HAYMON verlag
Roman
Im Anhang findet sich ein Abkürzungsverzeichnis.
© 2011
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
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ISBN 978-3-7099-7453-7
Umschlag- und Buchgestaltung, Satz:
hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
Coverfoto: Haymon Verlag / Rebecca Dorner
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Und dabei entschlüpfte ihm eine private Erklärung,
die bei ungenügendem Einblick in den Sachverhalt hätte
so aufgefaßt werden können, als ob sie dem dienstlichen
Berichte, der gesetzmäßig und daher zum Nutzen des
Häftlings war, Abbruch in seiner Wirkung tun wollte,
nämlich die, daß Zwetschkenbaum auch nur ein
armer Hund sei.
Albert Drach: Das große Protokoll
gegen Zwetschkenbaum (1939)
Man betrachte nur die Form der Gerechtigkeit,
welche über uns waltet. Ist sie nicht ein klarer Beweis
von der menschlichen Verstandesschwäche? So viel
Widerspruch und Irrtümer findet man darin!
Nun erhalten sich aber die Gesetze in Ansehen, nicht
weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind.
Michel de Montaigne: Essais (1588)
Für M., H. und die anderen
Wir sind friedlich, was seid ihr? skandieren zwanzig bis dreißig vorwiegend junge Leute, als die Polizisten Ernst machen und damit beginnen, die Gruppe mit Vehemenz zurückzudrängen. Das läuft vorerst im großen und ganzen routiniert ab, wenn sich auch die eine Beamtenhand am Hals eines Demonstranten, der andere Beamtenmund im Ton vergreift: Verschwindet, ihr Ratten! hieße der Ratschlag hochdeutsch. Von allen Seiten strömen jetzt neue Einsatzkräfte auf den kleinen Platz.
Und so hat alles angefangen: Von langer Hand geplant war gar nichts, vielmehr verbreitete sich nach dem Schneeballsystem via SMS, E-Mail und Telefon die Botschaft, die Innenministerin werde zu einem Vortrag über Grundzüge ihrer Asylpolitik erwartet. Erst kürzlich in Kraft getretene Verschärfungen des Fremdenrechts, von den Aktivisten beharrlich Fremdenunrecht genannt, hatten die forsche Dame beliebt und unbeliebt gemacht, die Geister schieden sich. Um eine Kundgebung ordnungsgemäß anzumelden, war es zu spät, gegen großes Unrecht ein kleines zu setzen, wollten die ungebeten Erschienenen gerne in Kauf nehmen.
Anfangs war die Stimmung ausgesprochen gut, wenngleich nur auf Seiten der Protestierenden, die es, bei aller Ernsthaftigkeit ihres Anliegens, als lustvoll erlebten, daß ihnen die Überraschung gelungen war. Die dem Veranstaltungslokal zustrebten, weil sie den Vortrag hören wollten, fühlten sich dagegen gröblich belästigt, provoziert, einige gar bedroht. Buhrufe, Parolen und Pfeifkonzerte schienen ihnen zuzusetzen. Verbale Unfreundlichkeiten wurden ausgetauscht. Auch Selbstjustiz schien manchem auf den ersten Blick seriösen Besucher ein probates Mittel. So hielt ein Mann mittleren Alters im dunklen Anzug plötzlich das improvisierte Pappschild eines Gegners in Händen und unterzog sich sogar der Mühe, es unter erheblicher Kraftanstrengung in zwei Teile zu reißen.
Der handgeschriebene Text auf einem dieser Kartons schlug vor, die Innenministerin aus dem Land zu vertreiben, nicht die Asylsuchenden, auf einem anderen war ihr Name statt dem Hitlers in den nach ihm benannten Gruß gefügt. Ein entrolltes Transparent machte geltend, die Ministerin sei eine für Lager und Deportation.
Der Vortrag begann mit ziemlicher Verspätung, aber er begann, denn der Zweck der Protestes bestand darin, einen Unmut öffentlich kundzutun, und nicht darin, die Veranstaltung zu sprengen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt trafen endlich die ersten Polizisten ein. Die Demonstrantinnen und Demonstranten zogen sich langsam zurück, die Exekutivkräfte schubsten, drängten nach, vergriffen sich. Wir sind friedlich, was seid ihr? hallte es ihnen entgegen.
