Dinefwr, Südwestwales, Ostern 1093
Nesta hielt den Atem an und lauschte. Gedämpft hörte sie die Stimmen der Jungen draußen vor der Kirche. Sie riefen sich etwas zu, und dann erscholl der Schrei eines Mädchens. Gelächter brach vor dem schweren Holztor aus, und Nesta musste sich die Hand auf den Mund pressen, um ihr Kichern zu unterdrücken. Sie kauerte im Schatten eines Stützpfeilers, der das Dach trug, und blieb so vom Schein der Altarkerzen unberührt. Niemand würde ahnen, dass sie sich in der Kirche versteckte. Sie würden sie nicht kriegen.
»Nesta?«
Ein Schrei entfuhr ihr, als die Stimme des Paters die Stille durchbrach. Mit rasendem Herzen fuhr sie herum und blickte zu dem ergrauten Mann in seiner dunklen Robe hoch.
»Pst«, zischte sie und legte einen Finger auf den Mund.
Pater Urban schnalzte missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Nesta, so geht das nicht. Du kannst dich nicht hier drin verstecken. Dies ist ein Gotteshaus.«
»Aber draußen kriegen sie mich!«
»So ist das Spiel, mein Kind. Du hast deine Brüder und die anderen Jungen gestern gefangen genommen und Lösegeld für ihre Freilassung erhalten. Heute musst du es ihnen zurückgeben.«
»Aber es ist meins!«
Ein Seufzen entfuhr dem Pater mit den gütigen dunklen Augen, dann streckte er seine knochige Hand nach ihr aus. »Komm, Nesta, benimm dich und halte dich an die Spielregeln, ansonsten wirst du nächstes Jahr zu Ostern nicht mehr mitspielen. Du hattest gestern deinen Spaß, heute sind die Jungen an der Reihe.«
»Das ist ungerecht!« Widerwillig ergriff sie die dargebotene Hand und rappelte sich auf. »Gruffydd hat sich auch nicht an die Spielregeln gehalten. Er hat sich hoch oben auf der Eiche hinter der Küche versteckt, damit ich ihn nicht kriege.«
»Und doch gelang es dir, deinen Bruder gefangen zu nehmen.«
»Aber nur, weil der Kommandant damit drohte, den Baum zu fällen, wenn er mich nicht gewinnen lässt.«
Pater Urban lachte und tätschelte ihr die Schulter. »Los, Nesta, raus mit dir, ehe auch ich den Kommandanten rufe. Du nimmst dir noch alle Freude. Die Sonne geht bald unter, und du willst doch nicht hier drinnen sitzen, während die Kinder draußen ihre Münzen zählen.«
Nesta presste die Lippen aufeinander und stieß schließlich ein schweres Seufzen aus. »Na schön«, murmelte sie und bekreuzigte sich noch schnell vor dem Kruzifix über dem Altar.
Weitere Schreie ertönten vor der Kirche, doch diesmal klangen sie anders. Das Lachen blieb aus.
Nesta sah zu Pater Urban hoch, der seine buschigen Augenbrauen zusammenzog. Er hob den Kopf und blickte zum Tor. »Geh wieder in dein Versteck«, flüsterte er, ohne sie anzusehen, doch Nesta konnte sich nicht bewegen. Auch sie lauschte auf die furchterregenden Laute. Niemals zuvor hatte sie solche Angst in den Stimmen anderer gehört. Und diese Angst übertrug sich auch auf sie.
»Was geht da vor?«
Pater Urban kam zu keiner Antwort, denn im nächsten Moment flog das Tor auf, und der ohrenbetäubende Lärm wurde mit dem Wind hereingetragen. Immer noch weinten und schrien die Menschen draußen, doch Nestas Mutter wirkte gefasst, als sie mit ihrem Gefolge in die Kirche eilte.
