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Martin Hyun

OHNE FLEISS KEIN REIS

Wie ich ein guter Deutscher wurde

btb.eps

VORBEMERKUNG

Die nachfolgenden Schilderungen erheben keinen Faktizitätsanspruch. Sie behandeln typisierte Personen, die es so oder so ähnlich geben könnte. Diese Urbilder werden durch künstlerische Ausgestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus Teil eines Kunstwerks und gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist. Für die Leser erkennbar erschöpft sich also der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene, da ein Spiel des Autors mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion stattfindet, das bewusst Grenzen verschwimmen lässt.

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1. Auflage
Copyright © 2012 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-07331-2
V002

www.btb-verlag.de

INHALT

Koreanische Eltern und auf der Straße nach Osten

Friedrichshainer, Gott ist ein DJ und die Weltkultur

Berlin, Berlin

Abenteuer im Bundestag

McDonald’s ist einfach gut

Ein Kommentar

Nomen est Omen

Im Zentrum der Macht

Olympische Spiele

Koreaner und Feldhasen

Sprache ist der Schlüssel

Mischehen sind der Schlüssel

Aliens in Friedrichshain

Warum man die Migranten braucht

Neukölln, Neukölln

Von Bullen und Bären

Keine Politik

Leitkultur

Bildungsausländer, Freunde und Warten auf eine Chance

Dave Matthews Band

Diplomatie und Deutsche Führungskräfte

Säbelrasseln und Hundesteak

Falsche Netzwerke

Migrantenkreislauf und Gott ist auf unserer Seite

Kriminelle Touristen

Die Macht des T-Shirts

Unter Gladiatoren im Schloss Bellevue

Verdienstorden für drei Euro

Gangster, Terrorist, heiliger Krieg

Begegnung mit Thilo Sarrazin vor dem Buch

Sarrazin nach seinem Buch

Von Döner, Inschallah und Vielfalt auf dem »zweiten« Arbeitsmarkt

Dextro Energy

Diaspora Liebestraum

Captain Ahoi

Grenzen überwinden mit Gen 3.0

YouTube

Was koreanische Männer wollen

Grenzgänger und Berlin-Berliner

Auf der Suche nach den letzten Berlinern

Mein Spaziergang durch Berlin

Freundlichkeitskampagnen

Filmstar

Moritz Bleibtreu – ein Integrationstraum

Blumen

Ihr habt doch einen!

Begegnung mit Philipp Rösler

Wie ist es denn in Korea?

Kulinarische Integration und Boxenaufstand

German Cultural Designer

Chinesen sind keine Koreaner

Einbürgerungstest

Tierschutz, Amnesty und optische Täuschung

Les temps changent

Karaoke und Sesamstraße

Veränderungen

In der M10-Tram

Multikulti-Hochzeit

Heiraten auf Koreanisch

Vaters Rückkehr in die alte Heimat

Seoul, Seoul

Olga, Wladimir und ich Go Far Far East

Probieren geht über studieren

Integration, eine Herzensangelegenheit

Schlaflos in Friedrichshain

Das Ende, mein Freund

Meiner Familie und den Kaminers.
Meiner Liebe(n) Dani.

KOREANISCHE ELTERN UND AUF DER STRASSE NACH OSTEN

Buddhisten streben nach Erleuchtung – und koreanische Eltern nach dem Zusammenleben mit ihren Kindern. Nur gegen ihren Willen lassen sie die Kinder aus dem Hause ausziehen. Die alte Heimat ist schon geteilt, dann sollte zumindest die Familie vereint bleiben. Es gibt genau zwei Gründe, sich vom Elternhaus abzunabeln, und das sind Studium und Beruf. Allerdings nur unter der Bedingung, dass der Studien- oder Arbeitsplatz weit weg vom elterlichen Hause liegt und auch mit einem strammen Fußmarsch nicht zu bewältigen ist. Erfüllt man diese Kriterien, dann steht der Flucht nichts mehr im Wege. Vor kurzem hat meine Bekannte Sae-hee ihr Pharmaziestudium abgeschlossen. Kurz darauf nahm sie einen Job in der Schweiz an. Über Facebook verkündete sie: »Ich liebe die Schweiz, die Schweizer, ihre Schokolade – und mein Schweizer Leben in Unabhängigkeit! Freiheit ist Unerreichbarkeit!«

Andere Gründe, die keinen direkten Bezug zu Bildung und beruflichem Fortkommen haben, gelten als niedere Beweggründe. Volljährigkeit hat in einem koreanischen Elternhaus nichts zu bedeuten. Koreanische Eltern sind Gesetzlose, die nur nach ihren eigenen Vorschriften und Werten handeln, völlig uninspiriert vom Geiste unserer Verfassung. Widersetzt man sich den moralischen Standards koreanischer Eltern, die im Geiste immer noch im alten Korea leben, kann dies zu einem lebenslänglichen Ausschluss aus der Familie führen. Hinter der lächelnden Fassade koreanischer Eltern steckt eine kalte und erbarmungslose Seite.

Wie es ist, in die Ungnade koreanischer Eltern zu fallen, davon kann Kim Jong-ils Sohn, Jong-nam, ein Lied singen. Mit einem gefälschten Pass versuchte er, nach Tokio einzureisen, um sich in Disneyland ein wenig vom tristen nordkoreanischen Alltag zu erholen. Sein heißer Tango mit der Freiheit kostete ihn die Thronfolge. Seitdem ist Jong-nam bei seinem Vater, dem »geliebten Führer«, in Ungnade gefallen, erhält keinerlei Alimente mehr, und der Zugang zu jeglichen Luxusgütern wurde ihm gestrichen. Seine tägliche Ration Reis, die ihm vorher noch von Staatsbediensteten auf einem goldenen Teller serviert wurde, muss er sich im Hotel Papa nun hart erarbeiten. Seit dem Disneyland-Vorfall hat man von Jong-nam nicht mehr viel gehört. Geheimdienste munkeln, er habe eine Teilzeitstelle als Mickymaus angenommen.

