Inhalt
Triggerwarnung
Mein Name ist Norah
1 Norah
Bishop Briggs – Dark Side
2 Norah
Sasha Sloan – Dancing With Your Ghost
3 Norah
Zoe Wees – Control
4 Sam
Fleurie – Hurts Like Hell
5 Norah
Matt Maeson – Cringe (Stripped)
6 Norah
Demi Lovato – Smoke & Mirrors
7 Sam
Lewis Capaldi – Lost On You
8 Norah
James Bay – Scars (Acoustic)
9 Sam
Jacob Lee – Demons
10 Norah
Dean Lewis – Waves
11 Norah
Jaymes Young – I’ll Be Good
12 Norah
Billie Eilish – Six Feet Under
13 Sam
Sam Smith feat. YEBBA – No Peace
14 Norah
Justin Jesso – Getting Closer (Acoustic)
15 Sam
Lauren Daigle – You Say
16 Norah
Ray Dalton – In My Bones
17 Sam
James Bay – Break My Heart Right
18 Norah
Jess Glynne – Take Me Home
19 Norah
Amber Leigh Irish – Don’t Give Up On Me (Acoustic)
20 Norah
Jessie J – Who You Are
21 Sam
Lewis Capaldi – Bruises
22 Norah
Bishop Briggs – Water
23 Sam
Harry Styles – Falling
24 Norah
Lord Huron – The Night We Met
25 Norah
Aidan Martin – Hurting You
26 Sam
Tom Odell – Heal
27 Norah
Freya Ridings – You Mean the World to Me
28 Sam
Andra Day – Rise Up
29 Norah
P!nk – Wild Hearts Can’t Be Broken
Mein Name ist Norah
Danksagung
Für euch,
Laura, Bianca, Marie, Nicole, Anabelle, Tami, Nina, Alex, Klaudia und Laura G.
Weil ihr ihr mir jeden Tag aufs Neue zeigt, dass keine Norm passender und erstrebenswerter ist als die eigene. Weil ihr an mich glaubt, wenn ich es nicht kann. Ihr seid meine Vorbilder, meine Motivationshelden, meine Zen-Meister. Ihr seid diejenigen, die mir den Rücken freihalten – nicht nur bei PUBG oder DbD, sondern auch im wahren Leben.
Ich liebe euch.
Triggerwarnung
In diesem Buch werden Themen wie Mobbing, Selbstverletzung und Suizidgedanken angesprochen oder aufgegriffen. Hört auf euer Gefühl, ob ihr damit umgehen könnt und möchtet oder nicht.
Natürlich wünsche ich mir nichts mehr, als dass ihr Norah und Sam auf ihrem Weg begleitet – wer eine oder mehrere meiner Geschichten bereits kennt, dem ist klar, dass ich darin großen Wert auf Hoffnung und Mut lege –, aber vor allem möchte ich, dass ihr wisst, was euch erwartet. Passt auf euch auf, achtet auf euch.
Und wenn ihr euch nicht gut fühlt, wenn ihr selbst unter Mobbing und/oder Suizidgedanken leidet, holt euch Hilfe von Freunden, der Familie oder bei Menschen eurer Wahl (z. B. bei der TelefonSeelsorge: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222, der Anruf ist kostenfrei).
Hilfe zu suchen ist mutig und keine Schwäche.
Mein Name ist Norah.
Von allen Dingen meines Lebens ist dies das Einzige, dessen ich mir wirklich sicher sein kann. Denn ich habe einen Teil von mir vergessen – und mit ihm so viel mehr.
Was passiert, wenn ich mich verloren habe und nie wiederfinden werde? So wie meine Sonnenbrille letztes Jahr oder immer wieder aufs Neue meine Haarklammern.
Was ist, wenn ich nicht mehr dieselbe sein kann? Oder schlimmer – was, wenn ich sie nie mehr sein möchte?
Wenn ich nie wieder ich sein kann … was bleibt dann?
1
Norah
Bishop Briggs – Dark Side
»Lass mich los, Lu. Sofort!«
Wann wird Luisa begreifen, dass ich es nicht ausstehen kann, von ihr umarmt zu werden? Dass ich es kein bisschen leiden kann, wenn sie ihren knochigen Körper fest an mich drückt, dabei meine Arme zerquetscht und ihren Kopf mit den zerzausten hellblonden Haaren an meine Brust lehnt? In den allermeisten Fällen ruiniert sie damit zu allem Überfluss auch noch mein Outfit – was dieses ganze Umarmungszeug weitaus schlimmer macht, als es ohnehin ist.
Der Duft ihres Vanille-und-Aprikose-Shampoos dringt in meine Nase.
Mit einem genervten Stöhnen versuche ich angestrengt, meine acht Jahre alte Schwester wegzuschieben, doch sie lässt nur widerwillig und viel zu langsam von mir ab. Sie ist nicht nur hartnäckig, sondern obendrein kräftiger, als sie auf den ersten Blick wirkt. Ich drücke stärker, bis sie schließlich nachgibt.
Nachdem sie mich gezwungenermaßen losgelassen hat, steht sie nun mit hängenden Schultern vor mir und ihr Blick aus grünen Augen, die meinen so ähneln, trifft mich. Lu sieht genauso unzufrieden aus, wie ich mich gerade fühle. Gut, dann sind wir wenigstens zu zweit. Unnachgiebig halte ich ihrem Starren stand und bemerke, dass der Schmollmund meiner Schwester von der Nussschokolade umrandet ist, die sie so gerne mag und sich nun auffällig von ihrer hellen Haut und der Farbe ihres Haares abhebt.
Für einen Augenblick tut es mir leid, dass ich so schroff zu ihr sein muss – und zwar jedes Mal. Weil sie sonst nicht versteht oder verstehen will, dass ich diese Nähe nicht möchte. Weil Lu ohne klare Worte einfach nicht auf mich hört.
Doch ich bedaure mein Verhalten meist nicht länger als bis zu dem Moment, in dem ich an mir heruntersehe und mein Top entweder zerknittert oder mit Essen beschmiert vorfinde, so wie jetzt. Mein Mitleid ist verflogen.