»Mam!« Nesta starrte in das vertraute Gesicht, das so ungewohnt bleich aussah, doch ihre Mutter beachtete sie nicht. Sie wandte sich an die Krieger an ihrer Seite. »Verriegelt das Tor«, befahl sie ihnen mit ruhiger Stimme. »Postiert euch davor und …« Sie schloss einen Moment lang die Augen, ehe sie wieder aufsah. »Tötet so viele von ihnen, wie ihr nur könnt.« Dann wandte sie sich an den Kommandanten der Haustruppe und schob ihm Nestas jüngeren Bruder Gruffydd zu. »Bringt ihn in Sicherheit! Bei Eurem Leben, bringt ihn in Sicherheit.«
»Gruffydd!« Nesta streckte die Hand nach ihm aus, doch Pater Urban hielt sie zurück.
»Nesta!«, rief ihr Bruder und rannte auf sie zu. Seine Augen wirkten riesig in dem schmalen Gesicht, in das verschwitzte Strähnen seines dunklen Schopfes gefallen waren. Der Kerzenschein verstärkte das rötliche Leuchten seines Haars, als stünde es in Flammen. Er hatte sie beinahe erreicht, da bekam ihn der Kommandant zu fassen.
Gruffydd wehrte sich. »Nesta, du musst dich verstecken! Nesta! Lauf weg!«
Der Kommandant packte ihn am Hemd, verneigte sich knapp vor Nestas Mutter und verschwand sogleich mit seinen Männern und Gruffydd in der von Fackeln beschienenen Dämmerung.
Nesta riss sich los und lief ihnen hinterher. »Gruffydd! Wohin bringen sie ihn? Gruffydd!« Eine der Kinderfrauen ergriff sie und zwang sie stehenzubleiben. »Gruffydd«, schluchzte sie und spürte die Tränen über ihre Wangen fließen. Sie sah verzerrte Schatten über die Hauswände flackern und dunkle Silhouetten, aber bevor sie mehr erkennen konnte, wurde das Tor bereits geschlossen. Zurück blieben ihre Mutter und ihre übrigen Geschwister, sowie die Kinderfrauen und ein paar andere des Haushalts.
Pater Urban lief ihnen entgegen. »Meine Herrin, Ihr müsst fliehen!«
»Es gibt keinen Ort, an den ich fliehen könnte, Pater.« Sie wies zum Altar. »Uns bleibt nur noch zu beten.«
»Mam!« Nesta lief auf die hochgewachsene Frau zu und wischte sich die Tränen von den Wangen. Der Lärm von draußen wurde immer ohrenbetäubender. Sie hörte die Rufe von fremden Stimmen in einer fremden Sprache, sie hörte das Wiehern von Pferden und immer wieder die panischen Schreie von Männern, Frauen und Kindern. Ihr kleiner Bruder Hywel klammerte sich an die Hand seiner Kinderfrau; ihre älteren Halbgeschwister drängten sich nahe aneinander und warfen immer wieder angsterfüllte Blicke zum Tor. Nur ihre Mutter schien der Trubel draußen nicht zu kümmern, sie stand hochaufgerichtet in ihrem Gewand aus Goldbrokat inmitten der schreckensstarren Gestalten, ihr Antlitz eine ausdruckslose Maske. Einen Moment zögerte Nesta, denn sie erkannte ihre Mutter kaum wieder. Das war nicht die lebenslustige Frau, die vorhin noch schillernde Münzen an die Kinder verteilt hatte, damit sie ihre Gefangenen auslösen konnten.
»Mam?«
Ihre Mutter blickte zu Nesta hinab, und obwohl ihre Augen starr wirkten, wollte Nesta im Moment nirgendwo anders sein. Ihre Mutter hatte keine Angst, also konnte ihnen nichts geschehen. »Mam, wo ist Vater?« Sie dachte an die Krieger, die von ihrer Mutter nach draußen geschickt worden waren. Ihr Vater war der Fürst von Deheubarth und ein kräftiger Mann mit vielen starken Kämpfern an seiner Seite. Mit ihm hätte sie sich sicherer gefühlt. Doch er war noch vor den Osterfeiertagen mit seiner Kriegstruppe und den Männern der Landhalter fortgeritten und seither nicht wiedergekommen. »Bringen sie Gruffydd zu Vater? Warum gehen wir nicht mit?«
Die Lippen ihrer Mutter wurden zu einer blassen Linie, und das schmale Kinn mit der Kerbe darin schien zu zittern. Dann wandte sie abrupt den Blick ab und schritt auf den Altar zu.