Vor allem koreanische Eltern, die in Deutschland leben, sind mit allen Wassern gewaschen. Das Leben in beiden Ländern hat sie mit einer großartigen Intelligenz ausgestattet. Der unscheinbare Eindruck vieler koreanischer Eltern trügt. Sie sind schlauer, als manch einem lieb sein kann. Wie ein Garri Kasparow denken sie stets in zehn Schachzügen voraus. Wenn wir als Kinder trotzig waren, keine Lust zum Lernen verspürten und dementsprechend den Anweisungen der Eltern nicht Folge leisteten, sagte Vater auf Koreanisch: »Dann zieh aus meinem Haus aus und leb auf der Straße!« Vater wusste genau, dass seine Drohung nie das Licht des Tages erblicken würde. Wo sollten wir auch hin? Schließlich wäre der Bahnhof kein guter Tausch mit dem elterlichen Hause gewesen, und die Obdachlosen, die dort herumlungerten, waren nicht gerade die besten Botschafter, um solch einem Leben in grenzenloser Freiheit nachzueifern.

Später stellte sich heraus, dass dieser Satz nicht nur meine Kindheit geprägt hatte, sondern bei fast allen meiner deutsch-koreanischen Freunde angewandt wurde. Mich wundert es nicht, dass sich so viele koreanischstämmige Deutsche nach ihrem Abitur für ein Jurastudium entscheiden. Es ist schon gut, wenn man seine Rechte kennt. Meinen Geschwistern und mir waren unsere Rechte nicht geläufig. Dieses Wissen eigneten wir uns erst sehr spät an. Aus Unwissen blieben wir treu ergeben in Vaters Reich, in dem Befehl und Gehorsam die tragende Säule für ein harmonisches Leben miteinander bildeten. Im Tausch dafür bekamen wir Obdach, Kleidung, frische Wäsche, gefüllte Kühlschränke und eine fürstliche koreanische Verpflegung aus Mutters Küche. Auch gewährte uns Vater einen monatlichen Wehrsold, wobei er es sich nicht nehmen ließ, unsere Reaktionsschnelligkeit und unseren Gehorsam zu testen. Wenn Vater uns zu sich rief, dann mussten wir innerhalb von fünf Sekunden in einer Reihe still und stramm vor ihm stehen, ansonsten schickte uns Vater in die Zimmer zurück und ließ diesen Vorgang wiederholen, bis es uns gelang. Unfairerweise übersprang Vater beim Zählen oftmals zwei bis drei wertvolle Sekunden. Wenn wir es dennoch gegen alle Widrigkeiten schafften, ließ Vater es sich nicht nehmen, vor der Geldübergabe eine kurze Rede zu halten, in der er uns daran erinnerte, dass wir im Paradies lebten und uns glücklich schätzen könnten, dass unsere Teller stets mit reichlich Reis gefüllt seien.

Eines Tages beim obligatorischen gemeinsamen Abendessen in der Küche sagte Vater auf Koreanisch: »Wenn du im Alter von dreißig Jahren immer noch zu Hause lebst, dann sehe ich mich gezwungen, dich vor die Tür zu setzen!« Die Seealgen aus der Suppe blieben mir fast im Halse stecken, weil ich meinen Ohren nicht traute, als ich diese befreienden Worte aus Vaters Mund hörte. Damit Vater keinen Verdacht von meinem Taumel der Freiheit schöpfte und von meinen innerlichen Jubelgesängen nichts mitbekam, spielte ich die beleidigte Leberwurst. Ich appellierte an Vaters Gewissen, wie er denn sein eigenes Fleisch und Blut aus dem Hause schmeißen könne, nach allem, was man gemeinsam durchgemacht habe. »Du musst anfangen, dein eigenes Leben zu führen!«, entgegnete mir Vater, sichtlich unberührt. Am Ende meiner oscarreifen Performance bot ich Vater an, schon gleich am nächsten Morgen auszuziehen, wenn ihm meine Anwesenheit doch so unerträglich sei.

Mein letzter Vorhang war gefallen, und das Kapitel »Zuhause ist Korea« neigte sich dem Ende zu. Ich kam zu der Erkenntnis, dass die Freiheit ein Phänomen ist, das plötzlich auftaucht, wenn man am wenigsten damit rechnet. Ich hatte es geschafft, die Grenze zu öffnen, ohne unterirdische Fluchttunnel bauen zu müssen, in einen Hungerstreik zu treten oder eine Revolution zu starten. Die Freiheit gehörte mir. Meine Zeit des Auskostens der Früchte der Freiheit war gekommen. Eine Zeit, in der ich keine kalten Duschen, morgendlichen Appelle, abendlichen Zapfenstreiche und Befehle mehr zu befürchten hatte. Dennoch war mir etwas mulmig zumute, wie ich mit dieser plötzlichen Freiheit umgehen würde. Ich fürchtete, in der freien Welt in ein tiefes Loch zu fallen, nur um mich nach meinem alten Leben zurückzusehnen. Der Gewinn der Freiheit ist doch so etwas wie ein Sechser im Lotto. Im Siegesrausch treiben es einige zu bunt, sie gehen verschwenderisch mit dem neu Gewonnenen um, was nicht selten in Tragödien endet. Doch im Moment des Glückes überwogen die Freude und die Neugier, was mir das postkoreanische Leben bringen würde.

Der Tag des Abschieds aus Vaters 150 m² umfassendem Korea kam schneller als gedacht. Ein Stellenangebot aus Berlin kam Vaters Rausschmiss zuvor. 600 Kilometer liegen zwischen Krefeld und Berlin, genug, um die Ausreise von zu Hause ohne weiteres genehmigt zu bekommen. Berlin – schon von weitem hörte ich die süße Musik der Freiheit spielen, die so wundervoll in meinen Ohren klang. Vater, die chinesische Mauer, wie wir ihn nannten, ordnete zu meinen Ehren einen Großen Zapfenstreich an. Vor den geladenen Staatsgästen, dem Who-is-Who der Familie – Julia, Simone, Mutter und unsere Collie-Hündin Ära – hielt Vater eine gigantische Ansprache, in der er mich weniger an meine Rechte, sondern vor allem an meine Pflichten erinnerte, mich ermahnte, Frauen fernzubleiben, und darauf verwies, im Besitz eines Navigationssystems zu sein, in das meine Adresse bereits eingespeichert sei, wodurch jederzeit die Möglichkeit zur Stichkontrolle bestünde. All meine Energie sollte ich fortan auf mein berufliches Fortkommen legen. Während seiner Ansprache benutzte Vater sehr oft das Wort »Halligalli«, wahrscheinlich eine Vokabel aus seinen Zeiten unter Tage, die er von seinem Vorgesetzten gelernt haben muss.

