Horster, Hoyningen-Süess und Liesen (vgl.: 2005, 16–18) lassen sich jedoch vier grundlegende Themata skizzieren, welche eine erste verbindende Struktur andeuten. Es handelt sich um
Auf diesem Hintergrund kann der Diskurs in der Heilpädagogik zur Professionsentwicklung und Professionsforschung als noch relativ neu dargelegt werden, zudem ist er „noch nicht sehr weit vorangeschritten...“ (Moser, 2005, 87). Moser begründet das damit, dass einerseits pädagogische Professionstheorien meistens ohne spezifische heil-, sonder- und behindertenpädagogische Bezüge entwickelt wurden, andererseits grundlegende Publikationen dieses Fachbereiches häufig eher den Charakter propädeutischer Einführungen hätten. Erst in jüngster Vergangenheit haben sich einige Forschungsarbeiten mit den aktuellen strukturfunktionalistischen, system- und strukturtheoretischen Professionstheorien im Rahmen der Heil-, Sonder- und Behindertenpädagogik auseinander gesetzt, so die Arbeiten von Loeken (2000, zur Professionsorientierung in der Erziehungshilfe), Rock (2001, zur Leitidee der Selbstbestimmung im Kontext sonderpädagogischer Professionalität) und Dlugosch (2003, zu den Interdependenzen von professioneller Entwicklung und Biografie). Aber auch die Darstellungen von Gröschke zur Entwicklung heilpädagogischen Handelns und heilpädagogischer Konzepte können als Eckpunkte des Diskurses zur einer heilpädagogischen Professionalisierung genannt werden (vgl.: Gröschke, 1997, 2008). Es geht in diesen Arbeiten vielfach darum, das Handeln in den Feldern der Heil-, Sonder- und Behindertenpädagogik in ihrer jeweiligen Strukturlogik zu begründen und zu beschreiben, damit es beobachtbar wird und somit einer wissenschaftlichen Reflexion anheim gestellt werden kann. Hierdurch kann es dann zu einer Präzisierung der heilpädagogischen Handlungen und somit auch zu einer Abgrenzung dieser zum allgemeinen pädagogischen Handeln kommen (vgl.: Moser, 2005, 87). Damit dies gelingen kann, müssen die Basisvariablen der Heilpädagogik beschrieben und analysiert werden. Hierbei stehen u. a. die historisch begründeten und abgeleiteten Begriffe (so z. B. der Begriff der Behinderung), die ethischen Orientierungen und die professionellen Konzepte im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (vgl.: Gröschke, 2008, 81–100; Moser, 2005, 89 – 91; Reiser, 2005, 133–144, Becker-Lenz/Müller, 2009, 361–374; Dlugosch, 2009, 254/255).
In der Definition professioneller Konzepte orientiere ich mich im Folgenden an Reiser: „Als Professionelle Konzepte bezeichne ich konkret ausgearbeitete Systeme von Begründungszusammenhängen, Bedingungsbeschreibungen, methodischen Grundsätzen und handwerklichen Regeln und Handlungsversatzstücken, die eine vermittelnde Funktion zwischen Theorie und Praxis und zwischen Professionalität und Professionalisierung erfüllen“ (Reiser, 2005, 133). Eine solche Konzeption kann dazu dienen, die Relationen zwischen Theorie und Praxis, also zwischen Disziplin und Profession, aufzuzeigen, zu reflektieren und zu evaluieren. Die von mir vorgeschlagenen Konzepte zur Professionalisierung in der Heilpädagogik (vgl. Kapitel 1.3) konstituiert sich somit in einem „Übergangsraum zwischen den Bezugswissenschaften und konkreten Handlungsanweisungen“ (Reiser, 2005, 137). Über die Darstellung grundlegender theoretischer Bezugnahmen erfolgt eine Ausdeutung möglicher konzeptioneller und methodischer Elemente, welche wiederum die Basis bilden für das Studium und die Berufsausbildung in der Heil- und Behindertenpädagogik – und genau diesen Weg möchte ich in der Explikation der sieben Dimensionen zur Professionalisierung beschreiten und ausdeuten. Die Beschreibung und Differenzierung von Konzepten zur Professionalisierung folgt somit einer Aufteilung in Wissenschaft, Profession und Praxis. Sie umreißt hierbei die alltagspraktisch-narrative Reflexionsebene, die konzeptionelle Reflexionsebene und die abstrahierend-theoretische Reflexionsebene. In der weiteren Differenzierung eines Modells zur Professionalisierung in der (Heil-)Pädagogik sind jedoch zudem weitere Forschungsschwerpunkte zu bedenken:
Mit Becker-Lenz und Müller, welche dieses für die Soziale Arbeit konzeptionalisiert und diskutiert haben (vgl.: 2009, 49–60), gehe ich davon aus, dass diese Fragestellungen in den aktuellen Modellen zu den Theorien professionellen Handelns (so in der strukturtheoretischen Professionstheorie nach Oevermann, dem interaktionistischen Professionsmodell nach Schütze, dem Modell des empirisch begründeten beruflichen Handelns nach Heiner und der Konzeption der Professionalität als engagierter Rollendistanz nach Nagel) bearbeitet und in der Konzeption des Habitus nach Bourdieu (s.u.) zusammengeführt diskutiert werden können. Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Ansätze in den Sozial- und Erziehungswissenschaften könnte dieses ein erster – u.U. verbindender – Schritt zur Strukturierung einer pädagogischen Professionalisierung sein (vgl.: Becker-Lenz/Müller, 2009, 71/72). Ein Beitrag zum Professionsdiskurs in der Heil- und Behindertenpädagogik hätte sich somit möglichst vielen Fragen ihrer Wissenschaft und Verwissenschaftlichung, ihrer Erkenntnisbegründungen und ihrer Repräsentationsbildungen zu stellen. Hierbei kann dann vor allem auch auf die Individualität und Singularität des anderen Menschen eingegangen werden, da dieses die ethischanthroplogischen Begründungsmuster berührt, welche einen weiteren Ausgangspunkt dieses Professionsdiskurses darstellen (vgl.: Dederich, 2005, 170 – 186). Ich werde somit auf diese Dimension im Rahmen meiner Konzeptionalisierung auch intensiv eingehen. Zudem ist hierbei die Begründung und Differenzierung der Struktur des professionellen Wissens relevant, wie sich dieses in der Explikation der Begriffe der „Methode“, der „Professionalisierung“, der „Professionalität“ und des „professionellen Handelns“ ergibt (vgl.: Obrecht, 2009, 60–69). Auch hierzu soll mein Modell der sieben Dimensionen zur Professionsentwicklung in der Heilpädagogik einen Beitrag leisten.
Die grundlegende und vor dem Hintergrund der Professionsdiskussionen der Erziehungswissenschaften diese a priori bedingende Fragestellung nach der wesentlichen Ausrichtung der Heilpädagogik als eigentlicher Profession oder als Semi-Profession oder als notwendigerweise nicht anzustrebende Profession, da sie sich primär mit humanistischen Anliegen zu beschäftigen habe (vgl.: Gröschke, 2008, 72/73; oder auch für die Soziale Arbeit: Staub-Bernasconi, 2009, 23–34), muss an dieser Stelle benannt werden. Diese Debatte geht grundlegend zurück auf den 1969 erschienenen Sammelband zu den Semi-Professionen bzw. ihrer Organisiertheit und wurde von Etzioni dargestellt (vgl.: Staub-Bernasconi, 2009, 23). Staub-Bernasconi (vgl. 2009, 24–28), auf welche ich mich im Folgenden beziehe, erläutert den Weg der Professionalisierungsdebatte in der Sozialen Arbeit. Die Entwicklung der Heilpädagogik kann, diesem Muster folgend, m. E. analog skizziert werden. Beginnend in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich hierbei unterschiedliche Positionen zur Professionalisierung herausgebildet:
Wenn somit im Verlauf der weiteren Erörterungen die Professionalisierung in der Heilpädagogik beschrieben wird, wird sie gleichzeitig durch diese Themenstellungen, so bleibt zu hoffen, vorangetrieben und präzisiert. Die Begründungen hierzu sind in einem Minimalkonsens wiederzufinden, wie dieser für die Soziale Arbeit bereits entwickelt wurde, und wie er auch für die Heilpädagogik angenommen, aber auch postuliert werden kann (vgl.: Staub-Bernasconi, 2009, 28–34). Dieser Minimalkonsens bezieht sich vor allem auf die Differenzierung der Wissensarten im Sozialwesen. Es geht darum, die Kategorien des Beschreibungswissens, des Erklärungswissens und des Veränderungswissens möglichst differenziert darzustellen und für das Handeln im Sozialwesen, also auch in der Heilpädagogik, auszuloten. Die Grundlage hierzu stellt das jeweilige bezugswissenschaftliche oder disziplinäre Wissen der Profession dar, in unserem Falle also dasjenige der Heilpädagogik. Hierbei sind vor allem die Themen der sozialen Probleme, der transdisziplinären Bezugswissenschaften der Heilpädagogik, der Wissenskontexte über die kulturelle Diversität, der Bedingtheiten des Wissens in Bezug auf die empirische und kulturelle Wertebasis der Heilpädagogik sowie das vergleichende Wissen über die Entwicklung der Heilpädagogik in geschichtlicher und aktueller Perspektive notwendig. Auf diese Fragestellungen werde ich, diese miteinander verbindend, in der Beschreibung der unterschiedlichen Dimensionen zur Professionalisierung in der Heilpädagogik näher eingehen. So soll im Folgenden der Weg zu einer heilpädagogischen Profession beschritten werden, welche sich in den Kontexten der nachfolgenden Definition zur Profession beschreiben lässt: „Professionen sind ... Berufe eines besonderen Typs. Sie unterscheiden sich dadurch, dass sie die Berufsidee reflexiv handhaben, also das Wissen und das Ethos eines Berufs bewusst kultivieren, kodifizieren, vertexten und damit in die Form einer akademischen Lehrbarkeit überführen. Die reflexive Handhabung der Berufsidee schließt das Wissen um den sozialen Anspruch ein, der sich mit dem jeweiligen Beruf verbindet, und sie bezieht sich insofern auf die jetzt erreichbar gewordenen gesellschaftlichen Positionen und Attribute“ (Stichweh, 1996, 51). Genau diese Ebenen und Dimensionen sollen in den weiteren Kapiteln zur Professionsentwicklung in der Heilpädagogik differenziert erörtert werden.
Wie können die einzelnen Begriffe zum Professionsdiskurs nun aber präziser beschrieben werden?
Mit dem Begriff der Profession wird grundlegend ein Beruf oder ein Gewerbe bezeichnet. Die etymologische Bedeutung leitet sich ab vom lateinischen „professio“; dieser Begriff charakterisiert ein bestimmtes Betätigungsfeld bzw. Fach. Zu professionalisieren bedeutet folglich entweder, etwas professionell zu gestalten, oder aber, etwas zum Beruf zu machen. Wird eine Angelegenheit professionell betrieben, dann handelt es sich um eine fachmännische, gekonnte, aber auch berufsmäßig durchgeführte Art und Weise des Handelns (und Denkens und Planens). Als Beruf wird eine Tätigkeit in einem bestimmten Aufgabenbereich gekennzeichnet, bei welcher zumeist eine spezielle, hierauf abgestimmte, Ausbildung benötigt wird und mit der man seinen Lebensunterhalt verdient. Mit dem Wort „Berufsstand“ werden entweder alle Personen, die denselben Beruf haben (z.B. der Beruf der Ärzte), oder aber eine Gruppe bestimmter Berufe (z.B. die freien Berufe) bezeichnet (vgl.: Greving/Ondracek, 2009a, 30/31). Inwieweit ist nun eine Profession gleichzusetzen mit Arbeit oder Beruf? Während eine Arbeit zumeist der Befriedigung materieller Bedürfnisse dient, hat ein Beruf zusätzlich einen biografischen Kontext und erfordert bestimmte definierte Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten (vgl. Böllert/Gogolin, 2002, 367).