Und jetzt knallt es laut. Beim Brunnen hat offenbar jemand zwei Schweizerkracher gezündet. Dann geht es ganz schnell. Die meisten der Abziehenden werden durch einen Polizeikordon von jenen paar Nachzüglern getrennt, unter denen man den Übeltäter vermutet. Zugriff! heißt es, und viele stürzen sich auf wenige. Von denen hört man zwar ängstliche, doch ziemlich laute Rufe, sie würden friedlich bleiben und keinen Widerstand leisten. Einer wird später behaupten, auf seine wiederholte Frage, warum sie ihn festnehmen und ihm Handschellen anlegen würden, er habe doch überhaupt nichts getan, hätte ihm ein aufgebrachter Polizist schließlich umgangssprachlich die Erklärung angeboten, weil er ein Arschloch sei.
Lediglich zur Aufnahme persönlicher Daten, gibt ein ausnehmend disziplinierter Beamter einer sehr jungen Frau, die von den Kundgebungsteilnehmern außerhalb des Kordons abgeordnet wird nachzufragen, einen anderen, freilich ebenso wenig befriedigenden Grund für die Festnahmen an. Die Ausweiskontrolle wird nämlich bald auf alle bei der Demonstration Anwesenden ausgedehnt. Arretiert werden sie nicht. Soll an den beiden Abgeführten ein Exempel statuiert werden?
Schwere Körperverletzung und versuchter Widerstand gegen die Staatsgewalt werden dem Brüderpaar schließlich zur Last gelegt. Nach sechsundvierzig Stunden Untersuchungshaft steht ihm ein Prozeß bevor.
Dem AW wird folgendes zur Kenntnis gebracht: „Wegen des Auftretens von Vogelgrippe-Fällen bei Wassergeflügel und der Gefahr der Übertragung auf Menschen wird von jeglicher Kontaktnahme (Aufenthalt in unmittelbarer Nähe, Berühren, Essen roher Geflügelprodukte) zu lebenden oder toten Wildvögeln, deren Produkten oder Ausscheidungen dringend abgeraten.“
Der AW ist ein zweckmäßig abgekürzter Asylwerber. Der AW wird von Obigem im Frühherbst 2006 im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme zunächst mündlich in Kenntnis gesetzt, noch ehe ein von der erkennenden Behörde, dem Bundesasylamt, bestellter und beeideter Dolmetscher der Sprache Serbisch die erste Frage des Organwalters zum Antrag übersetzt.
Unmittelbar nach illegaler Einreise über die grüne Grenze war der unbescholtene AW, ohne Widerstand zu leisten, von Wehrpflichtigen im Assistenzeinsatz aufgegriffen worden. Im Anschluß an die Überstellung und eine kurze Erstbefragung war über ihn exakt um dreiundzwanzig Uhr offiziell die Schubhaft im Polizeianhaltezentrum verhängt worden, aus der er vorhin, inzwischen wegen Platzmangels in eine andere, weit entfernte Stadt verfrachtet und seit bald zehn Tagen im Hungerstreik, vorgeführt wurde.
Der Organwalter ist auch im wirklichen Leben Mann, nicht nur im Sprachgebrauch der Behörde. Der Dolmetscher und der AW sind im wirklichen Leben Frauen, bleiben aber im Text der niederschriftlichen Einvernahme durchgehend männliche Wesen. Nur wenn der AW, selten genug, als ASt. erwähnt wird, scheint sein Frausein durch: Die von der ASt. gemachten Angaben werden zum Inhalt dieses Bescheides erhoben. Der AW ist nämlich auch Antragstellerin.
Die ASt. hat durchaus einen Vor- und einen Zunamen. Auf diese, durch vorgewiesene, als echt erkannte amtliche Dokumente des Herkunftslandes zweifelsfrei bestätigt, wird, den Gepflogenheiten entsprechend, in der Niederschrift der Einvernahme verzichtet.
Der Organwalter, später auch das einvernehmende Organ, nie aber, ganz im Gegensatz zum AW, ein gewöhnlicher OW, auch wenn diese allgemein nachvollziehbare Abkürzung, stellt man sein häufiges Vorkommen im Protokoll in Rechnung, fraglos eine ebenso erhebliche Verwaltungsvereinfachung bedeuten würde, der Organwalter also läßt nun durch den Dolmetscher erkunden, ob der AW die unmittelbar vorausgegangenen Ausführungen zur Vogelgrippe sowie die ebenfalls bereits erteilten Belehrungen zum Verfahren verstanden habe.