Als Vater fertig war, gestattete er mir, ein paar Sätze an die Familie zu richten. Zumindest fast. Vielmehr gab er mir zu verstehen, dass ich ihm nachsprechen sollte, was ich auch tat, um auf den letzten Metern vor der großen Freiheit nichts zu riskieren. »Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt als treu dienender Soldat der Familie aus Vaters Korea – mit sofortiger Wirkung. Ich danke Mutter, dass sie mich über Jahrzehnte wohlgenährt hat, und Vater für sein strenges Regiment, dank dem ich als Koreanischstämmiger in Deutschland nun gut gerüstet mein Zuhause verlasse. Es war mir eine Ehre, der Familie bis dahin gedient zu haben. Ich gedenke, dies in der Ferne weiterhin zu tun.« Als ich die letzten Zeilen nachsprach, schaltete Vater bereits die alte Karaoke-Maschine im Wohnzimmer an und sang mir zu Ehren – nicht etwa Sinatras »My Way«, sondern Na Hoo-nas »Ga-Seum Apu-gae (Herzschmerz)«, ein melodramatisches koreanisches Volkslied.

Nach dem Großen Zapfenstreich im Kreise der Vertrauten wurde der Miettransporter für den Umzug nach Berlin gepackt. Sogar unsere Collie-Hündin Ära packte mit an. Wir erreichten Friedrichshain in Berlin an einem regnerischen Spätnachmittag, und auf der Straße nach Osten ergab der Vers »I have been looking for freedom since I left my hometown« endlich einen Sinn.

FRIEDRICHSHAINER, GOTT IST EIN DJ UND DIE WELTKULTUR

Die besten Dinge im Leben sind nicht über Online-Banking zu ergattern, bei Ebay zu ersteigern oder durch Null-Prozent-Finanzierungen zu erwerben. Für lausige 50 Euro konnte ich mir in einem völlig heruntergekommenen Bürgeramt an der Yorckstraße die Identität eines Friedrichshainers verpassen lassen. Um sich von Prinz Frederic von Anhalt adoptieren zu lassen, muss man dagegen eine bis zu sechsstellige Summe bezahlen. Ob man sich den Prinzen als Adoptivvater wünscht, sei dahingestellt. Einen Mehrwert hat es nicht wirklich. Dagegen erscheint die Gelegenheit, ein Friedrichshainer zu werden, wie ein Geschenk des Himmels.

Mutter sagte mir einmal, dass sich das Leben innerhalb von Sekunden verändern könne. Meine dramatische Wendung im Leben ereignete sich am 26. September 2008 und erforderte nicht Sekunden, sondern einige Minuten. Eines habe ich in Deutschland gelernt: Das Leben als Migrant ändert sich nie in Sekunden. Allenfalls in mühsamen Stunden, in denen die Geduld auf die Probe gestellt wird – wenn man vorher auch nicht vergessen hat, eine Nummer zu ziehen.

Mit routinierten und geschickten Handbewegungen der Angestellten vom Bürgeramt wurde das Ende meiner Samt- und Seidenstadt-Vergangenheit besiegelt und ein neues Kapitel in meinem Leben aufgeschlagen. Nun war ich ein Ostberliner. Schon Theodor Fontane sagte einst: »Vor Gott sind alle Menschen Berliner.« Ich war nun im Klub, und im Fall der Fälle, dass ich Berlin nicht überlebte, könnte ich mich vor Gott zumindest als Berliner ausweisen – in der Hoffnung, dass er nicht zwischen Ost- und Westberliner unterscheiden würde.

Ich wollte immer schon nach Berlin, aber nie in den östlichen Teil. Doch der Osten zieht nun mal den Fernen Osten wie ein Magnet an. Zu viel hatte ich von auf der Lauer liegenden kahlgeschorenen Ostdeutschen gehört, die wie vom Teufel besessen Ausländer durch die Straßen jagen. Damals waren ihnen nämlich die Ausländer systematisch vom Staat vorenthalten worden. Nun hatte man Nachholbedarf und wollte den Ausländern mit 20 Jahren angestauter Nächstenliebe viel Freude bereiten. Dabei stellen sie sich oft sehr plump an, zünden gelegentlich Wohnhäuser an, marschieren verirrt mit ihren leeren Seelen, hoffnungslos durch die Straßen – und alles nur, weil sie uns lieben. Und eigentlich müssten sie es doch besser wissen, dass Liebe nicht erzwingbar und erst recht nicht käuflich ist.

Die Berliner sind mir ein sympathisches Volk. Nicht nur, weil sie dasselbe Schicksal verbindet wie das Land meiner Eltern. Aus Solidarität habe ich mir zwei T-Shirts bedrucken lassen. Eins trägt die Aufschrift »Kommste ooch ausm Osten?« und das andere »Ich bin stolz, ein Ossi zu sein!«. Doch bislang konnte ich damit nur bei meinem vietnamesischen Änderungsschneider Hoang punkten, einem wahren Ossi, der mir auf jegliche Ärmel- und Hosenkürzungen satte Rabatte gewährt.