Der Begriff der Profession erscheint als eher statische Definition, weil er eine bestehende, sich in einem längeren historischen Kontext entwickelte Struktur beschreibt. Grundlegend handelt es sich zudem bei einer Profession um einen Beruf mit bestimmten gesellschaftlich zugeschriebenen und abgegrenzten Merkmalen. Es geht i. d.R. um eine wissenschaftlich verankerte Ausbildung, die zum Expertentum führt sowie den gesellschaftlichen Auftrag zu definierten Dienstleistungen für bestimmte Personengruppen (vgl.: Schütze, 1992, 135). In diesem Sinne verstehen sich Professionen als eigenständige Experten- und Fachwelten, die in einem besonders bedeutsamen Verhältnis zur jeweiligen Gesellschaft und Gesellschaftsstruktur, zu den Nutzern ihrer Dienstleistung, zu ihrem (fach-)wissenschaftlichen Hintergrund und auch zueinander stehen (vgl. hierzu ausführlich: Nittel, 2000).
Professionalisierung wiederum ist ein Begriff, der auf konkrete (und z.T. sehr unterschiedliche) Prozesse bezogen wird: Entwicklungen, Widersprüche, Eigenheiten, Konkurrenz und nicht selten auch Machtkämpfe. Da mit dem Wort „Professionalisierung“ ein entwicklungsorientierter Weg zu einer Profession charakterisiert wird, sind die Professionalisierungsdiskussionen häufig von standes- und machtorientierten Argumenten gekennzeichnet. Das kann auch für die (unterschiedlichen) Handlungsfelder und Fachwissenschaften der Heil-, Behinderten- und Sonderpädagogik behauptet werden. Obwohl diese Berufe, sowohl in ihren historischen Begründungen und Entwicklungen als auch in ihren aktuellen Realisierungen, sehr eng miteinander verbunden sind und aufeinander bezogen scheinen, sind sie doch in ein intensiv ausgeprägtes Spannungsverhältnis eingebunden. Dieses hängt primär damit zusammen, dass die Professionalisierung immer eine eigenständige Handlungslogik erfordert, die sich auf Wissen, Erklärungen, Fertigkeiten und Handlungen stützt, die in anderen Berufen und Professionen nicht bzw. nicht in dieser Weise und Kombination vorzufinden sind (vgl.: Greving/Ondracek, 2009 a, 31/32, 178–184). Eine relevante Rolle spielt hierbei auch die Tatsache, dass die Professionalisierung sich als Ziel einer Standespolitik auf konkrete Berufsgruppen (und Klientele) bezieht. Ein charakteristisches Anliegen einer jeglichen Professionalisierungstendenz ist hierbei die Beanspruchung eines exklusiven, zumindest spezifischen Berufswissens, welches wiederum von dem anderer Berufszweige unterschieden werden muss. (Diese Thema spielt z.Z. auch in der Abgrenzung und Bezugnahme der Heilpädagogik zu therapeutischen Berufen, wie z.B. demjenigen des Ergotherapeuten, eine nicht geringe und problematische Rolle.) Diese Orientierung an einem Berufs- und/oder Standeswissen dient unter anderem dazu, sich eine relative Autonomie gegenüber anderen Berufsgruppen, der jeweiligen Institution und dem – diese Berufe legitimierenden und überprüfenden – Staat zu sichern. Dies wird u. a. durch folgende Professionalisierungsmerkmale erreicht:
Professionalisierung kann in einem weiteren Schritt auf kollektiv-gesellschaftlicher Ebene als schrittweiser Aufstieg vom Status eines einfachen Berufes zum Status einer freien und frei zu gestaltenden Profession gekennzeichnet werden. Auf der Ebene der Individuen sowie subjektiv belangreicher und sinnvoller beruflicher Handlungen bedeutet Professionalisierung folglich die Differenzierung professionsspezifischer Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dennoch ist festzuhalten, dass nicht alle Prozesse der Professionalisierung auch in der Ausbildung und Spezifizierung einer Profession enden (vgl.: Dlugosch, 2009, 253).