»Schau mich nicht so an. Wenn jemand so ein Gesicht ziehen sollte, dann ich, weil ich wegen dir immer Flecken auf meinem Oberteil habe.«
Mit jedem ausgesprochenen Wort steigt die Lautstärke meiner Stimme an. Ohne dass ich es beabsichtigt habe. Und während Lu weiter von mir zurückweicht, ihr Gesichtsausdruck sich von traurig in wütend, beinahe trotzig, verwandelt, ruft meine Mutter aus der Küche nach oben, was schon wieder bei uns los sei. Was los ist? Das, was andauernd los ist. Ich werde in den Wahnsinn getrieben und habe keine Sekunde lang meine Ruhe. Weder wenn ich sie dringend brauche noch wenn ich sie will.
Statt zu antworten, strafe ich meine kleine Schwester mit einem letzten bösen Blick und stapfe zurück in mein Zimmer, um den Schlamassel genauer zu betrachten. Wir werden zu spät zur Party kommen, weil ich mich mit Sicherheit umziehen muss. Ella wird mich umbringen.
»Ich hasse dich!«, schreit Lu mir wutentbrannt hinterher.
»Ich hasse dich auch«, entgegne ich laut und knalle die Tür hinter mir zu.
Dieses Haus ist eine Irrenanstalt. Diese ganze Familie ist vollkommen verrückt. Eins ist klar: Sobald ich mein Abitur in der Tasche habe, lasse ich diese vier Wände, dieses verdammte Kaff, in dem es mehr Kühe, Wiesen und Gülle gibt als Menschen, und dieses langweilige Leben hinter mir. Vielleicht ziehe ich in eine Großstadt und studiere dort oder ich gehe ins Ausland, mache Work and Travel. Egal was oder wohin, Hauptsache fort von hier.
In ungefähr drei Monaten sind Sommerferien, danach startet für mich das letzte Schuljahr, samt Abschlussprüfungen und Bewerbungen schreiben für die Universitäten – oder was auch immer ich danach tun will. Damit ich das schaffe, muss ich meine Noten halten. Sie sind in Ordnung, pendeln sich im Mittelfeld ein, in Deutsch und Geschichte sind sie sogar sehr gut. Nur in Biologie hinke ich richtig hinterher. Ich werde das schon irgendwie schaffen.
Mein Ziel rückt näher und ich kann es kaum erwarten.
Aber jetzt muss ich meine Gedanken wieder auf die Gegenwart richten und das Problem, das ich vermutlich dank meiner Schwester habe.
Schauen wir mal, was Lu angerichtet hat …
Obwohl ich es bereits geahnt habe, wird mir das Schokoladen-Massaker vor dem großen weißen Spiegel, der in einer Ecke meines Zimmers steht, erst richtig bewusst. Das Outfit ist absolut hinfällig. Fluchend ziehe ich das ruinierte beigefarbene Top samt Pailletten über meinen Kopf und mustere mich danach erneut prüfend im Spiegel. Mit dem Zeigefinger am Kinn und leicht schräg gelegtem Kopf überlege ich fieberhaft, was ich sonst zu dem schwarzen engen Minirock, den Stiefeletten und meinem offenen Haar, das heute besonders schön in langen goldblonden Wellen über meine Schultern fällt, tragen kann.
Ich seufze und lasse die Hand sinken. Nichts. Das ist die traurige Wahrheit. Also öffne ich den Knopf und schiebe den Rock hastig bis zu den Knien nach unten. Ab da gleitet er von selbst herunter zu Boden. Ein Schuh fliegt in hohem Bogen in die Ecke, während ich auf einem Bein humpelnd versuche, den zweiten wegzuschleudern und gleichzeitig den Kleiderschrank zu erreichen. Jetzt bleibt keine Zeit mehr für gewagte Kreationen oder irgendwelche Anproben, ich muss mich beeilen. Deshalb ziehe ich mir schlichte enge Jeans und ein schwarzes Bandeau-Top an, dazu passende Ballerinas, auch wenn ich darin garantiert kalte Füße bekommen werde. Nicht dass ich besonders große Auswahl hätte.
Die unauffällige Clutch ist weiterhin perfekt zu dem Outfit, ich muss zum Glück keine neue Tasche rauskramen und den Inhalt nicht umräumen. Wenigstens etwas.
Ein Blick auf die Uhr hätte mir bestimmt verraten, dass ich längst zu spät dran bin, aber das Hupen des Wagens vor der Tür ist schneller. Mist.
Ich schlüpfe in den zweiten Schuh, schnappe mir mein Zeug und hechte die Treppe hinunter, die unter jedem meiner Schritte protestierend knackt und knarzt. Unten angekommen, greife ich mir meinen Wintermantel und werfe ihn schnell über, danach reiße ich die Haustür auf, während ich meinen Eltern ein »Bin jetzt weg!« zurufe. Ohne auf eine Antwort zu warten, lasse ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und rase auf den dunklen Wagen zu, in dem Tim bereits wieder angefangen hat, penetrant zu hupen.
Himmel, ist das kalt.
»Ich bin ja da!«
Brr. Es schüttelt mich kurz, weil die kühle Luft unter meine Jacke gezogen ist. Schwer atmend lasse ich mich neben Ella auf den weichen Rücksitz fallen und schließe die Autotür zügig wieder.
Hier drinnen riecht es nach Tims schwerem Aftershave, wovon er immer zu viel benutzt, dem süßlichen Parfum von Ella und dem älteren Leder der Bezüge.
Auf dem Beifahrersitz hat Jonas Platz genommen und dreht sich nun breit grinsend zu mir herum. Im Gegensatz zu Tims Frisur sitzt seine tadellos, wobei eine helle Locke ihm gewollt in die Stirn fällt. Tims rotbraunes Haar hingegen liegt kreuz und quer. Wenn man nicht wüsste, dass es ihm vollkommen egal ist, könnte man denken, er hätte Stunden damit verbracht, es extra so aussehen zu lassen.
Mit seinen braunen Augen schaut Jonas mich an und grinst schief.
»Na, Baby, hast du mich vermisst?«
Als ob er das nicht wüsste. Bevor ich mich anschnalle, beuge ich mich nach vorne und hauche Jonas einen Kuss auf die Lippen.