Versunken in einen Ozean voller Gedanken brachten mich die »Dit war es!«-Worte der Angestellten in das Hier und Jetzt zurück. So lautlos wie möglich stand ich auf, nahm den Personalausweis vom Tisch, verabschiedete mich und ging in meine neue Heimat. Nur um sofort von einem Linksautonomen oder autonomen Nationalisten angerempelt zu werden. Früher war alles besser, dachte ich mir, da konnte man anhand des Aussehens unterscheiden, wer zu wem gehört. Die Nazis trugen Bomberjacke, Glatze und Springerstiefel und die Linken PLO-Tuch, schwarze Kleidung und lange Haare. Heute sind sie kaum noch auseinanderzuhalten. Die Linken können die Rechten sein und die Rechten die Linken. Jedenfalls streckte mir der Autonome den Mittelfinger entgegen. Es kam zum Effenberg-Duell. Ich gab ihm zu erkennen, dass ich einen längeren Mittelfinger habe. Mit hängendem Kopf zog er von dannen. Nachdem er mir den Rücken zugekehrt hatte, fiel mir der Riesenaufnäher auf seiner Jacke auf mit der Kiez-Weisheit: »Keiner ist gemeiner wie ein Friedrichshainer«.

Der Kiez tickt links. Das Herz schlägt grün. Hier wohne ich in einer Straße, benannt nach dem Arzt und Astronomen Nikolaus Kopernikus. Meine Altbauwohnung liegt im zweiten Stockwerk des Seitenflügels. Sie ist klein und schief geschnitten. Der Wind zieht durch die alten Fenster. Die Wände sind dünn. Der Holzboden ist abgenutzt, die Heizung so launisch wie eine Diva und die Hausklingel kaputt.

Mein Nachbar, der über mir lebt, ist von Beruf DJ. Das aber erfuhr ich erst nach meinem Einzug. Dem täglichen Trainieren seiner Fingerfertigkeiten und Feilen seines Talentes nach zu urteilen, muss er tatsächlich der Gott unter den DJs sein. Als ich ihn zum wiederholten Male bat, die Musik ein wenig leiser zu stellen, bot er mir als Entschädigung für die ständigen Ruhestörungen an, bei einer großen Straßenparade als VIP auf einem der Hauptwagen mitzufahren. Wie denn die bunte Parade heiße, hakte ich nach. »Christopher-Street-Day!«, entgegnete er so lässig wie ein Cowboy und fügte unbekümmert hinzu: »Das Pride-Festival steht unter dem Motto: Stück für Stück ins Homo-Glück – Alle Rechte für alle.« Ich winkte höflich ab und versicherte ihm, dass ich bereits ein überaus glücklicher Mensch sei und das große Glück bereits gefunden hätte. Ich wünschte ihm, dass auch er zu seinem Glück gelangen möge, und verabschiedete mich von DJ Gott. Es muss gewirkt haben, denn seit einiger Zeit vibrieren meine Wände nicht mehr von den Bässen elektronischer Musik, sondern vom Liebesglück meines DJ-Nachbarn. Schon seit Monaten habe ich ihn nicht mehr im Flur angetroffen. Liebe muss wundervoll sein. Und bei uns im Haus sind wir um einen toleranten Nachbarn reicher geworden – Mr. und Mr. DJ. Mein DJ-Hausgenosse und sein gefundenes Glück leben nun in einer häuslichen Partnerschaft. Wenn Gott ein DJ wäre, dann bin ich ihm schon sehr oft begegnet und weiß um seine Vorlieben. Er trägt einen Victor-Emanuel-Bart und pinke Röhrenjeans mit Schlangenmuster. In Kreuzberg mögen viele unterschiedliche Nationalitäten heimisch sein; in Friedrichshain sind es vor allem unterschiedliche Typen.

In Berlin wollte ich möglichst weit weg von jeglichen Eisstadien leben. Nur auf diesem Wege könnte ich mit dem Kapitel Eishockey abschließen. Doch die solvente amerikanische Anschutz Investoren Gruppe machte mir einen Strich durch die Rechnung. Nur einen Steinwurf von meiner Wohnung entfernt hat Anschutz eine millionenschwere Multifunktionshalle gebaut. Die O2 World Arena ist unter anderem die neue Spielstätte der Berliner Eisbären. Um ihren Unmut gegenüber der Arena auszudrücken, stellten die Linken ein Riesenplakat mit der Aufschrift Hartz-4 World ArenaWelcome to the H4 World Arena auf, verteilten Flugblätter an der Warschauer Brücke und organisierten Demonstrationen, an denen ich mich beteiligte. Die Linken erfreuten sich daran, dass sich auch ein besorgter vietnamesischer Wutbürger für die Versenkung der Mediaspree einsetzte. Um die brüderliche und revolutionäre Atmosphäre nicht zu stören, behielt ich die wahre Intention meiner Teilnahme für mich. Alle Proteste und Unterschriftenaktionen halfen nicht. Der Kapitalismus setzte seinen Siegeszug auch in Friedrichshain fort. An jedem Spieltag der Eisbären werde ich durch die Fans, die am Kiosk an der S-Bahn-Station Warschauer Straße vorglühen, weiter an meine Eishockeyzeit erinnert. Zumindest konnte ich mich damit trösten, dass der Hype um den Eisbär Knut mit seinem Ableben nachließ. Das Leben ist erbarmungslos.

Friedrichshain ist ein Stadtbezirk, der niemals schläft, der kritischen Denker, der alternativen Wohnprojekte, der Hausbesetzer, der Haute-Couture-Punks, Heimat der Dreadlock-Mütter, die nicht selten ihre Kinder Marie Johanna nennen, Aushängeschild aller antikapitalistischen Dienstleistungsgesellschaften, Zufluchtsort der Leergutmillionäre und ein Platz, an dem man Schmied seines eigenen Glückes werden kann. Die Kreativität und Lebensfreude des Kiezes treten gerade bei den Pfandflaschensammlern zum Vorschein. Auch hier gilt Vorsprung durch Technik. Nutzte man vorher illegal entfernte Einkaufswagen von sämtlichen Supermärkten oder umweltfeindliche Plastiktüten, zieht man nun mit selbstgebastelten Hybridkarren und eleganten Trollis von Mülltonne zu Mülltonne. In Friedrichshain trotzt man der vermuteten Entsolidarisierung unserer Gesellschaft. Anonyme Spender stellen ihre leergetrunkenen Bierflaschen der Einfachheit halber auf Bürgersteigen, Stromkästen oder Parkbänken ab. An strategisch guten Stellen hat man mit dicken Fahrradschlössern kundenfreundlich leere Behälterkisten an Ampeln und Laternen befestigt. Der Kunde ist König, und ein vergraulter Kunde kehrt nicht zurück. Leergutsammler ist hier eine Berufsbezeichnung und als solche unter anderem wegen der flexiblen Arbeitszeiten so begehrt, dass man ohne Seilschaften nicht in die Kaste reinkommt.