Mit dem Ausdruck Professionalität wird schließlich i. d.R. eine begründete und fachlich gekonnt durchgeführte berufliche Handlung bezeichnet. Zudem wird dieser Begriff als ein Indikator für eine qualitativ hochwertige Arbeitsleistung benutzt. Als Hauptquellen der Professionalität werden das Wissen und Können betrachtet, die in enger Verbindung mit dem Fachwissen, der Intuition und der Erfahrung der beruflich handelnden Person stehen. Die Professionalität stellt eine empirisch nur äußerst schwer erfassbare Kombination, eine Schnittmenge aus diesen Elementen dar (vgl.: Nittel, 2002, 71). Im alltäglichen Umgang bzw. in der unspezifischen Kommunikation wird zwischen den Begriffen Professionalisierung und Professionalität oft nicht näher unterschieden, obwohl dieses relevant und notwendig wäre. Die Professionalität steht im Kontext von berufstypischen Kompetenzen, über die der professionell Handelnde verfügt bzw. verfügen sollte. Professionalisierung bezieht sich dagegen auf Prozesse zur Erlangung eines exklusiven bzw. spezifischen Berufswissens, von dem die Erteilung einer gesellschaftlichen Erlaubnis zur Ausübung entsprechender beruflicher Tätigkeit abhängt. Das eine sollte nicht mit dem anderen verwechselt werden, gleichwohl die Professionalität sich auch im Prozess der Professionalisierung entfalten kann – es aber nicht zwangsläufig muss (s.o.). Der Begriff der Professionalität kann des Weiteren handlungstheoretisch betrachtet und spezifiziert werden. Hierbei ist jedoch festzuhalten, dass Professionalität nicht immer an die Existenz der Profession gebunden ist. Sie definiert häufig „die besondere Qualität einer personenbezogenen Dienstleistung auch über den institutionellen Komplex der anerkannten Professionen hinaus“ (Nittel, 2004, 350). In der Differenzierung zu technologischen bzw. anwendungsorientierten Berufen ist in den interaktiven Situationen (heil-)pädagogischer Berufe situationsadäquates und -sensibles Wissen und Können in Bezug auf die jeweiligen Handlungspartner relevant – dieses dann professionstheoretisch zu beschreiben, zu differenzieren und zu generalisieren, erscheint alles andere als einfach (vgl.: Dlugosch, 2009, 253). Hierzu abschließend Nittel: „Als Synonym für ‚gekonnte Beruflichkeit‘ stellt Professionalität die nur schwer bestimmbare Schnittmenge aus Wissen und Können dar; sie markiert die widersprüchliche Einheit jener Kompetenzen und Wissensformen, die ihrerseits den Umgang mit beruflichen Widersprüchen, Paradoxien und Dilemmata erlaubt“ (Nittel, 2002, 256).
In der seit einigen Jahren stattfindenden professionstheoretischen Debatte in der Heil- und Behindertenpädagogik zeichnet sich eine weitere Begründung dieser Elemente bzw. eine Zusammenfassung dieser an (s. o.). Sie besteht in der Darstellung und Diskussion der professionellen Entwicklung als „biographische Konstruktion“ (Dlugosch, 2003, 44). Dieses bedeutet, dass sich die Entwicklung der Professionalität als persönliches Projekt analysieren und beschreiben lässt, welches nicht nur auf die Tätigkeiten in der Arbeitswelt Bezug nimmt, sondern vielmehr auch ein Verhältnis definiert und beschreibt, welches der Einzelne zwischen seiner individuell-subjektiven Person und den Erwartungen der Gesellschaft entwickelt bzw. entwickeln muss. Diese Bezogenheiten zwischen dem Individuum und der sozialen und pädagogischen Welt seiner beruflichen Handlungen strukturieren das professionelle Feld (vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Feldbegriff nach Bourdieu, 1985, 1998). Vollziehen sich in diesem Feld Veränderungen, so sind diese das Medium, das Mittel, welches den Prozess der Professionalisierung voranbringt (vgl.: Dlugosch, 2003, 44). Diese persönliche und gesellschaftliche Entwicklung einer Professionalität führt somit zu einer Tätigkeit am Habitus des Einzelnen (vgl.: Bourdieu, 1998; Becker-Lenz/Müller, 2009). Was ist hiermit konkret gemeint?