»Lasst uns beten!«, rief sie die anderen herbei und kniete vor dem Altar nieder. Nesta konnte sich nicht bewegen. Sie hörte das Wimmern der Frauen.
»Fürst Rhys ist in den Osten marschiert, um die Freinc zu vertreiben«, schluchzte eine unter ihnen. »Aber jetzt sind die Freinc hier! Das heißt … das heißt …«
»Der Fürst ist tot«, jammerte eine andere und brach in die Knie.
Nesta verstand nicht. Ihr Vater war der Fürst. Noch vor zwei Wochen hatten sie ein Fest gefeiert, zu dem Männer aus dem ganzen Land gekommen waren. Ihre Mutter hatte den Männern aus der Kriegstruppe Geschenke überbracht, und die uchelwyr, die hohen Herren, die Land im Fürstentum ihres Vaters hielten, hatten ihm ihre Treue und Unterstützung zugesichert. Trotz der Fastenzeit hatte es reichlich zu essen gegeben, und alle waren ausgelassen und fröhlich gewesen. Was bedeuteten die Worte dieser Frauen?
»Meine Herrin.« Gwen, die Gemahlin des Paters, ging durch die Kirche auf die Fürstin zu. »Bitte, schickt die Kinder mit Gruffydd. Sie müssen fliehen!«
»Es ist zu spät, Gwen.« Sie senkte ihren Kopf zum Gebet. »Einer mag entkommen, aber alle zusammen wären zu langsam. Gruffydd muss überleben, das ist das Wichtigste.«
Nestas kleiner Bruder Hywel begann zu schluchzen. Er war drei Jahre jünger als Nesta – erst fünf Jahre alt –, und Nesta wollte ihn trösten. »Komm«, sagte sie und nahm ihn an der Hand. »Mam möchte, dass wir beten, also sei artig, ja?«
Hywel ließ sich von ihr nach vorne führen, wo Pater Urban mit monotoner Stimme aus der Bibel vorlas. Ein Rumpeln ertönte vom Tor her und Nesta fuhr herum. Einen Moment lang blickte sie wie erstarrt zurück, doch dann schloss sich plötzlich eine Hand um ihren Unterarm und zog sie auf die Knie nieder. Hywel folgte ihr, und als Nesta den Kopf zur Seite drehte, erkannte sie, dass es die Hand ihrer Mutter war, die ihren Arm immer noch umklammerte. Mit gesenktem Kopf, als hätte sie ihr Gebet niemals unterbrochen, murmelte sie lateinische Worte, und die anderen taten es ihr gleich. Pater Urban stand über ihnen, er redete schnell, und in seiner Stimme lag ein ungewohntes Zittern. Es fiel Nesta schwer, sich auf ihre Gebete zu konzentrieren, zumal die ganze Kirche von den donnernden Schlägen gegen das Tor zu beben schien. Als plötzlich ein Knall erscholl, drehte Nesta sich erschrocken um, doch ihre Mutter legte ihre Hand auf Nestas Knie. »Rühr dich nicht«, sagte sie leise, und ohne sie anzusehen. »Du siehst nicht zurück, egal was passiert. Du sprichst deine Gebete, hast du mich verstanden?«
Nesta nickte, obwohl sie in Wirklichkeit nichts verstand.
»Was wollen diese Männer von uns?«, flüsterte sie, auch wenn sie Tadel erwartete. In Anbetracht ihrer Angst vor den fremden Männern fürchtete sie ihre Mutter aber weniger. Sie erwartete ohnehin keine Antwort, doch da wandte sich ihre Mutter ihr plötzlich zu.