Der Kiez ist ein Tummelplatz der Welt. Er ist Exil aller Menschen aus spanischsprachigen Ländern sowie der Italiener, die vor ihrem Staatsoberhaupt Berlusconi geflüchtet sind. Der afrodeutsche Musiker gehört genauso zum Bild des Kiezes wie die russisch- und polnischstämmigen Obdachlosen, die auf die nächste Spargelsaison warten, der Babyspielzeugladen mit ukrainischen Besitzern, der vietnamesische Blumenladen und das China-Restaurant, die nächtlichen Besetzer der öffentlichen Toiletten und Sparkassen aus aller Herren Länder, die Extreme-Couch-Surfing betreiben, Neo-Hippies, Prenzelberger mit schwäbischem Migrationshintergrund, finnische Punker, mongolische Zigarettenverkäufer und internationale Laufstegmodels in spe, die sich vor ihrer großen Entdeckung als Kassiererinnen bei Rewe über Wasser halten. In Wahrheit sind die Obdachlosen Philosophen, die sich aus experimentellen Gründen einem existenzialistischen Leben gewidmet haben. Wer glaubt, die Occupy-Bewegung habe ihre Wurzeln in Amerika, der täuscht sich. Sie liegen in Berlin. Wie sagte schon Carl Friedrich von Weizsäcker: »Philosophie ist die Wissenschaft, über die man nicht reden kann, ohne sie selbst zu betreiben.« Diskutiert wird auf Esperanto, Russisch, Deutsch und gelegentlich auf Spanisch. Dabei wird sich nicht nur mit Ethik, Logik und der Metaphysik, der Deutung der Welt und dem Sinn des Lebens auseinandergesetzt, sondern auch mit der Frage, ob man im 21. Jahrhundert weiter sei als Platon. Der Wein hilft dabei, die komplexen Sachverhalte zu verarbeiten. Manch hitzige Debatte endet mit blauen Augen und Raufereien, wie man sie aus manch asiatischen und ukrainischen Parlamenten kennt. Im Wein liegt schließlich die Wahrheit. Tatsächlich ist die Weisheit nicht nur in den Plenarsälen des Landes zu finden, sondern vor allem auf den Straßen. Man muss nur seine Ohren spitzen und sein Herz öffnen.

Einen einheimischen deutschen Rastafari-Mann, mit dem ich zufällig ins Gespräch kam, fragte ich, was er von der aktuellen Integrationsdebatte halte. Der bekiffte Bob Marley aus Friedrichshain, dessen Miene sich sofort verhärtete, entgegnete höhnisch: »Ich kann das Wort Integration nicht mehr hören! Deutschland muss sich zu allererst in die Weltkultur integrieren, bevor es versucht, allen anderen seinen eigenen Stempel aufzudrücken!«

BERLIN, BERLIN

Berlin ist die Stadt, in der auch ein Ingolf Lück beim Schwarzfahren 40 Euro bezahlen und anschließend in die Handykameras lächelnd für ein Erinnerungsfoto mit den Kontrolleuren posieren muss. Eine Stadt der Superlative, in der man sogar mit Tod und Obdachlosigkeit zu Wohlstand, Reichtum und Maserati kommen kann. Mit seiner Artenvielfalt an Erdenbewohnern und seinem enormen Schatz an Kultur ist Berlin, Berlin nur schwer zu schocken. In zahllosen Liedern, Romanen, Filmen und Gedichten wurde die Stadt verewigt. Ol Blue Eyes Sinatra huldigte nicht nur dem Big Apple mit einem Lied, das heute rund um den Globus von Yuppies in Karaoke-Bars missbraucht wird, sondern auch Berlin, Berlin. Schriftsteller schrieben, Philosophen philosophierten, Gaukler gaukelten, Dichter dichteten, Musiker musizierten, Filmemacher filmten, Überlebenskünstler überlebten, Migranten migrantisierten, und Rapper rappten über diesen mystischen Ort, als gehöre ein Besuch dieser Stadt zur Lebenspflicht eines jeden kultivierten Menschen wie für Muslime die Hadsch.

Berlin ist nicht Paris, die Stadt der ewigen Liebe, oder LA, die Stadt der Engel. Berlin ist auch nicht wie Sachsen-Anhalt das Land der Frühaufsteher. Berlin kennt keine Minderwertigkeitskomplexe und kommt ganz ohne Anhang aus. Berlin ist Berlin, und wenn sich die Stadt selbst ein Lied hätte aussuchen können, das ihr gewidmet werden sollte, dann wäre es mit Sicherheit Gloria Gaynors »I am what I am« gewesen. Berlin ist ein Käfig voller Narren, eine Rocky Horror Picture Show, die trotz des Hypes und Starrummels nicht zu einer Diva mutiert und ohne Allüren geblieben ist. Menschen auf den roten Teppichen belächelt sie, Fremde begrüßt sie, Traurige tröstet sie und vom Weg Abgekommene bekehrt sie.

