Cover

DIE
VORSOKRATIKER

VON DEMOKRIT
BIS THALES

Neu übersetzt und herausgegeben
von Matthias Hackemann

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2016 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagmotiv: »Greek Philosophers – Antiquity«,
© Erica Guilane-Nachez/Fotolia
Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de
ISBN 978-3-7306-9133-5
V002
www.anacondaverlag.de

INHALT

Einführung

Thales

Anaximander

Anaximenes

Pythagoras

Xenophanes

Heraklit

Parmenides

Zenon

Empedokles

Anaxagoras

Leukipp und Demokrit

EINFÜHRUNG

Antworten auf die Fragen nach dem Sein der Welt bieten die ersten Vorsokratiker auf einer epochal neuen Basis: Durch eine intellektuelle, nüchterne Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Natur versuchen sie, den Kosmos als ein System gesetzmäßiger Abläufe zu erklären. In rudimentärer Form hatten zwar schon die mythischen Epen Homers und besonders die Theogonie Hesiods Konzepte für Entstehung und Gestalt der Welt geboten: diese Vorstellungen waren jedoch von personifizierten Naturgewalten in anthropomorphen Gottesbildern geprägt.

Den Anfang der Philosophie bei den Griechen bilden Thales (ca. 624/623 bis ca. 546/545 v. Chr.) und Anaximander (ca. 611/610 bis ca. 545). Beide stammen aus dem kleinasiatischen Milet, wie auch der jüngere Anaximenes (ca. 585 bis ca. 525).

Mit Pythagoras (ca. 570 bis ca. 500), der erstmals eine organisierte philosophische Schule gründet, beginnt auch in Süditalien, dem damaligen Großgriechenland, die Geschichte der Philosophie; Xenophanes (ca. 570 bis ca. 475) wirkte ebenfalls dort.Wie all den zuvor Genannten geht es auch dem Epheser Heraklit (ca. 542 bis ca. 482) insbesondere darum, die Phänomene der Natur durch Beobachtung, Analogieschlüsse und eine immer weiter verfeinerte Spekulation zu ergründen.

Der aus dem ionischen Elea stammende Parmenides (ca. 515 bis nach 450) bezweifelt hingegen die Verlässlichkeit der sinnlich wahrgenommenen Naturvorgänge an sich und weist nur dem Sein als solchem Wahrheit zu. Seine ontologischen Aussagen, die sein Schüler Zenon (ca. 500 oder 490 bis nach 450) verteidigt, bilden die markanteste Epochengrenze innerhalb der vorsokratischen Philosophie. Darauf reagieren Empedokles von Akragas (ca. 482 bis ca. 422) und Anaxagoras (500–428/427), der die Philosophie in Athen einführte. Beide versuchen, die Ontologie mit den sinnlich wahrgenommenen Phänomenen innerhalb des Kosmos in Einklang zu bringen. Den »Atomisten« Leukipp (gest. weit nach 460 v. Chr.) und Demokrit (geb. ca. 460 v. Chr.) gelingt dies dadurch, dass sie neben dem Sein auch das Nichtsein als Prinzip ansetzen.

Als ein Zeitgenosse der jüngeren Vorsokratiker prägte Sokrates (ca. 470–399) die philosophische Welt mit seinen neuen Denkweisen indes in einer solch entscheidenden Art – besonders auch durch das Wirken seines Schülers Platon und wiederum dessen Schülers Aristoteles –, dass es zu einer Abgrenzung dieser neuen Lehren von den »vorsokratischen« Erkenntnissen kam, auch wenn Sokrates auf vielen dieser Einsichten aufbaute. Der eigentliche Begriff »Vorsokratiker« ist allerdings eine moderne Neuschöpfung: er begegnet erstmals Ende des 18. Jahrhunderts.

Die im Nachhinein unter einem Sammelbegriff subsumierten vorsokratischen Philosophen bilden, was den Inhalt und die Ausrichtung ihrer Forschung angeht, also keine homogene Gruppe. Allerdings stehen einzelne Philosophen einander inhaltlich nahe. Dabei werden innerhalb der Vorsokratiker folgende Traditionen unterschieden: die sogenannten »Milesier« (Thales, Anaximander, Anaximenes), die »Pythagoreer« (Pythagoras und seine Schüler), die »Eleaten« (Parmenides und Zenon) sowie die bereits genannten »Atomisten«.