»Natürlich. Das tue ich immer«, erwidere ich bereits viel besser gelaunt.
»Wirst du jemals pünktlich sein?«, fragt mich derweil meine beste Freundin Isabella amüsiert, während sie mir vergnügt gegen die Schulter boxt und einen letzten Blick in ihren Taschenspiegel wirft.
»Vielleicht im nächsten Leben.«
Ich lehne mich zurück, wir fangen laut an zu lachen und ich bin so froh, diesen Freitagabend nicht zu Hause rumsitzen zu müssen. Mit meiner Familie. Die machen wahrscheinlich gerade einen langweiligen Filmabend mit irgendeiner Naturdokumentation, die Lu noch nicht inhaliert hat, oder einem animierten Kinderfilm. Aber nur, falls gerade kein guter Krimi läuft, der hat freitags stets Vorrang.
»Dann kann es ja losgehen!«, ruft Tim und drückt aufs Gas, während Jonas jubelt und grölt.
Der Motor jault auf, die Musik dröhnt, der Bass geht mir durch Mark und Bein und die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf und geben der Gänsehaut nach. Ich kann nicht anders: Ich schreie mit Ella los, stimme bei dem Gesang der Jungs mit ein und lache immer lauter, während das Adrenalin durch meinen Körper fließt und die Vorfreude auf die Party mich mitreißt. Hier fühle ich mich gut. Hier werde ich verstanden.
Zu unser aller Glück hat Tim seine Führerscheinprüfung letzten Monat beim zweiten Mal bestanden und bereits an Heiligabend ein Auto erhalten. Vor dem Bestehen. Es ist wohl eine Mischung aus Weihnachts- und vorzeitigem Abi-Geschenk. Seine Eltern waren nicht nur sehr zuversichtlich, dass er kein zweites Mal durch den Praxisteil fällt, sondern sind es ebenso, dass er die Prüfungen kommendes Jahr schaffen wird. Auch wenn seine Noten bisher nicht die besten sind. Tim lebt frei nach dem Motto: Ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss – keinen Millimeter höher. Zwar hat er die Hürde ein paarmal mitgerissen, aber schließlich hat er noch ein wenig Zeit, das Ganze in den Griff zu bekommen.
Der gebrauchte BMW, in dem wir sitzen, ist für uns ein Geschenk des Himmels. Er bedeutet Freiheit, wenn man an einem Ort wohnt, in dem nur alle sechzig Minuten ein Bus fährt, und das auch nur bis zehn und längst nicht überallhin. Hier auf diesem Fleckchen Erde gibt es weder U-Bahn noch Tram und die Fahrer der Busse kennen dich mit Namen und wissen, wo du lebst. Meine Freunde wohnen wenigstens in einer Kleinstadt mit einem Bahnhof, an dem sogar eine Regionalbahn hält. Sie hat es demnach nicht ganz so schlimm getroffen wie mich, da sich ihr morgendlicher Schulweg für sie mit Sicherheit nicht anfühlt wie Frodos Reise nach Mordor.
Doch daran möchte ich heute nicht denken. Ich möchte Spaß haben und den Moment genießen.
Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Ja, das wird ganz bestimmt ein großartiger Abend.
Die »Party des Jahres«, wie Ella sie nennt. Dabei ist es nur eine von vielen. Trotzdem haben wir sie in den letzten drei Jahren nicht ein einziges Mal verpasst. Ricky hat in der zehnten Klasse, nach einem heftigen Streit mit seinen Eltern, begonnen, eine gigantische Party auf die Beine zu stellen, um sie zu ärgern, während die über das Wochenende ihres Hochzeitstages im Urlaub waren und sich amüsierten. Das Datum fällt glücklicherweise mehr oder weniger auf den Beginn des zweiten Schulhalbjahres, den wir damit Mitte Februar feiern. Das Ganze hat er bis zu seinem Abitur durchgezogen, inklusive des Jahres, in dem er wiederholen musste. Seinen Abschluss hat er letzten Sommer mit mehr Glück als Verstand gemacht, aber er veranstaltet die Feier trotzdem weiterhin. Und solange das so ist, sind wir dabei. Oder solange wir eben hier sind …
Die Autofahrt durch die Nacht, in der in Dunkelheit gehüllte Felder und Bäume an uns vorbeiziehen und feiner Nebel über die Straße wabert, dauert ungefähr dreißig Minuten. Jetzt zieht die Stadt mit ihren Häusern und den hellen Lichtern an uns vorbei, mehr und mehr Scheinwerfer entgegenkommender Autos treffen uns, doch all das lassen wir hinter uns, bis wieder nichts als Finsternis vor uns liegt und wir zu der kleinen, bunt beleuchteten Landhausvilla gelangen, deren Einfahrt wir in dieser Sekunde hochfahren. Mit quietschenden Reifen hält Tim an der Seite, stellt den Motor ab und jetzt dringt die Musik der Party bis zu uns. Hier, so nah am Waldrand, stört das niemanden. Weder das flackernde, blinkende Licht noch die Musik, die jeden Mauerstein des Hauses zum Beben bringt, oder die vielen Jugendlichen, die sich vermutlich gerade lachend, tanzend, schreiend und mit einem Drink in der Hand hinter der großen weißen Tür vergnügen. Draußen vor dem Eingang stehen auch ein paar von ihnen herum, und während sie sich unterhalten, bildet ihr Atem durchscheinende Wölkchen in der eisigen Spätwinterluft.
Sosehr sie sich zu amüsieren scheinen, werde ich es ihnen nicht nachtun, sondern direkt reingehen, weil ich eine absolute Frostbeule bin und mir allein vom Zuschauen kalt wird. Trotzdem entscheide ich mich dazu, die Jacke im Auto zu lassen, genau wie meine Freunde, damit ich sie nachher nicht vergesse oder sie verloren geht.
Gut gelaunt steigen wir aus und sofort fährt der Wind über die nackte Haut an meinen Armen und lässt mich zittern. Tim und Ella stürmen bereits los, um am Eingang ein paar Freunde zu begrüßen, und wir folgen ihnen zügig.
Jonas hält meine Hand in seiner. Sie ist schön warm.