Der Begriff und das Prinzip des „Habitus“ kennzeichnet einen bestimmten Möglichkeitsraum einer Person. Der Habitus dieser Person stellt folglich die Potentialität dar, in einer bestimmten sozialen Situation etwas Bestimmtes zu denken, zu vermuten oder zu tun. Der Habitus dient somit zur Orientierung in diesem sozialen Raum (vgl.: Schwingel, 1998, 53ff.). Der Habitus stellt also eine Eigenschaft oder ein Dispositionssystem dar, welches die Vermittlung des sozialen Sinns mit subjektiven Einstellungen – im Sinne von Lebensweisen oder Lebensstilen – im sozialen Raum markiert und differenziert. Der Prozess des Erwerbs des Habitus ereignet sich hierbei unbewusst, d. h. die Geschichte der Entwicklung des (gesellschaftlichen wie individuellen) Habitus ist für den einzelnen Menschen nicht mehr nachvollziehbar. Die grundlegenden Existenzbedingungen (des Habitus) und seine weitere Ausformung durch die soziale Entwicklung und Kultur wurden vergessen: Der Einzelne hat keine oder nur sehr begrenzte Spielräume, diesen Habitus zu modifizieren, da er in ein bestimmtes, konkretes soziales Feld hineingeboren wurde und Habitus und Feld in einer unauflöslichen Dialektik bestehen und wirken (vgl.: Bourdieu, 1998, 152; 1994, 281; Schwingel, 1998, 53). Die Bedingungen des jeweiligen Feldes werden somit tradiert, der Einzelne erfährt hierdurch eine Sozialisation, welche ihn von Anbeginn seines Lebens prägt und – mit weiteren Faktoren – bedingt: „Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: der Habitus ist ein System von Grenzen“ (Bourdieu, 1997, 33), – in welchem die Handlungs(-spiel-)räume des Einzelnen durch äußere, strukturelle Bedingungen weitestgehend bedingt und somit determiniert sind (vgl.: Greving/Ondracek, 2009a, 88–90).
Der Habitus stellt somit nicht nur ein unbewusstes System von Dispositionen und deren Begrenzungen oder Unmöglichkeiten bereit, er wird vielmehr zudem „zum realen Prinzip der Praktiken“ (Bourdieu, 1998, 153), wie in und mit diesem Feld gehandelt werden soll. Hiermit beschreibt Bourdieu, „daß die meisten Handlungen der Menschen etwas ganz anderes als die Intention zum Prinzip haben, nämlich erworbene Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, daß man das Handeln als zweckgerichtet interpretieren kann und muß, ohne deshalb von einer bewußten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip dieses Handelns ausgehen zu können (hier ist das ‚alles spielt sich so ab, als ob‘ besonders wichtig)“ (Bourdieu, 1998, 167/168). Der Habitus strukturiert somit die jeweilige Praxis im jeweiligen Feld nicht ausschließlich deterministisch – die menschliche Freiheit würde hierdurch völlig ad absurdum geführt werden, obwohl Bourdieu natürlich mit seiner Systematik einiges über die Entstehungsbedingungen und -bedingtheiten dieser Freiheit ausführt! –, der Habitus gibt nur jeweils die Grenzen der Handlungen, nicht aber die Handlungen als solche vor. Der Habitus ist somit im Sinne einer „strukturierenden Struktur (modus operandi)“ (Bourdieu, 1994, 281) zu kennzeichnen, welche die tatsächlichen Ausführungsmomente der Praktiken und nicht so sehr die Inhalte derselben ausmacht (vgl.: Schwingel, 1998, 64/56).
Abschließend kann somit zur Konzeption des Habitus gefolgert werden, dass es sich hierbei
Mit Bezug auf diese Begründung von Bourdieu kann also festgestellt werden, dass sich die professionelle Praxis in der Heilpädagogik zum einen aus dem Habitus des beruflich agierenden Heilpädagogen zusammensetzt, auf der anderen Seite jedoch das Feld der Profession, in welchem er tätig ist, sein Handeln in hohem Maße bedingt bzw. bedingen sollte. Zwischen diesen beiden Grundelementen kommt es somit zu vielfältigen Bezogenheiten und Abhängigkeiten. Becker-Lenz und Müller (vgl.: 2009, 361 – 374) haben hierzu jüngst mögliche Komponenten eines professionellen Habitus (allerdings für die Soziale Arbeit) skizziert. Da diese m. E. auch für die Heilpädagogik relevant sind, sollen sie hier kurz erwähnt werden. Es handelt sich um
Wie nun die Beziehungen zwischen den individuellen Haltungen, Gewohnheiten und Strategien und der Gesellschaft verortet sind, wie sich diese auf das konkrete Handlungsfeld der Heilpädagogik auswirken, muss in allen Prozessen dieser Entwicklung und Begleitung dieser Professionalisierung neu analysiert und evaluiert werden. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die Ausbildungseinrichtungen, weil sie sich zu den Anforderungen der Gesellschaft positionieren, und weil sie die Übergänge zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft im Rahmen der Entwicklung von Professionalität gestalten (müssen). Dieser selbstgestaltete Bildungsprozess führt dann zu einem professionellen Habitus, welcher durch die unterschiedlichen reflektierten (und z.T. sicherlich häufig auch weniger reflektierten) Anteile vom Einzelnen konstruiert ist und permanent konstruiert wird (vgl.: Gergen, 2002; Siebert, 2005; Greving/Ondracek, 2009, 32).