Eine bedauerliche Gemeinsamkeit hinsichtlich aller Vorsokratiker bilden indes deren lediglich fragmentarisch erhaltene Aussagen, meist als Zitate in den Werken anderer Autoren. Doch wenn auch einzelne Aspekte aufgrund der Quellenlage unklar bleiben müssen, sind doch zahlreiche Ausführungen und Argumente zu den entscheidenden Thesen der Vorsokratiker überliefert. Die relevanten Passagen sind in diesem Band dabei so zusammengestellt, dass durch die Ähnlichkeit des Kapitelaufbaus bestimmte Themengebiete, z. B. Kosmogonie, Meteorologie oder Ontologie, in ihrer Entwicklung gezielt nachvollzogen werden können.

THALES

Zur Person

Apollodor schreibt in seiner Chronik, dass Thales im ersten Jahr der 39. Olympiade [624/623 v. Chr.] geboren und mit 78 Jahren gestorben sei. Sein Tod sei nämlich in die 58. Olympiade gefallen [548–544], und gelebt habe er zur Zeit des Krösus. Diesem soll er auch versprochen haben, den Halys ohne Brükke überqueren zu können, indem er [Thales] den Fluss umleiten würde.

(Diogenes Laertios I 37 = DK 11 A 1)

Das Todesjahr lässt sich also auf 546/545 v. Chr. datieren.

Wie Herodot, Duris und Demokrit vermerken, entstammte Thales als Sohn des Examyos und der Kleobouline dem phönizischen Geschlecht der Theliden: einer hochadligen Linie, die sich auf Kadmos und Agenor zurückführte. […] Die meisten sagen indes, dass Thales vollbürtiger Milesier aus einer angesehenen Familie war.

(Diogenes Laertios I 22 = DK 11 A 1)

Die Nachricht von Thales’ phönizischen Wurzeln geht wahrscheinlich einerseits darauf zurück, dass sich Kadmeer aus Böotien in den ionischen Küstenstädten angesiedelt hatten, und ist andererseits durch orientalische und speziell phönizische Parallelen in seinen naturphilosophischen Erkenntnissen motiviert.

Kosmogonie und Kosmologie

Von den frühesten Philosophen waren die meisten der Ansicht, dass die einzigen Prinzipien für alle Dinge Prinzipien stofflicher Art seien. Denn das, woraus das Seiende in seiner Gänze besteht, woraus es im Anfang geworden ist und worin es schließlich verschwindet – sein Wesen verweilt dabei, seine Eigenschaften verändern sich aber –, das also stellt ihrer Überzeugung nach Urstoff und Prinzip alles Seienden dar. Infolgedessen meinen sie, dass nichts schlechthin entstehe oder vergehe, da eine derartige Natur ja ewig erhalten werde. […] Unabdingbar gibt es nämlich eine Natur, entweder genau eine oder mehrere, gemäß welcher alles Übrige entsteht, während die Natur selbst bestehen bleibt. Hinsichtlich Menge und Art eines derartigen Prinzips sagen sie allerdings nicht alle dasselbe.Vielmehr behauptet Thales, der Urheber dieser Art von Philosophie, dass Wasser das Prinzip sei: Deshalb erklärt er auch, die Erde existiere auf der Grundlage von Wasser.

(Aristoteles, Met. Α3,983b6–20 = DK 11 A 12)

Es heißt, dass Thales von Milet, einer der Sieben Weisen, sich als Erster mit Naturphilosophie beschäftigt habe. Ihm zufolge ist Ursprung und Ende von allem das Wasser. Aus diesem nämlich bestehe alles, durch Verfestigung und erneutes Zerfließen. Auch schwimme alles auf Wasser, wodurch unter anderem die Erdbeben, die dichten Sturmfronten und das Wandern der Gestirne zustande kämen. Alles werde getragen und befinde sich im Fluss, denn es harmoniere mit der Natur des ersten Urhebers seines Werdens. Dieser aber, der weder Anfang noch Ende habe, sei Gott.