»Diese Männer …«, sagte sie mit erschreckend kalter Stimme. »Das sind Freinc, mein Kind. Merke dir das. Freinc! Wiederhole es.«
»Freinc«, sagte Nesta. Der Klang dieses Wortes war ihr nicht fremd. Sie hatte es schon öfters gehört. Manchmal hatten ihr Vater und andere Erwachsene von diesen Franzosen gesprochen, aber sie hatte diesen Gesprächen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt wünschte sie, sie hätte es getan, um zu verstehen, was vor sich ging.
»Sie sind unsere Feinde«, fuhr ihre Mutter fort und blickte ihr so eindringlich in die Augen, dass es Nesta schwerfiel, dem Blick standzuhalten. »Du bist eine Königstochter, Nesta. Vergiss das nie. Du bist vom Blute der Könige Deheubarths, dein Volk ist unsterblich. Wir sind Briten. Wir hatten seit jeher mächtige Feinde, aber niemand konnte uns aus unserer Heimat vertreiben. Dies ist unser Land. Dies ist dein Land. Wir sind Briten. Sprich mir nach.«
»Wir sind Briten«, flüsterte Nesta und zuckte unwillkürlich zusammen, als ein Krachen vom Tor her erklang und die Stimmen so laut wurden, als wären die Fremden bereits im Innern der Kirche. Holz splitterte.
Nesta wollte nachsehen, doch ihre Mutter fasste ihr Kinn und ließ es nicht zu. »Wir sind Briten«, wiederholte sie. »Wir haben die Römer überlebt, wir haben die Angelsachsen und die Wikinger überlebt. Wir werden auch die Freinc überleben.«
Nesta zitterte. Sie hörte Hywels Schluchzen neben sich und wollte ihn in den Arm nehmen, aber ihre Mutter ließ sie nicht gehen. »Sag es!«, schrie sie sie an. »Sag es!«
»Wir sind Briten.« Nesta kämpfte um jedes Wort. »Wir … wir haben die Römer überlebt, die …« Tränen flossen über ihre Wangen.
»Angelsachsen«, sagte ihre Mutter eilig. »Angelsachsen und Wikinger, mein Kind. Sprich weiter.«
»Wir haben die Römer überlebt«, schluchzte Nesta. »Wir haben die Angelsachsen und Wikinger überlebt. Wir werden auch die Freinc überleben.«
Ihre Mutter nickte, und ein trauriges Lächeln lag plötzlich in ihrem Gesicht. »Gut gemacht, Nesta. Vergiss diese Worte niemals. Niemand kann über uns herrschen. Niemand.«
Das Zerbersten des Tores und die hereinstürmenden Männer sprachen ihrer Worte Hohn. Nesta senkte schnell wieder ihren Kopf über die gefalteten Hände und sagte laut ihre Gebete. »Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum …«
Befehle dröhnten durch die Kirche, während die Gemahlin des Fürsten von Deheubarth mit ihren Kindern und Ziehkindern vor dem Altar kniete und betete. Nesta erkannte, dass sie angerufen wurden, doch niemand von ihnen antwortete. Pater Urban las weiter aus der Bibel, auch wenn er immer wieder dabei stockte. Hywel weinte und zitterte. Nesta legte ihren Arm um seine Schultern und drückte ihn. »Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus«, sprach sie laut in sein Ohr, damit er nichts anderes hörte. »Nunc et in hora mortis nostrae.«
Die Kinderfrau neben Hywel schrie auf, und Nesta sah aus den Augenwinkeln, dass sie zurückgezogen wurde. Mit aller Kraft drückte sie ihren Bruder an sich, verbarg seinen Kopf in ihrem Umhang, während der Lärm um sie herum zunahm. Tiefe Männerstimmen, manche hasserfüllt, andere belustigt, füllten den Raum genauso wie verzweifelte Frauenstimmen. Alles verband sich zu einem ohrenbetäubenden Getöse.