Um der Handlungswissenschaft der Heilpädagogik möglichst gerecht zu werden, erscheint es sinnvoll und notwendig, ein mehrdimensionales Modell einer professionellen Heilpädagogik zu skizzieren. In diesem Modell gehe ich von sieben unterschiedlichen Dimensionen aus, welche aufeinander aufbauen und sich gegenseitig beeinflussen. Sie beschreiben hierbei sowohl die Disziplin als auch die Profession der Heilpädagogik. Zudem enthalten sie Ansätze, wie eine Disziplin- bzw. Professionsentwicklung in der Heilpädagogik realisiert werden kann.
Es handelt sich hierbei um folgende Dimensionen, welche im Nachfolgenden begründet und skizziert werden (siehe Abb. 3):
Die Begründung einer Profession ist immer an eine erkenntnistheoretische Grundorientierung gebunden. Ich habe mich im Verlauf der letzten Jahre mehr und mehr dazu entschieden, eine konstruktivistische Position einzunehmen, weil mir diese, in Bezug auf die Erklärungen für die Prozesse im Sozialwesen, als die z.Z. relevanteste und anschlussfähigste (auch auf dem Hintergrund der Begründungen der Systemtheorie; vgl.: Speck, 2008) erscheint. Zudem kann sie mit den Begründungen der relationalen Soziologie nach Bourdieu verbunden werden (s. o.; vgl. zudem: Greving/Ondracek, 2009).
Abb. 3: Dimensionen einer professionellen Heilpädagogik
Konstruktivismus soll und muss als eine Erkenntnistheorie verstanden werden, welche versucht, den Prozess der Erzeugung der Vorstellungen von Welt und „Wirklichkeit“ zu begründen (vgl.: Palmowski, 2007, 55). Es gibt hierbei nicht den einen Konstruktivismus, sondern unterschiedliche Ausprägungen von Konstruktivismus, welche eine z.T. 60-jährige Geschichte in der Wissenschaftstheorie beschreiben (s. Kapitel 2). Im Konstruktivismus wird grundlegend nicht die Wirklichkeit vorgefunden und entdeckt, sondern sie wird durch den Betrachter und Handelnden selbst geschaffen, also somit konstruiert. Wir geben z. B. nie Wirklichkeiten weiter, sondern immer nur unsere Wahrnehmungen, unsere Erfahrungen und Erinnerungen von „Wirklichkeit“. Welche spezifischen Impulse können nun vom Konstruktivismus für die Heilpädagogik ausgehen? Grundlegend kann Folgendes festgestellt werden: Jede Sprache und jegliches Zeichen (vgl. unten) können als Konstrukte verstanden werden. Das, was wir gesellschaftskulturell bzw. individuell als Menschen entwickelt haben, ist immer von uns entwickelt, so dass es nicht wirklich „den Tisch“ oder „die Zahl Vier“ oder „die Liebe“ gibt: es sind Konstrukte und Zeichen, welche wir benötigen, um miteinander zu kommunizieren und zu leben. So können auch heilpädagogische Kategorien als Konstrukte verstanden werden: Geistige Behinderung, Körperbehinderung, Verhaltensstörungen oder Verhaltensbesonderheiten sind verbale und mentale Konstrukte, mit welchen wir versuchen, eine uns vielfach unbekannte Wirklichkeit ins Wort zu bringen. Aber auch Behinderungen können als Konstrukte verstanden werden. Dieses kann z.B. an der so genannten Trisomie 21 verdeutlicht werden, wobei die Konstruktion dieses Gegenstandes bzw. diese Bezeichnung eng verwoben war (und ist) mit den dahinter stehenden, jeweils aktuell vorliegenden wissenschaftlichen Begründungen: So hieß diese