Um dieser Seen-and-done-it-all-Stadt zu imponieren, muss man sich mächtig ins Zeug legen. Christopher-Street-Day, Love Parade, Walpurgisnächte, Respect Gaymes, Nobelpreise oder eine in Olympia erworbene Goldmedaille sind nichts Ungewöhnliches mehr. In Berlin darf jeder alles. Bis zu jenem Tag, als ich von Hungersnot getrieben im Asia-Markt Lee am Alex einen 10-kg-Reissack kaufte und damit durch die Straßen Berlins irrte. Die erregten Blicke der jungen Ur-, Wahl-, Möchtegernberliner, der Touristen, Raver, Poser und Berliner Schwaben durchbohrten meinen schweren Reissack und meine vom Hunger geschwächte deutsch-koreanische Wahlberliner Seele. Nur bei der älteren Generation, die den Krieg miterlebt hatte, war ich mir ihrer Sympathie und Solidarität sicher. Diese Generation erinnert sich noch an ein Leben voller Hunger, Luftbrücke, Muckefucke, Fischkopf und Tische, die nur spärlich gedeckt waren im Gegensatz zu denen meiner Generation. Wenn ein 10-kg-Reissack die Stadt aus der Fassung bringen konnte, dann, so wurde mir klar, war Berlin, Berlin weit davon entfernt, alles gesehen, gehört und erlebt zu haben.

Nach diesem Vorfall sattelte ich auf kleinere, nicht aufsehenerregende Reisbeutel um. Buddha und Konfuzius sei Dank, dass sie asiatische Reishersteller für solche Notfälle mit der Gabe der Weitsichtigkeit gesegnet haben. Die handlicheren 1-kg-Reisbeutel konnte ich gut getarnt in meinem Rucksack verstauen und vor neugierigen Berliner Blicken schützen. Bis mir eines Tages mein Freund Felix von der Möglichkeit erzählte, koreanische Lebensmittel diskret über das Internet in die Wohnung liefern zu lassen. Diese Nachricht klang in meinen Ohren wie Freude schöner Götterfunken und war die schönste seit meiner Nominierung zum Staatsbürger der Bundesrepublik im Jahr 1993. Ganz zum Leidwesen meines DHL-Postboten, der getreu dem Slogan seines Arbeitgebers »Für Sie überschreiten wir Grenzen – vor allem unsere eigenen« nicht müde wird, Monat für Monat die schweren 10-kg-Reissäcke in meine Altbauwohnung in der zweiten Etage ohne Aufzug zu liefern. Meinen Postboten will ich hiermit für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen, denn mit seiner Grenzgängererfahrung leistet er große Integrationsarbeit. Er ist ein Brückenbauer, und wirkliche Integration fängt immer unten an. Jeden Abend schicke ich Stoßgebete zum Himmel, dass mein Postbote den neugierigen Blicken standhalte, sein Rücken lange gesund bleiben möge und die DHL seine Arbeit auch im Lohn würdigt.

Mit meiner Migration von der ländlich geprägten Metropole Krefeld in das weltoffene Berlin glaubte ich in meiner Naivität, den Klischees und der ständigen Verteidigung meines Migrantendaseins entfliehen zu können. Doch schnell stellte ich fest, dass Berlin die Champions League ist. Als ich einmal einen Berlin-Berliner nach dem Weg fragte, gab er mir herzlich und bereitwillig Auskunft. Gerade in der Anfangszeit tat es gut, einen so überaus hilfsbereiten Zeitgenossen anzutreffen. Alles hätte seinen harmonischen Lauf nehmen können in der Geschichte der weiteren Vertiefung deutsch-koreanischer Freundschaft, die seit 1883 besteht. Aber der Berliner ist ja berüchtigt für seine flinke Schnauze und musste den fast historischen Moment ruinieren, indem er mich fragte, wo denn der Rest meiner Gruppe sei. Zunächst war ich ein wenig durcheinander, bis ich verstand, dass der Mann noch eine Horde von fahnenwedelnden japanischen Touristen hinter mir erwartete. Ich bin auf Google Maps umgestiegen, und im Fall der Fälle ist der Herrgott mein Kompass.

Menschen verdienen eine zweite Chance. Wenn der Sonnenscheinpolitiker Kim Dae-jung seinen Attentätern vergeben konnte, dann kann ich das als Mensch, der mit der Maxime »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« erzogen wurde, erst recht. Vergebung befreit die Seele. Ich war gespannt, was die Zukunft in Berlin, Berlin noch so alles für mich in petto hatte.

Wenige Tage später ging ich in einen Supermarkt im Ring-Center an der Frankfurter Allee.

»Wo finde ich hier die Soja-Soße?«, fragte ich den Verkäufer.

»In der rechten Ecke, wo das Hunde- und Katzenfutter ist!«, antwortete der gute Mann mit einem breiten Grinsen.

Mit einem Schlag waren die Vorsätze in puncto Nächstenliebe nur noch Geschwätz von gestern. »Seien Sie froh, dass Dschingis Khan nicht in ganz Europa einmarschiert ist!«

»Ick wäss, die Musikband, wah?«, antwortete der Verkäufer matt.

»Ja! Da kieckste, wah!«, erwiderte ich mit dem Krümel Berlinerisch, das ich bis dahin gelernt hatte, nahm mir die Soja-Soße, nachdem ich einige Flaschen in ein anderes Regal geräumt hatte, und ging zur Selbstbedienungskasse. Ein paar Tage später fand ich einen Werbeprospekt des Supermarktes, auf dem mein Slogan stand »Da kieckste, wah!«.

In Friedrichshain war ich von der anfänglichen Herzenswärme meiner Mitbürger ergriffen. Sie grüßten mich aus der Ferne, mit einem leichten Sonntagmorgenlächeln, und winkten mir zu, wie man es sonst nur von den pompösen Geburtstagsparaden des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-il kennt. Ein Neubeginn kann spannend sein. Sogar die Frauen winkten und lächelten mir zu, als wäre ich Johnny Depp. Ich kam zu der Erkenntnis, dass Friedrichshain eine Oase der Liebe und Nächstenliebe ist. Die Menschen sind zuvorkommend und freundlich, dachte ich. Hier lässt sich mein Bestreben, den demographischen Wandel zu Gunsten der Koreaner in Deutschland anzukurbeln, damit sie eines Tages so wahrgenommen werden wie die Türken, realisieren! Alles wird sich zum Guten wenden! Mein Migrationshintergrund rückte in den Hintergrund. Endlich wurde ich nicht aufgrund meines asiatischen Äußeren beurteilt und vom weiblichen Geschlecht als »japanischer« Lustmolch abgestempelt, sondern nach dem Wesen meines Charakters. Das erste Mal in meinem noch jungen deutsch-koreanischen Leben fühlte ich mich umarmt, akzeptiert und endlich angekommen.