(Hippolytos, Ref. I 1)

Thales […] behauptet, die Erde werde von Wasser getragen, und zwar schwimme sie darauf wie ein Schiff. Wenn man sagt, dass sie bebt, schwanke sie in Wirklichkeit durch die Bewegung des Wassers.

(Seneca, Quaest. nat. III 14 = DK 11 A 15)

Andere behaupten, dass sie [die Erde] auf Wasser ruhe. Diese Lehre ist die älteste, die auf uns gekommen ist: Thales von Milet soll sie formuliert haben, weil die Erde schwimme und folglich so wie Holz oder irgendetwas Ähnliches ruhe (denn auch solche Dinge können nicht auf Luft, wohl aber auf Wasser ruhen).

(Aristoteles, de caelo Β13,294a28 f. = DK 11 A 14)

Anhand der Quellen kann nicht mit Sicherheit geklärt werden, ob Thales lediglich der Ansicht gewesen ist, alles sei einmal aus Wasser entstanden, oder ob er sogar meinte, dass alles Dasein weiterhin aus Wasser bestehe und somit in irgendeiner Form auch Wasser sei.

Für Thales’ kosmogonische und kosmologische Vorstellungen – Ursprung der Dinge ist Wasser, auf dem auch die Erde schwimmt – finden sich indes grobe Vorläufer: zum einen zwar bei Homer und Alkman, zum anderen aber vor allem in babylonischen und ägyptischen Quellen. Dort sind auffallend ähnliche Konstruktionen, allerdings mit einem mythischen Grundverständnis, beschrieben. Die Entkopplung solcher Konzepte von religiösen Aspekten und ihre (fast vollständige) Reduzierung auf eine physikalische Kosmogonie, die auf der Basis von Gesetzmäßigkeiten schlüssig in sich ruht, ist allerdings offenbar die Leistung von Thales, dem »Urheber dieser Art von Philosophie«. Innerhalb dieses Systems sieht Thales gleichwohl in der Welt nicht ausschließlich leblose physikalische Abläufe am Werk: Bestimmte Bereiche der Natur sind seiner Meinung nach aufgrund ihrer Seinsweise als beseelt anzusehen. In ihnen scheint Thales die Götter verortet zu haben.

Der Überlieferung zufolge hat anscheinend auch Thales der Seele die Fähigkeit zugemessen, eine Bewegung zu verursachen; denn er sagt ja, dass der Magnetstein eine Seele besitze, weil er das Eisen bewegt.

(Aristoteles, de anima Α2,405a19 f. = DK 11 A 22)

Aristoteles und Hippias merken an, dass Thales auch den unbelebten Dingen Seelen beigemessen habe: dies habe er aus dem Magnetstein und dem Bernstein gefolgert.

(Diogenes Laertios I 24 = DK 11 A 1)

Bernstein entwickelt durch Reibung magnetische Kraft.

Manche behaupten, dass die Seele auch dem All beigemischt sei, weswegen vielleicht unter anderem Thales die Meinung vertrat, dass alles von Göttern erfüllt sei.

(Aristoteles, de anima Α5,411a7 = DK 11 A 22)

Astronomie und Geometrie

Als die Lykier und Meder ihren Krieg das sechste Jahr mit ausgeglichenem Erfolg fortführten und die Heere gerade eine Schlacht eröffnet hatten, ereignete sich Folgendes: Mitten im Kampf wurde der Tag plötzlich zur Nacht. Diese Verwandlung des Tages hatte Thales von Milet den Ioniern als Ereignis vorhergesagt und ebendieses Jahr, in welchem die Verwandlung schließlich auch eingetreten ist, als spätestmöglichen Zeitpunkt dafür angesetzt.