Form der Behinderung im 19. Jahrhundert Mongolismus, danach Down-Syndrom, jetzt Trisomie 21 – wobei sich auch diese Be-Zeichnung gegebenenfalls verändern wird, weil man inzwischen durch humangenetische Forschungen festgestellt hat, dass nicht allein das dreimalige Vorkommen des 21. Chromosoms ursächlich für diese Behinderung verantwortlich ist. Auch andere Syndrome können in ihrer Bezeichnung als Konstrukte verstanden werden, da hierbei vielfach die Außensicht des Wissenschaftlers und Praktikers und nicht die Innensicht der betroffenen Person in den Mittelpunkt des Interesses gestellt wird. Kritisch bleibt hierbei anzumerken, dass die Wirklichkeit in jedem Fall (der Wahrnehmung und der Kommunikation in und mit derselben) schon vorerfahren ist. Diese Vorerfahrung ist und wird schon immer der Interpretation der wahrnehmenden und handelnden Subjekte unterworfen, so dass diese als Realitäten erfahrbar werden – so wie dieses die Position des Sozialen Konstruktivismus bzw. Konstruktionismus andeutet (vgl.: Gergen, 2002; Palmowski/Heuwinkel, 2000).
Ein weiterer Aussagekomplex bezieht sich auf die Vernetzung von Konstruktivismus und Ethik in der Heilpädagogik: Grundlegende konstruktivistische Begriffe wie Autopoiese bzw. Selbstbestimmung, aber auch Ko-Konstruktion und Viabilität (Passung) deuten darauf hin, dass der Mensch eine hohe Verantwortung für sich und den anderen hat und der andere wiederum genauso für ihn (s. Kapitel 2). Im Rahmen selbstbestimmter, gemeinsam ausgehandelter und für den jeweiligen Kommunikationsprozess stimmiger und passender Verhaltensmuster muss der eine sich am anderen orientieren – er muss nachvollziehen, welche Anteile für eine gemeinsam zu schaffende oder gerade gemeinsam nutzbar gemachte Wirklichkeit mit dem anderen geteilt werden können. Abhängigkeiten und Selbstbestimmungsprozesse des einzelnen Menschen sind somit nie von diesem allein zu leisten, sie stehen immer im Kontext des Wechselseitig-aufeinander-verwiesen-Seins.
Des Weiteren kann der Konstruktivismus auch in Bezug auf die Didaktik und Methodik der Heilpädagogik einiges leisten: so z.B. in der Beobachtung und in der Kommunikation. Wenn der Satz von G. Bateson stimmt, dass alles Gesagte von einem Beobachter gesagt wird, so ist es genau dieser Beobachter, der auch die Situation, die er beschreibt, durch sein Dasein verändert und durch seine Wahrnehmung so wahrnimmt, wie er und niemand anders sie in diesem Moment wahrnehmen kann. Dieses wird in den Handlungsprozessen in der Heilpädagogik kommuniziert, in Dokumenten analysiert und in Berichten weitergegeben. Ein weiterer Punkt bezieht sich auf die Konstruktion, Re-Konstruktion und De-Konstruktion von Lernen und Lernprozessen. Diese werden hoffentlich am gemeinsamen Gegenstand durchgeführt. Lernen geschieht hier gemeinsam in der Entwicklung von Interessenslagen, in Abstimmungsprozessen und Wechselwirkungen zwischen kognitiven, emotionalen und sozialen Wahrnehmungen und Ausrichtungen. Dialogischer Sinn, also die Erfahrung, mit anderen gemeinsam in kommunikativen Prozessen Sinn zu entwickeln, gelingt immer nur in ko-konstruktiven Prozessen – auch wenn dieses in der Praxis häufig nicht reflektiert wird.