Mit jedem Schritt wird die Musik lauter und der Bass heftiger, doch das ist nichts im Vergleich zu dem Moment, als Ella die Tür öffnet und uns heiße, fast stickige Luft entgegenschlägt. Wir treten ein und ich sehe, wie man meinen Freunden bereits die ersten Drinks in die Hand drückt. Ellas Hüften bewegen sich wie von selbst im Takt des Liedes, sie geht mit ihren hohen Stiefeln gekonnt über die dunklen Bodenfliesen des Flurs, wobei ihr kinnlanges lila gefärbtes Haar um ihr schmales Gesicht schwingt. Die Menge verschluckt sie schon halb, als sie sich noch einmal umdreht, uns zu sich winkt und brüllt: »Nun kommt schon! Lassen wir es krachen!«
Voller Freude reckt Ella einen Arm in die Höhe und nimmt einen Schluck ihres Getränks, bevor sie mit Tim komplett außer Sicht ist. Das Letzte, was ich sehe, ist seine Hand auf ihrem Hintern und unsere Freunde Kai und Fiona, die sich durch die Menge zwängen und zu den beiden stoßen.
Die Atmosphäre ist aufgeladen und bereits der Gesang auf dem Weg hierher hat mich beflügelt. Jetzt nimmt das Gefühl zu, wandelt sich in einen Rausch. Besonders als wir aus dem Flur ins Wohnzimmer treten, Jonas mich an der Hüfte zu sich zieht, umdreht und mir einen langen Kuss gibt, bei dem sich meine Lider automatisch senken. Sein Körper, seine Lippen, der Beat, das Lachen im Hintergrund, diese Nacht – all das fließt durch meine Adern.
»Wir sind mal wieder besonders interessant«, flüstert Jonas mir zu. Seine Hand fährt durch mein Haar und dreht eine Locke auf, um sie direkt wieder fallen zu lassen.
Ich nehme die Blicke der Leute genauso wahr wie er. Überall. Manchmal erwische ich sie und sie schauen schnell weg, manchmal starren sie ganz offen. Das Gefühl, bewundert zu werden, ist unbeschreiblich. Vielleicht hassen mich manche, weil sie nicht das haben, was ich habe: Jonas. Den beliebtesten und heißesten Jungen an unserer Schule. Der Sportler, der Herzensbrecher, der Lehrerliebling. Das macht es nur umso reizvoller. Und wenn ich ehrlich bin, sollen sie denken, was sie wollen. Sollen sie ruhig neidisch sein.
Das Lächeln um meinen Mund wird breiter, ich öffne die Augen und sehe in seine. Jonas’ lockiges Haar liegt wieder kreuz und quer, verleiht ihm den gewissen Charme. Seine Arme umschließen mich, ich spüre seine Wärme.
»Lass sie ruhig gucken«, entgegne ich lächelnd und zwinkere ihm kokett zu, während ich ihn hinter mir herziehe, weiter ins Haus hinein. Ich möchte mich ein bisschen umschauen, bevor ich ein paar Freunde begrüße, etwas Small Talk halte und mir einen Drink nach dem anderen gönne.
Das ganze Haus ist eine einzige Tanzfläche. Überall stehen Becher, Gläser und Bierflaschen herum. Es ist brechend voll.
Eng umschlungen tanze ich mit Jonas inmitten all der fremden und bekannten Gesichter. Wir drehen uns, bewegen uns zusammen, und während ich meine Hüften kreisen lasse, haucht er Küsse auf meinen Nacken und meine Schulter.
»Du bist so sexy, Norah«, säuselt er in mein Ohr. Seine Hände liegen auf mir und es fühlt sich gut an.
Bis eben.
Keine Ahnung, woher dieser seltsame Druck auf einmal kommt oder dieses beklemmende Gefühl auf meinem Brustkorb, als mein Freund seine Hände langsam unter mein Top schiebt. Vielleicht weil ich weiß, was er möchte. Vielleicht weil ich denke, dass er das erwartet. Das tut er doch, oder nicht? Das letzte Mal, dass wir miteinander geschlafen haben, war vor einem Monat – und es war auch das erste Mal. Nicht nur mit ihm, sondern für mich. Wir sind in ein paar Tagen fünf Monate zusammen und mir ist klar, dass es irgendwann wieder passieren wird.
Aber …
Ich drehe mich zu ihm, lege meine Hände auf seine breiten Schultern und stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Lippen zu küssen. Ich lächle. Es kostet mich mehr Kraft, als es sollte. Was ist nur los mit mir? Ich habe einen wundervollen Freund, den ich sehr mag. Was ist das Problem? Was ist das in mir, das mich zurückhält und hemmt? Wieso kann ich es nicht ignorieren?
»Jonas«, flüstere ich an seinen Lippen, und als ich sein leises Seufzen höre, sein Atem mein Gesicht trifft und er seine Finger unter meinem Oberteil hervorzieht, weiß ich, dass er ahnt, was jetzt kommt. Das, was seit Wochen meinen Mund verlässt: Ich brauche Zeit. Nur ein wenig. Versprochen. Im Moment ist es schwierig, besonders daheim und …
Ausreden. Ich bin mir sicher, er denkt, es sind nichts weiter als Ausreden, trotzdem spricht er es nicht aus. Und das rechne ich ihm hoch an.
Zumindest bisher.
»Scheiße«, flucht er leise. Sein Blick ist verschleiert, seine Wangen sind leicht gerötet. »Wie lange willst du mich noch am ausgestreckten Arm verhungern lassen?«
»Das tue ich nicht.«
Oder?
Wir hören auf zu tanzen wie zwei Marionetten, deren Schnüre zertrennt wurden und die nicht mehr wissen, wie man sich bewegt. Die Stimmung kippt. Und wir stehen nur da, inmitten der feiernden Meute, und starren uns an. Schon komisch, dass es nur eine Sekunde dauern kann, um etwas zu verändern. Dass eine Sekunde dein Gegenüber zu jemand anderem werden lassen kann.
»Natürlich tust du das. Du machst mich heiß und lässt mich anschließend fallen. Ich will mit dir schlafen, Nor.«
Eine leise Stimme in mir fragt: Und was ist mit mir? Wieso ist es okay, dass du das willst, aber nicht, dass ich es nicht will? Nicht jetzt. Nicht im Moment.