»Sancta Maria!«, rief sie, um das schrille Schreien zu übertönen, »Mater Dei«, doch dann wurde ihre Mutter gefasst. Sofort ließ Nesta ihren Bruder los, um sich umzudrehen, doch die eindringliche Stimme ihrer Mutter ließ sie innehalten. »Bete weiter, Kind!«, rief sie. »Was habe ich dir gesagt? Du drehst dich nicht um!«
Nesta beugte sich wieder über ihren Bruder. Sie konnte sich nicht mehr an die Worte erinnern, sie konnte nicht mehr denken, ihr ganzer Körper zitterte.
»Das dürft ihr nicht!«, erscholl plötzlich der erschütterte Ruf von Pater Urban. Er stürmte um den Altar herum. »Das ist die Fürstin, ihr gottlosen Hunde! Sie ist eine Königin! Eine Königin! Und dies ist das Haus Gottes!«
Nestas Hände auf Hywels Rücken schlossen sich zur Faust. Der beruhigende Geruch des Weihrauchs wurde vom Gestank von Blut und Tod vertrieben. Sie konnte nicht länger reglos verharren, während hinter ihr die Hölle ausbrach. Sie musste sich umdrehen. »Bete weiter«, trug sie Hywel auf und küsste ihn auf den roten Schopf. »Bete und mach die Augen zu.« Noch einmal drückte sie ihn an sich, dann nahm sie die Hände von ihm. Im nächsten Moment fuhr ein dumpfer Schmerz durch ihre Schulter, als sie von einem eisenharten Griff gepackt und zurückgerissen wurde. Hywel fiel mit ihr zu Boden, und als Nesta hochblickte, erstarrte sie vor Entsetzen.
Männer in langen Eisenkleidern, auf denen der Schein der Kerzen in teuflischem Rot leuchtete, erfüllten den Raum. Sie trugen Helme mit einem breiten Kolben in der Mitte, der die Nase verdeckte und die blitzenden Augen der Fremden wie die von Dämonen aussehen ließ. Viele der Soldaten lagen auf schreienden, sich verzweifelt wehrenden Frauen, deren Röcke bis über die Hüften hochgeschoben waren. Andere rissen das goldbestickte Tuch vom Altar und packten alles ein, das sich bewegen ließ. Nesta sah Pater Urban keine zwei Schritte von ihr entfernt auf dem Boden liegen. Er sah sie an, aber sein Blick war starr. Er blinzelte nicht, und seine Augen wirkten trübe. Und neben ihm … Nesta stockte der Atem. Ihre Mutter lag auf dem Rücken und hatte ihr den Kopf zugewandt. Ihr Blick war ausdruckslos, während ein fremder Mann ihre Röcke hochschob. Alles schien still zu stehen. Es war, als blickte Nesta auf einen der Wandteppiche, die die Schrecken des Fegefeuers darstellten. Nichts bewegte sich, außer der Hand ihrer Mutter. Nesta riss die Augen auf, als sie das Messer sah. Langsam hob sich die Hand, während die vertrauten grünen Augen sie immer noch ansahen, und dann stach ihre Mutter zu. Der Mann über ihr erstarrte, als die Klinge in seinen Hals fuhr. Er öffnete seinen Mund und spuckte Blut auf das Antlitz der Fürstin. Dann sackte er zusammen, und ein Tumult brach unter den Fremden aus. Sie schrien durcheinander, jemand zog den reglosen Körper von ihrer Mutter herunter, und andere rissen sie an den Haaren hoch. Der goldene Stirnreif fiel zu Boden. »Vergiss es nicht, mein Kind«, rief sie über die Stimmen der Fremden. »Du bist die Tochter des rechtmäßigen Königs!« Einer der Männer schlug ihr mit der eisernen Hand ins Gesicht, sodass sie zur Seite taumelte, doch andere fingen sie sofort wieder auf.
Nesta sprang auf die Füße. »Lasst sie los!«, schrie sie und eilte auf ihre Mutter zu, doch da wurde sie plötzlich gepackt und hochgehoben. Die fremden Arme umklammerten sie gnadenlos und ließen sie nicht frei.