Der AW bejaht dies, obwohl er seine durch die Folgen des Hungerstreiks und schwere Medikamente ohnehin ziemlich beeinträchtigte Konzentration fast völlig verloren hätte, als ihm in bestürzend fehlerhaftem Serbisch von jeglicher Kontaktnahme mit lebendem wie totem Wassergeflügel so dringend wie umständlich abgeraten wurde. Von Enten, Gänsen und Bläßhühnern, lebend oder tot, wie von deren Ausscheidungen fühlt er sich nämlich nicht wirklich akut bedroht, wohl aber von fast allem anderen, momentan vordringlich von den Umständen dieser Einvernahme. Von Anfang an kommt er, der Schubhäftling, sich streng verhört vor, nicht etwa um nötige Auskünfte gebeten. Lästiger Arbeitsanfall für die Leute im Zimmer scheint er zu sein, mehr nicht. Er kennt das.
Dem zierlich gebauten AW, ganz auf sich allein gestellt, denn einen Rechtsbeistand hat er nicht, geht es sehr schlecht. Er zittert am ganzen Körper, er zittert innerlich, die Schwäche, der Kreislauf, die Ungewißheit, die Angst, das Ausgesetztsein, schon wieder. Alle gegen einen, auch hier, so hat er es sich wahrlich nicht vorgestellt. Seine Antworten kommen zögerlich, mehrmals muß er, was die Stimmung des einvernehmenden Organs nicht hebt, ermahnt werden, lauter und deutlicher zu sprechen. Sein Blick bleibt gesenkt, er kauert mehr auf seinem Stuhl als daß er sitzt, die gefalteten Hände zwischen den zusammengepreßten Oberschenkeln vergraben.
Der AW verneint, irgendwelche Erkrankungen zu haben. Denn er denkt bei dieser scheinbar beiläufig gestellten Frage sofort an die Tuberkulose und den Krebs der Mutter, die unmittelbar nach dem folgenschweren Brandanschlag auf die Familie regelrecht verfiel und bald darauf starb, vielleicht auch an die kurz vorher erwähnte Vogelgrippe, an Masern oder AIDS. An seine langen Aufenthalte in der geschlossenen Psychiatrie dort, wo er herkommt, an den der zweiten Einlieferung vorangegangenen, dramatisch mißlungenen Versuch, mit einem Glas WC-Reinigungsmittel endgültig Schluß zu machen, an das tägliche Schweißbad in den überwiegend schlaflosen Nächten voller Alpträume, an das stundenlange Vor-sich-hin-Heulen, die lähmende Kraftlosigkeit, die elende Leere beim An-die-Decke-Starren denkt er dabei nicht. Für den AW sind das alles keine Erkrankungen, sondern logische, keineswegs abnorme Befunde seines Körpers, seiner Psyche als Antwort auf die Zumutungen der Ereignisse. Daß er damit in die gut getarnte Falle gegangen ist und, ohne es wissen zu können, die Weichen in ein neues Unglück gestellt hat, wird ihm erst viel später dämmern.
Dazu aufgefordert, legt der AW nun verschiedene, dem Asylbegehren nur eingeschränkt dienliche Schriftstücke vor, die sämtlich aus der Zeit nach der Feuersbrunst stammen, darunter den offiziellen Bericht der internationalen Übergangsverwaltung UNMIK über das niedergebrannte Elternhaus und die bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Geschwister, eine zwischenzeitliche Entlassungsbestätigung der Mutter aus dem Krankenhaus, sein Maturazeugnis.
Das mutmaßlich von Albanern angezündete Haus war das Haus des AW, das der Familie seit Generationen, schon die Urgroßeltern hatten darin gewohnt. Der Organwalter begehrt nun schriftliche Nachweise, daß jenes in Rede stehende Gebäude tatsächlich schon so lange Zeit im Besitz der Familie gewesen sei. Der AW hat keine, das Anliegen irritiert ihn sichtlich, denn mit dem Haus und den Geschwistern sind natürlich auch alle Dokumente verbrannt. Und überhaupt: Er vermag darin keinen nachvollziehbaren Zusammenhang mit seinem Antrag auf internationalen Schutz, auf Asyl zu sehen, mit seinem letzten halbherzigen Versuch, ins Leben zurückzufinden, noch einmal anzufangen an einem Ort, an dem nichts an früher erinnern sollte außer das eigene Gehirn.