Doch sie wird übertönt und erstickt von Schuldgefühlen, von meinem schlechten Gewissen und den Fragen, die seine Reaktion aufwirft. Danach, ob ich eine schlechte Freundin und egoistisch bin, ob ich seine Wünsche ignoriere und ob etwas mit mir nicht okay ist, weil mein Verlangen danach nicht so groß ist wie das seine. Weil es wehgetan hat und ich mich noch nicht bereit fühle für eine Wiederholung.
»Es tut mir leid«, bringe ich hervor und das tut es. Das tut es wirklich. Nur macht das anscheinend keinen Unterschied. Jonas schiebt mich schnaubend von sich, schüttelt den Kopf und geht. Er benötigt einen Moment für sich, sagt er.
Schwer schluckend und irgendwie neben mir stehend, verlasse ich den Raum in eine andere Richtung.
Die Blicke der anderen liegen weiterhin auf mir. Mir, dem Mädchen, das vorher niemand richtig kannte, das eine stinknormale peinliche Familie hat, nichts besonders gut kann und sich – laut Schulflurgetratsche – irgendwann zu Beginn der Mittelstufe seinen Weg in die beliebteste Clique der Schule erschlichen hat. Mir, der Freundin von Jonas Went, der eigentlich keine Beziehungen führt. Dem Jungen, der später wahrscheinlich eine Wahnsinnskarriere als Fußballprofi oder Leichtathlet hinlegen wird und dessen Eltern nicht, wie die ein paar anderer aus unserem Jahrgang, auf einem Bauernhof arbeiten, aber locker einen kaufen könnten. Dem Jungen, der nur schnipsen müsste, damit die Mädels seufzend in seine Arme springen.
Ich schnappe mir eine Bierflasche, trinke einen großen Schluck und ignoriere sowohl den bitteren Geschmack als auch die erdrückenden Blicke der Jungs, deren Weg ich kreuze.
Beliebt, nicht unsichtbar. Das ist gut. Das ist genau das, was ich sein will.
Mit gerecktem Kinn gehe ich weiter, einen Flur hinunter, quetsche mich an mehr und mehr feiernden und knutschenden Leibern vorbei in eine ruhigere Ecke. Auf einem Fenstersims sitzend, denke ich nach, atme einen Moment durch, bevor ich den nächsten Schluck aus der Flasche nehme. Und mir irgendwann überlege, dass ich es einfach tun sollte. Zu Jonas gehen, mich entschuldigen und ihm sagen, dass ich mich umentschieden habe. Wir sind schließlich zusammen.
Es wäre okay.
Kein großes Ding.
Das ist den Streit nicht wert.
Oder …?
Stunden später bin ich mit Jonas auf dem Weg zu Tim und Ella. Die beiden stehen bereits wild knutschend am Auto. Mir ist übel, seit ich an der frischen Luft bin, und ich klammere mich an meinen Freund, damit ich nicht umfalle. Ich habe ihn eine Stunde nach unserer Auseinandersetzung gefunden und wollte mit ihm reden, doch er hat abgeblockt. Er meinte, das sollten wir in Ruhe machen, nicht so und erst recht nicht auf einer Party, aber er war mir nicht böse und wir haben uns wieder vertragen. Das hat mich mehr erleichtert, als ich geahnt hätte.
Danach haben wir alle zusammen ausgelassen gefeiert und den Abend genossen. Wir haben getanzt, gesungen, geküsst, gelacht. Wir haben unsere Sorgen über Bord geworfen.
Es war schön. Es war berauschend.
Der Alkohol rast durch meine Adern, mein Geist ist wie benebelt.
»Ich komme mit zu dir«, nuschle ich und höre Jonas lachen.
»Du musst nach Hause, Nor.«
»Nein, Blödsinn. Wir sollten uns versöhnen.« Die Wörter hören sich komisch an und meine Zunge ist irgendwie schwer. Fast taub.
»Das haben wir doch schon.«
Ich will ihn boxen, verfehle ihn jedoch. »Du Blödmann. Du weißt, was ich meine.«
»Sosehr mir der Gedanke gefällt, glaube ich nicht, dass wir das tun sollten. Nicht, solange du Probleme hast, dich auf den Beinen zu halten.«
Ich will protestieren. Allein schon aus Prinzip. Aber Jonas öffnet die Autotür, hilft mir beim Einsteigen und küsst mich. »Wir holen das nach.«
Alle steigen ein und machen es sich gemütlich. Doch ich stelle fest, dass es vor meinem Sichtfeld flimmert und ich für einen Moment einfach nur die Augen schließen und atmen muss. Und mich darauf konzentrieren, dass mir nicht noch übler wird.
Der Motor startet, ich spüre, wie sich der Wagen bewegt, und lausche den anderen, wie sie sich unterhalten, bis die Musik ertönt.
Mein Trommelfell droht zu bersten, so laut scheppert ein Lied nach dem anderen durchs Auto. Dumpf höre ich, dass Ella etwas erzählen will, wie sie versucht, die Musik, Jonas’ Grölen und Tims Lachen zu übertönen.
Die Übelkeit beginnt sich etwas zu legen und ich lehne mich leicht vor, um Ellas Worte über der Musik verstehen zu können. Zum Glück ist da gerade kein Gurt, der mich einengt und mir die Luft abschnürt.
Meine beste Freundin strahlt mich an und drückt mir ihren Becher in die Hand. Keine Ahnung, was drin ist.
Ich hebe ihn, proste ihr zu, Alkohol fließt über meine Hose und ich lache lauter, weil es mir in diesem Moment so furchtbar egal ist. Mein Top ist durchgeschwitzt, meine Haare kleben an meinem Nacken und mein Herz rast.
Wir sind bis zum Schluss auf der Party geblieben, und obwohl es früher Morgen ist, vermutlich gegen fünf Uhr, ist es noch dunkler als gestern Abend, als wir losgefahren sind.