(Herodot I 74 = DK 11 A 5)

Diese Vorhersage erfordert eine langfristige Beobachtung entsprechender astronomischer Phänomene, um eine periodische Systematik abzuleiten und künftige Erscheinungen zeitlich ansetzen zu können. Die Grundlage für Thales’ Berechnung ist abermals in babylonischen (Priester-) Texten zu suchen: spätestens seit 721 v. Chr. wurden Sonnenfinsternisse dort methodisch beobachtet und schriftlich archiviert. Vorhersagen besaßen allerdings eine erhebliche Fehlertoleranz. Thales hat diese Methode nicht unbedingt weiterentwickelt – es ist offenbar lediglich von einem mehrjährigen Zeitrahmen die Rede – und kann einen der statistisch »unvermeidlich« korrekten Treffer erzielt haben.

Die Reputation, die Thales von diesem Zeitpunkt an besaß, dürfte jedoch ungeachtet dieser Detailproblematik erheblich zur Ausbreitung seiner naturphilosophischen Lehren in Griechenland beigetragen haben: Es hatte sich für die Hellenen erwiesen, dass die Himmelsphänomene Regeln unterworfen und diese wiederum dem menschlichen Verstand zugänglich waren.

Einigen zufolge hat Thales als Erster Astronomie betrieben, insbesondere habe er Sonnenfinsternisse und Sonnenwenden vorhergesagt, wie Eudemos in seiner Darstellung der Astronomie schreibt. Dafür bewundern ihn auch Xenophanes und Herodot. Aber auch Heraklit und Demokrit bezeugen es für ihn.

(Diogenes Laertios I 23 = DK 11 A 1)

Eudemos berichtet in seiner Astronomie, Oinopides habe als Erster die Schräglage des Tierkreises und den Umlauf des Großen Jahres ermittelt, Thales hingegen eine Sonnenfinsternis und die Ungleichheiten im Zyklus der Sonnenwenden.

(Derkylides bei Theon Smyrn. 198,14 Hiller)

Der Arkader Bathykles lag im Sterben und ordnete deshalb seinen Besitz. Dem Amphalkes, seinem mittleren Sohn, legte er einen goldenen Becher mit dem Auftrag in die Hände, ihn dem Besten der Sieben Weisen zu schenken:

Er segelte nach Milet: Der Sieg gehörte nämlich
Dem Thales, der überhaupt sehr verständig war
Und von dem es heißt, er habe die Sternchen
Des Wagens vermessen, nach dem die Phönizier segeln.
Nun fand der Arkader unter glücklichen Vogelzeichen
Im Heiligtum des Apollon von Didyma den Greis,
Wie der auf der Erde schabte, um die Figur einzuzeichnen,
Auf die der Phryger Euphorbos einst kam – der als erster
Mensch ein ungleichseitiges Dreieck gezeichnet hat –,
Und einen Kreis darum.

(Dieg. VI 1 und Kallimachos, fr. 191 Pf.)

Kallimachos von Kyrene (ca. 320 bis ca. 240 v. Chr.) erzählt diese Geschichte in seinen Jamben. Neben der Feststellung, dass Thales also noch in alexandrinischer Zeit als der bedeutendste der Sieben Weisen angeführt werden konnte, liefert der Text u. a. auch eine astronomische Information:

Während die Phönizier nach den »Sternchen des Wagens«, d. h. den »Sternen des kleinen Wagens« segelten, nutzten die Griechen den Großen Wagen zur Navigation, was auf längeren Distanzen zu größeren Ungenauigkeiten führte. Thales hat den Hellenen demnach die präzisere Steuerung nach dem Kleinen Wagen ermöglicht.

Mit dem Phryger Euphorbos ist Pythagoras gemeint: Dieser hatte vor dem Hintergrund seiner Reinkarnationslehre u. a. behauptet, als ebendieser Euphorbos am Trojanischen Krieg beteiligt gewesen zu sein. Die ungleichseitigen (rechtwinkligen) Dreiecke beziehen sich auf den Satz des Pythagoras, während der Kreis um diese herum auf den Satz des Thales verweist. Weitere geometrische Leistungen des Thales finden sich in folgenden Quellen:

Hieronymos gibt an, dass Thales auch die [Höhe der] Pyramiden vermessen habe, und zwar anhand ihres Schattens, indem er auf den Zeitpunkt gewartet hat, zu dem unser eigener Schatten so lang ist wie wir selbst.

(Diogenes Laertios I 27 = DK 11 A 1)

Dass der Kreis von seinem Durchmesser ebenmäßig geteilt werde, soll als Erster jener Thales bewiesen haben.