Der diensthabende Organwalter hütet sich wohlweislich, die Lage des Menschen vor ihm begreifen zu wollen, sich auf ihn persönlich auch nur im mindesten einzulassen. Zu einem wirklichen Gespräch, zu vertiefenden Erörterungen kommt es im Rahmen der Einvernahme an keiner Stelle, derlei ist nicht vorgesehen.
Selbst wenn der AW seinen Kopf nicht fortwährend gebeugt hielte, weswegen dem einvernehmenden Organ vornehmlich der mittige blasse Scheitelstreifen seiner Kopfhaut zwischen dem vollen, hinten zu einem Pferdeschwanz gebundenen kohlrabenschwarzen Haar ins Auge fiele, der Organwalter hat seinerseits, wiewohl aus anderen Gründen, keinerlei Bedürfnis, dem AW ins Gesicht zu schauen, er schafft Entscheidungsgrundlagen, arbeitet routiniert seine Fragenliste ab, will, muß möglichst wenig Zeit dafür aufwenden, denn die personelle Ausstattung der Behörde ist angespannt. Seine Miene gäbe dem AW, getraute der sich aufzuschauen, keinerlei Aufschluß darüber, was für Folgen es haben könnte, ohne beglaubigte schriftliche Unterlagen über den vollständigen Besitzerstammbaum eines niedergebrannten Hauses vor ihm zu sitzen.
Abrupter Themenwechsel: Der noch lebende Bruder, was los sei mit ihm, will das einvernehmende Organ jetzt plötzlich wissen. Der müßte mehr Angst haben vor den Albanern, befindet es wörtlich.
Der AW, fast wäre es gelungen, vergessen zu machen, daß er eine Frau ist, noch dazu eine, wie der Organwalter von Anfang an genau weiß, von jungen albanischen Männern entführte, tagelang zwangsweise festgehaltene und mehrfach vergewaltigte, der AW also ist schon wieder grob irritiert, fragt sich kurz und vergeblich, wieso ihr Bruder, sein Bruder, der aus den Augen verlorene Bruder eigentlich noch mehr Angst haben sollte vor den Albanern als sie, er. Aber sich selbst fragen ist ebenfalls nicht vorgesehen, das einvernehmende Organ wartet längst auf eine Antwort, während es zum Zeichen seiner wachsenden Ungeduld einhändig mit einem giftig grünen Stift spielt, seine beiden Enden abwechselnd und gut hörbar mit einiger Fingerfertigkeit gegen die Schreibtischplatte rammt.
So ein routinierter Organwalter darf sich eindeutige Wertungen selbstverständlich jederzeit erlauben, die geeignet sind, das dem AW zugefügte Leid zu relativieren und ihn aus dem Konzept zu bringen, wenn er denn ein solches hat. Mehr noch: Sie gehören, pfeifen die Spatzen von den Dächern, zum erprobten Repertoire, denn dem einvernehmenden Organ, im Polizeidienst großgeworden, fehlt es zwar an einer speziellen Ausbildung im Umgang mit schwer Traumatisierten, dafür aber steht ihm ein klares Ziel vor Augen, die politischen Vorgaben sind eindeutig. Ein verunsicherter AW ist da schon die halbe Miete.
Was soll ich sagen? fragt der AW endlich ziemlich rhetorisch und sehr leise auf serbisch zurück. Was soll ich sagen? fragt daraufhin der Dolmetscher weniger rhetorisch und in durchschnittlicher Lautstärke auf deutsch. Aber Gegenfragen eines AW sind ebenfalls nicht vorgesehen. Der Beamte ignoriert also den schüchternen Einwurf und fährt ungerührt ganz woanders fort: Warum er, der nach dem geltend gemachten Brandanschlag vor nunmehr ungefähr fünfeinhalb Jahren doch ohnehin bei Nachbarn untergekommen wäre, ausgerechnet jetzt ausgereist, also bei uns eingereist sei?