Bald bricht der Tag an, in ein paar Stunden geht die Sonne auf und Montag werden alle über uns reden. Über Ella, die einen flotten Tanz auf dem Tisch hingelegt hat, über Tim, der immer noch ihr Freund ist und sie wie ein Held auffing, nachdem sie ins Schwanken geriet, und über mich, weil der heißeste Typ der Schule seine Finger nicht von mir lassen und seine Blicke nicht von mir abwenden konnte.
Ich drehe mich zu Ella um, rutsche etwas nach vorne im Sitz und verliere fast das Gleichgewicht. Kichernd sitzen wir da und ich will alles, nur nicht wieder nach Hause. Zu meiner kleinen, nervigen Schwester, meinen alles besser wissenden Eltern und in mein stinknormales Leben.
»Scheiße!«, schreit und flucht Tim auf einmal, aber es kommt nur verzögert in meinem Kopf an.
Plötzlich geht ein heftiger Stoß durch das Auto, ich höre es quietschen und knacken, der Becher fliegt aus meiner Hand und mein Kopf ruckt nach vorne.
Es ist, als würde die Zeit langsamer laufen, nur einen Augenblick lang.
Ruck.
Ein zweiter Schlag erschüttert das Auto und jeden darin. Er ist härter, heftiger, schneller. Lauter. Er ist realer.
Mein Magen dreht sich, ich kann mich nicht auf der Rückbank festhalten, werde gegen den Beifahrersitz gedrückt und jage an ihm vorbei. Meine Schulter schmerzt und meine Welt beginnt zu verschwimmen, wird zu einem undurchsichtigen Nebel.
Meine Augen schließen sich wie von selbst, meine Hände suchen fieberhaft nach etwas, das keine Luft ist. Einem Halt, etwas zum Greifen. So lange, bis ich komplett die Orientierung verliere.
Zu viel vermischt sich, wird zu einer chaotischen Masse – Geräusche, Gerüche, Gefühle und Gedanken.
Schreie, Splitter, Dunkelheit, Lichtfetzen, Musik, die nicht enden will.
Schmerz.
Ein Aufprall.
Alles wird schwarz.
2
Norah
Sasha Sloan – Dancing With Your Ghost
Es ist bitterkalt. Und es ist dunkel… so unsagbar dunkel.
Mitten in einem unbekannten Raum blicke ich mich um und versuche verzweifelt zu entkommen. Schreiend klopfe ich gegen die glanzlosen Fliesen, die sich eine nach der anderen in ihrem Schwarz aneinanderreihen und zu einem Meer werden. Weinend flehe ich das Nichts an, mir zu helfen, und höre dabei nur immer wieder mein eigenes Echo, das mich verhöhnt. Ich sacke auf den Boden in einem weißen Nachthemd, das ich nicht kenne. Es ist nicht das meine. Das Weiß strahlt, kein Fleck ist darauf zu erkennen und es wirkt wie ein Licht, wie eine Flamme in dieser Dunkelheit.
Wie eine Kerze in der Nacht.
Ich ziehe meine Beine an, bette meinen Kopf darauf. Meine nackten Füße sind eisig. Ich klammere mich an dem Nachthemd fest, denn es ist mein einziger Halt.
Und während ich nach einer Idee oder Möglichkeit suche, der klirrenden Kälte und diesem Ort entfliehen oder ihn wenigstens vergessen zu können, bilden sich in der Leere meines Kopfes plötzlich Bilder. Ich kann jemanden reden hören. Meine Lider werden schwer, mit geschlossenen Augen werden die Gedanken klarer, die Stimme lauter.
Unter mir spüre ich Sand, ein großes Handtuch liegt neben mir und leuchtet in der Sonne in bunten Farben. Die Kälte ist verschwunden, hat einer sengenden, fast schwülen Hitze Platz gemacht. Es ist hell. Ich bin nicht länger allein. Vor mir sitzt ein schmächtiger Junge mit hellbraunem Haar und graublauen Augen. Neben ihm lehnt eine schöne Gitarre.
Er ist vielleicht neun oder zehn Jahre alt und blickt mich trotzig an. Aus meinem Mund erklingen Worte, sie sind laut und klar, bestimmt und dennoch kindlich.
»Du musst es mir versprechen. Und du darfst nicht lügen, Sam.« Während ich den Sand durch meine Finger rieseln lasse, verschränkt er die Hände vor der Brust und verzieht das Gesicht.
»Du wirst nur traurig sein, wenn es anders kommen sollte. Ich will nicht, dass du traurig bist.«
»Du glaubst also nicht daran?«, frage ich schockiert.
»Ich weiß es nicht«, gibt er zerknirscht zu. »Ich will nicht, dass du weinst. Ich will, dass du glücklich bist.«
Ich antworte etwas, aber kann mich selbst nicht mehr hören, weil eine Melodie erklingt und sich über alle anderen Geräusche erhebt – wie ein Gott.
Ruckartig schlage ich die Augen auf. Die Bilder verblassen, trotzdem kann ich die Melodie weiterhin wahrnehmen. Sie wärmt mich von innen. Sie ist ein Teil von mir, auf irgendeine Art und Weise. Da ist etwas, das ich nicht greifen kann, etwas, an das ich mich nicht erinnere, aber von dem ich spüren kann, dass es da ist.
Zu gern hätte ich meine Antwort gehört, zu gern hätte ich mich in dem Gespräch mit dem Jungen verloren und weiter den Sand zwischen meinen Zehen gespürt, die Sonne auf meinem Gesicht. Zu gern wüsste ich, welche Melodie das war. Doch das Bild verblasst weiter und mit ihm die Musik. Ich selbst tue das.
Zurück bleiben nur Kälte und Dunkelheit.
Zurück bleibt ein Teil von mir.
Krampfhaft versuche ich, nur einen einzigen sinnvollen Gedanken zu fassen, nur wirbeln sie dafür zu aufgebracht umher. Es ist, als liefen sie davon. Weg von mir.
Dieser Moment fühlt sich an, als wäre er der erste von allen. Ein Anfang.