(Proklos, in Euclidem 157 = DK 11 A 20)

Es heißt, dass Thales als Erster gewusst und gesagt habe, dass in einem jeden gleichschenkligen Dreieck die Winkel an der Basis gleich sind.

(Proklos, in Euclidem 250 = DK 11 A 20)

Eudem führt dieses Theorem [Dreiecke, bei denen eine Seite und die an dieser anliegenden Winkel gleich sind, sind auch insgesamt identisch] in seinen Geometrischen Abhandlungen auf Thales zurück. Denn Eudem behauptet, dass die Methode, mit der Thales die Entfernung von Schiffen auf dem Meer berechnet habe, unweigerlich darauf beruhen müsse.

(Proklos, in Euclidem 352 = DK 11 A 20)

Praktisches Wirken

Als Krösus an den Halys gelangt war, brachte er sein Heer über die vorhandenen Brücken ans andere Ufer – jedenfalls nach meiner Überzeugung, bei den Hellenen hingegen heißt es zumeist, dass Thales von Milet sie hinübergeführt habe. Krösus sei nämlich ratlos gewesen, wie sein Heer den Fluss überqueren könne, weil es die erwähnten Brücken zu dieser Zeit noch nicht gegeben habe. Thales, der im Heer mitgezogen sein soll, sei es demnach gelungen, den auf der linken Heerseite fließenden Strom auch auf der rechten fließen zu lassen. Das soll er folgendermaßen bewerkstelligt haben: Oberhalb des Heeres beginnend habe er einen tiefen sichelförmigen Kanal ausheben lassen. So verlief der Fluss, der auf diesem Weg aus seinem alten Bett [teilweise] abgezweigt wurde, schließlich [auch] im Rücken des Heerlagers und mündete, nachdem er dieses umflossen hatte, wieder in sein altes Bett. Dadurch konnte der Fluss, nachdem er in zwei Arme gespalten war, auf beiden Seiten ganz leicht durchschritten werden.

(Herodot I 75 = DK 11 A 6)

Nicht nur Thales, auch die übrigen, im weiteren Verlauf behandelten ersten Philosophen stellen eine Art von Universalgelehrten dar, deren Weisheit gerade auch durch Praxisbezug definiert wird. Die Vorsokratiker gelten jeweils als Fachmann einer ganzen Reihe von (oft technisch komplexen) Disziplinen wie Geometrie, Navigationskunst etc. Ihr besonderes Ansehen erringen sie dabei ausgehend von wegweisenden Erkenntnissen, Entdeckungen oder Informationen (v. a. aus dem Nahen Osten).

Um als Weiser angesehen zu werden, waren aber nicht nur die unbestreitbare fachliche und empirische Bildung sowie eine weit überdurchschnittliche Fähigkeit zur theoretischen Abstraktion und Schlussfolgerung erforderlich, sondern immer auch eine große Lebenserfahrung. All dies ließ den sophós, den Weisen, zugleich zum politischen Ratgeber werden:

Vor der Zerstörung Ioniens war auch die Klugheit des Thales hilfreich, eines Milesiers, dessen Geschlecht phönizische Wurzeln hatte. Er empfahl nämlich, für alle Ionier einen einzigen gemeinsamen Ratssitz einzurichten, der sich in Teos befinden sollte (weil Teos in der Mitte Ioniens liege), und dass die übrigen Städte zwar unverändert weiterbestehen, aber wie Unterbezirke verwaltet werden sollten.

(Herodot I 170 = DK 11 A 4)

Thales’ umfassendes Wissen speiste sich u. a. wohl aus einer mehrfach erwähnten Reise nach Ägypten (die auch in der Berechnung der Pyramidenhöhe reflektiert wird).

Da Milet in Ägypten eine Kolonie, Naukratis, angesiedelt hatte, sind entsprechende Reisen für Thales und seine Zeitgenossen als durchaus geläufig anzusehen.

Nachdem er zunächst nach Ägypten gereist war, führte er diese Wissenschaft [die Geometrie] in Griechenland ein.

(Proklos, in Euclidem 65 = DK 11 A 11)