Der AW verweist auf die ständige Bedrohung durch feindselige Albaner, vor zwei Jahren während der großen Unruhen hätten sie direkt vor dem Nachbarhaus, also vor seiner neuen Wohnstätte, sogar eine Handgranate gezündet.
Die Frage war, warum mussten sie jetzt ausreisen? steht an dieser Stelle streng in der Niederschrift. Der AW wird in der schriftlichen Aufnahme der Befragung übrigens durchgehend ohne den zwingend nötigen Großbuchstaben angeredet: Wo sind sie geboren? Was ist mit ihrem Bruder? Die geltenden Regeln der deutschen Rechtschreibung, verbindlich für alle Behörden des Staates, in dessen Namen das einvernehmende Organ waltet, finden bei dieser Behörde anscheinend keine durchgehende Anwendung, ebenso wenig wie zahlreiche andere Regeln der deutschen Sprache, wenn protokollierte Sätze reihenweise in sich zusammenbrechen, vornehmlich solche aus dem Mund des AW.
Jetzt die letzte Zeit sagen, dass wenn der Kosovo unabhängig wird, wir haben dort nicht zu suchen, soll die zweite Antwort auf die eben doppelt gestellte Frage gewesen sein und Auch die letztre Zeit habe ich Drohung gehabt die Einleitung zur ersten. Der AW, immerhin erfolgreicher weiblicher Absolvent einer höheren Schule, gibt hingegen in Wirklichkeit, freilich in serbischer Sprache, korrekt und schlüssig Auskunft, wenn auch stockend und im Flüsterton. Deutsch kann er zu diesem Zeitpunkt kein Wort. Äußert also der Dolmetscher derart verunglückte Sätze? Entsprechen sie gar dem Verschriftlichungsniveau des Amtes? Sie werden jedenfalls in der zitierten Ungestalt Teil der Spruchbegründung der erkennenden Behörde und somit zum Inhalt des Bescheides erhoben.
Der beeidete Dolmetscher der Sprache Serbisch muß beim AW, den er nicht immer gleich versteht, wiederholt nachfragen, teils weil dieser sich, wie erwähnt, nur sehr verhalten äußert, teils weil das Serbisch des übersetzenden Kosovo-Albaners weiblichen Geschlechtes, wie ebenfalls bereits angedeutet, mangelhaft ist. In Flußnähe sei das niedergebrannte Haus gestanden, äußert der AW. Im Wasser? fragt der Dolmetscher serbisch zurück.
Der Dolmetscher, von materiellen Sorgen geplagt, mag solche undeutlich murmelnden AWs überhaupt nicht. Mit der Tatsache, daß der vor ihm Serbe ist, hat das weniger zu tun als mit jener, daß es dem Organwalter obliegt zu entscheiden, ob er weiter mit ihm zusammenarbeiten oder eine andere Person als Übersetzer beschäftigen will. Beim AW nachfragen, das sehen die einvernehmenden Organe gar nicht gerne, derlei kostet Zeit, macht die Dinge oft unnötig komplizierter und läßt vor allem auf mangelnde Kompetenz schließen, was hier ja auch zutrifft. Es kommt deshalb schon einmal vor, daß der Dolmetscher sich lieber zusammenreimt, was der AW gesagt haben könnte, als sich eine weitere Blöße zu geben.
Der AW hat seit dem Aufstehen nach durchwachter Nacht heftige Kopfschmerzen, die werden angesichts der Umstände von Minute zu Minute stärker. Er hält die Serben beileibe nicht für die besseren Menschen und weiß natürlich genau um die zynische Unterdrückung der Mehrheit im Kosovo in jenen Jahren des untergegangenen Jugoslawien, die der großen Barbarei vorangingen. Nein, er haßt die Albaner nicht kollektiv, nur einzelne Menschen. Aber er will, er muß nach allem, was vorgefallen ist, möglichst weit weg von ihnen sein.
Die Konstellation in diesem Büro ist deshalb außerordentlich belastend. Den AW befallen erhebliche Zweifel, daß der albanische Dolmetscher weiblichen Geschlechts halbwegs korrekt wiedergeben wird, was er aussagt. Der lückenhaften Sprachbeherrschung wegen, vor allem jedoch, man mag es drehen und wenden, wie man will, weil es nun einmal Albaner waren, die das Haus angezündet, die Geschwister umgebracht, die Mutter gebrochen, ihn bedroht, geschlagen, entführt und vergewaltigt haben.