Zu deutlich nehme ich meinen Körper wahr, meine Atmung, das gleichmäßige und angestrengte Klopfen meines Herzens. Dann überrollen mich die Schmerzen wie eine gigantische Welle, die über mir bricht und mich begräbt. Mein Körper verkrampft sich und ich rieche das Desinfektionsmittel nun mehr als deutlich. Es setzt sich in meiner Nase fest, die wie mein Hals zu brennen beginnt. Mein Oberkörper schmerzt am meisten, meine Brust droht bei jedem Atemzug zu bersten und ein Stechen zieht von meiner linken Hand den Arm hinauf. Am schlimmsten sind die Kopfschmerzen, die mich beinahe zum Schreien bringen und mir das Gefühl geben, ihnen kaum standhalten zu können.
Mühsam hebe ich meine bleiernen Lider. Sie sind verklebt und meine Augen geschwollen. Alles ist anders, fühlt sich verzerrt an, fremd und schwer. Genau wie mein Kopf, den ich nur wenige Zentimeter heben kann und in dem es nicht aufhört zu hämmern.
Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, bis ich die Bilder, die ich sehe, mit den Dingen, die ich sonst noch wahrnehme, zu einer Geschichte formen kann. Zu einer Erzählung, die einen Sinn ergibt.
Weiße Wände, weiße Vorhänge, ein hohes Bett, ein karger Raum. Kombiniert mit dem Piepen, mit dem Geruch, der in der Luft hängt, und den Schläuchen in meinem Arm dämmert es mir, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.
Ein Krankenhaus.
Langsam und stöhnend stütze ich mich mit zusammengebissenen Zähnen auf den Ellenbogen ab. Drei Anläufe braucht es, bevor meine Arme nicht mehr wegknicken und ich mich etwas aufsetzen kann. Hinter meiner Stirn pocht es unablässig, sodass mir Tränen in die Augen schießen.
Der Kopf meiner Mutter ruht auf ihren Armen am Rand meines Bettes auf der rechten Seite. Ihre Haare haben sich aus dem Zopf befreit und über ihre Hände und die Decke ausgebreitet. Sie sehen zugleich strohig und fettig aus, sind chaotisch, voller Knoten. Ihr Körper hebt und senkt sich gleichmäßig, sie schläft. Dass mein linkes Bein beinahe taub ist, verdanke ich Lu, die sich am Fußende des Bettes zu einer Kugel zusammengerollt hat. Meine Schwester liegt halb auf meinem Bein, in den Armen ihr Lieblingskuscheltier. Sie schnarcht leise und ich erkenne Puddingreste an ihrem Mund. Ich weiß nicht, warum, aber ich muss lächeln. Dabei reißen meine Lippen, halten dem Druck nicht stand und ich zucke zusammen.
Eine Träne rinnt aus meinem Auge und ich schlucke schwer, was nicht so einfach ist. Mein Mund fühlt sich ganz trocken und pappig an. Ich greife zitternd nach dem Becher mit Wasser neben mir, nehme ein, zwei Züge, doch mir wird schlecht, deshalb stelle ich ihn sofort wieder zur Seite.
Und auf einmal ist sie da – die Erinnerung. Nein, sie alle. Es ist, als würde vor meinem inneren Auge eine Diashow ablaufen. Nur fühlen sich die Bilder und Erinnerungen nicht an wie sonst, sondern beinahe fremd. Ich sehe meine Mutter lachen, während sie ihre Lieblingsserie guckt, oder meinen Vater, wie er Zeitung liest. Dann ist da Lu, die mich grimmig anstarrt, und ich erinnere mich auch, warum.
Aber etwas fehlt! Wieso fehlt da etwas?
Ich runzle die Stirn, kneife die Lippen zusammen, versuche, die bohrenden Kopfschmerzen zur Seite zu schieben. Mein Herzschlag beschleunigt sich, mir wird etwas schwindelig und es ist mir vollkommen egal. Ich muss wissen, was sich so … falsch anfühlt. Mit aller Kraft bemühe ich mich, genau das herauszufinden, konzentriere mich stärker und verdränge die Schmerzen, die sich jetzt immer heftiger durch meinen Körper ziehen.
Bis mein Vater durch die Tür ins Zimmer tritt, zwei Becher Kaffee to go in der Hand, mit zerzaustem Haar, zerknittertem und oben falsch geknöpftem Hemd. Mit dunklen Ringen unter den Augen, die sich weiten, als er mich ansieht.
»Norah«, flüstert er überrascht mit heiserer Stimme und lässt dabei beinahe die Becher auf den Boden fallen. Etwas Kaffee schwappt über, trotz Deckel. Sofort stolpert er zum Bett, um es herum und setzt die Getränke hektisch auf dem Beistelltisch ab, bevor er liebevoll, aber bestimmt an der Schulter meiner Mom rüttelt. Seine Stimme zittert jetzt.
»Sie ist wach, Anna. Unsere Norah ist wach.«
Seine Worte klingen brüchig, ich höre ihn weinen und schließlich knicken meine Arme ein, ich sacke zurück aufs Bett und heiße Tränen rinnen über meine eigenen Wangen. Jeder Schluchzer tut so weh, dass ich denke, einen weiteren ertrage ich nicht. Jeder geht mir durch Mark und Bein. Und jede Träne verbrennt meine Haut auf ihrem Weg nach unten bis auf das Kissen.
Ich habe das Gefühl, nie zuvor gefühlt zu haben. Ich weiß genau, etwas ist nicht so, wie es war. Nicht wie es sein sollte. Das lässt mich nicht los, ich kann nichts dagegen tun. Ich bin zerbrochen und doch ganz. Wie eine Vase, die zersprungen ist und deren Teile man wieder zusammengefügt hat, ohne dass sie richtig aufeinanderpassen.
Mit geschlossenen Augen liege ich da, während mein Herz verzweifelt gegen meine Rippen hämmert wie ein Gefangener, der nichts weiter als ausbrechen will. Ich versuche, mich irgendwie zu beruhigen, nur ist das verdammt schwer. Panik lauert in mir, direkt unter der Oberfläche, doch … ich weiß nicht, wovor.
Das ist vielleicht das Schlimmste daran.
Plötzlich beginnt etwas an meinem Bett zu surren und direkt daraufhin hebt sich das Kopfteil Zentimeter um Zentimeter nach oben, sodass ich aufrecht sitze, ohne mich dabei anstrengen zu müssen. Als das Surren endet, ist es ganz still.