Doch die Idylle trog. Sie war mehr Schein als Sein. Beim Warten auf die Ankunft eines Freundes an der S-Bahn-Haltestelle Warschauer Straße kam ein älterer Mann auf mich zu. »Zigaretten?«, fragte er wie ein russischer Schwarzmarkthändler. Erstaunt, nicht, weil er die Frage ohne eine Form von Begrüßung stellte, sondern über die Verwendung des Plurals, winkte ich höflich ab. »Tut mir leid. Ich bin Nichtraucher!« Dennoch war ich begeistert. Denn dass Menschen von sich aus auf mich zukamen und mich ansprachen, war, deutsche Zollbeamte einmal ausgenommen, in meinem Leben rar. Stets musste ich das Eis brechen. Die kurzen Wortwechsel, die sich in den folgenden Wochen in Friedrichshain ergaben, beschränkten sich zwar auf Zigaretten oder aber auf die Frage, für wen ich arbeite, doch die Geste und der gute Wille zählten für mich.

Als sich die Anfragen nach Zigaretten und meinem Arbeitgeber häuften, immer, wenn ich wartend an U- oder S-Bahn-Haltestellen stand, wurde es mir langsam zu bunt. Ich wollte den Dingen auf den Grund gehen und mir den Seetang nicht vom Kimbab nehmen lassen. Denn die Enttäuschung war den Menschen förmlich ins Gesicht geschrieben, wenn ich ihnen außer heißer Luft kein Nikotin anbieten konnte und ihnen die Auskunft über meinen Arbeitgeber verweigerte. Der Tsunami an freundlichem Begrüßen, wie ich ihn in den Anfangstagen erlebt hatte, ebbte plötzlich ab. Das Zuwinken wurde von mal zu mal weniger, und das Sonntagmorgenlächeln der Menschen verschwand. Sogar die Frauen wandten sich von mir ab. In ihren Augen war ich allerhöchstens noch ein Johnny Depp für Arme. Selbst meine Nachbarn, die mir anfangs noch die Tür aufhielten, als ich mit Einkaufstüten vom Supermarkt kam, knallten sie mir jetzt vor der Nase zu. Ich bekam die volle Gefühlskälte der Menschen zu spüren. Das nagte an mir. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich meine Sympathiepunkte verspielt hatte, bevor ich mich überhaupt richtig hatte vorstellen können.

Ich beschloss, der Sache nachzugehen, und fand dabei heraus, dass Berlin eine Hochburg illegalen Zigarettenhandels und in fester Hand der Vietnamesen ist. Sie verkaufen Zigaretten der Marke »Jin Ling«. Produziert in der Ukraine werden die Zigaretten durch vietnamesische Wirtschaftsmogule an den Mann gebracht. Verschwörungstheoretiker glauben, dass die Politik hinter all dem steckt und die Vietnamesen nur Mittel zum Zweck sind, so wie die Exilkubaner in der Schweinebucht von den Amerikanern benutzt wurden. Ziel der Politik sei es nämlich, die Menschen im linksorientierten Kiez abhängig zu machen, um politische sowie wirtschaftliche Interessen rechter Orientierung durchzusetzen – nur so kann der Kiez aus der linken Isolation befreit werden.

»Die Friedrichshainer benehmen sich seit der Einführung von Jin Ling sehr seltsam«, erzählte mir ein Obdachloser während meiner Ermittlungsphase. »Die haben so glasige Augen und schweben in der Luft«, fügte er hinzu.

Ich fragte mich, ob dieses Deutschland jemals mein Zuhause werden würde. Fürs Erste hatte die Zigarettenerfahrung in Friedrichshain mein ABC des Migrantendaseins um eine Lektion erweitert. Als Asiate bzw. Deutsch-Koreaner in Berlin ist man gut beraten, an S- oder U-Bahn-Haltestellen nicht an einem Fleck stehen zu bleiben, sondern immer in Bewegung zu sein. Das ist auch der Grund dafür, warum es in Berlin kaum übergewichtige Asiaten gibt. Das Leben in Berlin ist Diät genug.

Bei meiner letzten U-Bahn-Fahrt entdeckte ich eine Werbung von einem vertrauenswürdig aussehenden Rechtsanwalt. Auf dem Werbeplakat stand: »Wer Sorgen mit seinem Aufenthalt in Deutschland hat, findet seit 30 Jahren Hilfe durch Rechtsanwalt Hans-Georg Noether«. Ich bin so ein Fall, dachte ich mir. So langsam mache ich mir Sorgen um meinen Aufenthalt in Deutschland. Die Tage will ich ihn mal anrufen.

Trotz dieser Vorkommnisse liebe ich diese Stadt mit ihren weltbesten Fahrraddieben. Berlin ist groß, Berlin ist mächtig, Berlin hat einen Fernsehturm von 368 Metern Höhe. Es ist der Big Apple Deutschlands, die Schule der Hard-Knocks, zumindest was die Philosophie der Straße anbelangt. Es sind nicht die Einbürgerungsurkunden aus den Händen der Bundeskanzlerin oder das Bestehen von Einbürgerungstests, die dich als Migrant reif für die deutsche Gesellschaft machen. Der letzte Schliff, die Reifeprüfung für ein Leben in Deutschland, wird Migranten auf den Straßen Berlins verpasst. Denn wenn du es als Migrant in Berlin, Berlin schaffst, diesen Sticheleien standzuhalten, dann schaffst du es überall in Deutschland.

ABENTEUER IM BUNDESTAG

Als ich mit meiner niederrheinischen Frohnatur den Flur des Europa-Ausschusssekretariates im Bundestag passieren wollte, rief die am Ende des Flurs stehende Verwaltungsdame schroff, in gebieterischer Art: »Bleiben Sie stehen! Sie haben den Alarm ausgelöst!«

»Meinen Sie etwa mich?«, wandte ich ein.