Die Versuchsanordnung sieht aber keinen Raum vor, solche Bedenken ins Treffen zu führen. Dem AW wird immerhin ein Glas Wasser zugestanden, er nimmt eine Kopfwehtablette ein.
Frage: Was ist ihnen persönlich passiert?
Antwort: Im Jahr 2004 ich von den Albanern vergewaltigt.
Anmerkung: AW wird aufmerksam gemacht, daß auf Verlangen ein weibliches Organ die Einvernahme fortführt.
Das angesichts zwingend nötiger behördlicher Erörterungen eines allfällig ungebührlichen Umgangs mit dem Intimbereich eines Frauenkörpers pflichtgemäß angebotene weibliche Organ muß jedoch nicht beigezogen werden: AW gibt an, dass das einvernehmende Organ die Einvernahme weiterführen kann.
Der AW hat nur unzulänglich verstanden, worum es in Sachen weibliches Organ jenseits der Schilderung seiner Vergewaltigung gehen könnte, er ist verwirrt, der Jargon ist ihm völlig fremd. Doch würde er sich in jedem Fall hüten, irgendetwas zu verlangen, um den Beamten, von dem alles abzuhängen scheint, nicht zu verärgern.
Es ist ihm, um die Wahrheit zu sagen, ohnehin egal. Der AW spürt keinerlei Scham – kann Scham ausrinnen? fragt er sich seit Monaten –, als er nach mehrmaliger Aufforderung den sogenannten Vorfall aus dem April vor zwei Jahren schildert. Aber weh tut es unendlich. Und quälend langsam nur findet er Worte.
Jemand hat mich im Auto mitgenommen, so leitet das Vernehmungsprotokoll die Szene ein, aber schon die nächsten Sätze dementieren den harmlosen Inhalt des ersten, vom AW so nie formulierten: Er sei von vier Albanern in ein Auto gezerrt, beschimpft und geschlagen worden. In einem alten Haus seien ihm, der jungen Frau, dann nach einer langen Irrfahrt am nächsten Tag die Kleider vom Leib gerissen worden. Als Serbin gehöre der spätere AW sowieso vergewaltigt, hätten die Täter gemeint. Vier Tage habe das Martyrium gedauert. Inzwischen sei sein Verschwinden angezeigt worden, die Polizei habe ihn schließlich gefunden und ins Krankenhaus gebracht.
Auf die Frage, ob es medizinische Unterlagen zum Vorfall gebe, meint der AW, solche habe er nicht, die lägen bei den Polizeikräften der Vereinten Nationen, der Dolmetscher aber übersetzt schlicht: Nein. Erst der Rechtsbeistand, den der AW jetzt noch nicht hat, wird viel später im Rahmen der Berufung gegen die Versagung des Asyls eine beglaubigte Übersetzung jenes behördlichen Dokumentes aus seiner Heimatstadt vorlegen, in dem es heißt: Dies zeigen auch die ärztlichen Befunde, daß die Angaben richtig sind, daß Jelena Savicevic durch einen albanischen volljährigen jungen Mann vergewaltigt wurde. Sie wurde auch schwer verletzt, was auch die ärztlichen Befunde zeigen. Wir nahmen die Erklärung der Geschädigten auf, solange sie noch in verschrecktem Zustand war.
Jelena befindet sich auch jetzt, da sie für die vernehmende Behörde, dem Usus entsprechend, bloß ein mehr oder weniger anonymer AW ist, immer noch in dem gleichen verschreckten Zustand, obwohl mittlerweile gut zwei Jahre verstrichen sind.
Sie habe den Vorfall der UNMIK-Polizei im Kosovo gemeldet, die vier Entführer seien daraufhin auch tatsächlich festgenommen worden. Massive Drohungen, wahrscheinlich aus der Umgebung eines der Täter, den sie als einzigen namentlich kannte, ließen die panische Jelena schließlich ihre Anzeige zurückziehen. So kamen die jungen Männer schnell wieder auf freien Fuß.