»Wo sind die Kinder des Fürsten?«, hörte sie einen Mann in ihrer Sprache fragen. Er hielt eine der Mägde, die auf dem Boden knieten, an den Haaren hoch und drückte eine Klinge an ihren Hals. »Na los, zeig sie mir!«
Die Magd deutete mit zitternder Hand zu Nesta, die sich immer noch in den Armen eines Fremden befand, dann weiter zu Hywel und ihren Halbgeschwistern.
»Alle ehelich?«, wollte der Mann wissen. Die Magd schüttelte wimmernd den Kopf und wies noch einmal zu Nesta und Hywel. Im nächsten Moment fuhr die Klinge in einer blitzschnellen Bewegung über ihren Hals.
Nesta keuchte auf. Ein Mann verdeckte ihr die Sicht, sodass sie nicht erkennen konnte, was weiter geschah. Auch versuchte der Fremde stets eine Hand vor ihre Augen zu halten, doch Nesta wand sich aus seinem Griff.
Sie hörte ihren Bruder schreien, und als sie ihren Kopf in seine Richtung drehte, sah sie gerade noch, wie er von zwei Männern festgehalten und eine Klinge knapp vor ihm herabfuhr. Sein Gebrüll wurde noch lauter, fuhr ihr direkt in die Knochen, und als der Mann vor ihm zur Seite trat, sah Nesta all das Blut. Es schoss aus seinem Unterarm. Seine kleine Kinderhand lag auf dem Boden. Nesta schrie erstickt auf. Sie versuchte zu atmen, doch es gelang ihr nicht. Hilfesuchend blickte sie zu ihrer Mutter, doch die lag ebenso reglos am Boden wie Pater Urban. Überall war Blut. Nesta sah, wie Hywel hinausgezerrt wurde und wie ein Mann eine Klinge in den Leib seiner Kinderfrau stieß. Sie versuchte sich zu befreien, doch der Fremde hielt sie fest und schien ihre Schläge und Tritte nicht zu spüren.
Also schrie sie. Sie schrie so laut, dass ihr die eigene Stimme in den Ohren gellte und ihr Hals schmerzte, doch sie konnte nicht aufhören. Sie sah jenen Mann, der Hywels Hand abgeschlagen hatte, auf sich zukommen, und schrie immer weiter. Der Mann hatte den Helm abgenommen. Dunkles Haar, das auf Höhe der Augenbrauen abgeschnitten war, kam darunter zum Vorschein. Er hatte einen dichten, aber kurzen Bart und Augen wie aus Stein, hell und farblos. Unwillkürlich klammerte sie sich an den Mann, der sie trug, doch es war ihr unmöglich still zu sein. Der Krieger mit den furchterregenden Augen wies in ihre Richtung und knurrte etwas, woraufhin sie noch fester umschlungen und an die eiserne Brust gedrückt wurde. Der Mann, der sie festhielt, redete auf den Fremden ein, und als dieser sich murrend abwandte, sprach er in der fremden Sprache zu ihr, genauso drängend wie ihre Mutter vorhin. Etwas Flehendes lag in seiner Stimme, doch Nesta konnte nicht aufhören zu schreien. Der Gestank des Blutes kroch in ihre Nase, sie sah immer noch ihre Mutter und suchte nach ihrem Bruder, als ihr Mund plötzlich geschlossen wurde. Die fremde Hand presste sich so fest darauf, dass sie meinte, die Finger würden ihr Gesicht zerquetschen.
Nesta wehrte sich nur noch kurz, denn der Fremde eilte mit ihr aus der Kirche in die Nacht hinaus, und beim Anblick der vielen leblosen Krieger verstummte sie auf der Stelle. Ihr Körper wurde geschüttelt. Es war kein Zittern, es war viel schlimmer. Sie sah noch die fremdartigen Pferde, die um vieles größer waren als die Ponys aus ihrem Stall und deren Muskeln sich unter dem glatten Fell abzeichneten. Sie sah auch, wie Hywel zu einem Reiter hochgehoben wurde und die brennende Halle. Ihr Zuhause brannte. Doch dann wurde alles dunkel, und das fürchterliche Bild verschwand, als wäre es nur ein Albtraum gewesen.