Zaghaft öffne ich die Augen wieder, befeuchte meine spröden Lippen und schaue direkt in das Gesicht meiner Mutter. Ich erkenne Angst, Hoffnung und Liebe darin und ich sehe die Verzweiflung. All das ist greifbar und so lebendig, dass ich fast keine Luft bekomme.
So viele Gefühle.
So viele erste Male.
Zu viel, zu viel, zu viel.
»Norah? Bist du … wirklich wach?«, fragt Mom erstickt und ich bringe nicht mehr als ein Nicken zustande, ein knappes und kaum sichtbares, aber es reicht, um sie glücklich zu machen. Keuchend drückt sie meine Hände. Ihre sind warm und die Berührung fühlt sich beruhigend an. Erst jetzt merke ich, wie kalt meine eigenen Finger sind. Danach küsst sie mich auf die Stirn und droht an ihren Tränen zu ertrinken, während mein Vater ihr unablässig über das wirre Haar streicht.
»Was ist passiert?«
Meine Stimme ist kratzig, hauchdünn – und die Frage überflüssig. Ich sehe die Bilder vor mir, ich weiß längst, was passiert ist, mir fehlt nur das Warum. Ich weiß nicht, was danach war.
Vor mir erscheinen die Gesichter von Ella, Tim und Jonas und irgendetwas in mir gibt mir zu verstehen, dass ich jetzt nach ihnen fragen und mir Sorgen um sie machen müsste. Sie sind meine Freunde. Nehme ich an. Ich bin mir nicht ganz sicher.
»Ich hole den Arzt.«
Mein Vater nickt uns kurz zu, bevor er den Raum verlässt. Meine Mutter zieht ein zerknittertes Taschentuch aus ihrer Jeans, wischt sich damit die Tränen weg und verteilt die letzten Reste ihres Mascaras unter den Augen. Dabei hält sie meine Hand noch immer mit ihrer linken, fährt das Taschentuch nur mit der rechten über ihr Gesicht. Meine Finger umklammert sie mittlerweile so fest, dass es unangenehm wird, aber ich glaube, sie braucht das jetzt. Sie kann nicht loslassen.
Die Tür gleitet auf. Zusammen mit meinem Vater betritt ein Mann in Weiß, absolut angepasst an diesen Raum, das Zimmer. Er hat gebräunte Haut, schwarzes Haar und dunkle Augen. Vielleicht spanische Wurzeln?, schießt es mir durch den Kopf und ich habe keine Ahnung, warum ich mir darüber Gedanken mache. Es spielt überhaupt keine Rolle.
Sein Gesicht wirkt ernst, er hat hohe Wangenknochen und buschige Brauen. Im Gegensatz dazu sind seine Augen freundlich und offen.
Er tritt an das Fußende meines Bettes. Ein, zwei Sekunden lang gleitet sein Blick zu Lu, die noch schläft. Erst als sie einen lauten Schnarcher von sich gibt, beginnt er zu reden.
»Schön, dass du wach bist, Norah. Wie fühlst du dich?«
»Sind Sie mein Arzt?«
»Ja, das bin ich. Mein Name ist Dr. Alvarez. Also, wie geht es dir?«
»Ich … ich schätze, ganz okay?«
Fragend blicke ich in die Runde. Natürlich habe ich Schmerzen direkt aus der Hölle und irgendwie fühlt sich alles komisch an, aber es geht mir gut. Oder sollte ich zugeben, dass ich mich am liebsten in einer Ecke zusammenrollen und weinen würde, weil ich mir selbst fremd vorkomme?
»Das klingt, als wärst du dir nicht sicher. Wie geht es deinem Kopf?«
Beinahe automatisch hebt sich meine Hand und ich atme keuchend ein, als ich am Hinterkopf keine Haare mehr ertaste, nur Stoppeln, wunde Haut und Drähte. Als hätte ich mich verbrannt, zuckt meine Hand zurück. Ich beginne, schneller zu atmen. Schneller und schneller und mir wird schwindelig. Ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Es ist, als würden sich meine Lungenflügel zusammenziehen und hätten nicht die Absicht, sich je wieder auszudehnen. Das Gerät neben mir piept auf einmal, und erst als der Arzt hingeht und ein, zwei Knöpfe drückt, hört es auf. Er legt eine Hand an meine Stirn und redet beruhigend auf mich ein. Atmet mit mir.
»So ist es gut, nicht aufhören. Genau so, schön weiteratmen. Du machst das super«, höre ich seine Stimme neben mir, konzentriere mich auf seine Worte und ahme seine Atembewegungen nach. Langsam fange ich an, mich zu beruhigen.
Dr. Alvarez lässt von mir ab und mustert mich aufmerksam. »Du musst keine Angst haben. Deine Wunde verheilt wie erwartet, und dass du jetzt wach bist, ist ein gutes Zeichen.«
»Was … ich meine, wie …?« Zu viele Fragen tummeln sich in meinem Kopf, sodass ich keine einzige formulieren und vollenden, geschweige denn aussprechen kann.
Lu regt sich kurz, aber wacht nicht auf.
»Erinnerst du dich an den Unfall?«
Dr. Alvarez beobachtet mich aufmerksam und intensiv, genau wie meine Eltern, die uns abwartend und angespannt fixieren. Schwer schluckend nicke ich.
»Ja. Ich erinnere mich an alles. Wir waren auf einer Party und sind erst morgens zurückgefahren. Plötzlich ging ein Ruck durch das Auto. Dann ein zweiter, ein dritter …«, flüstere ich. Mit jedem Wort und jeder aufblitzenden Erinnerung werde ich leiser. Kurz kneife ich die Augen zusammen, atme bewusst ruhig ein und aus. Ich will nicht wieder durchdrehen. »Und jetzt bin ich hier.«
Völlig emotionslos verlassen die letzten Worte meinen Mund, während ich in das Gesicht meines Arztes blicke und auf eine Reaktion warte. Er schürzt die Lippen, nur ein wenig, ebenso leicht legt er den Kopf zur Seite, aber ich sehe es. Worüber er wohl nachdenkt?
»Hast du Schmerzen?«