»Warten Sie, bis die Polizei kommt! Sie haben den Alarm ausgelöst!«, wiederholte sie in einem noch schärferen Befehlston. Mit vor der Brust verschränkten Armen rückte sie mir unangenehm nah und stellte sich mir in den Weg. Anhand ihrer Frisur und ihres Kleidungsstils wusste ich sofort, mit wem ich es zu tun hatte. Gerade der Haarschnitt, der die Wende überlebt hatte, entlarvte sie als ehemalige Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik.

Die Frau starrte mich schon aus weiter Entfernung an, wie man sonst nur Ausländer in Mecklenburg-Vorpommern begafft. Oder bayerische Touristengruppen in Neukölln, die sich in dem Kiez verirrt haben. Dabei prallen zwei Welten aufeinander, aber mit Gewinn für beide Seiten. Die bayerischen Touristen kriegen einen exklusiven Einblick in die mögliche multikulturelle Zukunft ihres Freistaates geboten, und die gastfreundlichen Neuköllner müssen keine Weltreise machen, um Merk- und Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Auch Asiaten in Deutschland sind solch wandelnde Attraktionen, ein Fetisch für Einheimische, dem man eine gewisse Spanne von Zeit widmet. Das Angestarrtwerden gehört zum Leben eines Asiaten in Deutschland dazu wie das Amen in der Kirche. Doch die Genossin übertraf alles, was ich bisher an Glotzerei erlebt hatte. In solchen Momenten verschlägt mir so viel Schroffheit immer erst mal die Sprache. Zunächst konnte ich mit den Worten der Dame auch gar nichts anfangen. Bis ich schließlich kapierte, dass sie der Auffassung war, ich hätte mich durch die winzige, zehn Zentimeter enge Fensterluke am Außenfenster des Bundestagsgebäudes gezwängt und mir, vorbei an hochsensiblen Sicherheitsschleusen, Kameras, Polizei und dem Sicherheitspersonal des Besucherdienstes, unerlaubt Zutritt in den Bundestag verschafft. So hinterlistig, wie sich die Chinesen in die Computer von Regierungsinstituten hacken. Doch bei aller Liebe, sogar der beste Ninja, Zen-Meister oder Martial-Arts-Kämpfer dieser Welt hätte beim Anblick dieser zierlichen Fensterluke das Handtuch geschmissen.

Doch ich kann es der Frau nicht verübeln. Früher oder später musste es so kommen, dass mir Gott meine alten Universitätssünden in Rechnung stellte. Während meiner Unizeit führten wir in unserer Wohngemeinschaft aus Langeweile kuriose Tests durch, mit denen wir in der Fernsehsendung »Ripley’s unglaubliche Welt« hätten auftreten können. Mein japanischer Freund Taka diente uns mit seiner Körpergröße von 1,50 Meter oft als Versuchsperson. Taka sollte demonstrieren, dass sich der menschliche Körper durch die engsten Löcher pressen kann, wenn nur der Wille stark genug ist. Vielleicht bekommt man jetzt ein falsches Bild von mir, vor allem, wenn man etwas über die Geschichte zwischen Japan und Korea weiß. Aber ich versichere, dass ich keinerlei Rachegefühle gegenüber meinem japanischen Freund Taka hatte für die Grausamkeiten, die Japan Korea angetan hatte – wie koreanische Frauen als Sexsklaven zu nutzen, die Dokdo-Insel für sich zu beanspruchen, Geschichtsfälschung zu betreiben, die Kriegsschreine zu besuchen und Koreaner in Japan zu diskriminieren, obwohl sie zum Teil schon in der dritten Generation dort leben. Da bin ich ganz Profi, da doch solche Kleinigkeiten einer Freundschaft nicht im Wege stehen sollten. Taka und ich sind noch heute befreundet.

Jedenfalls motivierten wir Taka, sich in die Trommel einer handelsüblichen Waschmaschine zu zwängen. Auch in ein herkömmliches Waschbecken passte er hinein. Probieren geht nun mal über studieren – und wenn sich meine japanischen Freunde als Probanden zur Verfügung stellten, umso besser. Ausgerüstet mit diesem Allgemeinwissen war ich mir sicher, dass selbst Taka, allem herkulischen Willen zum Trotz, nicht durch die winzigen Fensterluken des Bundestages gepasst hätte.

Für die blühenden Phantasien der Verwaltungsdame habe ich dennoch Verständnis. Vielleicht war sie eine ehemalige Bedienstete des Staatssicherheitsdienstes? Dann musste ihr ein großes Repertoire bekannt sein, was die Flucht durch abnorme Bereiche anbelangt. Die Dame konnte sich wohl in ihren kühnsten Post-DDR-Träumen nicht vorstellen, dass ausgerechnet ein Asiate durch »ihre« heiligen Hallen der deutsch-deutschen Politik herumirren sollte, als wäre er deren rechtmäßiger Besitzer.

Als höflicher Mensch blieb ich vor der Dame stehen, die immer noch in befehlshaberischer Haltung etwas apathisch dastand, als wäre sie Gregor Gysi persönlich. Ich blickte in ihre lieblosen, ostdeutschen Äuglein und sagte in meiner niederrheinischen Art: »Wissen Sie, es ist halt schwer, mit einem Gürtel voller Bomben um den Bauch geschnallt durch den Haupteingang zu kommen!«

Ihre Miene verhärtete sich wie bei Günter Guillaume, als seine Deckung aufflog. Sie machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, als wäre die Mauer just an diesem Tage gefallen.

Dann ging ich meines Weges, setzte jenes Lachen auf, wofür wir Asiaten weltweit Berühmtheit erlangt haben, fasste mit schnellen Bewegungen an meinen Bauch, wie ich es bei den Hamas-Mitgliedern im Fernsehen gesehen hatte, und blickte nie wieder zurück.

Diese Erfahrung machte mir wieder einmal eines deutlich: Es bringt nichts als Ärger ein, wenn man als Migrant versucht, sich auf der Einheimischen allerheiligstem Terrain zu betätigen.