Der AW fügt auf Befragen noch weitere Belege für seine persönliche Bedrohungslage an, die ihre wahre Ursache in den ungelösten Konflikten zwischen Albanern und Serben hätte. Wo er herkomme, lebten fast nur Albaner, die KPS, die kosovarische Polizei, sei leider parteilich und unternehme gegen Übergriffe auf Serben kaum etwas.
Jelena geht die Kraft aus. Mitinhaftierte Frauen, darunter Kriminelle, rieten ihr, in den Hungerstreik zu treten, um aus der Schubhaft entlassen zu werden oder das Verfahren wenigstens zu beschleunigen. Seit mehr als einer Woche hat sie jetzt nur Wasser zu sich genommen. Ihre ohnehin knappen Antworten werden noch kürzer.
Vor fünf Monaten erst sei sie erneut tätlich angegriffen worden. Nein, sie habe aus Angst keine Anzeige erstattet. Ein Serbe sei vor ein paar Wochen in ihrer Heimatstadt auf der Brücke von einem Albaner niedergestochen, ein italienisches Café-Restaurant, betrieben von einem Serben, durch Handgranaten zerstört worden.
Frage: Heißt das, daß die Serben im täglichen Leben benachteiligt werden?
Antwort: Ja.
Frage: Sie konnten aber trotzdem die Schule abschließen?
Antwort: Das habe ich geschafft.
So schlimm kann es dann doch wohl nicht sein dort, ist die dieser Scheinfrage unterlegte unmißverständliche Botschaft, denn der Organwalter weiß natürlich von vornherein, er hat es mit einer Maturantin zu tun.
Dem AW fallen noch viele weitere Beispiele ein, die er jetzt berichten könnte, um zu illustrieren, wie aufgeladen das Klima im Kosovo ist, wie häufig es besonders in geschlossenen albanischen Siedlungsgebieten zu Übergriffen auf serbische Kulturgüter und vereinzelt dort lebende Serben kommt, wie konsequent die lange Zeit selbst unterdrückte albanische Seite den Spieß umgedreht hat, obwohl auch serbische Nationalisten nach wie vor Unruhe stiften.
Der AW berichtet dem Organwalter aber nichts davon, denn der hat keine weiteren Fragen und die ASt. keine Energie mehr, der Behörde einen annähernden Begriff davon zu geben, was es hieß, trotz monatelangem Aufenthalt in der Psychiatrie und ständiger Bedrohung von Leib und Leben ein Reifezeugnis zu erwerben, um das sie verbissen kämpfte, weniger, weil sie sich davon etwas versprach, sondern vor allem, weil sie nicht ganz den Halt verlieren wollte und sich nichts anderes bot zum Anhalten.
Der erschöpfte AW bestätigt durch ein wiederholtes, automatisches Ja und später durch seine Unterschrift auf dem Protokoll, daß er sämtliche Gründe, die ihn zum Verlassen seines Heimatlandes bewogen hätten, angeführt habe, daß ihm dafür ausreichend Zeit eingeräumt worden sei und daß der Dolmetsch tadellos gearbeitet habe. Das Verfahren sei zulässig und werde vom Bundesasylamt weitergeführt, der AW selbst zu gegebener Zeit einer dafür vorgesehenen Betreuungseinrichtung zugewiesen werden. Der AW kann gehen, in seine Zelle.
Zwei Tage später um exakt vierzehn Uhr wird er aus der Schubhaft entlassen werden. Da wird er bereits vorsichtig zu essen begonnen haben, aber Magen und Darm verzeihen ihm nach so langer Untätigkeit die Gefängniskost nicht. Von Krämpfen geschüttelt und erheblich geschwächt wird er nach drei Stunden Fahrt in seiner neuen Unterkunft eintreffen, einer Flüchtlingspension im Herzen des schönen Österreich, in einer Bilderbuchlandschaft am Alpenrand.
Es ist zehn nach zwei. Die Schreibkraft schaut beim Portier vorbei, erkundigt sich, ob er ihre Richter schon gesehen hat. Für zwei ist nämlich die Nachmittagsverhandlung angesetzt. Bei ihm sind sie jedenfalls noch nicht vorbeigekommen. Da aber alle hier durch müssen, die den Gerichtshof betreten wollen, dürften sie wohl die Mittagspause etwas ausgedehnt haben, sagt sie sich, denn Eile scheint keine geboten, weil der beschwerdeführende Asylwerber ohnehin nicht da sein wird.
Die Richter sind ihre, weil die Schreibkraft fix einem bestimmten Zweiersenat zugeteilt ist, der stets gemeinsam verhandelt, einmal unter dem Vorsitz des einen, dann wieder unter dem des anderen. In der Regel finden die beiden zu einem gemeinsamen Urteil, so gut wie immer, könnte man sogar sagen. Zwanzigtausend zu eins steht die Quote, auf zwanzigtausend Entscheidungen kommt eine einzige, auf die sich das Tandem nicht einigen kann. Nicht die zwei allein natürlich, die da draußen gerade aufgeräumt den Portier mit dem stets freundlichen Naturell grüßen, sondern alle paar Dutzend Zweiersenate zusammen. Ihre Richter, könnte die Schreibkraft bestätigen, sind sich bisher immer einig gewesen, zumindest nach eingehender Beratung.
Wer die Sicherheitsschleuse passiert hat, tritt in eine Art Aufenthalts- oder Warteraum mit zu vielen zu großen braunen Tischen und vielen blauen Stühlen und einer Ecke mit Kinderspielzeug. Direkt vor die Füße eines der beiden Richter auf ihrem gemächlichen Weg in den Verhandlungssaal fährt ein knallrotes Sportauto. Ein blondgelockter Dreijähriger traut sich nicht recht, hinzulaufen und es sich zurückzuholen. Er steckt die halbe rechte Hand in den Mund und starrt den großgewachsenen Mann im dunklen Anzug an, der sich jetzt bückt, ihm zulächelt, das Auto umdreht und mit Schwung zu dem Kleinen zurückschickt. Der freut sich sichtlich über den unerwarteten Spielkameraden, greift sich das schmucke Cabrio und nimmt gleich einen neuen Anlauf. Doch da geht eine junge Frau dazwischen, trotz der pechschwarzen Haare unter dem Kopftuch wohl die Mutter. Sie flüstert ihm mit Nachdruck etwas ins Ohr, packt ihn fest am Arm und läßt sich das Auto aushändigen. Entschuldigung! sagt sie ernst, und der Richter, der zu seinem Kollegen gerade Entzückend! gesagt hat, sagt jetzt: Nein, nein.
Die Art Aufenthalts- oder Warteraum ist eigentlich eine Art Verteilerzentrum, eine relativ kleine, von kaltem Kunstlicht erhellte Vorhalle mit niedriger Decke, von der aus man in die Verhandlungssäle gelangen kann, zu den Büros, den Stiegenhäusern, zum Lift, zur Garage, zu den Getränkeautomaten, den Toiletten. Oben in einer der Ecken hängt eine Art runder Verkehrsspiegel. Nicht für diesen Zweck gebaut, wurde das Gebäude kostengünstig adaptiert, und das sieht man ihm auch an.
Mißtrauische oder womöglich gar ängstliche Vorgeladene mit einschlägiger Vergangenheit könnten sich, kaum glücklich dem Sicherheits-Check entronnen, vielleicht am Blickfang des Raumes, einer großflächigen Milchglasscheibe mitten in der Wand hinter den vielen Tischen stoßen. Auf ihrer anderen Seite befindet sich jedoch nur der ansonsten fensterlose, düstere KGB-Verhandlungssaal. So heißt er jedenfalls im Hausjargon, weil die Richter sich in ihm Beschwerdeführern widmen müssen, die direkt vor ebendieser dominanten Milchglasscheibe Platz genommen haben, hinter der sich aber, wie gesagt, bloß die Art Aufenthaltsraum befindet, in dem die menschlichen Verhandlungsgegenstände warten, bis es so weit ist. Der KGB-Saal ist unbeliebt und dient nur als letzte Reserve, wenn alle anderen ausgebucht sind.
Die Errichtung des Asylgerichtshofes hat wegen des vielzitierten Rucksacks vorübergehend jede Menge Verhandlungssäle nötig gemacht, auch wenn ein Gutteil der Richter die Verfahren gewöhnlich ohne lästiges Verhandeln abschließt. In diesem Rucksack mußten anfangs weit über dreiundzwanzigtausend Altfälle Platz finden, die nun relativ zügig abgebaut werden, Stück für Stück, Saal für Saal.